Die Chius kehrt zurück

Bykow träumte, Jermakow habe den bis zur Rotglut erhitzten Knaben in die Garage gefahren, und diese lodere in kalten blutroten Flammen. Bykow riss den Feuerlöscher von der Wand, aber da lachte Jermakow, rüttelte ihn an der Schulter und schrie ihm ins Ohr, wobei er ihn seltsamerweise mit du anredete: »Wach auf, Alexej! Wach auf, sag ich dir!«

Jetzt erst bemerkte Bykow, dass Jermakow einen glänzenden PVC-Mantel trug und dass es überhaupt nicht Jermakow, sondern Dauge war. Bykow setzte sich im Bett aufrecht und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

»Was ist denn los?«

»Die Chius ist im Anflug. Komm, Alexej, wir wollen sie empfangen.«

Die Uhr zeigte zwei Uhr nachts. Der Himmel war mit dichten Wolken verhangen, nur im Norden leuchteten verwischte rosa Streifen.

Es regnete in Strömen.

»Wer wird denn bei dem Empfang zugegen sein?«

»Alle unsere Leute, und als Zugabe – die halbe Stadt.«

Bykow trat ans Fenster. Über die Straße hasteten Menschen; würdevoll rasselte ein Traktor vorbei, der eine schwere, bizarr aussehende Stahlkonstruktion auf hohen Rädern schleppte. Der Schleppzug wurde von mehreren Autos überholt. Unten klappte eine Tür, eine aufgeregte Stimme rief: »Warum ist mir nichts mitgeteilt worden?«

Jermakow und die anderen Raumfahrer warteten bereits in der Vorhalle. Am Eingang stand Krajuchin; er überragte eine Gruppe Ingenieure in nassen Umhängen und Lederjacken. Er sprach zu ihnen, und seine Stimme war hart und trocken, als schlage er Nägel in eine Bretterwand. »Die Stadt ist dazu da, um die Schiffe auszurüsten, zu empfangen und zum Start vorzubereiten. Sie haben es vergessen. Ich glaube, ich muss Ihrem Gedächtnis etwas nachhelfen. Aber das später. Jetzt heißt es: Erstens – unverzüglich alle Wagen herbeischaffen, zweitens – die Leute zur Station schicken.« Er wandte sich an einen stämmigen Mann mit Vollbart. »Für die Station haften Sie mir mit Ihrem Kopf!«

»Wir werden uns Mühe geben«, brummte der Bärtige.

»Alle Desaktivierungs- und Brandschutzmittel ...«

»Sind in bester Ordnung, Nikolai Sacharowitsch, Bereitschaftsstufe Eins!«

»Gut. Ich werde mich in den Kaponnieren oder irgendwo in der Nähe aufhalten. Ja ...« Krajuchin tippte mit dem Finger auf die Brust eines jungen Mannes im Regenmantel. »Über sämtliche Funksprüche vom Schiff sofort Meldung erstatten!«

»Zu Befehl, Nikolai Sacharowitsch.«

»So, die anderen können gehen ... Sie aber, Saitschenko« – jetzt sprach Krajuchin lässig und offensichtlich lustlos – »Sie gehen in Arrest! Und wenn ein Unglück passiert, werden Sie vor Gericht gestellt, jawohl!«

Der Angeredete drückte sich die Hände gegen die Brust. »Nikolai Sacharowitsch!«

»Ich hab’s gesagt und damit basta!«

»Gestatten Sie mir doch wenigstens auf eine Stunde zur Station zu fahren!«, rief Saitschenko flehentlich. »Na gut, ich bin schuldig. Wenn es sein muss, stelle ich mich auch dem Gericht. Aber jetzt wird auf der Station niemand besser fertig als ich!«

Krajuchin überlegte.

»Na schön, fahren Sie zur Station. In Arrest gehen Sie nach der Ankunft des Schiffes.«

»Jawohl!«

»Alle beisammen?« Er blickte zu den Raumfahrern hinüber. »Gehen wir, Genossen.«

Draußen war es nass und windig.

