Kapitel 7

 

Jack Packard steuert einen der Highland-Express-Omnibusse im Linienverkehr zwischen Dingwall, Inverness und Edinburgh. Er stammt aus Somerville im Osten der USA, wo er sich viele Jahre als Fahrer von Greyhound-Überlandbussen betätigte. Er war immer stolz darauf, ein Amerikaner zu sein und hatte nie ernsthaft erwogen, jemals die Staaten zu verlassen. Doch schließlich kam alles ganz anders:

   Auf einer seiner Kontinental-Touren von Massachusetts nach Kalifornien war ihm eine junge Frau mit schulterlangen, blonden Haaren aufgefallen. Aber noch bevor er die Gelegenheit zu einem kleinen Flirt fand, musste er leider die vorgeschriebene Zwangspause einlegen, während sein Bus nach nur kurzem Halt mit einem anderen Fahrer weiterfuhr. Wie beneidete er den Kollegen!

 

Helen Dougall, eine 25-jährige Verkäuferin aus Dingwall in der schottischen Grafschaft Ross&Cromarty, hatte schon lange das Geld für eine Reise quer durch die Vereinigten Staaten bis nach Los Angeles angespart. In dem voll besetzten Greyhound fand sie gleich Gefallen an dem jugendlich wirkenden, gut aussehenden Fahrer, den viele Passagiere mit Jack anredeten und der mit humorvollen Sprüchen und Hinweisen auf landschaftliche Sehenswürdigkeiten für laufende Unterhaltung sorgte. Helen bedauerte es sehr, dass dieser sympathische Chauffeur nach einigen Stunden von einem mürrischen, schweigsamen Asiaten abgelöst wurde. Umso größer war ihre Freude, als auf der Rückreise – nach dem dritten Fahrerwechsel – das Lenkrad wieder von Jack übernommen wurde

   Jack Packard wiederum erschien das Wiedersehen mit dem hübschen Fahrgast nach zwei Wochen wie ein Wink des Schicksals. Bei der Zwischenrast in einer Highway-Snackbar konnte er an Helen Dougalls Tisch Platz nehmen. Es fiel ihm als Buskapitän – als den er sich gern bezeichnete – nicht schwer, mit Helen ins Gespräch zu kommen. Diese fühlte sich sehr geschmeichelt, von dem Lenker dieses riesigen Fahrzeugs angesprochen zu werden. Bevor sie zur vorletzten Etappe aufbrachen, tauschten beide ihre Adressen aus. Später fand ein nochmaliger Fahrerwechsel statt. Als sich der Bus – diesmal mit einem Farbigen am Steuer – wieder in Bewegung setzte, winkte Helen dem zurückbleibenden Jack noch so lange nach, bis er aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden war.

 

Einige Wochen danach wurde sie nachts vom Läuten des Telefons aus dem Schlaf gerissen. Sie hatte zwar hin und wieder an den sympathischen Busfahrer gedacht, aber inzwischen seinen Namen vergessen. Deshalb war sie zunächst irritiert, als sich ein Jack Packard am Apparat meldete. Noch schlaftrunken musste sie eine Weile überlegen, wer es wohl sein konnte, der zu dieser ungewöhnlichen Zeit anrief. Aber als er sich mit den Worten »Hier ist der Greyhound – erinnern Sie sich noch?« zu erkennen gab, war ihre Freude unbeschreiblich und sie verzieh Jack gern die nächtliche Ruhestörung, denn in den USA war noch helllichter Tag.

 

So hatte alles begonnen und nach endlosen Telefonaten von Schottland bis hin zu Jacks jeweiligen Stationen zwischen Massachusetts und Los Angeles verabredeten beide schließlich ein Wiedersehen. Jack nahm kurzfristig Urlaub und flog nach Glasgow, wo sich beide am Airport Prestwick wie alte Freunde um den Hals fielen. Mit einem Bus der Highland-Express-Linie fuhren sie dann nach Dingwall am Cromarty Firth, Helens Geburtsort, wo sie ein schlichtes Appartement bewohnte.

