Kapitel 8

 

Jennifer Symon – von vielen nur Jenny genannt – kam auf Harris zur Welt, dem Südteil der Insel Lewis, die zu der Inselgruppe der Äußeren Hebriden zählt. Ihr Geburtsort, das kleine Hafenstädtchen Tarbert, liegt inmitten einer Landenge zwischen den beiden Inselteilen.

   Wie die meisten Menschen dieser Region bestritten auch Jennys Eltern den Lebensunterhalt für ihre siebenköpfige Familie mit der Handweberei von Schafswolle zu dem weltbekannten Harris Tweed. Jenny war die jüngste von insgesamt fünf Geschwistern. Die andern verließen bereits vor ihr das Elternhaus, um sich auf dem Festland einen Job zu suchen, denn wegen des massenweisen Imports asiatischer Wolltextilien besteht in der EG nur noch wenig Bedarf an diesen schottischen Naturprodukten.

   Nach erfolgreichem Abschluss der Public School arbeitete Jenny mangels anderer Möglichkeiten zunächst am häuslichen Webstuhl, sah in dieser Knochenarbeit allerdings kein Lebensziel.

 

(5) Der Hafen von Ullapool

 

Lewis Today, die Tageszeitung der Inselhauptstadt Stornoway, veranstaltete einmal einen Leserwettbewerb zu dem Thema ›Harris Tweed im Wandel der Zeiten‹. Mit großem Eifer beteiligte sich Jenny daran. Sie befragte Tweed-Webereien der Umgebung über deren momentane wirtschaftliche Situation, insbesondere über die Marktchancen von Kleiderstoffen aus Tweedwolle. Jennys Beitrag wurde abgedruckt und zu ihrer Überraschung erhielt sie die Vorladung des Chefredakteurs zu einem Gespräch. Bald darauf wurde ihr die Stelle einer Redaktionsvolontärin angeboten, die sie wenig später antrat.

   Als ihre ältere Kollegin Lucy Burnett heiratete, wurde auch Jenny Symon zur Hochzeitsfeier eingeladen. Zum ersten Mal verließ sie ihre Heimatinsel und betrat schottisches Festland. Es kam ihr wie eine Weltreise vor, als sie zunächst mit der Fähre von Stornoway nach Ullapool übersetzte um dann mit Bussen zum nordöstlich von Inverness gelegenen Küstenort Elgin weiterzufahren, wo Lucys Mann an einer Grundschule unterrichtete.

   Nach Lucys Ausscheiden übernahm Jenny deren Posten und damit eine selbstständige Mitarbeit in der Lokalredaktion von Lewis Today. Das Recherchieren und die anschließenden Reportagen bereiteten ihr viel Freude. Das regionale Blatt entwickelte sich nach und nach zu einem erfolgreichen Werbeträger. Garry Gibson, der Herausgeber, gründete daraufhin in dem schottischen Hafenstädtchen Ullapool eine Dependance und bot Jenny den Posten einer Redakteurin für seine neue Tageszeitung The Ross&Cromarty News an. Sie brauchte nicht lange zu überlegen und nahm diese berufliche Herausforderung freudig an. Der Umstand, dass zwischen Stornoway und Ullapool eine ständige Fährverbindung bestand, erleichterte ihren Entschluss. Auch diese neue Aufgabe erfüllte Jenny mit großem Engagement. Doch ihre Berichterstattungen fanden nicht jedermanns Beifall. Eines Tages machte sie nämlich eine Entdeckung, die sie zunächst als journalistischen Leckerbissen bezeichnete, was dann allerdings zu einer schicksalhaften Veränderung ihres künftigen Lebens führte.

 

Bei schönem Wetter pflegte Jenny die einstündige Mittagspause für einen kleinen Bummel entlang des Piers von Ullapool zu nutzen und sich gelegentlich in einer Fischbude eine Portion Fish ’n’ Chips) zu holen, um diese auf einer Bank am Fischereihafen zu verzehren.

   Es war ein herrlicher Sommertag, als sich ein etwa 50-jähriger Mann in blauem Overall – Jennys Meinung nach ein Hafenarbeiter – neben sie ans andere Ende der Bank setzte. Er hielt ebenfalls einen mit Fish ’n’ Chips gefüllten Pappteller in der Hand. Zuvor hatte er sich erkundigt, ob der Platz noch frei wäre. Jenny war überrascht, denn Höflichkeit war sie von den hiesigen, zumeist recht wortkargen Fischern und Bootsleuten nicht gewohnt. An seiner Aussprache erkannte sie, dass es sich weder um einen Schotten, noch um einen Engländer handelte. Sie drehte sich zu dem übernächtigt wirkenden Mann hin, gerade als er sich eine Plastikgabel voll Chips in den Mund stopfte.

   »Sind Sie von einem der Schiffe dort drüben?«, erkundigte sie sich zaghaft, um nicht gleich ihre Neugier nach seiner Nationalität zu zeigen. Der Mann schluckte gerade einen Bissen hinunter. Während er ein neues Stück von dem fettigen Haddock aufspießte, erwiderte er:

   »Ich bin Norweger und komme aus Strömstadt, das liegt nicht weit von Oslo. Bin schon seit Tagen auf Achse und froh, endlich etwas ausspannen zu können. Darf ich mich übrigens vorstellen? Ich heiße Henrik, genauer gesagt Henrik Jörgensson.«

   »Und mein Name ist Jennifer Symon.« Sie hatte aber noch immer keine Antwort auf ihre erste Frage erhalten und ließ nicht locker: »Mit welchem Schiff sind Sie denn angekommen?«

   »Mit keinem Schiff, ich bin nämlich eine echte Landratte und halte nicht viel vom Wasser. Zwar bin ich auch eine Art Kapitän, aber nur auf einem Lastwagen. Da hinten auf dem großen Parkplatz steht mein voll beladener Volvo.« Er grinste seine Banknachbarin an, wobei ihm fettiger Saft aus den Mundwinkeln floss.

