Die Feuerprobe

Als Krajuchin und die Geologen weggefahren waren – ein aus der Stadt herbeigerufener Wagen hatte sie abgeholt –, kratzte sich Bykow sorgenvoll am Hinterkopf und trat in die Garage. Der Knabe stand zwei Schritt vom Tor entfernt, dünne Regenrinnsale liefen über seine abfallenden Flanken.

»Prüfung also!«, sagte Bykow laut. »Na gut, meinetwegen!«

Er zog das zerknitterte, ölbeschmierte Handbuch aus der Tasche, blätterte darin herum, seufzte und kletterte in die Luke. Wie jeder Mensch liebte er keine Prüfungen, egal, in welcher Form sie auch stattfanden. Es erschien ihm sehr ungerecht, wenn Belanglosigkeiten, die in der Praxis ihrer völligen Unanwendbarkeit wegen kein Mensch beachtete, auf eine Stufe mit den wichtigsten und notwendigsten Kenntnissen gestellt wurden. Er selbst hielt sich beim Unterricht an sein eigenes System. »Wenn Sie auch noch so klug sind«, sagte er zu seinen Schülern, »es wird Ihnen nie gelingen, alles zu behalten, was in dem ganzen Wust von Büchern und Tabellen gedruckt ist. Darin steht ja außer dem Wesentlichen und teilweise Wesentlichen auch das Nebensächliche und schließlich das einfach Unnötige, was entweder schon veraltet ist, kaum dass es geboren wurde, oder in der heutigen Zeit an Bedeutung verloren hat. Selbstverständlich verlange ich von Ihnen nicht die Kenntnis alles dessen, was in Büchern und Tabellen steht. Sollte aber jemand von Ihnen nicht wissen, was er in erster Linie zu wissen verpflichtet ist – so bitte ich, es mir nicht zu verübeln.«

Bykows Autorität schützte dieses System vor den Angriffen der pedantischsten Vorgesetzten. Aber so war es in der Gobi. Wie würde es hier sein? Diesmal war er selbst der Prüfling. Gewiss, Krajuchin machte nicht den Eindruck eines Buchstabengelehrten und Formalisten, doch wer konnte wissen, wohin seine kleinen, unter der riesigen dunklen Brille versteckten Äuglein blickten? Und Bykow blätterte immer von Neuem in dem zerlesenen Handbüchlein, besonders in jenem Teil, der alle möglichen Havarien und Reparaturen unterwegs behandelte. Dann zog er die Jacke aus, schlüpfte in die Kombination und stieg in den Turbinenraum.

Es war schon spät, als er ins Hotel zurückkehrte – müde, aber zufrieden und fast beruhigt. Im Speisesaal war niemand mehr anwesend. Bykow nahm ohne besondere Eile das Abendbrot ein und begab sich dann in die zweite Etage, wo die Raumfahrer ihre Zimmer hatten. Er wollte Dauge besuchen. Vor einer halb geöffneten Tür blieb er stehen. Die klangvolle Stimme Jurkowskis, der ein Gedicht von Bagritzki deklamierte, drang an sein Ohr.

Der Wind, wie er zischt

Und pfeifend enteilt

Wie tönend die Gischt

Der Bugsteven teilt!

Die Nägel soll’n klingen,

Die Leinen soll’n singen:

Die Sache ist gut,

Die wir hier vollbringen!

Bykow warf einen Blick in das Zimmer. Jurkowski lag, die Hände unter dem Kopf verschlungen, auf dem Sofa, das Gesicht zum Fenster gewandt. Neben ihm saß Krutikow und sog gedankenvoll an seiner kurzen leeren Pfeife. Am Tisch wiegte sich Bogdan Spizyn im Stuhl hin und her und lächelte irgendwelchen eigenen, nur ihn allein angehenden Gedanken nach. Weder Dauge noch Krajuchin noch Jermakow befanden sich in dem Zimmer.

So schieß durch die Adern

Nach draußen, nach vorn,

Meine rastlose Jugend,

Mein zielloser Zorn!

Dass das Menschenblut sprüht

Wie von Sternen ein Regen,

Und dass ich hinausbrech,

Dem Weltall entgegen.

Das waren wunderbare Verse. Außerdem las der »Fant« erstaunlich gut. Etwas Unruhiges und Rufendes lag in seiner tiefen Stimme, voll beherrschter Kraft und Erregung, und Bykow dachte unwillkürlich, dieser furchtlose und schöne Mann sei wohl dem Verfasser der Verse, die er las, sehr ähnlich. Er war ebenso unruhevoll und leidenschaftlich, ebenso bereit, sein ganzes Leben für große und ungewöhnliche Taten hinzugeben. Krutikow schien dasselbe zu denken. Er nahm plötzlich die Pfeife aus dem Mund und betrachtete Jurkowski aufmerksam, als wolle er sich irgendeiner Sache vergewissern.