   Für die 21-jährige Helen bedeutete Jack die erste große und leidenschaftliche Liebe. Aber auch Jack glaubte, nach einigen bitteren Enttäuschungen in Helen endlich die passende Frau gefunden zu haben. Kurz entschlossen machte er ihr einen Heiratsantrag, den sie überglücklich annahm. Allerdings gab es noch ein Problem: Helen war nämlich nicht bereit, ihre geliebte schottische Heimat zu verlassen, um mit Jack in die USA zu übersiedeln. Andererseits wollte Jack auf keinen Fall ohne Helen in die Staaten zurückkehren und erkundigte sich bei verschiedenen Verkehrsunternehmen nach Arbeitsmöglichkeiten. Da immer wieder Fahrer mit Langstreckenpraxis gesucht wurden, beschloss er, den USA endgültig den Rücken zu kehren.

   Das Paar heiratete zwei Monate später in Dingwall, wo Helen seit ihrer Kindheit lebt und auch ihre Eltern noch wohnen. Von Jacks Ersparnissen und wegen eines günstigen Dollarkurses konnten sie ein kleines Reihenhaus am Ortsrand – mit Blick auf die Bucht des Cromarty Firth erwerben.

   Schon nach kurzer Suche fand Jack eine Festanstellung als Busfahrer bei der Highland-Express-Line, zumal er neben einer mehrjährigen Berufserfahrung auch Tausende Kilometer unfallfreier Langstreckenfahrten vorzuweisen hatte.

   Anfangs fiel Jack die Umstellung auf die schottischen Lebensgewohnheiten ziemlich schwer. Alles erschien ihm hier geradezu rückständig und kleinbürgerlich. Da war er aus dem US-Bundesstaat Massachusetts etwas anderes gewohnt. So musste ihm Helen zunächst Nachhilfe in Landeskunde geben. Sie erklärte ihm, dass er nun in der Region Ross&Cromarty mit dem Hauptort Dingwall lebe, einer Vereinigung der früheren Grafschaften Ross-shire und Cromartyshire. Für Jack war das zunächst nur ›lächerliche Kleinstaaterei‹, wie er sich ausdrückte. Doch allmählich stellte er fest, dass es sich bei seiner neuen Heimat um altes, europäisches Kulturland handelt, und zwar schon seit vielen hundert Jahren. In seiner Schulzeit hatte er nie davon gehört, dass bereits in den Jahren 82 bis 208 n.Chr. die Römer mehrmals den erfolglosen Versuch unternahmen, in dieser nordeuropäischen Region ihre Herrschaft zu errichten. Zur gleichen Zeit, in der die riesigen Landflächen der heutigen USA noch von Indianervölkern dünn besiedelt waren, herrschte von 843 bis 858 auf dem Gebiet des heutigen Schottlands Kenneth I. MacAlpin, der König der Pikten und Skoten.

   Als zuerst Jacks und Helens Tochter Anne, ein gutes Jahr später ihr Sohn Robert geboren wurden, hatte sich Jack soweit akklimatisiert, dass er eines Tags laut ausrief »I’m now a Scot!« Helen war überglücklich, denn erst jetzt waren sie eine richtige schottische Familie und Jacks Sehnsüchte nach den USA waren mit einem Schlag wie weggewischt.

 

Die Jahre vergingen und die Kinder wuchsen heran. Anne war mittlerweile sechs, ihr Bruder Robert knapp fünf Jahre alt. Schon lange hatte die Familie den Besuch des Wildparks Kincraig bei Kingussie geplant. Auch Jack hatte sich auf den gemeinsamen Familienausflug gefreut, denn endlich hatte er einen dienstfreien Sonntag. Deshalb war sein Ärger verständlich, als er angewiesen wurde, ausgerechnet an diesem Sonntag für einen erkrankten Kollegen einzuspringen. Als die Kinder erfuhren, dass ihr Vater wieder einmal keine Zeit hatte und der Besuch des Wildparks erneut verschoben werden sollte, waren sie zutiefst enttäuscht. Aber letztendlich blieb ihnen nichts anderes übrig, als ohne ihren Dad zu fahren.