   »Aha! Dann transportieren Sie wohl Fische?« Jenny wurde nun neugierig.

   »Nicht direkt Fische«, gab der Mann jetzt mit vollem Mund zur Antwort. »Aber die Ladung hängt schon ein wenig mit Fisch zusammen.« Er lachte und entblößte dabei eine hässliche Zahnlücke, wobei Reste der noch nicht ganz hinuntergeschluckten Chips zwischen seinen Lippen zu sehen waren. »Sie dürfen gern raten, was ich geladen habe!«

   Jenny hatte ganz vergessen, dass auch ihr eigener Pappteller darauf wartete, leer gegessen zu werden. Sie gabelte hastig ein paar Brocken auf und bevor sie sie zum Mund führte, fragte sie noch schnell: »Etwa Transportbehälter für den Fischfang?«

   »Falsch! Raten Sie nur weiter!«

   »Oder Fangnetze, oder Angeln, Wannen? Oder gar Fischabfälle für die Düngemittelindustrie?« Ihr fiel nichts weiter ein und sie musste laut lachen. »Na, nun rücken Sie schon mit der richtigen Antwort raus. Was ist es dann?«

   Erst jetzt schaute sie den Mann richtig an. Er hatte sich womöglich einige Tage lang nicht mehr rasiert und aus Ohren und Nase ragten kleine Haarbüschel heraus. Sein Gesicht war grau und von Furchen übersät, seine Augen waren eingefallen und wirkten übernächtigt.

   Henrik knüllte den leeren Pappteller zusammen und warf ihn achtlos hinter die Bank. Daraufhin musterte er Jenny mit schadenfrohen Blicken. »Das möchten Sie wohl gern wissen, wie? Dann kommen Sie mit mir, ich zeige Ihnen was!«

   ›Was soll mir schon passieren, jetzt am helllichten Tag?‹, dachte sie, obwohl sie fremden Männern gegenüber ein gesundes Maß an Misstrauen besaß. »Klar, worauf warten wir noch?«

   Ihre Wissbegier war geweckt und sie verspürte keinen Appetit mehr. Den noch halb vollen Pappteller warf sie in den Papierkorb neben der Bank und erhob sich. Auch Henrik stand auf und beide gingen gemächlich am Loch Broom entlang. Unterwegs kramte Henrik in seiner Hosentasche und zog eine Handvoll in Goldpapier gewickelte Bonbons heraus.

   »Hier! Möchten Sie eins?«

   »Was ist das?«, fragte Jenny und schaute misstrauisch auf seine Hand.

   »Nehmen Sie nur! Das sind Schoko-Bonbons, eine Spezialität von Nidar aus Trondheim. Probieren Sie mal!«

   Jenny nahm sich eins, wickelte es bedächtig auf und schob es in den Mund.

   »Wirklich lecker! Die verstehen was von Schokolade.« Doch als sie zu ihrem Ärger sah, wie Henrik sein Bonbonpapier achtlos wegwarf, fragte sie erbost: »Warum schmeißen Sie eigentlich alles in die Gegend?«

   »Das bisschen Papier tut doch keinem weh!«, erwiderte Henrik und lachte. »Beim nächsten Regen wird doch eh alles weggespült.«

   Jenny musste sich ihren Zorn über einen solch leichtfertigen Umgang mit der Umwelt verkneifen. Bald erreichten sie einen großen Parkplatz und standen vor einem Lastwagen mit dunkelblauer Fahrerkabine, auf dessen Tür der Firmenname Leegard Society Ltd. Lillehammer zu lesen war.

   »Na, jetzt bin ich aber gespannt«, frohlockte sie, ihren Ärger unterdrückend. Dann stellte sie sich neben Henrik Jörgensson, der die Verschlüsse an der Plane löste und diese ein wenig anhob.« Jenny konnte aber nichts darunter erkennen und lästerte. »Sie wollen mir wohl einen Bären aufbinden. Der Wagen ist ja ganz leer!«

   Henrik öffnete nun weitere Verschlüsse der hellgrauen Abdeckplane und hielt sie hoch. »Das ist wohl nichts?«, grinste er.

   Jenny erblickte auf der Ladefläche viele tonnenartige Gebilde und ein Gewirr von Tauen, Brettern, Ketten und Netzen. »Was soll denn das sein?« fragte sie erstaunt.

   »Daraus wird eine Aufzuchtfarm für Lachse errichtet, schöne Frau. Dies sind erst die Schwimm-Pontons, die mit Ketten an Bojen und im Seegrund verankert und dann mit dicken Bohlen belegt werden. Über diese gelangen dann die Farmbetreiber weit hinaus übers Wasser zu ihren Netzbehältern.«

   »Und wann soll das alles fertiggestellt sein?« Jenny war entsetzt, ließ sich aber nichts anmerken.

   »Ich warte noch auf einen Kollegen mit einer weiteren Fuhre. Die Ingenieure unserer Firma sitzen schon in den Startlöchern und könnten jeden Tag mit dem Aufbau beginnen. Aber die Öffentlichkeit darf davon noch nichts erfahren. Ich hörte, dass das eine Art Überraschung werden soll. Jetzt sind noch Schulferien und viele Leute sind verreist. Aber sie werden begeistert sein, wenn sie zurückkommen und hier eine riesige Aquakultur, so nennt man das glaube ich, vorfinden. Außerdem will man damit zwanzig neue Arbeitsplätze schaffen.«

   »Na, dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg, Henrik. Nein wirklich, auf so etwas wäre ich nie gekommen. Eine Fischzuchtanlage, unglaublich!« Freundlich lächelnd reichte sie Henrik Jörgensson die Hand. Dabei fiel ihr eine Tätowierung auf, die aus einem grünroten Dreieck bestand und nur kurz auf Henriks Handrücken sichtbar wurde. Dann drehte sie sich schnell um, damit er die große Wut nicht bemerkte, die sich auf ihrem Gesicht abzeichnete. Eilig kehrte sie an den Redaktions-Schreibtisch zurück.