Nur Spizyn wiegte sich weiter hin und her und lächelte still mit halb geschlossenen Augen.

... Und atemlos singen

In schrecklicher Leere:

»Ai, Schwarzes Meer du,

Du bestes der Meere!«

Jurkowski verstummte. Bykow trat von der Tür weg und ging weiter. Dauges Zimmer war leer. Auf dem Bett lag ein Spezialanzug – höchstwahrscheinlich für ihn, Bykow, bestimmt. Der rötliche Schein der Abendsonne spielte auf dem glänzenden kugelförmigen Helm. Bykow wollte sich gerade zurückziehen, da fiel sein Blick auf eine Fotografie, die auf dem Tisch lag. Das Bild kannte er bereits – eine schöne Frau mit schwermütigen Gesichtszügen, in einem hochgeschlossenen blauen Kleid.

Mascha Jurkowskaja, dachte er und seufzte.

Unter dem Foto ragte der Rand von beschriebenem Papier hervor, daneben lag ein geöffnetes, leeres Kuvert. »... ein für alle Mal klarstellen. Ich habe es satt, deine ...« Bykow blinzelte erschrocken und ging eilig vom Tisch weg.

Armer Johannytsch! So weit hat ihn seine Liebe gebracht ... Er, der gute lustige Kerl, der seinen Humor auch in den schwersten Augenblicken nicht verlor, er konnte diese Frau nicht einmal jetzt, ein paar Tage vor dem Start ins Ungewisse, vergessen.

»Gerade jetzt – das ist das abscheulichste!«, hörte Bykow plötzlich Jurkowskis donnernde Stimme hinter der Wand. »Gerade jetzt einen solchen Brief zu schreiben! Versuche ja nicht, mich zu besänftigen, du Barmherzigkeitsapostel, du Geduldslamm ... Das Frauenzimmer ist doch einen Dreck wert!«

»Wage es nicht!« Bykow begriff im ersten Augenblick nicht, wer diese kreischenden Worte ausgestoßen hatte. »Wage es nicht, so von ihr zu reden! Letzten Endes geht dich das alles überhaupt nichts an!«

»Doch geht es mich an! Nicht nur, weil sie meine Schwester ist. Das geht alle an – auch Krajuchin und die anderen, darunter deinen Wüstenspezialisten mit der roten Fresse. Denn dort, wo wir uns hinbegeben, wird das Leben aller von jedem Einzelnen abhängen. Es muss sich einer auf den anderen absolut verlassen können. Wirst du aber in diesem Zustand genügend Zähigkeit und Lebenswillen aufbringen? Wirst du uns nicht enttäuschen, Freund Dauge?«

»Nun mach aber einen Punkt, Wolodja!«

»Was heißt hier Punkt! Hast du sie immer noch nicht durchschaut, mein berückendes Schwesterlein? Das ist doch kein Mensch – eine hohle Puppe ist das! Ja, ja, eine Puppe. Nimm ihr das niedliche Frätzchen – was bleibt dann noch übrig? Gibt es nicht genug andere Frauen? Was klammerst du dich an sie?«

Bykow schlich auf Zehenspitzen in sein Zimmer und drückte fest hinter sich die Tür ins Schloss. Dauge würde heute kaum Lust haben, sich mit dem Spezialanzug abzugeben, und auch Bykow selbst war nicht danach zumute. Vielerlei Gedanken bedrängten ihn. Er kleidete sich aus, legte sich nieder und schloss die Augen. Am besten wär’s, so bald wie möglich einzuschlafen!, dachte er, stand wieder auf und ließ das Rouleau herunter. In diesem Augenblick trat Dauge ein. Er sah aus wie immer – das Haar zerzaust, der Schlips verrutscht. Bykow setzte sich auf die Couch und starrte ihn an.

»Hattest du dich schon hingelegt?«, fragte Dauge. »Und der Skaphander? Was glotzt du mich denn so an, Alexej? Ist etwas an mir nicht in Ordnung?«

Er fuhr sich mit der Hand über die Wange, blickte an sich hinab.

