Die Rückfahrt nach Inverness genossen sie bei herrlichstem Sonnenschein. Paul setzte Jenny vor dem Gebäude des Inverness Report ab und fuhr gleich weiter zum CID.
»Was hast du in der Sache Henning erreicht?«, erkundigte sich Jenny am Abend.
»Eine ganze Menge!«, antwortete Paul. »Die Leegaard Society in Lillehammer beliefert viele Lachsfarmen in unserer Region mit Futtermitteln, Antibiotika, Impfstoffen, Netzwerk und was sonst noch dazugehört. Die beschäftigen einen Fahrer namens Henrik Jörgensson, allerdings nur zur Aushilfe, solange der eigentliche Stelleninhaber krank ist. Man sei froh gewesen, einen Ersatz gefunden zu haben. Leider habe man versäumt, ein Foto für die Personalakte anfertigen zu lassen. Bei dem Mann könnte es sich also durchaus um unseren Henning handeln. Aber nun kommt’s: Die Rückkehr dieses Henrik Jörgenssons ist längst überfällig, aber er meldet sich nicht mehr. Die schottische Polizei wurde bereits eingeschaltet. Man befürchtet, Jörgensson könnte Opfer eines Unfalls geworden sein. Nach tagelanger Suche und Einschaltung des RAC (Royal Automobil Club) wurde nämlich sein verlassener Truck auf einem Parkplatz an der A85 zwischen Oban und Crianlarich entdeckt. Die Nummernschilder waren demontiert gewesen und die Frontpartie des Volvos wies starke Beschädigungen auf. Daran befanden sich Blut- und Fleischspuren, sowie ganze Büschel von Schafswolle. Man vermutet, dass Jörgensson in eine Schafherde raste, darauf in Panik geriet und das Weite suchte. Vielleicht war er sogar verletzt. Unklar ist allerdings, warum beide Nummernschilder fehlten. Inzwischen wurde auch Interpol eingeschaltet. Das ist der Sachstand. Hoffentlich findet man den Mann, damit wir endlich wissen, ob er mit unserem Henning identisch und möglicherweise sogar der Kopfschussmörder ist!«
Am frühen Morgen setzten Paul und Jenny ihre Erkundungsreise fort. Von Inverness aus fuhren sie die kurvenreiche Strecke am 1.125 Meter hohen Ben Wyvis vorbei und durch eine wilde Berglandschaft bis zu dem am Loch Broom gelegenen Fischerstädtchen Ullapool. Seit Jennys Fortgang hatte sich dort nichts verändert und ortskundig leitete sie Paul zu dem Parkplatz, wo sie einst die Ladung in Henrik Jörgenssons Truck bestaunt hatte. Danach führte sie Paul zu der inzwischen noch weiter ausgebauten Lachsfarm. »Dieses Projekt wollte ich damals verhindern, aber wie du siehst, ist mir das nicht gelungen. Aber eines Tages wird man mit den Folgen der Massentierhaltung leben müssen. Die Schäden, die man in der Tier- und Pflanzenwelt durch die Zerstörung des biologischen Gleichgewichts angerichtet hat, werden irreversibel sein. Es geht nämlich nicht nur um die Fische, sondern auch um Säugetiere wie Seehunde und Delfine.
»Gibt es auch die hier?«, wunderte sich Paul.