Vor dem Portal wartete ungeduldig brummend ein Wagen. Die Raumfahrer stiegen ein, und das Auto jagte, eine lange Kolonne planbespannter Raupenkraftwagen überholend, mit Höchstgeschwindigkeit zur Stadt hinaus. Bykow fragte halblaut: »Was ist denn passiert? Was ist das für eine Station, von der Krajuchin sprach?«

»Der Leitstrahlsender des Testgeländes.« Dauge schielte zu Krajuchin hinüber. »Wenn sich ein interplanetares Schiff der Erde nähert, orientiert sich der Pilot zunächst auf drei Drehfunkfeuer, von denen eins sich hier in der Stadt befindet und die beiden anderen an den Ecken des Testgeländes an der Eismeerküste. Aber das sind ziemlich grobe Orientierungsmale, und das Schiff kann entweder direkt in der Stadt niedergehen oder im Eismeer oder sonst irgendwo abseits. Um also das Schiff genau zu dem vorgesehenen Landeplatz zu lenken, dient ebenjene Sendestation. Saitschenko ist dort Chefingenieur.«

»Und was ist da vorgefallen?«

»Gestern Abend während der Überprüfung ist irgendein wichtiges Aggregat verbrannt – ein Transformator oder dergleichen. Es stellte sich heraus, dass die Reserveapparatur noch nicht eingetroffen war – ist wohl in einem der Lagerhäuser hängen geblieben. Ein großer Skandal! Im entscheidenden Moment arbeitet der Sender nicht. Es bleibt nur noch die Hoffnung auf Ljachows Kunst.«

»Wer ist Ljachow?«

»Der erste Pilot der Chius

»Und wenn ...«

»Bestenfalls landet er in der Tundra hundert bis zweihundert Kilometer von hier entfernt. Ist weiter nicht tragisch, unter diesem Gesichtspunkt ist das Testgelände ja gebaut worden. Natürlich kann das Schiff auch auf See niedergehen. Wenn es aber direkt über der Stadt ...«

»Unsinn!«, sagte Krutikow überzeugt. »Schreck uns nicht, Grigori Johannowitsch. Ljachow ist kein Neuling – wenn er merkt, dass der Leitstrahl ausbleibt, wird er sich nördlich halten. Aber sonst – gewiss, ein Skandal ist es.«

»Die ganze Nacht haben die Leute auf der Station gearbeitet, wollten alles wieder in Schuss bringen. Vielleicht schaffen sie es noch.« Dauge blickte erneut zu Krajuchin.

»Für Ljachow ist das ohne Bedeutung«, mischte sich Bogdan Spizyn ein. »Ljachow setzt das Schiff genau in der Mitte des Testgeländes auf, nur mithilfe der Drehfunkfeuer.«

»Na, na?« Krutikow blickte Spizyn zweifelnd an.

»Ljachow landet genau in der Mitte des Testgeländes«, wiederholte Spizyn und kniff die Lippen ein, zum Zeichen, dass er einen weiteren Streit hierüber für müßig halte.

Jurkowski räusperte sich und meinte: »Saitschenko tut mir leid. Von Rechts wegen müssten statt seiner gewisse Leute weiter oben bestraft werden.«

»Alle werden ihr Teil kriegen«, knurrte Krajuchin, ohne sich umzuwenden. »Keiner wird verschont. Saitschenko aber kommt zuerst dran.«

»Der Chef des Testgeländes ...«

»Ich habe gesagt« – Krajuchin drehte sich endlich um und blickte Jurkowski an – »ich habe gesagt, dass alle ihr Teil kriegen ... genau ihrer Schuld angemessen, jawohl. Aber Sie haben sicher vergessen, Wladimir Sergejewitsch, dass Saitschenko einen Vertrauensposten innehatte, auf dem er sich bewähren sollte.«

Das war offenbar ein gewichtiges Argument, denn Jurkowski versuchte nicht einmal zu widersprechen. Niemand verlor mehr ein Wort darüber.

Der Wagen bog ab und jagte über das betonierte Feld an den Startrampen entlang. Zur Rechten, am Fuße der Hügel, zogen sich breite niedrige Bauten ohne Vorderwände hin, dahinter ragten die Masten einer Hochspannungsleitung auf sowie eigenartige graue Kuppeln.

»Schutzbunker«, murmelte Spizyn.

»Und wohin fahren wir, Bogdan?«

»Zu den Kaponnieren. Wir werden von dort aus die Landung der Chius beobachten.«

»Wenn sie nicht auf unseren Köpfen landet«, murmelte Dauge.

»Ich höre die Stimme des gesunden Menschenverstandes«, sagte Michail Antonowitsch verwundert. »Lass sein, Johannytsch, es glaubt ja doch niemand, dass du brav geworden bist.«

»Warum sollte ich?«, murrte Dauge.