»Nein, das nicht ...«, presste Bykow mit Mühe hervor. »Ich dachte nur, es sei schon zu spät ...«

»Von wegen spät. Zieh dich an, komm! Du musst dich noch heute mit dem Spezialanzug vertraut machen. Ich fürchte, morgen werden wir keine Zeit dazu haben. Wo warst du denn so lange?«

»Hab mich mit dem Knaben herumgeplagt. Mir ist bange, Johannytsch, durchfallen werde ich bei dieser Prüfung.«

»Bei welcher Prüfung?«

»Na, weißt du denn nicht? Die Prüfung, von der Krajuchin heute sprach. Erinnerst du dich – bei der Rückfahrt.«

»Ah ... Na, ich glaube nicht, dass du durchfällst, Alexej. Du bist doch ein Experte im Fahren.«

»Im Fahren, im Fahren! Wenn aber die Fragerei losgeht ...« Dauge blickte ihn verwundert an.

»Was denn für eine Fragerei? Du wirst auch ohnehin so schwitzen, dass man dich hinterher wird auswringen müssen.«

»Versteh ich nicht.«

»Ganz einfach. Es wird eine Prüfungsfahrt stattfinden. Morgen machst du eine Tour auf stark durchschnittenem Gelände, das mit Schikanen gespickt ist, wie die Sportsleute sagen.«

»Allein?«

»Jemand wird dich schon begleiten, wer, das weiß ich nicht ... Bist du fertig? Na, dann komm!«

In Dauges Zimmer bemerkte Bykow, dass die Fotografie auf dem Tisch fort war. Dauge nahm den Skaphander vom Bett und legte ihn auf den Fußboden.

»Setz dich, Alexej, und hör zu. Diese Kombination hier trägt die Bezeichnung ›SK 6‹, das heißt ›Spezialanzug System Krajuchin, Modell 6‹. Sie ist aus sehr festem, geschmeidigen Material hergestellt, mit einer langen und sehr komplizierten chemischen Bezeichnung. Übrigens, die Fachleute nennen es einfach ›Siliket‹. Das ist irgendeine organische polymere Siliziumverbindung mit märchenhaft langen fadenartigen Molekülen. Die Reißfestigkeit des Materials ist außerordentlich hoch, auch ist es im höchsten Grade feuerfest und selbstverständlich gas- und wasserdicht.«

»Klar«, sagte Bykow. Er hockte vor dem Skaphander und knetete interessiert den elastischen Ärmel.

»Dieser Anzug wird natürlich nicht genäht, ja nicht einmal gestanzt, er wird fertig gegossen, so wie du ihn vor dir siehst – mit allen nötigen Öffnungen, Taschen et cetera. Die Siliketschicht ist doppelt, wobei die Molekülketten der beiden Schichten senkrecht zueinander verlaufen. Klar?«

»Ja, zur höheren Festigkeit und Dichte.«

»Vollkommen richtig. Jetzt der Helm. Du siehst, er ist am Kragen befestigt, aber man kann ihn leicht zurückklappen. So beispielsweise.«

Bykow blickte ins Helminnere. So also war das! Außen wie vernickelt, erwies sich die Kugel von innen als völlig durchsichtig.

»Na, so eine Teufelei!«

»Spektrolith, eine besondere Art von Kunststoff«, erklärte Dauge. »Gut, nicht wahr? Ermöglicht die Sicht nach allen Seiten.« Er hockte sich neben Bykow und klopfte mit dem gekrümmten Finger gegen den Helm. »Natürlich hätte man dafür auch einen anderen, völlig durchsichtigen Stoff verwenden können, aber der Spektrolith hat diverse unschätzbare Vorteile. Erstens polarisiert er auf eine ganz bestimmte Weise das Licht: Bei Dunkelheit oder in der Dämmerung kann man in eine starke Lichtquelle direkt hineinschauen und alles erkennen, ohne geblendet zu werden. Zweitens lässt der Spektrolith nur die sichtbaren Strahlen des Spektrums durch. Ultraviolett und Wärmestrahlen werden entweder von ihm verschluckt oder völlig reflektiert, ebenso Röntgen- und Gammastrahlen. Drittens ... Kurz – Krajuchin hat Großes geleistet.«

»Und was ist das hier? Aha, eine Membrane.«

»Das ist ein Kopfhörer. Außerordentlich empfindliche Membranen für Kurzwellenempfang; der Bügel dient als Stoßdämpfer – für den Fall, dass du kopfüber abstürzt. Hier ist auch das Mikrofon mit dem Sender und die Batterie aus Halbleitern.«

»Klar.«

»Der ganze Anzug ist schalldicht. Zum Empfang der Außengeräusche ist hier eine Vorrichtung eingebaut. Man kann sie auf die Dichte der umgebenden Atmosphäre abstimmen. Jetzt ist sie auf unseren gewöhnlichen atmosphärischen Druck eingestellt.«

»Klar.«

»Ausgezeichnet! Den theoretischen Teil hätten wir also erledigt. Jetzt zieh mal den Anzug an, Alexej ... Halt, nicht so. Steig durch den Halsausschnitt hinein, mit den Füßen zuerst. Und jetzt mach den Helm fest.«

Mehrmals ließ er Bykow den Skaphander an- und ausziehen, den Helm aufsetzen und allerlei gymnastische Übungen vollführen. Erst als der Ingenieur, in Schweiß gebadet, voller Verzweiflung um Einhalt flehte, hatte Dauge Erbarmen.

