Die Venus aus der Vogelperspektive

Die Funkverbindung setzte vierundzwanzig Stunden später ebenso plötzlich wieder ein, wie sie abgerissen war. Offenbar hatte die Chius die »verhexte Stelle« passiert – dieses merkwürdige Gebiet im Raum, das hinsichtlich der Funkwellen noch unbekannte Eigenschaften in sich barg. In der Messe wurde viel über diese Erscheinung diskutiert. Manche der geäußerten Vermutungen waren offenkundig absurd. So erklärte beispielsweise Dauge, dass sie wohl alle einer Massenpsychose erlegen wären. Jurkowski dagegen versuchte eine Hypothese irgendwelcher vierdimensionaler Reflexionen auszuarbeiten, bemüht, mit Hilfe des besten Mathematikers an Bord, Michail Antonowitsch Krutikow, »einen physikalisch korrekten Begriff« für einen Raumabschnitt zu finden, der die elektromagnetischen Schwingungen nur in einer Richtung durchließe. Was Bykow betraf, so kränkte ihn anfangs der Gleichmut der Kameraden gegenüber Lloyds Tod. Er empfand es geradezu als eine Lästerung, dass sie über Theorien und Formeln sprachen, obwohl sie erst vor zwei Stunden Zeugen eines solchen Unglücks gewesen waren. Die Havarie der Star hatte ihn zutiefst erschüttert. Wie betäubt wanderte er durch das Schiff und konnte sich nur mit Mühe zwingen, auf Fragen zu antworten und Jermakows kleine Aufträge zu erfüllen.

Bis zu dem Punkt, wo das Raumschiff der Venus begegnen sollte, blieben noch fünfzehn bis zwanzig Millionen Kilometer. Der Flug näherte sich seinem Ende. Bald kam der schwierigste Augenblick der Expedition – die Landung auf der Oberfläche der Venus. Mit wenigen Ausnahmen war das bisher nicht einmal den besten Raumfahrern der Welt gelungen. Und nicht Tadel, sondern Nachahmung und höchstes Lob verdienten Menschen, die sich mit gut trainierter Willenskraft zwangen, die durchstandenen Prüfungen, sogar die jüngsten, zu vergessen und ihr ganzes Augenmerk auf die künftigen zu lenken. Das war es, was Bykow zunächst nicht begriffen hatte. Doch nun sah er in seinen Gefährten Kämpfer, die zum Angriff angetreten waren: Nachdem sie ihre Toten zurückgelassen und in aller Eile die frischen Wunden verbunden hatten, bereiteten sie sich zum letzten, entscheidenden Schlag vor, der ihnen den Sieg bringen sollte ... oder den Tod. Dabei sprach niemand, nicht einmal Jurkowski, gefühlvolle Worte oder nahm effektheischende Posen ein. Alle blieben ruhig und sachlich. Und aus ihren Bemühungen, das Geheimnis der »verhexten Stelle« zu enträtseln, sprach lediglich die natürliche Sorge um die, die ihnen folgen würden.

Bykows Hochachtung vor den Kameraden äußerte sich darin, dass er sie mit einem herrlichen Pilaw überraschte, und Michail Antonowitsch kam nach dem Abendessen zweimal in die Kombüse gerannt, das zweite Mal – vom Wachdienst, um sich einen Nachschlag zu holen, wobei er von Jermakow ertappt und streng gerügt wurde.

Sofort nach Wiederaufnahme der Verbindung mit der Erde sandte Jermakow einen Funkspruch, in dem er mit klaren, knappen Worten die unerklärliche Anomalie schilderte und das aufgefangene Gespräch zwischen Professor Lloyd und Lu durchgab.

»Na, Sie haben uns aber zappeln lassen!«, sagte Saitschenko, vor Erregung schluckend. »Vera Nikolajewna hätte beinahe den Verstand verloren. Und die Star ...« Seine Stimme wurde leise und ernst. »Davon wissen wir schon, die ganze Welt weiß es. Lu hat das englische Schiff erreicht und die Leichen der Verstorbenen sowie die Papiere geborgen.«

»Was ist auf der Star eigentlich passiert?«

»Genaues weiß man nicht, aber es wird angenommen, dass der Reaktor explodiert ist. Der Maschinenraum war völlig zerstört. Lu hat uns über Bildfunk ein Foto gezeigt.«

»Wie viele sind umgekommen?«

»Lu hat zwei vorgefunden. Aus England wurde mitgeteilt, dass acht Mann an Bord waren.«

»Ehre ihrem Andenken.«

»Ehre ihrem Andenken ...«

Sie schwiegen.

