Kapitel 32

 

Henrik Jörgensson ist zwar erst 36 Jahre alt, aber infolge seines unsteten Lebenswandels wirkt er bereits wesentlich älter. Er wurde im norwegischen Trondheim geboren. Seinen Vater, eine Zufallsbekanntschaft seiner Mutter, lernte er nie kennen. Auch sie, eine ehemalige Drugstore-Bedienung, bekam er kaum zu Gesicht. Schon bald nach seiner Geburt bestritt sie ihren Lebensunterhalt durch wechselnde Männerbekanntschaften. Es war daher kein Wunder, dass der junge Henrik aufwuchs, ohne jemals liebevolle Zuneigung und fürsorgliche Erziehung erfahren zu haben. Er machte keinen Schulabschluss und fand frühzeitig Zugang in kriminelle Kreise. Bereits als 15-Jähriger musste er wegen Einbruchsdiebstahls und räuberischer Erpressung eine Jugendhaftstrafe verbüßen. Sein damaliger Zellengenosse war ein wegen Mordes an seiner Geliebten zu lebenslanger Haft verurteilter Engländer. Dieser lehrte ihn die englische Sprache, die er bei seiner Entlassung recht gut beherrschte.

   Bereits mit 17 Jahren trampte er quer durch Europa und landete schließlich in Marseille, wo er sich um Aufnahme in die französische Fremdenlegion bewarb. Da er gesund und kräftig war, wurde er sofort aufgenommen, musste sich allerdings zu einer fünfjährigen Dienstzeit verpflichten. Mit Stolz trug er das Képi blanc (weißes Käppi) oder das Béret vert (grünes Barett) und fühlte sich in dieser auf Leben und Tod eingeschworenen Kameradschaft erstmals geborgen Hier fand er endlich eine Heimat und das Motto der Legion ›Legio Patria Nostra‹ (Die Legion ist unser Vaterland) wurde sein persönlicher Leitspruch.

   Der Dienst in der Fremdenlegion war hart und entbehrungsreich und führte ihn überall dorthin, wo es galt, französische Interessen zu vertreten, und sei es mit Waffengewalt. In einigen afrikanischen Staaten kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Jetzt lernte er zum ersten Mal, Waffen auf Menschen zu richten. Ihm wie auch seinen Kameraden wurde tagtäglich eingetrichtert, dass der Einsatz fürs Vaterland höher zu bewerten sei als das Leben einzelner Menschen. Und so lernte er zu töten. Je öfter er erlebte, wie ein ihm völlig unbekannter Mensch von seinem Projektil tödlich getroffen wurde, umso weniger bereitete ihm das noch Gewissensbisse. Als er bei einem Einsatz in Dschibuti gleich zehn farbige Aufständische erschossen hatte, fühlte er sich wie ein Held. Unter den Kameraden brüstete sich jeder mit seinen ›Abschüssen‹, wie man es nannte.

   Oft wurde aus Geltungssucht maßlos übertrieben. Aber man freute sich auf den nächsten Einsatz in der Erwartung, dass die eigene ›Abschussquote‹ von den Offizieren beachtet und entsprechend belobigt würde. Wiederholt wurde Henrik eine Medaille für besondere Tapferkeit verliehen.

   Gegen Ende seiner Dienstzeit trat eine Phase der Ruhe ein. Man saß im Camp, rauchte und trank, amüsierte sich mit farbigen Mädchen aus den Dörfern und langweilte sich. Das gefiel Henrik überhaupt nicht, der inzwischen an ein Leben gewöhnt war, das sich Gewaltanwendung zum allein erstrebenswerten Ziel setzte. Er verlängerte den Vertrag nicht und trat als Sergent (Unteroffiziersrang) aus der Legion aus, nicht ohne sich einen der grünroten Wimpel einzustecken, worauf Grün das Land und Rot das Blut symbolisierte. Schon oft hatte er so ein Fähnchen bei Kampfeinsätzen mit der roten Farbe nach oben aufgehängt, was gleichbedeutend mit Blut auf dem Land war.

   Zu seiner Mutter hatte er nie mehr Kontakt. Sie war inzwischen weggezogen und er war auch nicht geneigt, nach ihrem Verbleib zu forschen. So war er völlig allein auf sich gestellt und versuchte, beim norwegischen Heer unterzukommen. Doch zu jener Zeit fanden keine Neueinstellungen statt.