»Gut. Das genügt. Zieh ihn aus. Noch eins, Alexej. Hier am Gürtel sind Schlaufen für Thermosgefäße, worin man Kakao, Bouillon und Erfrischungsgetränke mitnehmen kann. Von den Gefäßen führen Schläuche in den Helm. Sauerstoffgeräte und Kohlensäureannihilatoren werden auf dem Rücken befestigt. Hier sind sie. Merke dir, das da ist der Wärmeregulator: Bei Kälte kann man die Heizung einschalten. Hier siehst du das Dosimeter. Und noch etwas: Der Anzug ist mit einem wundervollen Gerät versehen – einem Sauerstofffilter. Eine Atmosphäre kann noch so giftig sein – wenn sie mindestens fünf Prozent Sauerstoff enthält, lässt der Filter diesen Sauerstoff durch. Für alle anderen Gase ist er undurchlässig.«

Bykow stieg aus dem Anzug und besah ihn sich nochmals eingehend.

»Und die Strahlen? Ist er auch strahlensicher?«

»Selbstverständlich. In dieser Hinsicht ist er unübertroffen.«

»Wie der ›absolute Reflektor‹ einer Photonenrakete?« Bykow wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich neben Dauge.

»Der ›absolute Reflektor‹ ist hart und spröde. Als Material für eine Kombination eignet er sich nicht. Auf das Siliket kann man sich verlassen. Beispielsweise haben wir – Krajuchin, Wolodja und ich – heute früh in diesen Anzügen eine ganze Stunde lang in der Lagerkammer für radioaktive Abfälle gesessen.«

»Was du nicht sagst!«

»Im Ernst. Temperatur etwa zweihundert Grad, Alphastrahlen, Gammastrahlen und dergleichen mehr. Und trotzdem schützt er ausgezeichnet. Ein bisschen heiß natürlich ...«

Es klopfte.

Krajuchin trat ein. Bykow schob ihm einen Sessel hin.

»Danke. Ich will mich gar nicht erst setzen. Es ist ja schon Schlafenszeit. Wie steht’s bei Ihnen mit dem Spezialanzug, Genosse Bykow? Haben Sie sich schon damit vertraut gemacht?«

»Jawohl.«

»Sie müssten natürlich ein wenig darin trainieren. Aber wann, wann ...«

Krajuchin hatte schon die Türklinke in der Hand, ließ sie jedoch wieder los.

»Das Wichtigste hätte ich beinahe vergessen. Gleich morgen früh, Genosse Bykow, fahren Sie zur Garage und kommen umgehend mit dem Knaben zum Hotel.«

»Jawohl«, gab Bykow mit heiserer Stimme zur Antwort.

»Wir fahren zum Testgelände. Sie werden uns zeigen, was die Maschine leistet.«

»Jawohl.«

Nachdem Krajuchin gegangen war, seufzte Bykow tief und verabschiedete sich ebenfalls. An der Tür hielt er Dauges Hand noch einen Augenblick fest und sagte leise: »Ich ... weißt du ... ich habe gehört, dass du einen Brief erhalten hast. Einen unangenehmen Brief.«

Dauge schwieg.

»Ich sage es dir deshalb, weil ... kurz, wenn du mich brauchen solltest ...«

»Schon gut.« Dauge lächelte unfroh und schob Alexej zur Tür hinaus. »Ach, ihr Tröster, der Teufel soll euch allesamt holen!«

»Nimm’s nicht krumm, Johannytsch.«

»Aber nicht doch, nein. Na, geh schon.«

»Gute Nacht.«

Noch schlummerst du, grazile Wonne‹«, deklamierte Dauge in singendem Tonfall, während er Bykow die Decke wegzog. »›Erwache nun, mein Sonnenschein!‹«

»Hau ab!«, knurrte Bykow und drehte sich zur Wand.

»›Des Abends noch der Sturm uns zürnte ...‹, und jetzt ist es schon sieben Uhr, und unten wartet ein Auto auf dich.«

»Nicht ... Was? Au verflucht!«

Dauge konnte gerade noch beiseitespringen. Bykow fuhr aus dem Bett und griff nach seinen Sachen.