 

Jenny Symon hatte herausgefunden, dass es sich bei der Leegaard Society Ltd. um ein Unternehmen der Fischindustrie handelt, das bereits in Norwegen zahlreiche Fischfarmen betreibt und nun weitere Aufzuchtanlagen für Lachse auch in der Grafschaft Ross&Cromarty im Visier hat. Der Stadtrat Ullapools hatte nach nur kurzer Beratung die Genehmigung für die Einrichtung einer Fischfarm erteilt. Als Zeitpunkt dafür hatte man die Schulferien vorgesehen, denn um diese Zeit war nur wenig Protest seitens der Einwohnerschaft zu erwarten. Inzwischen hatte es sich nämlich herumgesprochen, dass über sogenannte Aquakulturen, also durch die Massentierhaltung von Fischen, bereits erhebliche Umweltschäden – vor allem an den Küstengewässern – entstanden. Jenny vermutete, dass die Zustimmung zu diesem Projekt nur durch den Kauf korrupter Stadträte zustandekam.

 

Anlässlich einer Redaktionskonferenz der The Ross&Cromarty News hatte Jenny ein Referat zum Thema Aquakulturen gehalten. Dabei appellierte Sie an den Verleger Garry Gibson, ihr ausreichend Platz zur Verfügung zu stellen, um die Leserschaft für eine Ablehnung solcher Fischfarmen zu sensibilisieren. Unter dem Beifall ihrer Kolleginnen und Kollegen hatte sie auf die Gefahren solcher Anlagen hingewiesen, indem sie ausführte:

 

Noch vor einigen Jahrzehnten galt der Lachs als Delikatesse und war entsprechend teuer. Wildlachs wird als besonders gesund bezeichnet, da er einen nur geringen Anteil an gesättigten Fettsäuren enthält, dafür aber einen hohen Anteil ungesättigter Fettsäuren, z.B. Omega-3-Fettsäuren. Die besonders in den letzten Jahren stark angestiegene Nachfrage konnte schon lange nicht mehr mit gefangenem, also wildem Lachs gedeckt werden. 98 Promille aller weltweit angebotenen Produkte vom atlantischen Lachs stammen inzwischen aus künstlicher Lachsaufzucht. Die Medien hatten immer wieder vor der Überschwemmung des Landes mit Aquakulturen gewarnt, leider mit nur bescheidenem Erfolg.

 

Mr Gibson zeigte sich von Jennys Einsatz für den Umweltschutz begeistert und stellte ihr in der Wochenendausgabe der Zeitung gleich eine ganze Seite zur Verfügung. Darin veröffentlichte Jenny Auszüge ihres Referats, was daraufhin zu lebhaften Diskussionen innerhalb der Leserschaft führte:

 

Verheerende Folgen der Lachs-Aquakulturen

Wie wurde das ›Wunder‹ vollbracht, Lachs in gigantischen Mengen zu minimalen Preisen weltweit anzubieten? Dies gelingt mit der sogenannte Aquakultur:

  Als Vorbild dient die landwirtschaftliche Massentierhaltung. Die Lachse wurden inzwischen zu ›Schweinen der Meere‹. Sie werden zu hunderttausenden pro Anlage in freischwimmenden Käfigen gemästet. Wegen seiner schnellen Gewichtszunahme ist der Lachs der meistgezüchtete Fisch vor Europas Küsten geworden.

  Durch die hohe Besatzdichte können sich Krankheiten sehr schnell verbreiten. Darum gibt man folgenden Chemie-Cocktail ins Wasser:

      Antibiotika gegen Bakterien

      Fungizide (wie z.B. Malachit-Grün) gegen Pilzkrankheiten

      Pestizide gegen Fischparasiten, wie z.B. die gefährliche See-Laus

      Farbstoffe, wie z.B. Beta-Carotinoide, damit das Lachsfleisch seine

  charakteristische, rosarote Farbe erhält.

  Zudem werden den Junglachsen maschinell Wachstumshormone gespritzt. Als Futter bekommen die Lachse eine Mischung aus künstlich hergestelltem Eiweiß und zu Pellets gepresstem Fischmehl. Das Fischmehl wird durch die sogenannte ›Gammelfischerei‹ gewonnen – was zusätzlich den Druck auf wildlebende Fischbestände erhöht. Den Hauptanteil der Fischmehlproduktion verbraucht die Aquakultur, d.h. die Zucht von Fischen, Krabben und Muscheln in Becken und Netzkäfigen. Um nur eine Tonne Lachsfleisch zu erhalten, müssen – zusätzlich zu industriell hergestellten Proteinen – drei Tonnen Fischmehl zugefüttert werden.            Die Nachfrage nach Fischmehl ist durch den rasanten Boom der Aquakulturen drastisch gestiegen, womit sich der Trend zur Überfischung der Weltmeere fortsetzt. Durch die Herstellung des Fischmehls konzentrieren sich auch automatisch die Schadstoffe: Zuchtlachs enthält deutlich mehr Dioxine, PCB und andere langlebige Schadstoffe, als Wildlachs.

  Trotz dieser negativen Tatsachen gelingt es den Betreibern solcher Anlagen immer wieder, von Kommunalpolitikern oder Anrainern durch Bestechung oder Zusagen auf Beteiligung am wirtschaftlichen Erfolg eine Genehmigung zur Einrichtung dieser schauderhaften Massentierhaltung zu erhalten. Wir fordern die Bürger daher auf, sich für eine sofortige Einstellung dieser widernatürlichen Aufzucht von Seefischen stark zu machen.

