Hundertfünfzigtausend Schritte

Jetzt waren sie nur noch drei.

Mit Mühe zogen Bykow und Jurkowski den bewusstlosen Dauge aus der Schleusenkammer. Dann standen sie eine Weile reglos vor dem Wrack des Knaben, unfähig, den grausigen Ort zu verlassen. Der Boden bebte in der gewohnten Weise. Der rote Belag war verschwunden. Sie sahen noch die Reste des roten Teppichs am Rande des Trichters über der unterirdischen Explosion, vielleicht zwanzig Meter vom Knaben entfernt: Die rote Masse zog sich gierig und eilig in den bodenlosen Explosionskrater hinein; langsam erlosch der violette Schein. Es wurde dunkler. Bykow hob die Maschinenpistole für eine Ehrensalve, ließ sie aber nach einiger Überlegung wieder sinken. Sie hatten nur noch ein Signalmagazin – sechzig Patronen –, und vor ihnen lag ein hundert Kilometer langer Weg durch die Wüste, durch die Schlucht, über den Sumpf ... Hundert Kilometer, hunderttausend Meter, hundertfünfzigtausend Schritte – und jeder von ihnen barg Ungewisses.

»Salut!«, forderte Jurkowski mit heiserer Stimme, und Bykow riss die MPi hoch, gab einen spärlichen Feuerstoß ab.

Aus Resten des Selen-Cer-Stoffes, die sie in der Schleusenkammer fanden, verfertigten sie eine Art Tragbahre. Der geschmeidige feste Stoff reichte auch noch, um Dauge damit bis zum Hals einzuwickeln.

Gebeugt unter dem steifen, heftigen Wind schritten sie jetzt durch die pechschwarze Finsternis. Ab und zu erhellte kaltes blaues Leuchten den Himmel, und dann sah Bykow Dauges Helm vor sich auf der Trage und Jurkowskis wankenden Rücken, den toten Sand ringsum und die niedrigen lichtgeäderten Wolken. Nach und nach erlosch der blaue Schein, und wieder Finsternis, zäher Sand unter den Füßen, das Heulen des Windes ...

Sie redeten nicht. Das Atmen fiel ihnen schwer, weil sie mit dem flüssigen Sauerstoff sparten und nur die vom Filter durchgelassene Außenluft atmeten. Sie war heiß und sauerstoffarm, sie würgte und rief ein krampfhaftes Gähnen hervor ... Nein, Reden war unmöglich. Nur bei den seltenen und kurzen Rastpausen, wenn der eine halb schlafend, halb ohnmächtig dalag, mochte der andere, der neben ihm mit der MPi auf den Knien Wache hielt, vielleicht die veränderte, sinnlos murmelnde Stimme des Kameraden hören. Sie konnten nicht reden, doch es wäre besser gewesen, sie hätten nicht denken können.

Durst! Der Mund ist ausgetrocknet. Lippen und Zunge sind fühllos geworden, die Kehle scheint mit Sand und Staub vollgestopft, die Zunge ist wie ein schwerer, trockener Stein. Der versengte Körper brennt wie Feuer, Feuer auf der Haut, im Mund, in der Lunge ... Durst! Und hier, ganz dicht vor den Lippen – man braucht nur ein wenig den Kopf zu neigen – gibt es kühlen Zitronensaft, säuerlich, duftend ... Man braucht nur den Kopf ein wenig zu neigen, das kühle Ebonitröhrchen zwischen die ausgetrockneten Lippen zu nehmen, daran zu saugen ... Süße, Feuchtigkeit ... Bykow spürt das glatte Ebonit sogar schon an den Zähnen ... Nur einen Schluck, einen einzigen Schluck ... Nur die Zunge anfeuchten ...

»Jurkowski, du Mistkerl! Trinkst du schon wieder! Aufhören!«

Jurkowski krächzt wütend. Nein, man darf nicht, Wowa ... Hundertfünfzigtausend Schritte. Mindestens hunderttausend liegen noch vor ihnen. Und Grischa ... Bykow fährt sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Oder bildet er sich das nur ein? Fünf Zentimeter vom Gesicht entfernt das kühle schwarze Mundstück ...