»Natürlich. Diese Tiere bevölkern inzwischen fast alle schottischen Gewässer, die mit der offenen See verbunden sind. Und für Meeressäuger wie Seehunde besteht immer Lebensgefahr, wenn sie nämlich die Netze durchbeißen, um an die begehrten Lachse zu gelangen. Es kommt immer wieder vor, dass Dutzende von Seehunden in den Netzen verenden, nur weil sie nicht mehr den Weg hinausfinden.«
Paul wurde nachdenklich. »Jetzt wird mir auch klar, warum sich die Gegner solch widernatürlicher Aufzuchtsysteme mit Händen und Füßen gegen die Errichtung neuer Lachsfarmen wehren. Drei dieser tüchtigen Leute mussten das bereits mit ihrem Leben bezahlen. Hoffentlich erwischen wir bald den Dreckskerl, der vielleicht sogar auf Anweisung höherer Stellen handelte. Aber auch diese Hintermänner werden wir eines Tages zur Rechenschaft ziehen. Nur will ich einfach nicht begreifen, was Adams, Bayne, McNiven, Coleman und letztlich auch McDavid damit zu tun hatten.«
Nach kurzem Aufenthalt in Ullapool fuhren sie die A835 ostwärts ein Stück zurück, dann auf der A832 am Little Loch Broom vorbei bis zu der am Loch Ewe gelegenen Ortschaft Inverewe.
»Wie kommt man eigentlich an so einen Schlachtschussapparat?«, fragte Jenny unterwegs. »Wenn Henrik Jörgensson tatsächlich der Mörder ist, dann muss er doch Beziehungen zu Metzgereien oder Schlachthöfen unterhalten.«
»Ich nehme an, dass man ein solches Gerät nicht im Supermarkt kaufen kann.«
»Du bringst mich auf einen Gedanken!«, rief Paul aus und hielt an. »Dass ich nicht selber draufgekommen bin!« Er nahm sein Handy und wählte Hastings Nummer. Der meldete sich sofort, als er auf dem Display den Namen des Anrufers erkannte.
»Hier Hastings, stets zu Ihren Diensten«, scherzte der Sergeant, was er sich allerdings nur in Abwesenheit seines Chefs erlaubte.
»Bitte keine Witze, Hastings! Stellen Sie umgehend fest, wo in letzter Zeit Schlachtschussapparate, die man auch als Bolzenschussgerät bezeichnet, den Besitzer wechselten«, befahl O’Brien barsch. »Erkundigen Sie sich in allen einschlägigen Geschäften und notieren Sie sich die Namen der Käufer, sofern die bekannt sind. Und noch besser: Setzen Sie zusätzlich ein Inserat in den Inverness Report.«
»Welchen Text schlagen Sie vor, Chef?«, fragte Hastings unsicher.
»Mann, wie lange sind sie schon beim CID?«, rief O’Brien verärgert. »Da müssen Sie sich schon selbst etwas einfallen lassen. Morgen sprechen wir uns wieder!«
Als sie gegen Mittag das kleine, idyllisch gelegene Inverewe in der Grafschaft Ross&Cromarty erreichten, mussten sie lange Zeit suchen, bis sie endlich einen Parkplatz fanden. Den Grund für diesen außergewöhnlichen Zustand erkannten sie gleich, denn als sie dem Hinweisschild Salmon-Aquakulturen folgten, stießen sie auf eine riesige Menschenansammlung. Ein älterer Mann erklärte ihnen, dass gerade einem interessierten Publikum die erst kürzlich in Betrieb genommene Lachsfarm vorgestellt würde. Somit sah Paul vorerst keine Chance, den Betriebsleiter sprechen zu können.