 

Hierauf meldeten sich zahlreiche Leser – auch aus anderen Küstenregionen – wo bereits derartige Aquakulturen errichtet wurden. Sie gaben an, dass in den Gewässern keine Bademöglichkeiten mehr bestünden, weil eine weißgrau schimmernde, aus Futterabfällen und Fischkot bestehende Schicht die Wasseroberfläche meilenweit bedecke. Der üble Gestank der Gewässer habe inzwischen viele Touristen vertrieben. Auch Berufsfischer oder Hobbyangler beschwerten sich über die zurückgegangenen Fänge, weil die Fischfarmen inzwischen Seehunde und Delfine angelockt hätten, wodurch die Fischbestände bereits erheblich dezimiert worden seien.

   Doch es blieb nicht allein bei zustimmenden Äußerungen. Jenny fand einige Tage später unter den zahlreichen Leserzuschriften einen anonymen, an sie persönlich adressierten Brief:

 

Miss Jennifer Symon!

Sollten Sie weiter solche Unwahrheiten über die weltweit und mit großem Erfolg betriebenen Aquakulturen verbreiten, können wir Ihnen keinerlei Garantie für ihre körperliche Unversehrtheit bieten. Überlegen Sie sich also gut, was Sie in Zukunft schreiben.

Wir verlangen von Ihnen, den beigefügten Text in einer Ihrer nächsten Ausgaben zu veröffentlichen. Falls Sie das nicht tun, werden Sie allein für die Konsequenzen aufkommen müssen.

 

Dem Brief lag ein computergeschriebener Text bei. Darin wurde der wirtschaftliche Erfolg der weltweit betriebenen Aquakulturen gelobt, der inzwischen Tausende neuer Arbeitsplätze geschaffen hätte. Weiter wurde darauf hingewiesen, dass noch kein Mensch von dem Genuss eines Zuchtlachses in seiner Gesundheit geschädigt worden sei, ganz im Gegenteil. Durch den hohen Gehalt an Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren hätten gerade die Zuchtlachsbetriebe einen Beitrag zur Vermeidung überhöhter Cholesterinwerte geleistet und somit der Gesundheit einen beachtlichen Dienst erwiesen.

 

Jenny Symon fragte sich, warum sie sich überhaupt auf ein solch brisantes Thema eingelassen hatte. Aber als leidenschaftliche Journalistin betrachtete sie es als eine ihrer Aufgaben, jedem geringsten Hinweis über kriminelle Aktivitäten nachzugehen. Sie nahm sich vor, alles aufzudecken, was mit der heimlichen Errichtung einer Aquakulturanlage in Ullapool zusammenhing. Ihr Ziel war es, die Hintermänner dieser Aktion zu entlarven und dieses publik zu machen. Jetzt fehlten ihr nur noch die Beweise. Jedenfalls hatte sie von Garry Gibson ›grünes Licht‹ für ihre weiteren Nachforschungen erhalten.

   Hatte Jenny zunächst angenommen, dass der oder die Briefschreiber ihr nur einen Schrecken einjagen wollte, wurde sie bald darauf eines Besseren belehrt. Als sie morgens ihre Wohnung verließ, machte sie eine schlimme Entdeckung. Sämtliche Reifen ihres in der Nähe geparkten VW Golf waren platt. Einstiche an den Reifenkarkassen, die von einem spitzen Gegenstand herrührten, waren noch deutlich zu erkennen. Dann entdeckte sie den Zettel unter einem Scheibenwischer. In Computerschrift stand darauf:

 

Eine weitere Warnung gibt es nicht mehr. Falls Sie nicht innerhalb einer Woche Ullapool verlassen, können wir für nichts mehr garantieren.

 

Jennys Herz begann zu rasen, sie bekam einen Schweißausbruch und fühlte sich dem Heulen nahe. Aber rasch fasste sie sich wieder und eilte in die Redaktion. Dort informierte sie sofort ihren Chef, der seinerseits die Polizei vom dem Vorfall in Kenntnis setzte.

   »Ich meine, wir sollten diese Einschüchterungsversuche sehr ernst nehmen, das ist auch die Meinung der Polizei«, meinte Mr Gibson, der Jenny am Nachmittag zu sich bestellte. »Sie haben vermutlich in ein Wespennest gestochen, Miss Symon. Erst kürzlich gab es einen ähnlichen Fall, der die Menschen in den Lowlands (Der südliche, flache Landesteil Schottlands) bewegte. Dabei ging es um die Errichtung einer Papierfabrik an einem Fluss, dicht bei einer Wohnsiedlung und am Rande eines Naturschutzgebiets. Es formierte sich eine Protestbewegung, die letzten Endes das Projekt zu Fall brachte. Aber der Initiator, ein Reverend unserer Kirche wurde kurz darauf mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden. Am besten wäre es daher, wenn Sie für eine Weile untertauchten, das heißt, sich anderswo nach einer Stelle umsähen. Von mir erhalten Sie jedenfalls die besten Referenzen. Fragen Sie doch mal beim Inverness Report nach. Ich kenne dessen Herausgeber Harry McKinnel sehr gut. Wir beide gehören dem Verband schottischer Zeitungsverleger an. Ich werde Ihnen ein Empfehlungsschreiben mitgeben.«

   Jenny brauchte nicht lange zu überlegen. Ihr war inzwischen klar geworden, dass sie sich mit dem Fall Aquakulturen wohl etwas zuviel zugemutet hatte. Mr Gibson stellte sie frei und erklärte sich kulanterweise bereit, ihr Gehalt drei Monate lang weiterzuzahlen, sofern sie innerhalb dieses Zeitraums noch keine anderweitige Anstellung gefunden hätte.