»Was denken Sie über die Ursachen der Funkunterbrechung, Anatoli Borissowitsch?«

»Ich bin noch zu keinem Schluss gelangt.«

»Na ja, gewiss ... es gibt wenig Anhaltspunkte. Vielleicht spielt hier die Geschwindigkeit der Chius eine Rolle. Ich glaube, Ljachow hat sich in diesem Sinne geäußert.«

»Das ist mir bekannt.«

»Oder Sie sind in eine dichte Wolke metallischen Staubes geraten.«

»Das erklärt nichts. Überlassen wir die Entscheidung lieber den Fachleuten. Was macht Krajuchin?«

»Ist wieder wohlauf. Wollte unbedingt hierher auf die Station kommen, doch die Ärzte erlauben es ihm vorerst nicht. Bei uns regnet es jetzt.«

»Grüßen Sie ihn recht schön von uns allen, insbesondere von mir.«

»Wird gemacht, Anatoli Borissowitsch. Ach so ... hätte es beinahe vergessen. Hier liegt ein Zettel von ihm, schon seit zwei Tagen.«

»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Lesen Sie ...«

»Sofort. Also: ›Anatoli, vergiss alles, was ich damals gesagt habe. Sicherlich werde ich alt und schwach. Ka.‹«

»Wie?«

»Ka. Der Buchstabe K statt der Unterschrift.«

»Verstehe. ›Vergiss alles, was ich damals gesagt habe.‹«

»Ja. ›Vergiss alles.‹«

Jermakow warf einen Seitenblick auf Spizyn, der mit dem Rücken zu ihm am Pult saß.

»Verstehe. Wir hatten einen kleinen Streit ... Sonst noch was?«

»Nein, das ist alles, Anatoli Borissowitsch. Bleiben die Funkzeiten die alten?«

»Jawohl. Auf Wiederhören. Ende.«

In der Schiffsmesse erwartete Jermakow ein seltsamer Anblick. Der Tisch war von großen Bögen Packpapier bedeckt, auf denen irgendwelche metallischen Gegenstände glänzten und weiße Lappen lagen. Es roch nach Waffenöl. Am Tisch stand Bykow und gab mit sichtlicher Begeisterung Dauge irgendwelche Erklärungen; dieser betrachtete interessiert Bykows Hände. Auf dem Sofa saßen Jurkowski und Michail Antonowitsch. Auch sie verfolgten, was Bykow tat – der eine mit gespieltem Desinteresse, der andere mit sichtlicher Neugier, in die sich Sorge mischte.

»Da«, sagte Bykow, »diese Gabel dient dazu, das Schloss zu arretieren. Hier – siehst du – stecken wir diesen kleinen Bolzen hinein, schieben ihn auf diese Feder ...«

Er verstummte, senkte den Kopf, und unter seinem abgespreizten Ellenbogen blitzte dunkles poliertes Holz auf.

»So. Dann nehmen wie das Griffstück und ...«

Klack-klack.

»... fertig. Hast du die Mechanik verstanden? Jetzt bau deine zusammen.«

»Womit befassen Sie sich denn hier?«, erkundigte sich Jermakow und trat näher heran.

Bykow erklärte verlegen: »Nun ja ... Weil wir bald an Ort und Stelle sind, habe ich beschlossen, die Waffen in Schuss zu bringen. Sie vom Konservierungsfett zu befreien, und so. Und Dauge wollte wissen ...«

»Ich halte zum ersten Mal im Leben eine Maschinenpistole in den Händen, Anatoli Borissowitsch«, sagte Dauge. »Ich habe Bykow gebeten, mich einzuweisen.«

»Ich verstehe übrigens auch nicht viel von Waffen«, bemerkte Jermakow. »Und Sie, Wladimir Sergejewitsch?«

Jurkowski lächelte. »Was gibt es da zu lernen? Zielen, Abzug drücken und ballern, solange Patronen im Magazin sind.«

»Hm ... Und Sie, Michail Antonowitsch?«

»Ich ... schaue es mir an, sozusagen.«

»Machen Sie bitte weiter, Alexej Petrowitsch, ich werde auch zuschauen.«

Jermakow rückte einen Stuhl heran und setzt sich. Ja, hier gab es etwas zu sehen. Der schüchterne Fahrer war wie ausgewechselt. Seine Unsicherheit war verschwunden, die Angst, irgendetwas falsch zu machen. Die geschickten Finger legten Bauteile ein, verbanden und befestigten sie mit schnellen, exakten Bewegungen, und die auf dem Tisch verstreuten, sonderbar geformten Metallteile schien wie von selbst an ihre Plätze zu rücken und verwandelten sich in eine bedrohliche Waffe.