Wozu eigentlich das alles? Gehen, sich quälen? Das Werk ist getan. Weit hinter ihnen tanzen die Lichtreflexe der Golkonda auf dem blanken Stahl der Sendetürmchen. Bald, vielleicht sehr bald, werden Raumschiffe hier landen, und muntere, frohe Menschen werden zum Sturm auf die Venus ansetzen. Starke, gesunde Menschen, die viel frischen, kühlen Zitronensaft trinken. Und die Golkonda wird sich ergeben ... Was haben die beiden schattenhaften Gestalten in Siliketanzügen damit zu tun? Was hindert sie, in den Sand zu sinken, sich nach Herzenslust an dem kühlen Nass zu laben und einzuschlafen ...?

So ist es ... Schön wär’s, die matten Glieder auszustrecken, sich satt zu trinken, einzuschlafen. Soll doch der schwarze Wind einen Sandhügel über ihnen zusammenwehen ... Ganz einfach und verteufelt verlockend. Zuallererst aber die zentnerschwere Maschinenpistole vom Hals weg! Zum Teufel damit! Was nützt sie hier in dem toten Sand? Hier ist längst alles ausgestorben. Es ist doch ganz klar: Am besten legt man sich in dieser Wüste hin, trinkt sich satt – es ist noch über ein halber Liter Saft im Thermosbehälter! – und wartet, dass einen der Sand zuweht.

Freilich, sie haben noch den Sumpf vor sich. Dort ist eine Waffe unentbehrlich. Und dort, in der Chius, sitzt Michail Antonowitsch. Er hat Wasser – viel Wasser! – und Limonade – viel kalte, sprudelnde Limonade! –, aber er muss allein dort sitzen und warten. Sie werden sich hier hinlegen und einschlafen, er jedoch wird warten, wird nicht schlafen können und am Funkgerät sitzen. Er wird nicht ohne sie die Venus verlassen, er wird nicht starten, solange er keine Nachricht von ihnen hat. Vielleicht wird er sich sogar entgegen allen Instruktionen aufmachen, um sie zu suchen ... Er weiß ja nicht, dass man hier ohne einen großen, sehr großen Vorrat an frischem, kühlen Nass nicht leben kann ...

Man darf sich nicht hinlegen! Grischa muss zur Chius gebracht werden. Michail Antonowitsch wartet, wartet treu und fest und glaubt an sie. Auch Krajuchin wartet und Machow und dieser kaltblütige Ingenieur vom Ziolkowski und das Mädchen in Aschchabad. Und alle Menschen und das ganze riesige ferne Land. Wie viele Menschen auf sie warten! Also brauchen viele sie, sehr viele. Das Schlimmste im Leben ist es, zu warten und nachzulaufen. Sie werden erwartet, sie laufen nach. Sie laufen dem entschwindenden Leben nach, und sie dürfen sich nicht hinlegen. Sie müssen gehen, weil sie erwartet werden, weil sie gebraucht werden, weil sie noch hierher zurückkehren werden – unbedingt! –, weil es sehr gut ist zu leben, weil zu leben das Beste auf der Welt ist. Sie müssen gehen, weil sie es schaffen werden, es unbedingt, ohne jeden Zweifel schaffen werden, und es wäre sehr schändlich, wenn sie sich hier hinlegten und einschliefen, obwohl sie es doch schaffen können. Das wäre ungeheuer schändlich. Und darum müssen sie. Wer nicht will, muss!, hatte Johannytsch immer gesagt.

Bykow stolpert und fällt natürlich hin. Wenn man stolpert, fällt man unbedingt. Weil sie schon über vierundzwanzig Stunden durch tiefen Sand waten und der Wind so heftig bläst, dass sie sich nur mit Mühe auf den Beinen halten können. Gegessen haben sie während der letzten zwei Tage einmal. Und getrunken auch nur einmal. Jurkowski stolpert, lässt Dauge fallen. Bykow will ihm auf die Beine helfen. »Zum Teufel!«, röchelt der Geologe. Wieso »zum Teufel«, wenn sie doch unbedingt ans Ziel kommen werden? Wenn nur noch hunderttausend Schritte zurückzulegen sind ... oder vielleicht etwas mehr? Bykow lässt sich neben Jurkowski in den Sand nieder und wartet. He, du schwindelst, Bruder, du wartest nicht, du ruhst dich aus! Und du ruhst dich zur falschen Zeit aus, also vergeudest du Zeit, und Zeit ist Wasser, Wasser aber ist Leben. Bykow stößt Jurkowski an. Dieser stöhnt.

»Aufstehen, Wladimir Sergejewitsch. Was noch übrig bleibt, ist nicht der Rede wert!«

Jurkowski ströhnt und regt sich nicht. Bykow beugt sich über ihn, findet tastend den Sauerstoffhahn, dreht ihn für ein paar Sekunden auf. Jurkowski atmet gierig, dann erhebt er sich wankend. Bykow stützt ihn ...