   Somit verdiente sich Henrik sein Geld in Großstädten als Geschirrspüler, Aushilfskellner oder als Türsteher von Diskotheken. In seiner Freizeit betätigte er sich als Amateurboxer und gewann in der regionalen Mittelgewichtklasse etliche Kämpfe. Doch wegen wiederholten unsportlichen Verhaltens wurde er disqualifiziert und musste den Boxsport wieder aufgeben.

Daraufhin erhielt er bei einem Autoscooterbetrieb einen Job als Mitreisender Arbeiter und genoss nun das zwar anstrengende, aber freie Leben. Auf einem Volksfest beteiligte er sich an einer Schlägerei, wobei er einen jungen Mann so schwer verletzte, dass dieser nach einer Gehirnblutung verstarb. Henrik wurde wegen fahrlässiger Tötung abermals zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.

   Nach seiner Entlassung musste er sich wieder Arbeit suchen. Der Gefängnisdirektor hatte ihm geraten, sich nach einem Job als Fernfahrer umzusehen. Dieser Vorschlag gefiel ihm. Da er in der Fremdenlegion bereits den Lastwagen-Führerschein erworben hatte, bekam er ohne Schwierigkeiten auch den entsprechenden EU-Führerschein. Per Zufall stieß er auf eine Zeitungsanzeige der Leegaard Society Lillehammer, die einen LKW-Fahrer zur Aushilfe suchte. Er hatte Glück und wurde für einen erkrankten Fahrer eingestellt. Sein Auftrag war es nun, die über Norwegen und das nördliche Schottland verstreuten Lachsfarmen mit allem Erforderlichen zu beliefern, wie Baumaterialien, Netzbehältern, Futtermitteln und allerhand chemischen Erzeugnissen. Meistens übernachtete er in der Fahrerkabine des ihm anvertrauten Trucks, um Hotelkosten zu sparen. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich später einmal einen eigenen Lastwagen anzuschaffen. Aber schon bald stellte er fest, dass er dieses Ziel nie erreichen würde, zumal der jetzige Job zeitlich begrenzt war. So verjubelte er seinen geringen Lohn in fragwürdigen Lokalen und litt unter ständigem Geldmangel.

   Als er von Charles Foreman angeheuert wurde, konnte er endlich beweisen, was in ihm steckte. Schon immer wollte er den Bolzenschussapparat, den er aus einem Schlachthof bei Perth hatte mitgehen lassen, unter realistischen Bedingungen ausprobieren. So besaß er keinen Skrupel, einen Mann damit ins Jenseits zu befördern, der Arbeitsplätze vernichten wollte, vielleicht sogar seinen eigenen. Er hatte seinen Auftraggeber so verstanden, dass dieser die Liquidierung des Aufwieglers George McCallum wünschte. Dass er den Mann nur verprügeln sollte, war ihm nicht klar genug übermittelt worden. Andererseits pflegte er ungern nur halbe Sachen zu machen. Doch letztendlich hatte sich Charly Foreman damit abgefunden und ihn für seine Leistung gut bezahlt. Dass er sogar noch zwei weitere Male zum Einsatz kommen durfte, hatte ihn aus seiner permanenten Geldnot gerettet.

 

In dem fabrikneuen Volvo, der ihm neuerdings anvertraut wurde, fühlte sich Henrik ausgesprochen wohl. Den zuvor benutzten, altersschwachen Lastwagen hatte man inzwischen ausgemustert. Nachdem er sich von Charles in Oban verabschiedet hatte, belieferte er zunächst eine in der Nähe gelegene Lachsfarm. Die restliche Ladung musste er in Inveraray am Loch Fyne loswerden.

   Nach den Ereignissen der letzten Nacht fühlte er sich müde und befürchtete stets, am Steuer einzuschlafen. Auf der A819 durch das enge Glen Aray bemerkte er zu spät eine von den Hügeln herabkommende Schafherde, die direkt vor ihm die Straße überquerte. Er war viel zu schnell und konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Vier Schafe überfuhr er, deren Leiber bis unter die Vorderachse schleuderten. Weitere Tiere blieben schwer verletzt und jämmerlich blökend am Straßenrand liegen.