Jermakow betrachtete Bykow mit unwillkürlicher Faszination – wie damals, als sie nach der Feuerprobe in dem geschwärzten Transportfahrzeug zurückgekehrt waren. Der Fahrer schaute nicht auf das, was seine Hände taten. Die winzigen grauen Pupillen wanderten ruhig von einem Gesicht zum anderen, und die Hände agierten wie ein selbständiger, unabhängig vom Menschen existierender Organismus.

»So ... und so.« Bykow ließ das Schloss klacken und zog die MPi an die Schulter. »Fertig, Feuer frei auf die Feinde der Arbeiterklasse ...«

»Geben Sie mal her«, verlangte Jurkowski überraschend.

Die improvisierten Übungen dauerten bis zum Mittagessen. Als es Zeit wurde, den Tisch zu decken, war jedes Besatzungsmitglied schon imstande, eine MPi auseinanderzunehmen und zusammenzusetzen sowie einfache Hemmungen zu beseitigen.

»Wir werden noch den Umgang mit Pistole und Granate lernen müssen«, sagte Bykow, während er die Hände an einem Lappen abwischte.

»Nach dem Essen?« Dauge warf Jermakow einen fragenden Blick zu. Der nickte zum Zeichen des Einverständnisses.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Jurkowski etwas gereizt und betrachtete kritisch einen großen Fettfleck auf dem Ärmel seines neuen Seidenhemdes. »Ich verstehe nicht, wozu das alles nütze sein soll.«

»Krajuchin hat befohlen, Waffen mitzunehmen«, sagte Bykow missmutig. »Und er wird schon wissen, was er tut.«

»Und was denken Sie selbst?«

»Hm ... Es könnte dort irgendwelche Tiere geben ... oder Ungeheuer. Ich habe gehört, dass man auf irgendeinem Planeten auf welche gestoßen ist.«

»Das war auf der Kallisto ... Auf dem Jupitermond«, sagte Dauge. »Aber dort ist man auch ohne Waffen klargekommen.«

»Jedenfalls«, bemerkte Jermakow, »ist es mit Waffen besser als ohne. Sie stören nicht, und vielleicht werden sie nützen.«

»Was haben Sie denn noch in Ihrem Arsenal?«, erkundigte sich Jurkowski. »Außer diesen MPis, Pistolen, Bomben ...«

»Da sind noch finnische Messer ...«

»Uff!«

»... und Atomminen.«

»So. Und tragbare Bomber oder einen Westentaschen-Kreuzer haben Sie nicht? Schön, geben Sie ihre Schreckschussdinger her und zeigen Sie, wo sie hin sollen.«

Jurkowski klemmte sich zwei MPis unter die Arme und ging zusammen mit Bykow hinaus. Jermakow und Dauge wechselten Blicke und lächelten.

Es wird Zeit, sich von Machow die Peilung geben zu lassen«, sagte Spizyn beim Mittagessen.

»Ist es nicht ein bisschen zu früh?«, wandte Jermakow ein. »Wir haben ja noch zehn Stunden in Reserve.«

»Mit Ihrer Erlaubnis, Anatoli Borissowitsch – fangen wir lieber etwas eher an. Die Sache ist neu, und es wäre gut, mehr Daten zu haben als sonst.«

Bykow erkundigte sich halblaut, worum es ginge.

»Die Chius nähert sich der Venus«, erklärte Dauge. »Wir müssen jetzt die Bahn zum Ziolkowski berechnen.«

»Zum Ziolkowski? Zum künstlichen Satelliten der Venus? Und warum?«

»Wieso warum? Um ihn anzufliegen, versteht sich.«

»Ach ... Und ich dachte, wir würden gleich zur Venus fliegen und mit dem Ziolkowski nur die Funkverbindung aufrechterhalten.«

»Du hast es aber eilig! Man muss sich doch mit Machow, dem Chef des Ziolkowski, über die Zusammenarbeit einigen.«

»Werden wir dort lange bleiben?«

»Ich weiß es nicht ... Anatoli Borissowitsch, wie lange werden wir beim Ziolkowski bleiben?«

»Fünf bis sechs Stunden, nicht länger. Wir übergeben die Post, Bücher, Obst, führen eine Beratung durch und fliegen weiter.«

»Klar. Übrigens, Alexej, dort wirst du die Schwerelosigkeit zur Genüge kennenlernen. Auf den Anblick freu ich mich schon jetzt, ha, ha!«

Bykow dachte an seine unliebsamen Erfahrungen auf diesem Gebiet und beugte sich tief über seinen Teller.