»Halt, Alexej! Und die Morgengymnastik?«

»Quatsch! Wie ist das Wetter?«

Dauge zog den Rollvorhang hoch. »Ausgezeichnet! Kein Wölkchen. Du hast Schwein, Alexej. Und trotzdem ist dir ein Anranzer von Jermakow gewiss.«

»Wofür?«, fragte Bykow, während er das Hemd überstreifte.

»Weil du ohne Frühgymnastik wegrennst.«

»Ach was! Soll er mich anranzen. Ich gehe jetzt.«

»Frühstück?«

»Später, später!«

»Trink doch wenigstens ein Glas Milch, du Narr! Jermakow wird die Prüfung abblasen.«

»Verdammt und zugenäht!«

Im Speiseraum goss Bykow hastig einen Becher Milch hinunter und stopfte sich Zwieback in die Tasche. Dann stürzte er zum Portal.

»Hals und Beinbruch!« Die Hände in den Hosentaschen, schaute Dauge von der Freitreppe aus dem davonfahrenden Auto nach, gähnte herzhaft und ging ins Haus zurück.

Zu Bykows Staunen erregte der riesige Geländewagen in den Straßen der Stadt kein nennenswertes Aufsehen.

Die Passanten blickten ziemlich gleichgültig zu ihm hin, manche blieben stehen, um die Maschine besser betrachten zu können – das war alles. Offensichtlich waren technische Neuheiten hier keine Seltenheit. Bykow hielt vor dem Hotel und ging hinauf, um Krajuchin Meldung zu erstatten. Im Gang stieß er auf Jermakow.

»Sind Sie schon da? Sehr schön ...« Die scharfen grauen Augen des Kommandanten musterten den Ingenieur aufmerksam von Kopf bis Fuß. »Nicht schön dagegen ist, dass Sie die Karenzvorschrift verletzt haben.«

»Ich ...«

»Mit den besten Absichten, ich verstehe. Aber in anderthalb bis zwei Stunden wird es sehr anstrengend für Sie werden. Und die Disziplinverletzung heute Morgen kann Sie teuer zu stehen kommen. Und nicht nur Sie.« Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Wäre Ihre Gesundheit nicht so hervorragend, hätte ich darauf bestanden, die Prüfung für heute abzusagen.«

»Wird nicht wieder vorkommen«, murmelte Bykow betreten.

»Das hoffe ich. Die Karenzvorschriften für die Weltraumfahrer sind von den besten Ärzten des Landes festgelegt. Und jeder einigermaßen erfahrene Mensch kann Ihnen genug Fälle nennen, wo geringste Verstöße gegen diese Vorschriften zu traurigen Resultaten geführt haben. Wären Sie Pilot, hätten Sie mit dem heutigen Tage Ihre Teilnahme an der Expedition verwirkt. Zum Glück sind Sie kein Pilot. Nehmen Sie zehn Tonintabletten. Und jetzt gehen wir, die anderen warten auf uns.«

Oben in Krajuchins Zimmer hatte sich die ganze Besatzung der Chius versammelt. Bykow sah auch zwei unbekannte Männer. Es waren der Vorsitzende des Stadtsowjets und der Sekretär des Stadtparteikomitees. An dem Respekt, den sie Krajuchin entgegenbrachten, war zu merken, dass der Stellvertretende Vorsitzende des SKIPV in der Stadt ein gewaltiges Ansehen genoss.

»Wir wollen keine Zeit verlieren, Genossen«, sagte Krajuchin, kaum dass Bykow alle begrüßt und in der Ecke Platz genommen hatte. »Alexej Petrowitsch, heute sind Sie es, der die Hauptrolle spielt. Wollen Sie so nett sein und sich hierher, sozusagen zur Rampe, bemühen. Ich bitte Sie ...«

Bykow trat an den Tisch und stellte sich neben Krajuchin. Der Sekretär und der Vorsitzende sahen ihn freundlich lächelnd an. Dauge zwinkerte ihm zu. Auf dem Tisch lag eine Landkarte in Großmaßstab.

»Die Prüfung werden wir hier in diesem Quadrat durchführen ...« Krajuchins Finger beschrieb einen Kreis in der nordöstlichen Ecke der Karte. »Wie weit ist es bis dorthin?«

Bykow beugte sich über die Karte.

»Etwa fünfzig Kilometer.«

»Richtig. Wie lange braucht der Knabe dafür?«

»Dreißig bis vierzig Minuten ...«

»Schön. In dem erwähnten Abschnitt gibt es gegenwärtig eine Menge verschiedener künstlicher Formationen, auf der Karte sind sie ... hm, nicht verzeichnet. Ihre Aufgabe: Uns alle auf dieser Höhe hier abzusetzen – wir werden die Fahrt von dort aus beobachten –, danach das Gebiet auf geradem Wege von Süden nach Norden zu durchqueren und an diesem Bach entlang wieder zur Höhe zurückkehren. Ist Ihnen die Route klar?«

»Jawohl.«

»Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie unterwegs auf allerlei Überraschungen stoßen können. Für eine jedenfalls garantiere ich ... Sind die Leute hingeschickt?«, wandte er sich an den Vorsitzenden des Stadtsowjets.