   Henrik besah sich kurz den Schaden, zog die zerfetzten Kadaver unter dem Wagen hervor und legte sie an der Böschung ab. Dann säuberte er grob die beschädigte Frontpartie des Lasters und die Windschutzscheibe. Es war sein Glück, dass sich in diesen Minuten kein anderes Fahrzeug auf dieser entlegenen Strecke befand.

   Schnell fuhr er weiter in Richtung A85, die über Crianlarich nach Glasgow führt. Schon bald würde die Polizei Kenntnis von dem Unfall erhalten. Danach dürfte es nur noch kurze Zeit dauern, bis man ihn – vielleicht anhand der Reifenspuren – als den Verursacher dieses Blutbads ermittelte. Und dann würde es richtig losgehen. Schnell fände man das Hotel, in dem er übernachtete. Der Hotelportier hatte sich womöglich nur schlafend gestellt und beobachtet, dass der Gast aus Zimmer sowieso erst mitten in der Nacht zurückkehrte. Und gewiss erinnerte sich ein eifriger Polizist daran, ein Auto mit defektem Scheinwerfer gestoppt zu haben – und so fort. Immerhin war es ein guter Einfall gewesen, den Schussapparat Charles Foreman zu übergeben. Damit hinterließ er keine Spuren, die ihn als mehrfachen Mörder überführen konnten. Nur etwas beunruhigte ihn, nämlich dass der grünrote Wimpel der Fremdenlegion, mit dem er seinen Truck geschmückt hatte, nicht mehr vorhanden war; vermutlich wurde er beim Aufprall der Schafskörper abgerissen und flatterte jetzt irgendwo herum. Dieses Stückchen Stoff – mit dem Wappen seiner Einheit in der französischen Fremdenlegion – hatte ihn jahrelang begleitet und stets an die schönsten Jahre seines inzwischen verpfuschten Lebens erinnert. Aber genau dieser kleine Wimpel brachte ihn nun auf die Idee, seinem Leben eine neue Wendung zu geben: Die französische Fremdenlegion würde ihn, den ehemaligen, hochdekorierten Sergent, mit ziemlicher Sicherheit wieder aufnehmen.

   Henrik steuerte den ersten Parkplatz an der A85 an, auf dem sich zurzeit keine anderen Fahrzeuge befanden. Rasch sprang er hinunter, schraubte die Kennzeichenschilder ab und warf sie in das Dickicht hinter einem Abfallcontainer. Erleichtert sah er auf die lackfrisch glänzende Tür, die noch keinen Firmennamen aufwies. Dieser sollte erst nach seiner Rückkehr angebracht werden. ›Es wird einige Zeit dauern, bis man den Fahrzeughalter und den Namen des Fahrers herausfindet. Bis dahin bin ich schon über alle Berge‹, frohlockte er.

   Plötzlich näherte sich ein Auto. Ein Trampelpfad, der sich durch das angrenzende Gebüsch schlängelte, erschien ihm als einzig möglicher Fluchtweg. In geduckter Haltung verschwand er und hoffte, von den Ankömmlingen nicht bemerkt worden zu sein.

 

Ein Kleinlaster, der Gemüse und Obst auf der A819 nach Inveraray transportierte, hielt als erster vor den zerquetschten, inzwischen von Fliegen übersäten Schafsleibern an. Über sein Handy informierte der Fahrer die Polizei, die nach einer halben Stunde eintraf.

   Später entdeckte ein Streifenwagen der Verkehrspolizei den verlassenen LKW. Die Spuren von Blut und Wolle an dessen Frontpartie legten die Vermutung nahe, dass es sich um das Unfallfahrzeug vom Glen Aray handelte. Dieser Verdacht sollte sich später anhand von Reifenspuren bestätigen. Ein grünroter Wimpel, den man im Straßengraben fand, wurde als Beweisstück sichergestellt.

   Da keine Nummernschilder existierten und man nirgendwo Fahrzeugpapiere entdeckte, stand die Polizei vor einem Rätsel. Nach Kurzschließung der Zündung wurde der LKW in die nächstgelegene Ortschaft Dalmally gefahren, wo man ihn einstweilen abstellte. Dort sollte er so lange verbleiben, bis der Fahrzeughalter ermittelt wurde. An eine Verbindung zu dem am Loch Eil verübten Verbrechen dachte man noch nicht.

Ein mörderisches Komplott
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