Die Annäherung der Chius an den Ziolkowski dauerte länger als drei Stunden und bereitete der Besatzung manche Ungelegenheit. Die Piloten bekamen wieder gehörig zu tun, denn die Bahnebene des Ziolkowski, der in einigen Tausend Kilometern Entfernung um die Venus kreiste, verlief fast lotrecht zur Bahnebene des Planeten. Doch die Aufgabe wurde gelöst, und auf einer immer enger werdenden Spirale näherte sich das Raumschiff dem Punkt, wo zu einer bestimmten Zeit der Ziolkowski vorüberziehen musste. Die »Passagiere« verbrachten diese Stunden, an die Sessel geschnallt, in der Messe und fühlten sich bald leicht wie Luftballons, bald schwer wie Bleiklumpen. Bykow kam es vor, als schwinge er in einer phantastischen Schaukel. Mal klammerte er sich an die Armlehnen, aus Angst, gegen die Decke zu fliegen, mal riss er den Mund auf, vergeblich bemüht, Luft zu holen, und spürte deutlich, wie seine Rippen die Lunge zusammenpressten. Doch alles nimmt einmal ein Ende. Anscheinend waren die Piloten zu dem Schluss gekommen, die Passagiere hätten genug gelitten, die Manipulationen mit der Beschleunigung hörten auf, und in einem ohnehin schon unangenehmen Augenblick stürzte die Schaukel, statt erneut in die Höhe zu steigen, jäh in einen bodenlosen Abgrund.

»Alles in Ordnung!«, drang Spizyns Stimme aus dem Lautsprecher. »Sie können sich abschnallen. Der Ziolkowski liegt hundert Kilometer von uns entfernt, die Venus – dreitausend.«

»Warte mit dem Abgurten, Alexej«, sagte Dauge und schnallte sich eilig los. An den Streckleinen und festgeschraubten Möbeln Halt suchend, zog er gemeinsam mit Jurkowski sehr geschickt einige Nylonschnüre durch die Messe, zusätzlich zu den Griffstangen an den Wänden. Auch im Gang, im Steuerraum und in den Kabinen wurden Schnüre angebracht.

»Jetzt kannst du dich freimachen.«

Bykow erhob sich vorsichtig, schwebte aber unerwartet empor und blieb in der Luft hängen, an die Sessellehne geklammert. Sein Gesicht wurde dunkelrot. Schief lächelnd und ohne jemanden anzuschauen, erfasste er die Schnur, strampelte unbeholfen und landete auf dem Fußboden.

»Na, so ein Blödsinn ...«, knurrte er ärgerlich.

»Wie ist es, Alexej Petrowitsch«, sagte Krutikow, der gerade hereinkam, »wäre es nicht angebracht, ein extra gutes Abendessen zu kochen und die Jungs vom Ziolkowski zu bewirten?«

»Gleich«, stieß Bykow mit Mühe hervor.

»Nicht doch, Aljoscha!« Krutikow lachte. »So einfach ist das nicht. Wirst wohl noch ein Weilchen warten müssen.«

»Wieso?«

»Hast du überhaupt eine Ahnung, wie man unter solchen Verhältnissen kocht? Wenn das Wasser, statt zu fließen, als Blase durch die Küche schwebt, wenn die Schnitzel wie toll gewordene Frösche aus der Pfanne hüpfen und ungebraten in der Luft umhersegeln ...«

Ein starker Stoß unterbrach ihn. In der Wandpolsterung knirschte es. Die ganze Messe wankte.

»Was ist denn das schon wieder?«, brummte Dauge.

Bykows Blick traf auf die erstarrten Augen Krutikows. Kleine Schweißperlen bedeckten jäh die Stirn des Navigators.

»Heiß die Gäste willkommen, Michail Antonowitsch!«, ertönte plötzlich die fröhliche Stimme Bogdans aus dem Gang. »Tölpel, verdammte!«

Dauge blies geräuschvoll die Luft aus, und Michail Antonowitsch zog mit zitternder Hand das Taschentuch hervor.

»Aber richtige Tölpel«, sagte er, nach Atem ringend. »So kann man einen Menschen für sein ganzes Leben zum Krüppel machen ... zum Stotterer ...« Er steckte das Tuch wieder ein und hangelte rasch an den Schnüren entlang in den Gang.

Dauge murmelte unzufrieden: »Fast jedes Mal passiert so etwas, und immer rutscht mir dabei das Herz in die Hosen.«

»Was ist denn eigentlich geschehen?«, fragte Bykow.