Ein Schritt, zwei, drei, sieben, zehn ... Nein, Zählen hat keinen Sinn. Zehn – und fünfzigtausend! Lächerlich! Aber immerhin keine hundertfünfzigtausend mehr. Sind drei Tage vergangen – oder vier? Verdammt! Bykow merkt, dass er das Zeitgefühl verloren hat, aber das ist wichtig, sehr wichtig! Vielleicht sind dann nicht fünfzigtausend übrig, sondern sechzigtausend? Achtzigtausend? Moment, Moment ... Bykow beginnt, sich die Tage in Erinnerung zu rufen. Am ersten Tag, in der Wüste, ist Jurkowski zum ersten Mal hingefallen und wollte nicht aufstehen. Bykow hat ihm Sauerstoff zu atmen gegeben. Am zweiten Tage – was war da eigentlich? Ach ja, da ist er, Bykow, beinahe in einem Trichter mit Schwemmsand versunken, und Jurkowski hat ihn mit Mühe und Not herausgezogen. An jener Stelle rasteten sie lange, fast eine Stunde, und tranken Saft. Und es schien ihnen, als ob Grischa leichter atme, wenn er auch nicht zu Bewusstsein kam. Ein guter Tag ... Aber die dritten vierundzwanzig Stunden! Da sind ihnen die Hände taub geworden, und sie haben die Trage nicht mehr halten können. Grischa kam ihnen drei-, fünfmal so schwer vor, und sie machten Schlingen und hängten sich die Trage um den Nacken. Und dann, als sie schliefen, türmte der Wind einen Sandwall um sie auf. Auch heute wären sie beinahe zugeweht worden. Bykow hat Jurkowski und Dauge ausgraben müssen ... Richtig: dreimal vierundzwanzig Stunden! Und jede vierundzwanzig Stunden etwa dreißigtausend Schritte. Bykow hat einen Schrittmesser. Hunderttausend Schritte sind zurückgelegt, und im Ganzen sind es hundertfünfzigtausend. Also bleiben nur fünfzigtausend.

Heute haben sie sich Dauges Brandwunden angesehen – die Haut ist ab, die Beine sind ein einziges blutiges Geschwür. Bykow verbindet sie, so gut es geht, dann nimmt er Jurkowski den Rucksack ab, in dem sich Dauges Thermosbehälter befindet. Es scheint ihm, als habe Jurkowski zweimal heimlich daraus getrunken.

Bykow schleppt alles auf seinen Schultern. Jurkowski bricht wieder zusammen. Das blaue Leuchten wirft einen unsteten, zitternden Schein auf den ausgestreckten schwarzen Körper.

»Steh auf!«

»Nein ...«

»Steh auf, sage ich!«

»Ich kann nicht.«

»Aufstehen! Ich schlag dich tot!«, schreit Bykow aus Leibeskräften.

»Lass mich und Grischa hier!«, röchelt Jurkowski böse. »Geh allein!«

Aber er erhebt sich dennoch.

Im Norden flammt blauer Lichtschein auf, erfasst den halben Himmel. Durch die müden, halb geschlossenen Lider sieht Bykow seinen eigenen langen Schatten – er wankt und zuckt. Der Wind schlägt um und bläst in den Rücken. Ein sehr starker Wind. Stärker als die Menschen, er bringt einen zu Fall, aber er hilft auch beim Gehen, und wenn er nachlässt, scheint der Körper unerträglich schwer. Ein Glück noch, dass kein Schwarzer Sturm über sie hereingebrochen ist ... Jurkowski sackt wieder zusammen, liegt reglos da, die Finger in den grobkörnigen Sand gekrallt. Langsam verblasst das Leuchten im Norden ...

»Aufstehen!«

Bykow ließ sich zu Boden sinken und zog mit Mühe den Rucksack von den Schultern. Dann die Maschinenpistole, die er akkurat hinlegte. Langsam, mit unsicheren Bewegungen begann er, nach dem Helmverschluss zu tasten. Solange der Helm nicht abgenommen ist, darf er den Anzug nicht öffnen und die Sauerstoffflasche nicht abtrennen. Jurkowski aber liegt bewusstlos da, und der Vorrat an belebendem Gas in seiner Flasche ist aufgebraucht. Bykow hat seinen Sauerstoff fast nicht angegriffen. Er muss den Helm abnehmen, den Spezialanzug öffnen und die Sauerstoffflasche herausnehmen. Bykow leckt sich die Lippen. Er tut es nicht, aber er glaubt es zu tun. Aber das ist nicht wichtig. Er muss den Helm abnehmen und in die heiße, von Sand und Staub erfüllte Luft eintauchen, in der es keine Feuchtigkeit gibt und sehr wenig Sauerstoff. Das ist übrigens auch unwichtig ... Jurkowski liegt ohnmächtig da, und wenn der Sauerstoff ihn nicht zu Bewusstsein bringt, weiß Bykow nicht, was er machen soll. Der Verschluss klickt.