   Wieder hatte Jenny Glück. Die Position eines Lokalredakteurs beim Inverness Report war gerade frei geworden, weil der bisherige Redakteur aus internen Gründen ans Kulturressort versetzt wurde. Die Empfehlungen Mr Gibsons waren hilfreich und der Verleger Harry McKinnel freute sich, eine erfahrene Redakteurin mit erstklassigen Referenzen für die lokale Sparte seiner Zeitung einstellen zu können. Jenny ließ also neue Reifen montieren, packte ihre Sachen, und zog in der gleichen Woche nach Inverness um, wo sie mit Unterstützung des Verlags ein freundliches Appartement mieten konnte.

 

Seitdem hat sich Jennys Äußeres gewandelt. Während sie in Ullapool noch ihr rotblondes, schulterlanges Haar mädchenhaft offen trug, legte sie sich inzwischen eine schicke, damenhafte Pagenkopffrisur zu. Ihr frischer Teint, die grünbraunen Augen und ihre wohlgeformten Lippen verleihen ihr eine besondere, natürliche Schönheit, wobei sie auf die Verwendung jeglicher Kosmetika verzichtet. Zwar wäre sie gern etwas schlanker gewesen, aber die leicht füllige Figur hatte sie von Mutter und Großmutter geerbt und sich schließlich damit abgefunden. Aber vielleicht gerade deswegen besitzt sie einen besonderen, fraulichen Liebreiz, sodass es kein Wunder ist, dass ihr schon frühzeitig die jungen Männer nachstellten. Allerdings gelten die Frauen der Hebrideninseln als stolz und unnahbar und wer sie erobern will, der braucht viel Beharrungsvermögen.

 

Jenny Symon ist jetzt 34 Jahre alt und hat nach mehreren Enttäuschungen beschlossen, nicht weiter nach einem Lebensgefährten zu suchen. Doch als sie kürzlich Paul O’Brien kennenlernte, empfand sie sogleich Sympathie für den erfolgreichen und kraftvollen, andererseits auch sensibel wirkenden Mann. Inzwischen hat sie jedoch die Hoffnung auf eine nochmalige, zwanglose Begegnung mit ihm aufgegeben.

   Seit der Feierstunde im Rathaus sind etwa drei Wochen vergangen. Jenny betrachtete nervös das Datum auf dem kleinen Tischkalender. Sie war mit einem Notizblock bewaffnet aus einer Redaktionskonferenz zurückgekehrt. Von dem grauhaarigen, ihr stets wohlgesinnten Harry McKinnel hatte sie soeben den Auftrag zu einer Reportage über die zunehmende Gewalt zwischen den Fans der regionalen Fußballvereine erhalten. Dieser Tatbestand hatte zu dem einvernehmlichen Beschluss zwischen Kommunalpolitikern, Vertretern der Sportvereine, der Wirtschaft sowie der Polizei geführt, digitale Überwachungskameras im Fußballstadion zu installieren. Das war – ohne großes Aufsehen zu erregen – gerade noch rechtzeitig vor einem Fußballspiel im Rahmen der Scottish Premier League erfolgt. Erwartungsgemäß waren wieder Gruppen von Hooligans mit Bierflaschen und Baseballschlägern auf einander losgegangen, als die heimische Mannschaft der Inverness Caledonians die Berwick Rangers 3:1 besiegten. Bei dem andauernden Gerangel hatte es diesmal sogar Schwerverletzte gegeben. Die Auswertung der Videokameras ermöglichte es jetzt, die Rädelsführer ausfindig zu machen. Bevor die Reportage hierüber in der Zeitung am Wochenende erscheinen konnte, waren noch Gespräche mit den Sponsoren, der Polizei und der Staatsanwaltschaft zu führen. Für deren Vorbereitung brauchte sie nun absolute Ruhe und schloss daher die Tür zu ihrem Vorzimmer, die sonst immer offen stand.

   Die sehr junge und noch etwas unbeholfene Redaktionsassistentin Mary Tarrill, die sonst ungebetene Besucher von ihr fern hielt, klopfte zaghaft an der Tür und öffnete sie nur einen kleinen Spalt. »Entschuldigen Sie bitte, aber draußen steht jemand, der unbedingt mit Ihnen sprechen möchte. Der Typ lässt sich nicht abwimmeln. Er sagt, es sei sehr wichtig und auch äußerst dringend.«

   Jenny schaute etwas ärgerlich von ihrem Konzept auf und presste die Lippen zusammen. »Na gut«, sagte sie nach kurzer Überlegung. »Führen Sie den Mann herein.«

   Als der Besucher in der Tür erschien, erhob sich Jenny und trat ihm entgegen. »Morning!« fiel ihre kurze Begrüßung aus. »Ich bin Jennifer Symon, die Lokalredakteurin. Allerdings habe ich nicht viel Zeit. Worum geht es denn?«

   »Mein Name ist Jack Packard«, sagte der ungebetene Besucher mit amerikanischem Akzent. »Ich bin zwar nur Busfahrer, aber vielleicht können Sie mir helfen. Es ist unglaublich, was ich in letzter Zeit erleben musste. Ich bin völlig am Ende. Kein Mensch scheint an der Aufklärung einer Familientragödie – eines wirklich mysteriösen Vorfalls – interessiert zu sein.«

   Jenny Symon besitzt seit jeher ein Gespür für ungewöhnliche Schicksale. Sie weiß daher wohl zu unterscheiden zwischen Leuten, die ihren Unmut über irgendwelche Nachbarschaftsprobleme loswerden und sich nur über die langen Wartezeiten beim National Health Service (Britisches Gesundheitssystem) beschweren wollen. Oder ob es sich um Menschen handelt, denen man gleich ihre große Verzweiflung ansieht und die dringend Zuwendung und Hilfe benötigen. Zu dieser Kategorie schien der Mann zu gehören, der noch immer mit leicht gesenktem Kopf in der Türfüllung stand. Jennys Gesicht entspannte sich und mit freundlich einladender Geste bat sie ihn, vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen.