»Eine kleine Rakete vom Ziolkowski hat angelegt. Ein ›Raumtaxi‹, bitte sehr. Bravourstückchen ... Wahrscheinlich ist es Machow, der uns seine Aufwartung machen will ... Halt, wo fliegst du denn hin, Alexej? Bleib noch ein Weilchen ...«

Bykow hatte eine unvorsichtige Bewegung gemacht, er flog zwischen den Schnüren hindurch, stieß gegen die Decke und segelte mit ausgebreiteten Armen wieder hinab. Dauge erwischte ihn am Fuß, riss ihn geschickt herum und stellte ihn wieder auf die Beine.

»Nicht so stürmisch, du Engel! Erinnerst du dich an die Formel – einhalb em vau-quadrat? Ein Glück, dass es wenigstens einhalb ist, sonst hättest du dir jetzt deinen hitzigen Schädel eingeschlagen.«

Bykow ließ sich von Neuem in dem rettenden Sessel nieder, fest entschlossen, ihn so lange nicht zu verlassen, bis die »verdammte Schwerelosigkeit« aufgehört hätte. In diesem Augenblick entstand im Gang Getümmel, Hände klatschten ineinander. Bykow vernahm frohe Ausrufe und, wie es ihm schien, sogar Kusslaute.

»Seid gegrüßt, Freunde! Wie geht’s euch, Landsleute, Erdenbürger?«, dröhnte eine lebhafte Bassstimme. »Grüß dich, Michail Antonowitsch, altes Haus! Du bist ja ganz abgemagert, du Ärmster!«

»Grüß dich, Machow, mein Bester! Komm, lass dich küssen und gleich hinterher bestrafen wegen Verletzung der kosmischen Verkehrsregeln ...«

»Ah! Bogdan! Aber schimpf doch nicht gleich bei der Begrüßung ... Anatoli Borissowitsch, endlich sehe ich Sie mal wieder! Bitte machen Sie sich bekannt: Mein Stellvertreter, Ingenieur Stirner, Grigori Moissejewitsch. Er wird unmittelbar mit Ihnen arbeiten.«

»Hab schon gehört, ausgezeichnet ...«

»Freue mich, Sie kennenzulernen.« Die Stimme des Ingenieurs klang trocken und scharf.

»Ich darf Sie in die Messe bitten«, lud Jermakow ein.

»Aber nein, ihr Lieben! Wir nehmen die Post und fahren gleich alle zu uns. Wir warten ja schon so sehnsüchtig auf euch.«

»Pardon, Pjotr Fjodorowitsch. Diesmal werden wir uns auf ein Gespräch hier an Bord der Chius beschränken. Wir besuchen Sie auf dem Rückweg.«

Alle schwiegen betreten.

»Das hätte er nicht sagen sollen«, flüsterte Dauge, mit runden Augen zur Tür starrend. »Es sind genau die Worte Tachmasibs ...«

Bykow wurde es unbehaglich zumute.

»Ich weiß, ich weiß, was Sie denken!«, fuhr Jermakow mit leichtem Lächeln fort. »Man soll nicht abergläubisch sein. Eile tut not.«

»Wie Sie wünschen, Anatoli Borissowitsch«, entgegnete Machow verwirrt. »Wohin gehen wir jetzt, wenn ich fragen darf?«

»Hier hinein, bitte ... Kommen Sie, Grigori Moissejewitsch.«

Die Gäste – der große, schwere Machow und der hagere Stirner, der neben seinem Vorgesetzten wie ein Halbwüchsiger wirkte, beide in weichen, abgeschabten Kombinationen mit zurückgeklappten durchsichtigen Helmen – traten als Erste ein. Stirner trug eine Aktentasche unter dem Arm.

»Guten Tag, Genosse Dauge«, dröhnte Machows Bass. »Und das ist sicherlich Genosse Bykow, nicht wahr?«

In weiser Voraussicht die linke Hand an der Schnur lassend, drückte Bykow den beiden Eingetretenen die Hand. Alle nahmen am Tisch Platz.

»Also, Pjotr Fjodorowitsch«, sagte Jermakow, »zeigen Sie, was Sie da haben.«

Machow räusperte sich geräuschvoll, Stirner klappte die Mappe auf, und die Beratung begann. Alle äußerten sich knapp und genau, meistens in Formeln und mathematischen Fachausdrücken, wobei sie sich der Karten und Berechnungen bedienten, die Stirner mitgebracht hatte. Es ging darum zu gewährleisten, dass die Chius möglichst nahe an den Grenzen der Urangolkonda landete und dass die Verbindung auch nach der Landung nicht abriss. Machow, Stirner und ihre Kollegen auf den beiden anderen künstlichen Satelliten hatten in allen Einzelheiten ein Peilsystem ausgearbeitet, mit dessen Hilfe die Chius bis zu einer Stelle geleitet werden sollte, die höchstens fünfzig bis hundert Kilometer von den Grenzen des Atomvulkans entfernt lag. Dieses System war zwar noch nicht in der Praxis erprobt worden, doch die Übungsläufe berechtigten zur Hoffnung auf Erfolg.