Die Luft ist unerträglich heiß. Bykow her dergleichen nie geatmet und nicht einmal geglaubt, dass es möglich sei. Aber anscheinend ist es möglich, darum holt er die Flasche hervor, schließt sie an Jurkowskis Flasche an und wartet, beobachtet, wie der Zeiger des Manometers im Schein seiner Helmleuchte krampfhaft zuckt. Der Helm liegt neben ihm, unweit des Rucksacks ... Bykows Blick trübt sich, Übelkeit ergreift ihn ... Luft! Luft! Mit weit offenem Mund schnappt er nach dem glühenden Gemisch von Sand, Staub und noch etwas, wovon sehr wenig da ist, das man aber atmen kann ... Das man anscheinend trotz alledem atmen kann, denn er findet noch die Kraft, seine Flasche richtig zu befestigen und tastend den Helm zu ergreifen. Erst danach sieht er das Licht der Lampe nicht mehr in dem Sandwirbel vorbeiziehen und stürzt vorüber in den Sand neben Jurkowski, der langsam zu sich kommt.

Während der Rast schlief Bykow völlig entkräftet ein, nachdem er Jurkowski die Wache überlassen hatte. Am vierten Tag hatten sie nicht mehr als zwölftausend Schritte zurückgelegt. Jurkowski löste, während Bykow schlief, von seinem Gurt die Thermosbehälter mit dem Rest des Kakaos und des Zitronensaftes, schnallte seine Sauerstoffflasche ab, legte alles sorgfältig auf Bykows halbleeren Rucksack neben der Trage, stülpte sich irgendwie den Helm über und kroch in die Nacht hinaus, um zu sterben. Bykow erwachte noch rechtzeitig. Als er den Geologen fand, mühte sich dieser gerade damit ab, seinen verklemmten Helm zurückzuklappen. Bykow nahm Jurkowski auf den Rücken – beide sprachen kein Wort – und trug ihn zurück zur Raststelle. Dann half er ihm, den Helm wieder festzumachen und die Behälter anzuschnallen, und sagte: »Ich will schlafen, ich bin sehr müde. Versprich mir, dass du nicht wieder abhaust.«

Jurkowski schwieg.

»Ich will schlafen, und du hinderst mich daran, Wolodja ...«

Jurkowski schwieg hartnäckig und schnaufte nur hasserfüllt ins Mikrofon.

»Lass mich doch nur eine Stunde schlafen, Wolodja ...! Wir sprechen über alles, wenn ich aufwache. Bitte, Wladimir Sergejewitsch ...«

»Gut«, sagte Jurkowski plötzlich. »Schlaf, Alexej, alles in Ordnung ...«

Bykow wollte noch etwas Aufmunterndes sagen, war aber bereits eingeschlafen. Er träumte nichts, verspürte nur immerzu den Drang zu trinken, und scheinbar trank er sogar im Schlaf, konnte sich später aber nicht daran erinnern. Nach vier Stunden gingen sie weiter, und Jurkowski ging allein. Die Gegend wurde steinig, und unter den quälenden Wasserphantasien ging es Bykow durch den Kopf, dass sie vielleicht ein gutes Stück vorankommen würden, aber Jurkowski stolperte, fiel und verletzte sich am Knie. Als Bykow sein Bein abtastete, hörte er ihn bitter und zornig weinen, und er sagte: »Weißt du noch, Wolodja? Kämpfen und suchen, finden und nicht aufgeben! Weißt du noch?«

»Zum Teufel, alles zum Teufel!«, schluchzte Jurkowski.

»Nein, sag mir, Wladimir, sag mir – haben wir gekämpft?«

Jurkowski wurde still, dann sagte er: »Haben wir.«

»Gesucht?«

»Haben wir.«

»Gefunden? Wowa! Wir haben doch gefunden! Du bist doch Geologe!«

Jurkowski schwieg.

