Als Paul O’Brien seinen Platz verließ, schaute ihm sein Vorgesetzter noch eine ganze Weile hinterher. DSupt Gordon Bayne konnte den Mann von Scotland Yard nicht leiden, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Vor allem passte es nicht in sein Weltbild, dass ausgerechnet ein Engländer, dazu noch ein relativ Neuer im Team, eine Belobigung erfahren sollte. Noch nie zuvor war einem Mitarbeiter des CID eine Auszeichnung wie die heutige verliehen worden. Darum hielt sich Bayne dafür prädestiniert, nach etlichen Dienstjahren eine besondere Ehrung verdient zu haben und baute dabei auf seine freundschaftlichen Beziehungen zu Staatsanwalt Henry Forster. Diesem war es schließlich gelungen, den ahnungslosen Lord Mayor Polson davon zu überzeugen, dass die Goldene Ehrenmedaille unbedingt an Superintendent Gordon Bayne, den Chef der Abteilung für Kapitalverbrechen beim CID, zu verleihen sei. Womit Bayne allerdings nie gerechnet hatte, war der Gutschein für einen Wochenende zu Zweit in einem der vornehmsten Hotels der östlichen Highlands. Das war eine echte Überraschung gewesen und er konnte es kaum erwarten, sich in einer besonders exklusiven Atmosphäre verwöhnen zu lassen.
Gordon Bayne war 27 Jahre alt gewesen, als er 1983 in den Falklandkrieg zwischen Argentinien und Großbritannien zog, den die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher heraufbeschworen hatte. Die Auswahl traf ihn, weil er recht gut Spanisch sprach; im Deutschen glänzte er ohnehin, da seine Mutter gebürtige Deutsche war. Mit 39 Jahren war er dann als Captain aus der Army ausgeschieden.
Während sein Schulfreund Henry Forster das Jurastudium absolvierte, hatte er den militärischen Dienst vorgezogen, denn er war ein sportlicher Typ, der sich außerdem zum Kommandieren wie berufen fühlte. Trotzdem wurde ihm auf Dauer der soldatische Rummel zuwider, zumal er sich kaum Hoffnung auf eine weitere Beförderung zu machen brauchte. Den wahren Grund hierfür kannten freilich nur wenige außer ihm selber. Zu oft sprach er dem Whisky zu und war mehrmals alkoholisiert zum Dienst erschienen. Um einer unehrenhaften Entlassung aus der Army zuvorzukommen, hielt er Ausschau nach einem bequemeren und gleichzeitig besser bezahlten Job. Jetzt bewährte sich seine alte Freundschaft zu Henry Forster, dessen ältere Schwester Lucy mit dem Polizeipräsidenten von Edinburgh verheiratet war. Über diese Beziehung war ihm völlig unerwartet eine plötzlich frei gewordene Position bei der Kriminalpolizei in Inverness angeboten worden.
Als DSupt Bayne nach der Feier in der Town Hall von einer jungen Dame ein Glas Sekt angeboten wurde, blickte er nur flüchtig auf das Schildchen an dem Revers ihrer Jacke mit dem Logo des Inverness Report und fühlte sich leicht verunsichert. Ihm waren alle Presseleute unsympathisch, schon weil sie sich dazu berufen fühlten, überall herumzuschnüffeln und sich in Dinge einmischten, die sie besser kompetenteren Leuten überlassen sollten. Wenn diese Journalistin wenigstens schlank und mit einer aufreizenden Figur ausgestattet wäre, dann hätte er sie vielleicht in ein Gespräch verwickelt, wie er das bei ähnlichen Gelegenheiten immer mit gekonntem Charme praktizierte. Außerdem stand O’Brien neben ihr. ›Sollte der doch seinen Spaß mit dieser dummen Pute haben‹, dachte er gerade, als ihn Staatsanwalt Henry Forster zu sich winkte und mit verhaltener Stimme sagte:
»Hallo Gordon, mein Freund. Herzlichen Glückwunsch! Freut mich, dass unser Lord Mayor Polson mitgespielt hat. Na ja, schließlich gehört ihr beide dem MacKay-Clan an, da kann man sich schon mal einen Gefallen tun. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder hergelaufene Engländer bereits nach seinem ersten Erfolg aufs Siegerpodest gehoben würde. Da kenne ich ganz andere Leute aus unserer schottischen Heimat. Einen wie dich zum Beispiel!«
Beide hielten sich jetzt den Mund vor Lachen und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Langsam schlenderten sie aus dem Saal und als sie sich verabschiedeten, bemerkte Henry die zusammengepressten Lippen seines Freundes.
»Du hast noch was auf dem Herzen, Also, was gibt’s?«. Gordon sah Henry aus übernächtigten Augen an, druckste noch eine Weile herum, bis er mit der Sprache herausrückte:
»Zu dumm! Mein Volvo ist ausgerechnet jetzt in der Werkstatt. Ich hatte mal wieder etwas zuviel getrunken, du weißt doch, wie das ist, wenn man mit einer tollen Frau ausgeht. Da bleibt es nicht bei einem oder zwei Gläschen. Na ja, danach stand mir so ein dämlicher Laternenpfahl im Weg.« Er lachte über die witzige Äußerung. »Der steht jetzt ein bisschen schief da, aber meinen Wagen hat es ganz schön erwischt. Es wird wohl einige Zeit dauern, bis ich ihn wiederbekomme.«
»Und so was erzählst du ausgerechnet einem Staatsanwalt? Du hast vielleicht Nerven! Na gut, zum einen Ohr rein, zum anderen raus, ich will nichts gehört haben. Aber was habe ich damit zu tun?« Forster sah seinen Freund missbilligend an.
»Ich brauche fürs Wochenende unbedingt einen Wagen, denn ich machte dieser Tage übers Internet die Bekanntschaft einer klasse Frau. Per E-Mail schickte sie mir ein tolles Foto von sich, du würdest Augen machen, wenn ich dir das zeigte! Leider wohnt sie ziemlich weit weg. Außerdem ist sie verheiratet, da läuft bei ihr zu Hause nichts. Du weißt ja, wie spießig unsere Hotels sind, schließlich bin ich hier bekannt wie ein bunter Hund. Da kam der Gutschein gerade recht. Und ausgerechnet jetzt musste mir das mit dem Auto passieren, wo ich mit meiner neuen Flamme ein paar aufregende Tage in Aviemore verbringen könnte.«
»Und Nächte!« Henry schmunzelte, während Gordon verlegen grinste.
»Was dachtest du denn! Aber das Problem ist, dass sie leider kein Auto hat, das braucht ihr Mann. Und mit dem Busverkehr ist das auch so eine Sache, denn wir können ja nicht den ganzen Tag im Bett zubringen. Um es also kurz zu machen: Kannst du mir mal für ein paar Tage deinen Rover leihen?«
Henry Forster kniff die Lippen zusammen und zog die Augenbrauen hoch. »Du scheinst ja in großer Verlegenheit zu sein. Gut, ausnahmsweise kannst du den Wagen haben, es ist aber nicht mehr viel Sprit drin. Hol ihn dir heute Abend ab und behandle ihn besser als deinen.«
Vergnügt lachend verabschiedeten sich die Freunde.