   Jack Packard ließ sich schwerfällig auf den Sitz des Besucherstuhls fallen und schaute die junge Dame aus übernächtigten, rot umränderten Augen an. ›Er muss wohl viel geweint haben‹, überlegte Jenny und fühlte gleich, dass sie ihre volle Aufmerksamkeit diesem, vermutlich von einem schweren Schicksalsschlag getroffenen Menschen zuwenden musste. Doch zunächst eröffnete sie das Gespräch mit allgemeinen Fragen. »Sie sagten, dass Sie Busfahrer sind? Ein interessanter, aber auch sehr schwerer Beruf. Für welche Gesellschaft fahren Sie denn?«

   »Für den Highland Express, Miss. Ich bediene den Linienverkehr, meistens die Strecke zwischen Dingwall und Edinburgh.«

   »Also mit Sicht auf die Cairngorm Mountains. Eine bezaubernde Landschaft ist das, ich bin erst kürzlich dran vorbeigekommen. Einer meiner Brüder dient nämlich in der British Army, eigentlich ist er mehr Musiker als Soldat, er ist jetzt sogar Pipe Major geworden beim Edinburgh Military Tattoo. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen und reiste übers Wochenende mit einem Ihrer Express-Busse nach Edinburgh. Vielleicht hatten sogar Sie mich chauffiert? Jedenfalls werde ich in Zukunft genau drauf achten, wer in dem Bus das Steuer bedient. Aber nun sitzen Sie hier und ich merke, dass Sie eine ganze Menge Probleme haben. Also schießen Sie los! Was kann ich für Sie tun?«

   Jack fühlte sich erleichtert durch die lockere Art, mit der Jenny Symon das Gespräch eröffnete. Er schluckte ein paar Mal und rückte sich auf dem Stuhl zurecht.

   »Ich habe meine Familie verloren. Meine Frau, meine Tochter, meinen Sohn, alle! Können Sie sich vorstellen, wie man sich da fühlt?«

   »Das ist ja entsetzlich!« Jenny war auf eine derartige Eröffnung nicht vorbereitet. Das klang schlimmer, als sie erwartet hatte. Aber war sie in diesem Fall die richtige Ansprechstelle? Immerhin wollte sie versuchen, dem Mann ein offenes Ohr zu leihen. Denn vielleicht verbarg sich hinter seinem Schicksalsschlag noch viel mehr, als er bisher verriet. »Das tut mir sehr, sehr leid für Sie, Mr Packard, und für alle, die außer Ihnen von dem Unglück betroffen sind. Nehmen Sie bitte mein tiefstes Mitgefühl entgegen, ich kann mir sehr wohl vorstellen, wie Ihnen zumute sein muss. Was ist denn passiert?«

Jack Packard musste gegen seine Tränen ankämpfen:

   »Am Sonntag vor zwei Wochen hatte ich Fahrdienst, ich musste für einen erkrankten Kollegen einspringen. Meine Frau hatte unseren beiden Kindern den Besuch des Wildpark Kincraig bei Kingussie schon lange versprochen, so fuhren die drei dann ohne mich los. Am Ortsrand von Aviemore – das liegt an der Strecke, die ich fast täglich befahre – ist es passiert. Unser kleiner Austin Mini wurde – vermutlich durch ein entgegenkommendes Fahrzeug – von der Straße abgedrängt und zerschellte an einem Telefonmast. Alle drei müssen auf der Stelle tot gewesen sein.«

   Jenny bemerkte, dass der Mann nach einem Taschentuch suchte, denn er konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. »Hier, nehmen sie dieses!« Sie reichte ihm ein Papiertaschentuch. Jack bedankte sich wortlos und versuchte vergeblich, seine lautstarken Emotionen zu unterdrücken.

   Wie kann ich diesem armen Menschen nur helfen?‹, fragte sich Jenny. ›Ob ich ihn zu einem Seelsorger begleiten sollte?‹ Sie fühlte sich ratlos und in diesem Fall wohl auch überfordert. Aber als Mr Packard sich etwas beruhigte und weitersprach, wurde sie auf einmal hellhörig.

   »Ich erfuhr von dem Unglück erst aus den Abendnachrichten der BBC. Daraufhin habe ich mir den Bus geschnappt – was für eine Privatfahrt natürlich verboten ist – und bin zu der im Fernsehen erwähnten Unfallstelle gefahren. Doch da war nichts mehr zu sehen, nur ein umgebrochener Leitungsmast lag auf einer Wiese am Straßenrand. Ich stellte den Bus ab und besah mir die Stelle genauer. In dem zersplitterten Holz waren deutlich rote Farbspuren zu erkennen, die bestimmt vom Lack unseres Austin stammten. Ich schaute mich nach allen Seiten um, aber kein Mensch war draußen zu sehen. Vermutlich befanden sich alle Leute auf dem Volksfest des Clan Tartan Centre, was ein Transparent über der Straße ankündigte.«

   Er musste wieder tief Luft holen, fuhr aber nach kurzer Pause fort: »Direkt an der Unfallstelle befindet sich eine Autowerkstatt, der Inhaber heißt Coleman, wenn ich mich richtig erinnere. Ich fragte ihn, ob er mir Näheres zu dem Unfall sagen könne. Aber er wusste von nichts, sondern schien erstaunt zu sein, dass vor seiner Haustür ein schweres Unglück passiert war. Er sei den ganzen Tag weggewesen und gerade erst zurückgekommen. Der Mann empfahl mir, mich an die nächste Police Station in Kingussie zu wenden.«

   Wieder machte Jack eine kurze Atempause. Jenny hatte eine Art Vorahnung von noch weitaus Schlimmerem und wollte ihm eine längere Unterbrechung gönnen, denn sie hatte bemerkt, wie sehr ihn alles bewegte.

   »Hätten Sie gern eine Tasse Kaffe? Und rauchen dürfen Sie ausnahmsweise auch, wenn Sie möchten.« Sie schob ihm einen Aschenbecher hin.