Jurkowski warf ihm einen raschen Blick zu, schwieg aber. Der Wagen schwenkte in eine schmale, schnurgerade Chaussee ein. Der Regen hatte sich verstärkt. Ströme von Wasser peitschten gegen die Schutzscheibe, weiße Bläschen hüpften auf dem Asphalt. Plötzlich bremste der Wagen scharf. Ein Mann in Ölzeug und Kapuze trat heran, bückte sich und blickte forschend durch die Scheiben. Als er Krajuchin erkannte, winkte er mit der Hand.

Krajuchin öffnete den Wagenschlag. »Wie lange ist es her, dass die Funker vorbeigefahren sind?«

»Eine halbe Stunde, mindestens, Nikolai Sacharowitsch.«

»Passen Sie gut auf! Niemanden durchlassen!«

Eine Viertelstunde später tauchten vorn mehrere aus der Erde ragende Stahlkuppeln auf, die den Bunkerkappen alter Befestigungsanlagen glichen.

»Die Kaponnieren«, sagte Spizyn.

Vor etwa dreißig Jahren hatte diese Ebene als Versuchsgelände für kosmische Raketen gedient. Damals hielten sich die Beobachter in Gräben und Unterständen auf. Bisweilen geschah es aber, dass die gewaltigen hochhausgroßen Raketen infolge von Ungenauigkeiten im Steuerungssystem zur Seite kippten und, anstatt senkrecht in den Himmel zu steigen, feuerspeiend über die Ebene schossen oder gar sprangen. Anfangs ging es ohne Opfer ab, doch dann stürzte ein viele Tonnen schweres Ungetüm auf einen Schutzgraben. Man sah sich gezwungen, Kaponnieren zu errichten – unterirdische Bauten aus Eisenbeton mit flachen Beobachtungskuppeln, die einen Rundblick auf das Testgelände gewährleisteten. Die Kuppeln waren so konstruiert, dass sie dem Aufprall einer Rakete standgehalten hätten, und die Beobachter konnten sich darunter völlig sicher fühlen.

Der Fahrer wendete den Wagen, steuerte ihn in einen tiefen betonierten Gang mit massiver Überdachung und hielt.

»Da wären wir«, sagte Krajuchin.

Die Raumfahrer schritten einen Korridor entlang, dessen Wände matt leuchteten, und betraten einen halbdunklen Raum mit niedriger gewölbter Decke.

Interessiert blickte sich Bykow um. Rechts und links führten mehrere Stufen zu runden, mit Stahlkuppeln überdachten Plattformen. Vor rechteckigen schartenartigen Öffnungen, die den grauen wolkenverhangenen Himmel sehen ließen, standen Stative mit starken Periskopen. Drei junge Männer in Lederjacken hantierten emsig an einem Funkgerät. Als Krajuchin eintrat, kam einer von ihnen auf ihn zu und meldete, dass die Verbindung mit den Funkfeuern und den Ortungsstationen aufgenommen sei.

»Fragen Sie an, ob Meldungen von der Chius eingetroffen sind«, befahl Krajuchin.

Spizyn stieg zu einer der Plattformen hinauf und trat an die Scharte. Die Übrigen nahmen auf Schemeln längs der Wände Platz. Im Lautsprecher knackte es, und eine Stimme rief: »Die Chius schweigt noch, Nikolai Sacharowitsch ...«

Krajuchin schob die Hände in die Taschen seines Regenmantels und wanderte im Raum auf und ab. Vor einem alten verblichenen Plakat mit der Aufschrift »Der wachsende Anteil der Kernenergie im Energiehaushalt unseres Landes in den Jahren 1960 bis 1980« blieb er stehen; er betrachtete es aufmerksam und setzte dann seine Wanderung fort. Die Funker blickten ihn teilnahmsvoll an. Jurkowski flüsterte Dauge ins Ohr: »Der Alte ist nervös ...«

Wieder knackte es im Lautsprecher.

»Achtung, Achtung! Genosse Krajuchin!«

»Ja, ich höre«, knurrte Krajuchin ungeduldig.

»Die Chius befindet sich über dem Testgelände. Ich gebe ihre Koordinaten mit der Korrektur auf Ihren Standort. Geodätischer Azimut acht Grad und ... vierundvierzig Minuten. Höhe sechzig Grad. (»Er landet mitten im Testgelände«, flüsterte Spizyn.) Sinkgeschwindigkeit zwanzig Zentimeter pro Sekunde.«

»Auf dem Photonentriebwerk?«

»Vorläufig ja.«

»Geben Sie die Anweisung durch: In sechzig Kilometer Höhe Photonenreaktor abschalten und auf Wasserstofftriebwerk umschalten.«

»Zu Befehl.« Es folgte eine Pause, dann rief der Lautsprecher: »Ausgeführt. Nikolai Sacharowitsch, die Chius bittet um einen Krankenwagen und einen Arzt ...«

Alle blickten unruhig zum Lautsprecher hinauf.