Dieser nickte.

»Überhaupt, es ist eine ziemlich schwierige Prüfung. Genosse Jermakow fährt mit Ihnen. Seien Sie vorsichtig. Mut und Vorsicht! Ohne überflüssige Bravour, sozusagen.«

»Zu Befehl.«

»Das wäre alles. Haben Sie noch Fragen?«

»Nein.«

»Wo haben Sie Ihren Spezialanzug?«

»Ich hole ihn sofort, Nikolai Sacharowitsch.«

»Tun Sie das und kommen Sie gleich runter, wir werden inzwischen unsere Plätze einnehmen.«

Eine Viertelstunde später hatte der Knabe die nördliche Hügelkette passiert, und Bykow sah zum ersten Mal den Raketenflugplatz. Ringsum erstreckte sich immer noch die gleiche grasbedeckte Tundra, eben wie eine Tischplatte, mit vereinzelten, stoppeligen Höckern bedeckt. Nur hier und da erblickte Bykow runde oder sternförmige kahle Stellen, auf denen kein Hälmchen wuchs. Er steuerte den Knaben auf einen dieser braunen Flecke zu. Das weiche Schmatzen unter den Raupenketten wurde sekundenlang von dumpfem Geratter abgelöst – als rolle eine eiserne Tonne über Kopfsteinpflaster.

»Hier sind einmal Schiffe gelandet«, erklärte Dauge, der hinter Bykow saß.

»Und das dort?«

Zur Linken waren rostige Schienen aufgetaucht, Reste eines Stacheldrahtzaunes und eine windschiefe Stange mit einem dreieckigen Blechschild, auf dem noch die Aufschrift »1 R« zu erkennen war. Jenseits des Stacheldrahtes gewahrte Bykow eine Art riesigen Kessel, angefüllt mit klumpiger brauner Masse.

»Vor fünf Jahren ist hier der Drache Gorynytsch gestartet«, sagte Dauge. »Siehst du, der Startplatz war eingezäunt, weil der Boden zu radioaktiver Schlacke zusammengebacken ist. ›1 R‹ bedeutet ›ein Röntgen‹.«

»Das immerhin weiß ich«, brummte Bykow.

Der Knabe umfuhr erratische Blöcke und jagte ungestüm durch flache kleine Sumpfseen. Als der Kilometerzähler dreißig anzeigte, bat Jermakow den Fahrer, den Platz am Steuerpult ihm zu überlassen. Bykow ging in die Kabine. Alle Luken waren geöffnet. Der Vorsitzende des Stadtsowjets stritt sich mit Krutikow, der Parteisekretär hörte ihnen ohne sichtliches Interesse zu. Krajuchin schlummerte, in die weiche Schaumgummipolsterung seines Sitzes zurückgelehnt. Jurkowski und Spizyn saßen draußen und ließen die Füße in die Luken hinunterbaumeln. Bykow warf noch einen Blick in den Motorenraum, horchte, kehrte dann zurück und setzte sich wieder neben Jermakow.

Das Brummen des Triebwerks wurde merklich lauter. Mit leicht geminderter Geschwindigkeit klomm der Knabe einen steilen Hang hinan.

»Wir sind da«, sagte Krajuchin.

Das Triebwerk heulte auf, der Knabe machte eine jähe Wendung und hielt. Alle kletterten hinaus. Als Letzter verließ Bykow den Geländewagen. Sie befanden sich auf dem Gipfel eines mit struppigem Gras bewachsenen Hügels. Ein seltsamer Anblick bot sich ihm, als er hinunterschaute. Die Ebene war zu Ende. Weiter nordwärts dehnte sich bis zum Horizont ein wildes Chaos von übereinandergetürmten Steinblöcken und gigantischen Erdschollen. Große, mit gezackten Wällen umrandete Trichter, eine fast senkrechte rötliche Wand, die sich quer durch die ganze Wüstenei hinzog, wirre Granithaufen und von Neuem Trichter und Steinwälle.