   »Zu einem Kaffee sage ich nicht nein. Aber das Rauchen habe ich mir schon in den Staaten abgewöhnt. Ich komme nämlich aus Massachusetts, wissen Sie? Ich war dort bis zu meiner Verheiratung Fahrer von Greyhound-Überlandbussen.« Unterschwelliger Stolz klang jetzt aus seiner Stimme und mit einer gezielten Handbewegung schob er den Aschenbecher wieder auf seinen ursprünglichen Platz zurück.

   Jenny betätigte die Sprechanlage und wenig später brachte Miss Tarrill ein Tablett mit zwei Tassen Kaffee, Milch, Zucker und etwas Gebäck.

   Jack hatte sich inzwischen etwas mehr in Gewalt und versuchte sogar ein zaghaftes Lächeln. Die entspannte Atmosphäre übertrug sich auf ihn und er schlug die Beine übereinander, während er ein Stück Zucker in den Kaffee fallen ließ. Jenny sah ihn jetzt mit wohlwollenden, aber auch neugierigen Blicken an.

   »Waren Sie danach in Kingussie, ich meine bei der dortigen Polizei?«

   »War ich! Bin sofort hingefahren. Die Police Station liegt an der A9, gleich hinter einer großen Tankstelle, ich komme täglich dran vorbei. Zum Glück konnte ich den Bus direkt davor parken. Im Dienstzimmer spielten zwei Polizisten vergnügt Karten. Ich war wahnsinnig aufgeregt und schrie wohl wie ein Irrer: ›Wo sind meine Frau und meine Kinder?‹. Die beiden wussten zunächst nicht, worum es ging, aber als ich es ihnen erklärte, behandelten sie mich recht zuvorkommend. Das waren ein Sergeant Crook und ein Constable Wakefield, zufällig die gleichen Polizisten, die sich mit der Unfallaufnahme befasst hatten. Sie erklärten mir, dass aus dem total zermalmten Austin Mini nur noch drei Leichen geborgen werden konnten. Ich war wie von Sinnen und schrie wieder: ›Und wo sind sie jetzt?‹ Der nette Sergeant versuchte mich zu beruhigen und sagte, dass meine Lieben bereits zum Friedhof in Dingwall überführt worden seien. Bedauerlicherweise habe es keinerlei Zeugen von der Karambolage gegeben. Für die Rekonstruktion des Unfallgeschehens müssten daher noch Spezialisten herangezogen werden. Sobald die näheren Umstände geklärt seien, würde man mir sofort Bescheid geben.«

   Jack Packard stützte beide Ellenbogen auf seine Knie und verbarg das Gesicht zwischen den Händen. Jenny bemerkte, dass er ein Schluchzen zu unterdrücken versuchte, was ihm aber kaum gelang. ›Wie soll es nun weitergehen?‹, fragte sie sich, aber ihr Besucher richtete sich gleich wieder auf und fuhr mit gequälter Stimme fort:

   »Der Unfallverursacher war ein hoher Polizeibeamter.« Er zog ein kleines Notizbuch aus der Jackentasche. Als er den gesuchten Eintrag fand, sagte er. »Das war ein Detective Superintendent Dylan Jameson, ausgerechnet der Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen beim hiesigen CID. Der hätte mit seinem silbergrauen Rover den Austin ungebremst von der Straße abgedrängt. Jedenfalls hätten die Schleifspuren diese Deutung zugelassen. Die beiden Polizisten wollen daraufhin einen schriftlichen Unfallbericht verfasst haben, den dieser Mr Jameson gegenzeichnen sollte. Mit der Begründung, sich erst mit seiner Versicherung in Verbindung setzten zu müssen, hätte er allerdings seine Unterschrift verweigert. Man sollte den Bericht zu seinen Händen ans CID senden. Er würde ihn dann prüfen, unterschreiben und unverzüglich zurückschicken.«

   Jenny lehnte sich auf ihrem Drehstuhl zurück und nahm sich einen Schluck Kaffee. Sie hatte dem atemlosen Bericht Jack Packards mit wachsendem Interesse zugehört.

   »Ist mittlerweile die Schuldfrage geklärt worden? Bestand womöglich ein Defekt an dem kleinen Austin?«, erkundigte sich Jenny und stellte die Kaffeetasse wieder ab.

   Jack Packard trocknete seine Tränen und sah Jenny Symon Hilfe suchend an. »Seltsamerweise ist der Wagen spurlos verschwunden. Sergeant Crook will einen Abschleppdienst beauftragt haben, der unseren kaputten Mini dann abtransportiert hätte. Das Autowrack sollte nach seiner Anweisung in die Spezialwerkstatt des Polizeipräsidiums gebracht werden, zwecks Überprüfung auf etwaige technische Mängel. Dort ist es aber nie eingetroffen. Mehr war von den Polizisten nicht in Erfahrung zu bringen. Dann fuhr ich den Bus zurück ins Depot. Unterwegs kam ich wieder an der Unfallstelle vorbei und hielt kurz an. Erst jetzt bemerkte ich vor der Werkstatt einen silbergrauen Rover vom Typ Streetwise, der mir vorher noch nicht aufgefallen war. Mit Sicherheit handelte es sich um den am Unfall beteiligten Wagen, denn ich entdeckte rote Lackspuren an einem Kotflügel. Aber ich mochte nicht genauer hinsehen, denn in meiner maßlosen Verzweiflung hätte ich diese Karre noch kaputt geschlagen. Darum fuhr ich schnell weiter. In Dingwall radelte ich gleich zum Friedhof, leider war die Leichenhalle bereits geschlossen. Erst am Morgen danach fand ich Einlass. Ersparen Sie mir Weiteres! Es war grauenvoll und ich werde diesen Anblick nie in meinem Leben vergessen.« Er entnahm seiner Aktentasche einige Formulare. »Das hier sind die Sterbeurkunden.« Nochmals langte er in die Tasche und breitete drei Fotos vor Jenny aus. »Und das sind sie, meine geliebte Helen und meine süßen Kinder Anne und Robert.«