»Sie haben einen kranken Ingenieur von dem tschechischen Satelliten an Bord. Divišek ist sein Name. Es geht ihm sehr schlecht.«

»Sorgen Sie dafür, dass der Krankenwagen sofort zur Stelle ist und ein Flugzeug nach Moskau startbereit gemacht wird. Mein Flugzeug. Was fehlt dem Mann?«

»Er hat die Strahlenkrankheit ...«

Krajuchin stieß halblaut einen Fluch aus.

»Noch eins ... Sagen Sie Ljachow, er soll vorsichtig sein. Machen Sie ihn darauf aufmerksam, dass der Leitstrahlsender außer Betrieb ist.«

»Ist bereits durchgegeben.«

»Und was sagt er?«, fragte Spizyn.

»Er lacht nur ...«

Der Lautsprecher verstummte. Krajuchin zog seine schwarze Brille aus der Brusttasche, setzte sie auf und sagte: »Gehen wir an die Periskope, Genossen.«

Durch die Okulare sah man den grauen Himmel, die graue Tundra, die graue Kuppel des nächsten Beobachtungsstandes. Der Regen hatte aufgehört. Ein böiger Wind kräuselte das Wasser in den Pfützen, aus denen niedriges Gestrüpp und spitze Grashalme ragten. Bykow blickte auf die Uhr. Es war kurz vor fünf.

Alle schwiegen. Langsam schlichen die Minuten dahin.

»Licht!«, rief Krutikow plötzlich.

Ein zitternder violetter Schein geisterte über den Himmel.

Und sofort verschwand die scheinbare graue Eintönigkeit des Himmels und der Tundra. Die Umrisse einer jeden Wolke wurden deutlich sichtbar. Über die Erde schlängelten sich kapriziös gekrümmte grellweiße Streifen. Der Lichtschein verstärkte sich. Ein seltsamer umgekehrter Regenbogen leuchtete über der Tundra auf. Über die Pfützen hüpften weiße und violette Reflexe. Ein hoher, singender, langsam anschwellender Ton bohrte sich ins Gehirn. Bykow spürte einen ziehenden Schmerz in den Zähnen. Er hielt sich die Ohren zu und schüttelte den Kopf. Der Schein wurde immer greller, der Ton stieg zu einer unerträglichen Höhe an.

»Ljachow meldet, dass er in zwei Minuten den Photonenreaktor abschalten wird«, klang es aus dem Lautsprecher.

»Höchste Zeit«, brummte Krajuchin.

Der Lichtschein erlosch, und wie durch Zauberhand verschwanden der Regenbogen und die auf den Pfützen tanzenden Reflexe. Fahle Dämmerung senkte sich über die Tundra. Da plötzlich erfüllte ein tiefes drohendes Brummen das ganze Himmelsgewölbe. Die Wände erzitterten, kläglich klirrten die Stahlklappen der Scharten. Es schien, als brausten unzählige Staffeln von Düsenflugzeugen über die Tundra hinweg.

»Da ist sie!«, rief Krutikow. »Seht!«

Rötliche Funken blitzten durch die Wolken. Ein runder dunkler Fleck tauchte in der Höhe auf und senkte sich Flammen spuckend. Er wurde zusehends größer. Ein ohrenbetäubendes Getöse stand in der Luft. Plötzlich stießen fünf Feuerstrahlen, dünn und gerade wie Schiffsmasten, an den Rändern des Flecks hervor und schlugen in die Erde. Dampfwolken stoben empor, Schlammklumpen wirbelten in die Luft. Der Fleck, ein schwerer schwarzer Körper, blieb leicht schaukelnd auf den orangeroten Flammensäulen stehen. Dann sank er langsam tiefer und verschwand in dem quirlenden Dampf. Ein leichtes Beben durchzuckte die Erde, das Getöse erstarb. Niemand sagte ein Wort, es schien, als lauschten alle dem Klingen in den Ohren nach. Dort, wo das Raumschiff niedergegangen war, wallte und brodelte eine schmutzige Wolke ...

»Eine außerordentlich saubere Landung«, murmelte Spizyn atemlos.