»Von uns wird jetzt maximale Genauigkeit verlangt«, sagte Stirner, mit dem Finger auf die Zeichnung klopfend. »Und von Ihnen, Genossen, Aufmerksamkeit und Manövriervermögen. Soviel ich weiß, ist die Chius in ihren Bewegungen nicht so begrenzt wie eine gewöhnliche Impulsrakete. Sie wird sich daher ungeachtet aller Zufälligkeiten streng an die Peilsignale halten können. Aber, ich wiederhole: in erster Linie Aufmerksamkeit! Wenn das Schiff auch nur einen Deut von dem Funkstrahl abweicht, gehen Sie das Risiko ein, Tausende Kilometer vom Kurs abzukommen.«

Wie er weiter ausführte, sollte die Chius im Schnittpunkt dreier Funkstrahlen zu der nach Meinung der Fachleute günstigsten Stelle geleitet werden. Zehn bis fünfzehn Kilometer über der Venusoberfläche verschwänden die Peilzeichen: Sie würden entweder völlig verschluckt oder nach oben reflektiert. Aus dieser Höhe müsse das Schiff senkrecht niedersteigen. Ernste Komplikationen seien nicht ausgeschlossen: Die heimtückische Atmosphäre der Venus könne die Signale verzerren. Deshalb würden Kontrollsender arbeiten.

Spizyn und Jermakow notierten sich die Zahlen, verglichen ihre Berechnungen mit denen Stirners und erklärten, dass sie keine Fragen mehr hätten. Machow ging zum nächsten Punkt über. Da es wahrscheinlich nicht gelingen werde, nach der Landung eine zuverlässige Funkverbindung herzustellen, müsse man sich über ein optisches Signalsystem einigen. Für den Funk würden zwei Hauptsignale genügen: das erste – »Lebensmittel und Trinkwasser«, das zweite – »Ersatzteile, Energiequellen«. Die Liste der Ersatzteile und der notwendigen Apparaturen sei bereits zusammengestellt.

»Wir haben Ihnen transportable Abschussvorrichtungen und zwei kleine Raketen mit Atomladung mitgebracht. Wenn etwas Schlimmes passiert – toi, toi, toi – und unsere Hilfe erforderlich ist, schicken Sie eine dieser Raketen herauf, senkrecht über sich; sie explodiert in einer Höhe von etwa zweihundert Kilometern. Natürlich dürfen Sie nicht in jedem beliebigen Augenblick schießen. Hier haben Sie eine Zeittabelle. Zu den angegebenen Minuten werden unsere Leute sorgfältig den Abschnitt über Ihrer Landestelle beobachten.«

»Na, und weiter?«, drängte Jermakow.

»Wir werden Ihnen helfen, wenn Sie in Not sind.«

»Auf welche Weise?«

»Wir schicken Ihnen alles Erforderliche mit automatischen Raketen. Die Raketen werden genau auf Ihr Peilsignal zusteuern.«

»Ausgezeichnet!« Jermakow nickte. »Und wozu die zweite Signalrakete?«

»Sie lassen zwei Raketen hintereinander aufsteigen, wenn die Landung unglücklich verlaufen ist und das Schiff ernsthafte Beschädigungen erlitten hat.«

Eine Pause trat ein.

»Es ist sehr leicht möglich, dass dann niemand mehr die Raketen abschießen kann«, bemerkte Dauge stirnrunzelnd.

»Ganz so pessimistisch bin ich nicht«, erwiderte Machow sanft.

Nach der Beratung beugte sich Dauge zu Bykow und sagte: »Komm, Alexej, gehen wir die schöne Venus betrachten. Jermakow hat erlaubt, dich hinauszulassen.«

Zehn Minuten später standen sie, von plumpen Panzern mit durchsichtigen Helmen umschlossen, in dem kubischen Schleusenraum vor der Außenluke. Dauge verriegelte fest die Innentür, schaltete die Vakuumpumpe ein und wandte sich dem in der Wand angebrachten Manometer zu. Der dünne Zeiger rückte in ungleichmäßigen Sprüngen nach unten. Als er stehen blieb, schob Dauge den breiten Stahlriegel zur Seite, und die dicke gerippte Klappe sprang geräuschlos auf.