»Nein, nein, sag’s!« Bykow spürte, dass er phantasierte. »Na? Wir haben doch gefunden, was?«

»Haben wir«, sagte Jurkowski.

»Mein Lieber ... Wir haben doch gefunden ... Du, Johannytsch ... Alles ist verloren, na schön. Die Aufzeichnungen, die Proben, der Knabe ... Aber du bist doch Geologe, du erinnerst dich an vieles auch so, ohne Aufzeichnungen ... Du wirst doch gebraucht, Wladimir ... Sie warten auf dich ... Krajuchin wartet ... Wir haben doch gesucht ... gefunden ... Und jetzt aufgeben? Was, Wolodja?«

»Lass mich hier zurück«, bat Jurkowski leise. »Wir werden alle umkommen. Lass ...«

»Also aufgeben? Ja?«

»Gehen wir«, knirschte der Geologe.

Ein Schritt, zwei, drei, fünf, zehn ... Und immer durch Wasser, durch tiefes, durchsichtiges Wasser – darum ist es so kalt, darum die Frostschauder, darum geht es sich so schwer: Im Wasser ist ja immer schwer zu gehen, und hier steht es bis zur Brust – durchsichtig, kalt, süß. Ach, wie süß!

»Jurkowski, Wasser!«, murmelt Bykow. Der Geologe antwortet nicht. »Wolodja! Wasser, sag ich!«

Er schweigt. Na, dann will er nicht. Aber ich werde trinken, denkt Bykow. Oho! Wie ich mich satttrinken werde! Nur nicht die MPi nass machen. Aber wass soll’s eigentlich, ich brauche ja nur den Kopf zu neigen ... Bykow stößt heftig gegen das Ebonitmundstück des Thermosbehälters. Von den Zähnen splittert Schmelz ab, die Zähne sind das Einzige, was im verklebten Mund noch etwas fühlt ... Sofort verschwindet das Wasser. Es bleibt bohrender Schmerz und noch etwas – trocken, staubig, rau: Durst ... Der Thermosbehälter ist fast leer, es ist noch viel Kakao da, doch der löscht nicht den Durst – er ist süß, klebrig, warm ... Blut ist auch klebrig und warm, es fließt aus der aufgeschlagenen Lippe. Bykow leckt es mit der Zunge ab, stolpert, macht ein paar unsichere Schritte zur Seite und bleibt schwer atmend stehen. Jurkowski liegt auf dem Rücken, die Arme um seinen Hals geschlungen. Er schweigt stundenlang – was soll er jetzt machen, der arme Kerl ...

Der Himmel ist wieder mit pupurroten Wolken bedeckt. Der heftige Nordwind schiebt die wankenden Gestalten vorwärts. Die Wolken sind von dem Atomvulkan herangezogen, während Bykow schlief. Am Horizont pendeln die schlangenartigen Schatten der Windhosen. Alles ist genauso wie vor drei Wochen, als der Knabe munter gegen den Wind auf die Golkonda zustrebte. Jetzt ist er in dem verglasten Sande eingeschmolzen, erstarrt und tot – ein gewaltiges Denkmal des großen Marsches. Den ewigen Schlaf schläft sein Kommandant; irgendwo zwischen den Felsen hat Bogdan Spizyn seinen rätselhaften Tod gefunden ... Doch der Marsch ist noch nicht beendet. Noch nicht!

Jedes Mal, wenn Bykow aus seinem schweren Schlaf erwacht, hasst er Jurkowski erbittert. Der Geologe kann die Trage nicht mehr halten. Immerzu strauchelt er und lässt Dauge fallen. Noch einmal hat er die Flucht in den Sand versucht. Doch Jurkowski darf nicht sterben. Schon deshalb nicht, weil mit ihm sein kostbares Wissen verloren gehen würde – das Wissen eines Menschen, der die Zugänge zur Golkonda studiert hat. Er muss das Ziel erreichen, dieser Wagehals, Dichter und »Fant«, er wird den Menschen die Golkonda geben und diese märchenhaften Wüsten, wo der Sand wertvoller ist als Gold und Platin ... Und dennoch – jedes Mal, wenn Bykow vor dem Beginn eines neuen Fünfzehn-Kilometer-Marsches erwacht, hasst Bykow ihn wie einen Feind.