»Ja«, pflichtete Krajuchin bei. »Eine meisterhafte Landung. Aber fahren wir jetzt, sonst platzen Sie mir noch alle vor Ungeduld.«

Die Chius war bedeutend weiter vom Beobachtungsstand niedergegangen, als es den Anschein hatte. Der Chauffeur fuhr so schnell, wie die höckrige Ebene es gerade noch zuließ, aber trotzdem verging eine volle Viertelstunde, ehe die Reifen über die heiße, fest zusammengebackene und immer noch dampfende Erde zischten. Die riesige Kuppel der Chius verdeckte den halben Himmel.

»Seht mal, wie er aufgesetzt hat!«, rief Spizyn triumphierend. »Mit der unteren Luke zur Stadt. Ein Mordskerl!«

Alle sprangen aus dem Wagen und warfen die Köpfe in den Nacken. Mit ungläubigem Staunen betrachtete Bykow dieses Ungetüm, das durch den Willen des Menschen in der schwarzen Leere auf den Werften von Weidadi Youyi geboren worden war. Nichts dergleichen an Ausmaßen und Form hatte er bislang gesehen. Gewiss, von Weitem erinnerte die Chius an eine Schildkröte – wie das Modell in Krajuchins Moskauer Arbeitszimmer. Stand man aber unmittelbar daneben, so war dieser Vergleich überhaupt nicht möglich. Am ehesten glich das Planetenschiff einem riesigen Pavillon auf Beinen. Fünf dicke, schrägstehende Säulen, jede von der Größe eines ansehnlichen Wasserturms, trugen den gigantischen Rumpf, der die Form einer konkavkonvexen Linse hatte. Die nach innen gekrümmte Grundfläche des Rumpfes war spiegelblank, und als Bykow darunter trat, sah er über sich sein bis ins Unkenntliche verzerrtes, vielfach vergrößertes Spiegelbild.

Ein Spiegel ... Eine hauchdünne Schicht eines zauberhaften Stoffes, der in der Natur wahrscheinlich nur in den Tiefen dichtester Sterne vorkam, war durch ein unerhört kompliziertes Verfahren auf poliertes Metall aufgetragen worden! Bykow glaubte auf seinem Gesicht einen schwachen, kaum merklichen Wärmestrom zu verspüren. Doch er wusste, dass der Spiegel auch während der Arbeit des Photonenreaktors kühl blieb. Aus der schwarzen Öffnung in der Mitte der konkaven Fläche in zehn, fünfzehn Metern Höhe kam dann der glühende Plasmastrahl herausgeschossen, während an der Stelle, wo Bykow jetzt stand, die wahnsinnige Reaktion der Synthese nackter Atomkerne einsetzte. Bykow zog vor Unbehagen die Schultern ein und ging eilig unter den freien Himmel. Vielleicht begriff er zum ersten Male in seinem Leben mit aller Deutlichkeit, welch ungeheure Kräfte sich der Mensch untertan und dienstbar gemacht hatte.

Von oben ertönte ein Surren. Bykow sah auf und erblickte über der Chius einen Hubschrauber mit roten Kreuzen am Rumpf.

»Immer operativ«, murmelte Jurkowski. »Aber warum kommen sie nicht heraus?«

Wie zur Antwort auf seine Worte tat sich plötzlich an der Seite des Rumpfes zwischen zwei Reaktorringen – so hießen die turmhohen Säulen – eine runde Luke auf, und darin erschien ein blasses, lächelndes Gesicht.

»Wassja! Ljachow!«, schrie Spizyn, machte einen Freudensprung und schwenkte die Arme.

»Guten Morgen, Bogdan! Guten Morgen, Nikolai Sacharowitsch! Seid gegrüßt, Genossen!«

»So kommt doch schon raus, ihr Himmelhunde!«, brüllte Krajuchin heiser. »Was trödeln Sie so lange, Ljachow?«

»Gleich. Ist ein Krankenwagen zur Stelle?«

»Da steht er.« Spizyn wies mit der Hand in Richtung des gelandeten Hubschraubers. Mehrere Männer in weißen Kitteln liefen bereits auf das Raumschiff zu.

Metallisch klirrend fiel eine biegsame Leiter aus der Luke.

»Nehmt den Kranken auf«, rief Ljachow.

An vier dünnen durchsichtigen Schnüren wurde in einer Hängematte ein in weiße Tücher gehüllter Mensch heruntergelassen. Bykow empfing ihn und bettete ihn mithilfe der Sanitäter auf eine Trage. Überrascht und voller Mitleid sah er, wie über das Gesicht des Kranken Tränen rannen.