»Na, Alexej Petrowitsch?«, ertönte Krajuchins Stimme hinter Bykows Rücken. »Dieses Gelände dürfte wohl Ihrer Kunst und den vorzüglichen Qualitäten des Knaben gerecht werden. Wie finden Sie es?«

»Nicht übel!«, antwortete Bykow. Damit kannst du mich nicht einschüchtern!, dachte er und blickte fest in die schwarzen Gläser, die Krajuchins Augen verdeckten. »Das Gelände ist ganz nach meinem Geschmack. Gestatten Sie, dass ich anfange?«

»Hier bestimmt Jermakow. Bitte wenden Sie sich an ihn.« Bykow trat zu Jermakow der mit einem Feldstecher in der Hand auf der Panzerung des Knaben stand.

»Können wir anfangen, Anatoli Borissowitsch?«

Jermakow nickte und sprang behände herunter. »Legen Sie den Schutzanzug an«, sagte er und fügte mit gesenkter Stimme hinzu: »Und seien Sie nicht so aufgeregt, mehr Ruhe ...«

Bykow zuckte die Achseln und kletterte in die Maschine. Dauge machte einige Schritte auf ihn zu, hielt jedoch inne und ging dann langsam zurück. Jurkowski stand abseits, pfiff leise vor sich hin und blickte bald nach unten auf das Chaos, bald zum Knaben hinüber. Krajuchin hockte über einer auf der Erde ausgebreiteten Karte und unterhielt sich lebhaft mit den »Stadtvätern«. Michail Antonowitsch und Spizyn hantierten schweigend an einem winzigen Sprechfunkgerät.

»Schalten Sie das Mikrophon ein und klappen Sie den Helm über«, sagte Jermakow, den Platz neben Bykow einnehmend.

Sie halfen einander, sich an die Sitze zu schnallen, dann blickte Bykow fragend auf den silbrigen Helm des Kommandanten, der sich über die Messinstrumente beugte.

»Los«, ertönte es halblaut im Kopfhörer.

Bykow legte die Finger auf die Tastatur, und der Knabe strebte zunächst langsam, dann immer schneller den Hang hinunter. Unten bäumte er sich auf, erklomm den ersten Steinhaufen und tauchte gleich darauf in einen Trichter. Die Probefahrt hatte begonnen.

Bykow hatte keine Muße, sich mit Vergleichen zu beschäftigen, doch in der Tiefe seines Erinnerungsvermögens stieg der Satz auf: »Wie ein Frosch in einem Fußball«, und er flüsterte ihn unbewusst immer wieder vor sich hin. In der quadratischen Öffnung der Aussichtsluke zeigten sich abwechselnd der blaue Himmel, die schwarze, wie verkohlte Erde und die bemoosten Granitblöcke. Der Knabe wurde hin und her geschleudert, die Raupen dröhnten und rasselten, doch das Triebwerk brummte gleichmäßig und fröhlich, völlig störungsfrei. Nein, damit kann man mich nicht schrecken!, dachte Bykow hartnäckig. Brüllend stieß die Maschine in einen tiefen Graben. Ein regloser brauner Wasserspiegel blitzte auf, ein Schwall von Spritzern prallte gegen die Lukenscheibe.

»Vorwärts!«, rief Bykow begeistert.

Auf der anderen Seite des Grabens hielt er den Knaben an. In etwa zehn Metern Entfernung erhob sich die steile rötliche Wand; sie war aus Lehm. Fünfzehn bis zwanzig Meter hoch, schätzte Bykow flüchtig. Wollen mal versuchen ... Er warf einen schnellen Seitenblick auf Jermakow und gewahrte, dass sich dieser mit den Händen an den Sitz klammerte. Wie ein Frosch in einem Fußball ...

Vom Gipfel des Hügels aus mutete der Geländewagen wie ein kleiner grauer Käfer an, der über einen frisch gepflügten Acker kroch. Jetzt begann der Käfer an der Wand emporzukrabbeln. Auf irgendeine unerklärliche Weise gelang es ihm, ein kleines Stück zu bewältigen. Dann erzitterte er, löste sich von der Wand und fiel, eine rote Staubwolke hochwirbelnd, auf den Rücken.

»Teufel noch mal«, murmelte der Stadtparteisekretär. »Er hätte die Wand umfahren sollen!«

Dauge spie nervös aus.

»Umwege sind nicht gestattet«, sagte Krajuchin ruhig. »Das verstößt gegen die Prüfungsordnung. Achtung!«

Am Fuße der roten Wand ging etwas Merkwürdiges vor sich. Der Käfer regte sich, streckte mehrere blanke Beine aus, bog sie langsam in den Gelenken und drehte sich mit ihrer Hilfe wieder auf den Bauch. Eine Sekunde verstrich, eine zweite ... Drei Stahlstützen nach unten gegen die Wand gestemmt und mit der vierten behutsam vortastend, schob sich der Knabe langsam höher und höher, bis er sich schließlich mit den Raupenketten in den Kamm fraß und – im Fahren die Stützhebel einziehend – ohne Halt weiterrollte.