»Wie war die Nacht?«

»Alles ruhig.«

»Hast du geschlafen?«

»Ein bisschen, an die zwei Stunden ...«

»Macht nichts. Kannst weiterschlafen, wenn du an mir hängst.« Das ist ungerecht, verdammt ungerecht. Bykow hätte so etwas nie gesagt, wenn sie wenigstens noch einen Thermosbehälter mit Saft gehabt hätten, aber jetzt tut ihm das Gesagte nicht leid – dazu fehlt ihm die Kraft. »Hast du getrunken?«

»Nein.« In Jurkowskis Stimme liegt eine geduldige Ruhe. Das ist nicht ihr erstes Gespräch in diesem Ton.

»Trink zwei Schlucke, nicht mehr. Hörst du – nicht mehr!«

»Keine Lust ...«

Eine ungeheurliche, unverhohlene Lüge! Bykow kann kaum an sich halten. »Soo! Schön. Gehen wir.«

Bykow steht auf, unterdrückt mit Mühe einen Schmerzensschrei. Es ist, als würde sein Körper mit glühenden Zangen zerrissen. Er öffnet den Sauerstoffhahn, zählt, gierig atmend, eilig bis zehn. Es ist das unerlässliche Quantum, andernfalls würden die Beine nicht gehorchen. Langsam erhebt er sich auf die Knie und wälzt sich Dauges schlaffen Körper auf den Rücken. Jurkowski bleibt in seiner Sanddüne sitzen.

»Wissen Sie, Bykow, das gehört sich nicht.« Die Stimme des Geologen ist heiser, aber ruhig. »Ich bin damit nicht einverstanden.«

Am liebsten würde Bykow ihn in Stücke reißen, doch er sagt nur mit krächzender Stimme, in der ein drohender Unterton mitschwingt: »Dummes Geschwätz ...! Aufstehen!«

»Ich habe hier, während Sie schliefen, Ihre Karte herausgenommen.« (Bykow fasst krampfhaft nach der Tasche.) »Keine Angst, ich habe sie schon zurückgelegt. Ich habe die grundlegenden Angaben zur Geologie der Golkonda eingetragen.«

Bykow betrachtet die zerknitterte Karte mit den ausgefransten Rändern, die zittrigen, schiefen Buchstaben, die unverständlichen Wörter ... Mit schwarzem Ruß geschrieben, es wird sich alles verwischen, verloren gehen. Unleserlich, schlecht, schmutzig ...

»Lassen Sie uns hier. Wozu quälen Sie sich? Sie werden mit uns zusammen zugrunde gehen, und ...«

»Wozu brauche ich dich denn? Eine ›Zunge‹ brauche ich! Steh auf ...«

»Aber ich habe es doch aufgeschrieben!«

»Wass soll ich mit deinem Gekrakel? Eine ›Zunge‹ brauche ich! Genug geredet, hoch mit dir ...«

Jurkowski zögert noch.

»Was ist los mit dir? Willst dir wohl einen Heldenkranz einheimsen ...? Den Märtyrer spielen? Daraus wird nichts! Ich werde dich vorwärtstreiben, bis ich zusammenbreche! Und wenn ich zusammenbreche, wirst du selber weiterkriechen! Verstanden? Steh auf!«

Und Jurkowski steht auf. Ein guter Mensch, ein Prachtkerl. Einer von uns, ein Sowjetmensch – wenn auch mit Fehlern ... Nach dem fünften Kilometer schwindet der Hass in Bykow, und nach dem zehnten beginnt er ihn zu lieben wie einen Bruder. Er schweigt, der Hundesohn; kein Wort, keine Klage, dabei fallen ihm die Haare aus, die Haut ist rissig und mit eiternden Geschwüren bedeckt, das Gesicht schwärzer als der Wüstensand. Beim Gehen wankt er ... Lieber Freund, wir werden es schaffen, ganz bestimmt werden wir es schaffen. Sieh mal, zehn Kilometer haben wir schon wieder hinter uns gebracht! Vorwärts, vorwärts! Ein Schritt, zwei, drei, fünf ... Das Wasser steht schon bis zum Knie – durchsichtig, kalt, süß ...

Jurkowski murmelt: »Hör zu, Alexej ... Für den Fall, dass ich es doch nicht schaffe ... Das Rätsel Tachmasibs, der rote Ring ... Ich glaube ... bin überzeugt, es sind Bakterien. Eine andere Lebensform, nicht auf Eiweißbasis. Sie leben auf Kosten radioaktiver Strahlen. Schlucken die Strahlen und leben von ihrer Energie ... Hörst du, Bykow?«

Ja, ja, er hört: Bakterien und Strahlung ... Aber das nützt nichts, Wasser brauchen sie, keine Bakterien.