   Am Sonntagmorgen musste Jack bereits in aller Herrgottsfrühe das Haus verlassen, denn auf seinem Dienstplan stand die mehrmalige Tour zwischen Dingwall und Edinburgh. Er hatte sich bereits am Vorabend von seinen Kindern verabschiedet und wurde von Helen zur Tür begleitet.

   »Bis heute Abend also! Ich habe den Fahrplan zwar nicht im Kopf, denke aber, dass es nicht zu spät wird. Macht euch nur einen schönen Tag, auch ohne mich!« Er gab Helen noch einen Kuss und eilte dann zum Depot, wo er den grünen Mercedes-Bus der Highland-Express-Line abholte und gleich darauf zu seiner ersten Runde aufbrach.

   Es war Sonntagnachmittag. Der Bus war voller Touristen, die nach einem Besuch Edinburghs wieder heimfuhren, wo am Abend zuvor das berühmte Edinburgh Military Tattoo stattfand. Jack fühlte sich nach den langen Fahrten wie ausgelaugt. Er war froh, dass diese letzte Tour bald beendet war und freute sich auf Helen und die Kinder.

   Der Bus geriet in die sonntägliche Rückreisewelle. Kurz vorm Ortsende von Aviemore stockte plötzlich der Verkehr. Ein dicker Mann mit Polizeikelle leitete den Verkehr an einer Unfallstelle vorbei, aber Jack konnte wegen einer dichten Menschenansammlung nichts erkennen. Nur ganz allmählich lockerte sich der Stau und es ging wieder zügiger voran.

   Die meisten Fahrgäste stiegen bereits in Inverness aus, nur ein älteres Ehepaar fuhr noch bis zur Endstation mit. Beim Aussteigen bemerkte der sich auf einen Stock stützende Mann: »In Aviemore hat’s mal wieder tüchtig gekracht. Ich hatte auch mal so ’nen Austin Mini, aber ’nen grünen. Das da war ein roter. Von den Insassen dürfte wohl keiner überlebt haben, so wie die Karre aussah!«

   Ein seltsames Gefühl beschlich Jack, als er den beiden Alten hinterhersah. Dann fuhr er den Bus ins Depot und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Die Haustür war noch verschlossen, folglich waren Helen und die Kinder noch nicht wieder von ihrem Ausflug zurück. Wie gerne hätte er die drei bei diesem herrlichen Wetter begleitet. Doch als etwa zwei Stunden vergangen waren und die Sonne bereits lange Schatten warf, fiel ihm die Äußerung des alten Mannes aus dem Bus wieder ein. Schlagartig kam ihm der entsetzliche Gedanke: ›Sollte es sich etwa um Helens Kleinwagen gehandelt haben? Aber sie war doch eine vernünftige, sehr sichere Autofahrerin und er hatte ihre absolut defensive, vorausschauende Fahrweise immer gelobt. Nein, das konnte nicht sein. Bestimmt würden alle bald zur Tür hereinstürmen und die Kinder mit sich überschlagenden Stimmen von ihren Erlebnissen berichten‹.

 

Eine weitere, schier endlos erscheinende Stunde saß er in der Küche und als sich immer noch nichts rührte, schaltete er schließlich den Fernseher ein, denn soeben begannen die Regionalnachrichten von BBC One. Aber weder die von der attraktiven Redakteurin vorgelesenen Themen des Tages, noch die verschiedenen Reportagen von Ereignissen aus aller Welt fanden sein Interesse. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um Helen und die beiden Kinder. Gerade als er das Fernsehgerät ausschalten wollte, erschien eine Reportage, die seine schlimmsten Befürchtungen bestätigte und seine Zukunft radikal verändern sollte.

Ein mörderisches Komplott
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