»Ein Prachtkerl!«, rief Jurkowski begeistert. »Ein wahrer Meister!«

»Vielleicht nehmen wir statt seiner doch noch einen dritten Piloten?«, bemerkte Krajuchin schmunzelnd, während er den Feldstecher an die Augen hob.

Bykow frohlockte. Alles ging, wie man es sich nicht besser wünschen konnte. Der Knabe nahm ein Hindernis nach dem anderen. Die Steine krümelten unter den Raupenketten, der braune Schlamm spritzte aus den Trichtern, donnernd rollten die aus dem Boden gewühlten Findlinge die Hänge hinab. Einige Male wies Jermakow, der die Route mit Hilfe von Karte und Kompass verfolgte, die Richtung, sonst wäre Bykow unweigerlich von dem vorgeschriebenen geraden Kurs abgewichen, obwohl er bemüht war, ihn zu halten.

»Wie viel haben wir zurückgelegt, Anatoli Borissowitsch?«

»Noch etwa anderthalb Kilometer, dann sind wir am Ziel.«

In diesem Augenblick schlugen völlig unerwartet und geräuschlos hellrote Flammensäulen vor dem Knaben hoch. Bykow stoppte.

»Da sind sie ja, Krajuchins Überraschungen«, murmelte er.

Das Feuer dehnte sich schnell aus. Es schien, als brannten die Steine. Schwarze Rauchschwaden, mit blutroten Flammenzungen vermischt, krochen über den Boden und stießen stellenweise hoch in die Luft. Der trockene heiße Wind hatte dichte Staubwolken aufgewirbelt.

»Geliertes Benzin!«, brachte Bykow erregt hervor. »Napalm. Was für ein Einfall ...«

Jermakow schwieg. Bykow verzog den Mund zu einer Grimasse, schloss die Spektrolithklappen über den Aussichtsluken und drückte auf die Tasten. In voller Fahrt tauchte der Knabe in den Feuersturm.

Als der schmutzigrote Vorhang den Horizont verhüllte, räusperte sich der Stadtparteisekretär, und der Vorsitzende des Stadtsowjets trat näher an das Sprechfunkgerät heran. Krajuchin aber sagte gelassen: »Ich habe befohlen, einige Dutzend Fässer Benzin anzuzünden. So an die sieben- bis neunhundert Grad für die Dauer von Minuten. Dem Knaben macht das nichts aus. Aber ob die Nerven durchhalten ...«

Die Nerven hielten durch. Mit fetter Rußschicht bedeckt, rollte der Knabe in den Bach, der das Ende der Teststrecke anzeigte, und blieb stehen. Zischend und brodelnd schlugen die Wellen gegen die geschwärzten, lila schillernden Flanken der Maschine. Eine dichte Dampfwolke stieg in die Luft. Allmählich kühlte die Panzerung ab. Bykow fasste Jermakow, der hilflos in den Gurten hing, an der Schulter und rüttelte ihn. Doch der Kommandant war bei vollem Bewusstsein.

»Geschafft«, murmelte er mit schwacher Stimme. »Bin froh für Sie ... und für mich.«

Bykow schnaufte verwirrt.

Sie schwiegen auf dem ganzen Rückweg über die Ebene und am Bach entlang. Erst als sie zu dem Hügel abbogen, auf dessen Gipfel die Kameraden grüßend mit den Armen fuchtelten, sagte Bykow: »Eines ist mir unklar, Anatoli Borissowitsch. Woher kommen hier in der Tundra solche Zerstörungen?«

Lange ließ Jermakow den Ingenieur auf Antwort warten. Er löste die Schnallen seiner Haltegurte und sagte dann wie gezwungen: »Über diesem Abschnitt ist eine Rakete explodiert ... Eine Photonenrakete. Das ist alles.«

»Ach so, eine Explosion. Ich dachte es mir schon beinahe ...«

Das war das Einzige, was der erschütterte Bykow hervorbringen konnte.

Bei der Aufhebung der verspäteten Mittagstafel – mit einem Gläschen Kognak zu Ehren der glücklich durchgeführten Probefahrt – bat Krajuchin um Aufmerksamkeit und sagte: »Jermakow und Bykow werden für eine Woche auf Sanatoriumsregime gesetzt. Keinerlei Arbeit. Abenteuerromane, Spaziergänge und viel Schlaf. Die anderen bereiten sich zum Empfang der Chius vor. Wie wir erfahren haben, ist das Schiff vom Ziolkowski gestartet und wird in fünf, sechs Tagen bei uns landen.«