»Sie sammeln sich dort, wo eine Atomexplosion heranreift«, fährt Jurkowski fort. »Sie bilden einen Ring um die Stelle ... einen roten Ring ... und warten. Der Knabe ist an eine solche Stelle geraten. Und da kam die Explosion. Eine Atomexplosion ... Sie aber spüren, wo die Explosion erfolgen wird, sie versammeln sich und warten. Die Zerfallsprodukte sind sehr aktiv ... Ein Leckerbissen für sie ... Hörst du? Ich bin mir fast sicher ...«

Ja, Bykow hört es. Er geht an einer Felswand entlang und hört alles. Aber erst brauchen sie Wasser. Und wo ist denn endlich die Schlucht? Sie müsste doch hier in der Nähe sein ... Wasser.

»Sag allen, sie sollen sich vor dem roten Ring in Acht nehmen ... Wo der rote Ring ist, dort wird eine unterirdische Explosion stattfinden. Sagst du es ihnen? Hörst du mich?«

»Ja, ja, ich sag’s. Du wirst es selber sagen ...!«

Ein Schritt, zwei ... zehn ... fünfzehn ...

Am sechsten Tag erreichten sie die Schlucht. Den Eingang fanden sie nicht gleich. Bykow ließ Jurkowski und Dauge an der Feldwand zurück und suchte lange nach dem Durchgang. Mehrmals verlor er das Bewusstsein, stellte plötzlich fest, dass er im Sand lag und mit der rauen, fühllosen Zunge die Innenwand des Helms ableckte. Der schwarze Durchgang war mit stachligen Pflanzen zugewachsen, im roten Schein des flammenden Himmels sah er bedrohlich aus. Bykow kehrte zu Jurkowski zurück, wuchtete sich Dauge auf den Rücken und wankte die Felswand entlang. Dicht vor dem Eingang der Schlucht brach er zusammen. Sein Bewusstsein schwand, kam und schwand wieder, und wie aus weiter Ferne hörte er Jurkowski undeutlich schreien: »Gemeiner Planet! Wir werden zurückkommen, wir kehren wieder ...! Für unseren Tod, für die Qualen wirst du büßen ... Arbeiten wirst du für uns, für die Menschen der Erde ... Licht und Leben wirst du spenden ... Wir legen dir Stahl- und Betonfesseln an! Arbeiten wirst du!«

»Genug!«, sagte Bykow und richtete sich mühselig auf, gegen den zerfurchten Stein gestützt ...

Nein, gehen kann er nicht mehr. Dafür kann er aber kriechen. Auf allen Vieren kriechen und Dauge hinter sich herziehen. Das ist bedeutend leichter, als ihn auf dem Rücken zu tragen. Jurkowski kriecht auch ... Bykow hat partout keine Lust zu kriechen. Wozu irgendwohin kriechen, wenn sich ringsum, so weit das Auge reicht, im hellen Sonnenschein Wasser erstreckt – so durchsichtig, dass man den Sand am Grund sieht, feinen grauen Sand, und so kalt, dass die Hände absterben? Doch Bykow weiß noch: Wenn man zu trinken versucht, stößt man auf etwas Spitzes, und es tut sehr weh ... Außerdem könnte die Waffe nass werden ... Und überhaupt, wenn man sich hier hinlegt, statt zu kriechen, dann ist das ungeheuer ärgerlich: Es ist ganz wenig übrig, nur ein paar tausend Schritte. Es ist doch wirklich ärgerlich liegen zu bleiben, wenn man hundertfünfzigtausend Schritte hinter sich und nur noch zwei-, dreitausend vor sich hat. Wenn man gehen würde, versteht sich. Wenn man kriecht, sieht es irgendwie anders aus, aber auch ganz wenig, nicht der Rede wert ...

Bykow hält inne, schaltet die Helmlampe ein und schaut sich um. Jurkowski ist hinter ihm. Er liegt, auf die gespreizten Ellbogen gestützt, im Staub und blickt ihn mit dem blinden Rund des Helms an. Ein Riemen, den sie vom Rucksack abgenommen haben, verbindet sie. Auf diesen Riemen muss Bykow aufpassen: Einmal hat er sich schon gelöst, und Bykow ist weit vorausgekrochen. Er musste zurückkehren und Jurkowski suchen, der dasaß, den Rücken an die Wand der Schlucht gelehnt, und verbissen schwieg, obwohl er sah, wie Bykow herankroch ... Komischer Kauz! Was soll das – sich trennen, wo nur noch ein paar tausend Schritte übrig sind. Wenn man geht, versteht sich. Ja, er muss sehr, sehr aufmerksam auf den Riemen achten. Aber jetzt – weiter. Einen Schritt, zwei Schritte ... Nein, wieso Schritte? Sie kriechen ja am Grunde eines kühlen, rasch fließenden Baches entlang. Sie kriechen! Und gehen überhaupt nicht, mit Schritten hat es also nichts zu tun ...