Bykow war auf ein Bild gefasst, wie es oft in Reportagen, Zeitungsartikeln und Romanen beschrieben wurde: ein schwarzvioletter, mit leuchtenden Sternpunkten übersäter Abgrund. Stattdessen erhellte trübes gelbrosa Licht die runde Lukenöffnung. Das Raumschiff schwebte über einer riesigen mattleuchtenden Nebelkuppel. Auf schimmerndem, orangefarbenem Grund krochen graue Schatten umher; näherten sich einander und entfernten sich wieder, flossen zu Ringen zusammen und zerstoben zu vagen, verschwindenden Flecken. Näher zum Rand wurde die Kuppel dunkler, doch ihre Konturen waren verschwommen; das Orange ging unmerklich in ein verwaschenes Lila und schließlich in völlig undurchdringliches Schwarz über. Im Zentrum aber flochten sich feinste rosa, gelbe und graue Nebelbänder ineinander, ohne sich jedoch zu vermischen; mal waren sie deutlich zu erkennen, mal zogen eintönige graubraune Schleier über sie hinweg ...

So sieht sie also aus, die Venus, der »furchtbarste Planet des Sonnensystems«! Bykow begriff, dass diese beweglichen bunten Schatten, so harmlos sie aus der Entfernung von einigen Tausend Kilometern auch erschienen, nichts anderes waren als ungeheure Veränderungen in der Atmosphäre – Stürme, Taifune, Wirbelwinde, denen an Kraft und Geschwindigkeit auf der Erde nichts gleichkam.

Da wurde ein langer grauer Fleck zusehends schmaler, krümmte und wand sich zu einem Ring. Man konnte sich den gigantischen Trichter und die riesigen Wolkenmassen vorstellen, die mit phantastischer Geschwindigkeit in seinem Innern herumwirbelten. »Sieht nicht gerade einladend aus«, fielen Bykow Ljachows Worte ein. Er konnte sich nicht losreißen von diesem furchterregenden und erhabenen Schauspiel.

Dort unter der brodelnden Wolkenhülle verbarg sich eine ganze Welt mit Bergen und Wüsten, vielleicht auch mit Meeren und Ozeanen. Dort irgendwo lagerten die Schätze, die zu erforschen die Besatzung der Chius ausgeschickt war, dort lagen die Trümmer der ferngelenkten Mechanismen und zerschmetterten Raumschiffe, die Gebeine der tapferen Männer ... Ein Gefühl gleich abergläubischer Furcht regte sich in Bykows Herzen. Er dachte daran, mit welcher Wut dieser Planet alle Versuche, ihn zu bezwingen, abgewehrt hatte. Doch der Mensch ist klüger und stärker als die Natur. Er ist kühn und hartnäckig. Und sollte es der Besatzung der Chius beschieden sein, dort unten ihr Leben zu lassen, so würde das keinen Augenblick die nächsten Venusfahrer abschrecken.

Von links her kroch rasch ein schwarzer Schatten mit stark ausgebuchtetem Rand über die Kuppel.

»Wir kommen auf die Nachtseite«, vernahm Bykow Dauges Stimme im Helm.

Die Chius tauchte in den Schattenkegel der Venus. Es wurde finster, nur ein trüb leuchtender Nebelring deutete die Ränder des Planeten an. Doch bald traten auf dem verdunkelten Grund schwache rosa Lichtreflexe hervor.

»Was mag das sein?«, fragte Bykow.

Dauge beugte sich vor und spähte angestrengt. »Sicherlich Vulkane. Ich habe gehört, dass es in einigen Gebieten der Venus ununterbrochene vulkanische Tätigkeit geben soll. Genaueres weiß vorläufig noch niemand. Man nimmt es nur an ...«

Sie verließen die Schleuse, als es zur Linken wieder hell wurde und sich eine riesige gelbe Sichel abzeichnete.

»Ja ...«, sagte Bykow sinnend. »Aber wo ist der Ziolkowski? Ich hätte mir auch ihn gern einmal angeschaut.«

»Von der Luke aus ist er nicht zu sehen, Alexej. Die Chius hat ihre Luken der Venus zugekehrt, und der Ziolkowski schwebt über uns. Für dich ist es noch zu früh, über die Schiffshülle zu klettern. Gedulde dich, du wirst ihn auf dem Rückweg zu sehen bekommen ...«

Bykow musste an Dauges Bemerkung über Jermakows ähnlich lautende Worte denken, seufzte und schwieg.

In der Messe wurden sie bereits erwartet. Jermakow lud alle zu einem kleinen Imbiss ein. Es war das erste Essen unter schwerelosen Bedingungen, und Bykow wünschte insgeheim, es möchte auch das letzte sein. Die Raumfahrer nuckelten an elastischen Saugern, die durch biegsame Röhrchen mit geschlossenen Kunstharzgefäßen verbunden waren. Brotscheiben und Belag nahmen sie aus Gitterkörben, die sofort wieder sorgfältig zugehakt werden mussten. Kurzum, der Fahrer des Knaben wäre gewiss hungrig geblieben, hätte sich Krutikow nicht wohlweislich neben ihn gesetzt und ihn betreut.