»Ewig kann das aber nicht dauern«, meinte Jenny. »Wir könnten derweil nach Poolewe fahren und dem berühmten Inverewe Garden einen kurzen Besuch abstatten. Der befindet sich nicht weit von hier. Von Stornoway aus bin ich einige Male dort gewesen. Ein Besuch lohnt sich wirklich.«
In den bezaubernden Gärten konnten sie sich leider nur zwei Stunden aufhalten. Paul zeigte sich begeistert von dieser einzigartigen Anlage und der Fülle seltener subtropischer Pflanzen. »Das war ein guter Tipp von dir. Wir müssen unbedingt wiederkommen«, schwärmte er. »Aber um alles zu erkunden, würde man wohl mindestens einen Tag benötigen!«
Die Menschenmassen des Vormittags waren verschwunden. So fanden sie gleich einen Parkplatz und begaben sich gleich ans Wasser. Aus einer Holzhütte mit dem Schild Loch Ewe Aquafarm trat gerade ein Mann in orangefarbenem Overall heraus und wollte die Tür abschließen. Paul zeigte ihm seinen Dienstausweis und sagte: »Wir haben einige Fragen an den Leiter dieser Einrichtung. Wo finde ich ihn?«
Der Mann wirkte erschöpft. »Der bin ich«, sagte er mit heiserer Stimme. »Und was wünschen Sie von mir?«
»Kannten Sie Pit McDuff, der kürzlich hier ermordet wurde?«
»Nein, nicht persönlich, aber ich erfuhr natürlich von dem schrecklichen Verbrechen. Wissen Sie, ich habe diesen Job erst vor einer knappen Woche übernommen. Mein Vorgänger Barney Cooper hatte gekündigt, vermutlich aus Angst, es könnte ihm was Ähnliches wie Pit McDuff zustoßen. Die Leute hier waren nach dessen Ermordung aufgebracht und verdächtigten sogar Mr Cooper, etwas damit zu tun zu haben. Doch inzwischen hat man sich beruhigt und mit den Fakten abgefunden. Und mir können Sie schließlich nichts anhaben.«
»Ist denn so eine Lachsfarm überhaupt rentabel?«, wollte O’Brien wissen.
»Im Augenblick noch nicht, der Besatz mit Jungfischen braucht noch eine Weile bis zur Schlachtreife. Außerdem haben wir erhebliche Ausfälle durch Läuse und andere Parasiten. Aber zum Glück gibt’s ja Antibiotika!« Dabei lächelte er etwas verlegen.
»Dem wird bald sein dämliches Grinsen vergehen!«, sagte Jenny später voll Zorn. »Wenn ich das schon höre: ›Läuse und andere Parasiten‹. Und die Antibiotika serviert man den Menschen dann kostenlos dazu.«
»Nun rege du dich nicht auf!«, riet Paul. »Wir können doch die Welt nicht verändern.«
»Leider! Und was tun wir jetzt?«
»Vermutlich fand die Bürgerversammlung in dem Gasthaus statt, an dem wir vorhin vorbeikamen. Fahren wir also hin!«
Der Speiseraum des nur wenig einladenden Restaurants Fishes&Crabs war um diese Zeit noch leer. Die Tür stand offen und obwohl Paul mehrmals laut Hallo rief, rührte sich nichts.
»Ich befürchte wieder das Schlimmste«, flüsterte Jenny, der die Angst in ihrem Gesicht abzulesen war.
Beide erschraken, als hinter ihnen ein lautes »Hi!« ertönte. Sie hatten den mit einem grünblaurot karierten Kilt bekleideten, vollbärtigen Mann nicht kommen sehen.
»Ich war gerade im Keller, als ich Sie rufen hörte. Möchten Sie essen oder etwas trinken?«
»Nein, wir kommen wegen des Mordfalls Pit McDuff«. O’Brien gab sich dem Wirt zu erkennen und bemerkte, wie leichte Röte in dessen Gesicht stieg.
»Ach der arme Pit! Wir waren gute Freunde. Bestialisch umgebracht hat man ihn. Seitdem haben wir noch immer keinen Ortsvorsteher. Er hatte die Verwaltung unserer kleinen Gemeinde stets gut im Griff.«
»Wo genau fand man ihn denn?« O’Brien hatte zwar das Protokoll genau studiert, wollte sich aber selber ein Bild von allem machen.