Bykow stößt mit dem Helm an etwas Hartes und Unnachgiebiges. Vielleicht ein Felssturz? Man muss seitlich vorbeikriechen ... Ein Felssturz kann sie sogar verschütten, aber das ist natürlich Unsinn ... In der Schlucht herrscht rötliche Dämmerung, keine Finsternis, aber Bykow sieht nur noch sehr schlecht. Er schaltet die Lampe ein. Es ist das Ende der Schlucht, das Dickicht der riesigen stachligen Pflanzen. Da sind die Spuren des Knaben – geschwärzte, verschrumpelte Schlinggewächse, mitsamt Steinbrocken aus dem Fels gerissen. Die Schlucht ist wieder zugewachsen, doch man kann sich hindurchwinden. Nur noch ein paar tausend Schritte ...

»Wenn man geht, versteht sich«, krächzt hinter ihm Jurkowski.

Bykow setzt sich auf, zieht die gefühllosen Füße an. Die Kniehaut hat sich völlig abgeschabt, doch merkwürdigerweise ist kein Schmerz zu spüren. Das ist gut.

»Wieso, rede ich laut?«, fragt Bykow verwundert. Gehen kann man nicht mehr, unmöglich, aber man kann noch kriechen, und sich wundern kann man also auch noch.

»Du quasselst die ganze Zeit wie ein kaputtes Grammophon.« Jurkowski spricht undeutlich und langsam. »Du redest die ganze Zeit Unsinn und schreist mich immerzu an, ich soll nicht zurückbleiben ... Und wenn man dich ruft, antwortest du nicht ... Geradezu kränkend ist das ...«

Aha, gekränkt sein kann man auch noch. Bykow scheint sich zu erinnern, dass Jurkowski tatsächlich etwas gerufen, irgendwas von Wasser gesagt hat. Ja. Und von einem Bach. Verdammt, das alles hat er doch selbst gesagt! Bykow wird etwas unheimlich zumute: Da kriechen zwei die Schlucht entlang, mit einem Riemen verbunden, den sie vom Rucksack abgenommen haben, und unterhalten sich laut, ohne es selber zu merken. Freilich, hier sieht das ja niemand.

»Pfeif drauf«, sagt er laut.

»Richtig«, antwortet Jurkowski.

»Dort vorn liegt unser Sumpf, Wolodja. Nur noch ein Pappenstiel. Los!«

»Los!«, sagt Jurkowski.

»Vorwärts, also?«

»Vorwärts!«

Über dem Sumpf, in den trüben Nebeln, wogte ein Dschungel riesiger weißlicher Gewächse. Sie standen so dicht, dass man sich bisweilen zwischen ihren dicken glitschigen Stämmen nur mit Mühe hindurchzwängen konnte. Das Moor gluckste, schmatzte, versuchte die Menschen mit seinem nassen, schlammigen Maul einzusaugen. Vor der letzten entscheidenden Etappe hatten sie eine längere Rast eingelegt, und Bykow hatte Dauges kostbaren Thermosbehälter hervorgeholt – ihre letzte Hoffnung, ihren letzten Halt. Der Behälter enthielt fast zwei Liter Orangensaft, und Jurkowski lachte sogar lautlos, als die kleine schwarze Flasche im Lampenstrahl aufblinkte. Bykow gestattete sich und Jurkowski je fünf Schluck und flößte Dauge einen ganzen Becher durch die verkrusteten Lippen ein. Dann hatten sie abwechselnd drei Stunden geschlafen und anschließend jeder noch fünf Schluck getrunken ...

Dann war Bykow mit Dauge auf dem Rücken im Sumpf eingesunken, und Jurkowski zog sie an die Oberfläche ... Und das Merkwürdigste – sie fanden sofort die Stelle, wo vor einem Monat die Chius niedergegangen war.

Doch die Chius war nicht mehr da.

An der Landestelle sahen sie nur noch eine große, mit festem »Asphalt« bedeckte Lichtung, etwa sechzig Meter im Durchmesser. Sie war von der Mitte aus strahlenförmig geplatzt, und aus den Rissen wuchsen dicht bei dicht fleischige milchigweiße Triebe ...