   Jack begann erneut zu weinen. »Was mag Helen in den letzten Sekunden ihres Lebens gefühlt haben? Ob wohl meine beiden Kinder sehr leiden mussten? Hoffentlich ging alles so schnell, dass sie nichts mehr mitbekamen!«

   Jenny hatte sich eifrig Notizen gemacht und betrachtete nun kopfschüttelnd und mit Wehmut die drei Bildchen. Das eine zeigte eine junge Frau mit blondem, gelocktem Haar, die beiden anderen ein etwa sechsjähriges, dunkelhaariges Mädchen mit Zahnlücken vorn, und einen etwas jüngeren Buben, der wie seine Mutter blond war. Jenny war erschüttert und sagte:

   »Da haben Sie sehr viel verloren. Was Sie mir erzählen, klingt wirklich furchtbar. Der Unfallverursacher ist also vorerst unauffindbar. Natürlich kann niemand den Verlust einer ganzen Familie ersetzen. Aber zusätzlich entstand Ihnen ein wirtschaftlicher Schaden, so gefühllos das klingen mag. Und weil der Schädiger und sein Auto spurlos verschwanden, bleiben Sie auch noch auf den Kosten sitzen.«

   »Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich mich an Ihre Zeitung wende. Zum einen bin ich jetzt arbeitsunfähig, denn die Aufregungen haben derart an meinen Nerven gezerrt, dass ich die Verantwortung für die sichere Beförderung von Passagieren vorerst nicht übernehmen kann. Zum anderen benötige ich dringend einen Wagen und musste mir einen für viel Geld leihen. Ein neues Auto kann ich erst kaufen, wenn mir die Versicherung des Unfallverursachers den Sachschaden ersetzt hat. Aber ob Sie es glauben oder nicht: Von keiner Seite konnte ich Näheres in Erfahrung bringen. Weder hat mich die Polizei informiert, noch hat sich eine Versicherungsgesellschaft bei mir gemeldet. Gestern wurde ich daher selber aktiv und wandte mich direkt an die Staatsanwaltschaft. Dort trug ich dem Staatsanwalt Henry Forster mein Anliegen vor, einem widerlichen, arroganten Glatzkopf. Der wollte mich gleich abwimmeln mit dem Hinweis, für derartige Fälle sei nur die Polizei zuständig. Aber als ich darauf bestand, Anzeige zu erstatten, lehnte er das mit überheblichem Gebaren ab und empfahl mir, mich direkt ans CID zu wenden.

   Noch am selben Tag suchte ich das CID auf. Es dauerte Stunden, bis ich jemand fand, der bereit war, mich überhaupt anzuhören. Ein überheblicher Saftladen ist das! Doch nun kommt’s! Einen DSupt Dylan Jameson gibt es überhaupt nicht! Niemand beim CID kennt einen Mann dieses Namens. Ist doch merkwürdig, nicht wahr? Man riet mir schließlich, ich solle mich an das Polizeipräsidium wenden, dort würde man mir bestimmt weiterhelfen.

   Ziemlich zerknirscht suchte ich dort das für verkehrspolizeiliche Angelegenheiten zuständige Referat auf. Doch stellen Sie sich vor: Keiner dort hat Kenntnis von einem Verkehrsunfall vor genau zwei Wochen, bei dem drei Menschen ums Leben kamen. Es liegt hierzu nicht die kleinste Aktennotiz vor, auch unter den für die Presse bestimmten Tagesberichten fand sich nicht der geringste Hinweis. Als ich den Beamten die Sterbeurkunden vorlegte, zuckten sie nur mit den Schultern. Sie fanden dafür keine plausible Erklärung sondern meinten, dass es schon mal vorkäme, dass Unfallmeldungen irgendwo hängen blieben, Urlaub oder Krankheit eines Sachbearbeiters könnte der Grund dafür sein. Vermutlich läge der Bericht noch unbearbeitet in irgendeiner Schreibtischschublade. Auch über den Verbleib meines Austin Mini, von dem nur noch ein Schrotthaufen übrig geblieben sein soll und der angeblich an eine Spezialwerkstatt der Polizei überführt wurde, konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Ein Unfallfahrzeug dieses Typs sei dort nie abgeliefert worden.«

   Jack Packards Schilderungen hatten Jenny tief bewegt. Ihre sonst so glatte Stirn wies jetzt Falten auf und ihr Gesicht drückte große Bestürzung aus. Sie stützte ihr Kinn auf die geballte Faust und schaute nachdenklich zum Fenster hin.

   »Was soll man dazu sagen? Ich bin wirklich sprachlos! Natürlich muss hier etwas unternommen werden, Mr Packard. Ich darf Ihnen versichern, dass ich alles, was Sie mir vortrugen, äußerst ernst nehme. Ich bin nur etwas in Zeitdruck, denn ich muss für die Samstagsausgabe des Inverness Report eine größere Reportage vorbereiten. Aber ich lasse mir bestimmt etwas einfallen und darf Ihnen versichern, dass Sie in Kürze von mir hören werden.«

   Jack Packard bedankte sich für die ihm erwiesene Aufmerksamkeit. Jenny Symon notierte sich seine Adresse und begleitete ihn noch an die Tür. Als sie wieder an ihrem Schreibtisch saß, konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. ›Da muss irgendeine Schweinerei passiert sein, dachte sie bei sich. Aber es ist die Aufgabe von Journalisten eines freien, demokratischen Landes, solche Missstände aufzudecken‹. Sie trank den restlichen Kaffe aus, knabberte an einem Shortbread und machte sich wieder an die Arbeit.

Ein mörderisches Komplott
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