Bei Tisch wurde über die Arbeit auf dem künstlichen Satelliten gesprochen, über Pläne, ganze Armaden von Chiussen zu schaffen, über die Notwendigkeit spezieller konsultativer Sendungen für die Fernstudenten auf den künstlichen Satelliten. Machow beklagte sich über einen begriffsstutzigen Versorgungsmann, der ihm eine ganze Kiste Mikrofilme über die Technik des Skisports geschickt hatte. Stirner erzählte lachend, dass jemand Mäuse auf den Ziolkowski eingeschleppt habe. »Jetzt bitten wir flehentlich um eine Katze. Stellen Sie sich die zwerchfellerschütternde Attraktion vor: Katze jagt Maus unter schwerelosen Bedingungen.« Dann unterhielt man sich noch ausgiebig über die Konzerte eines berühmten indonesischen Ensembles und über die neue Symphonie des Swerdlowsker Komponisten Gadalow »Der Weg zu den Sternen«, die alle tief bewegt hatte. Es wurde viel gewitzelt und gelacht. Über die schweren Prüfungen, die den Mitgliedern der Expedition unmittelbar bevorstanden, fiel kein einziges Wort.

Jermakow warf einen Blick auf die Uhr, und Machow erhob sich eilig.

»Es ist Zeit, Genossen.«

Alle standen auf und verabschiedeten sich. Machow umarmte die Raumfahrer der Reihe nach, und Bykow bemerkte mit Unruhe, wie die Wangen des lebhaften Mannes plötzlich einfielen und sein Gesicht sich gelblich verfärbte. Stirner war die Erregung kaum anzumerken.

»Vergessen Sie nicht«, sagte Jermakow, »dass Sie mit Ihrem Taxi mindestens fünfzig Kilometer von uns abkommen müssen, sonst können Sie von dem Photonenstrahl erfasst werden.«

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen«, knurrte Machow. »Na, lebt wohl ... Auf Wiedersehen, Freunde. Viel Erfolg!«

Er drehte sich um und gelangte, behände an den Schnüren nachgreifend, in den Gang. Stirner winkte noch einmal und folgte ihm. Klirrend schloss sich die Außenluke. Es wurde still.

»Wir haben ihnen ja gar nicht von der kosmischen Attacke erzählt«, sagte Jurkowski plötzlich.

Jermakow blickte ihn abwesend an. »Ach so, ja ... Ist auch nicht weiter wichtig. Ich bitte, machen Sie sich bereit ... Spizyn, kommen Sie.«

Bykow wandte sich im Flüsterton an Dauge: »Bleibt denn Michail Antonowitsch hier?«

»Ja. Jetzt hat er im Steuerraum nichts zu tun.« Dauge schüttelte den Kopf, als wolle er einen lästigen Gedanken verscheuchen. »Auf die Plätze also?«

Michail Antonowitsch und Jurkowski saßen bereits in den Sesseln und hantierten an den Gurten. Dauge half Bykow beim Anschnallen, dann entfernte er die Halteschnüre und blieb unschlüssig mitten in der Messe stehen.

»Na? Worauf wartest du?«, rief Jurkowski gereizt. »Noch zehn Minuten«, ertönte Jermakows Stimme. Dauge nahm eilig seinen Platz ein.

Und wieder wurde es still. Bykow schloss die Augen, und Erinnerungen überwältigten ihn. Pechschwarze mittelasiatische Nacht, ein in der Dunkelheit matt schimmerndes weißes Kleid, zarter Parfümduft ... und das liebe sanfte Antlitz. Wie weit lag das alles zurück! Ein schwerer Kloß würgte ihn, und er musste zwei-, dreimal energisch schlucken.

»Achtung, Abstieg!«, krächzte es heiser aus dem Lautsprecher.

Der Fußboden schwankte, die Sessellehnen stemmten sich schwer gegen die Schultern. Das anschwellende Brüllen des Reaktors schlug in die Ohren und erfüllte den ganzen Raum.

Machow und Stirner sahen durch das runde Bullauge des »Taxis«, wie aus dem Raumschiff, das gleich einer erstarrten schwarzen Qualle vor der orangeroten Venusscheibe hing, eine matte Flamme hervorschoss. Gleich danach blitzte eine grelle bläuliche Sonne auf. Als sie die Augen wieder öffneten, war die Chius bereits verschwunden, nur ein leichtes Nebelwölkchen zerfloss an jener Stelle, wo sie sich eben noch befunden hatte.