»Der lag auf dem Rücken in einem seiner Ruderboote, mit einem kreisrunden Loch in der Stirn. Wissen Sie, Pit betrieb einen Bootsverleih, davon konnte er recht und schlecht leben. In den Sommermonaten läuft ein solches Geschäft ganz gut, wenn die Touristen vorbeikommen. Aber im Winter, da ist bei uns oft Ebbe in der Kasse. Dann leben wir fast nur von Fischen und Krabben.«
»Am Abend vor McDuffs Ermordung fand in Ihrer Wirtschaft eine Bürgerversammlung statt. Ist Ihnen da etwas Außergewöhnliches aufgefallen?«
»Eigentlich nicht«, sagte der Wirt und kraulte sich seinen grauen Vollbart. »Doch, ein Fremder war darunter. Während die andern Bier und Whisky bestellten, wollte der nur Mineralwasser trinken. Den ganzen Abend über wich er Pit nicht von der Seite und ich dachte, es wäre ein alter Freund von ihm. Als Pit einmal pinkeln ging, kam er an der Theke vorbei. Da erkundigte ich mich nach diesem Typ. Pit meinte, dass sei ein aufdringlicher Spinner, der ihn mit seinem ständigen Beifallgeklatsche allmählich nerve.«
»Können Sie uns diesen Mann näher beschreiben?«, fragte O’Brien.
»Der war zwar gut gekleidet, allerdings passte das überhaupt nicht zu seinem stechendem Blick und seinem ungepflegten Gebiss. Und dann fiel mir noch auf, dass eine Hand in einem weißen Handschuh steckte.«
»Verließ der Fremde die Gaststube gleichzeitig mit den anderen Gästen?«
»Nein, erst viel später zusammen mit Pit. Der hatte wohl etwas zuviel getrunken und hängte sich bei dem Typ ein. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«
»Hatten Sie der Polizei das Gleiche erzählt?«
»Nein, bestimmt nicht. Da erschien nur ein junger, klapperdürrer Inspector, der hieß Adam oder so ähnlich. Der kam sich unheimlich wichtig vor, stellte nichts als dumme Fragen und verschwand genauso schnell, wie er zuvor auftauchte. Der wollte nur wissen, ob Pit an der Veranstaltung teilgenommen hatte. So’n Schwachsinn, wo Pit doch deren Initiator und Hauptredner war.
»Würden Sie den Fremden wiedererkennen?«, fragte O’Brien in dem Bemühen, durch ständig neue Fragestellungen doch noch etwas von Gewicht zu erfahren.
»Ich machte sogar einige Aufnahmen von der Versammlung. Fotografieren ist nämlich mein Hobby.« Der Wirt strahlte. »Vielleicht habe ich den Kerl sogar auf einigen Bildern drauf.«
Blitzartig durchzuckte es O’Brien. »Wo sind die Fotos? Her damit!«
»Den Film sandte ich erst gestern ans Fotolabor, erwarte aber in wenigen Tagen die fertigen Bilder. Ich knipse nämlich noch mit einer uralten Leica, die moderne Digitalfotografie ist nicht so meine Sache.«
Paul O’Brien übergab ihm seine Visitenkarte. »Schicken Sie mir sofort alle Fotos, auf denen der Mann zu sehen ist! Markieren Sie ihn darauf und fügen Sie auch die Negative bei! Vielleicht helfen Sie uns damit, einen der schlimmsten Verbrecher Schottlands aufzuspüren.«
Später meinte Jenny: »Ich erzählte dir doch, dass der Norweger aus Ullapool auf einem Handrücken tätowiert war. Das könnte die Frage beantworten, warum der fremde Gast einen Handschuh trug. Sollte es Henrik Jörgensson gewesen sein, musste er wohl befürchten, an dieser Tätowierung erkannt zu werden.«
»Wie gut, dass ich dich mitnahm!«, meinte Paul auf der Rückfahrt. »Hastings ist zwar ein lieber Kerl, aber weder hätte ihn ein Bonbonpapier interessiert, noch hätte er etwas von einer Tätowierung gewusst. Ich bin fest überzeugt, dass wir dank deiner Beobachtungsgabe dem Kopfschussmörder dicht auf den Fersen sind.«