»Země«, flüsterte der Mann kaum hörbar. »Země, modré nebe ...{1} blau ...«

»Jaja, Genosse Divišek, Sie sind auf der Erde!« Krajuchin beugte sich über ihn. »Jetzt wird alles gut. In ein paar Stunden sind Sie in Moskau. Sie kurieren sich aus, und dann geht’s nach Hause in Urlaub.«

»Děkuju, soudruhu.«{2}

»Geben Sie meine Anordnung weiter«, wandte sich Krajuchin an den Arzt. »Der Kranke soll unverzüglich – das heißt, nach Erweisung der Ersten Hilfe – mit meinem Flugzeug abtransportiert werden.«

»Zu Befehl, Nikolai Sacharowitsch.«

Indessen waren Ljachow und seine beiden Gefährten die Leiter herabgestiegen. Nach einer raschen Begrüßung mit den Kameraden traten sie ebenfalls an die Trage.

»Auf Wiedersehen, Jan!«, sagte Ljachow. »Erhol dich. Und dann wieder ran an die Arbeit, Freund!«

Eine schlanke Frau in weiter Kombination strich dem Tschechen zärtlich über die Wange.

»Werden Sie bald gesund, Genosse Divišek. Schönen Gruß an Ihre Familie.«

»Děkuju ... danke ...«, murmelte Divišek, ihre Hand mit seinen dünnen Fingern drückend. »Sehr, sehr viele Danke!«

Alle folgten dem davonfliegenden Hubschrauber mit den Blicken. Ljachow schaute zum Himmel empor, der sich bereits aufhellte, zu den verschwommenen Umrissen der fernen Hügel und lächelte.

»Wieder auf der Erde, sagte er. »Wieder daheim. Aber was für eine großartige Maschine, Freunde! Ein Wunderwerk!«

»Wartet mal, Genossen ...« Spizyn fasste Ljachow an der Schulter und führte ihn zu der schlanken Frau. »Tschokan, stell dich links von Vera, bitte.«

Das dritte Besatzungsmitglied, ein großer schweigsamer Kasache, runzelte die Stirn. »Willst wohl wieder filmen, was?«

Spizyn trat einige Schritte zurück, holte, ohne den Blick von der Gruppe zu wenden, eine winzige Kamera aus der Tasche, hockte sich nieder und ließ mehrere Meter Film ablaufen.

»Genug!«, sagte Krajuchin unwirsch. »Sofort ins Auto – in die Stadt und schlafen, ohne Widerrede! Unterhalten werden wir uns abends.«

»Einen Moment, Nikolai Sacharowitsch!« Ljachow drehte sich zu Bykow um. »Wenn ich mich nicht irre, sind Sie neu in der Besatzung?«

»Ja, machen Sie sich bekannt«, sagte Krajuchin. »Bykow, Alexej Petrowitsch. Chemiker, Ingenieur für Atomfahrzeuge, Fahrer des Geländewagens. Wassili Semjonowitsch Ljachow, Pilot ... Verotschka, kommen Sie her. Vera Nikolajewna Wassilewskaja – Navigator. Tschokan Kunanbajew – Bordingenieur.«

Bykow drückte den drei neuen Bekannten die Hand. »So«, sagte Krajuchin, »und jetzt ab in die Stadt!«

»Wir sehen uns abends.« Ljachow nickte Bykow freundlich zu.

»Anatoli Borissowitsch, Sie bleiben noch ein Stündchen hier«, wandte sich Krajuchin an Jermakow. »Und Sie, Bykow, auch. Wir wollen mal die Chius besichtigen. Außerdem müssen wir noch mit dem Leiter der Versorgungsgruppe sprechen. Da kommt er ja schon angerollt ... Die anderen sind frei.«

Eine lange Wagenkolonne kroch über die Ebene auf die Chius zu – große Halbkettenlaster, Raupenschlepper, Hebekräne auf Selbstfahrlafetten.

»Bestellen Sie ihnen, sie sollen besonders genau den dritten Reaktor überprüfen. Im Relaissystem ist etwas nicht in Ordnung«, sagte Tschokan. »Na ja, ich kann’s ihnen morgen auch selber sagen.«

Nachdem die Kosmonauten abgefahren waren, kletterte Bykow klopfenden Herzens hinter Krajuchin und Jermakow die schwankende, aber feste Leiter zum Schiffsrumpf hinauf. In dem würfelförmigen Raum, den sie betraten, sagte Krajuchin: »Das ist die Schleusenkammer zum Austritt in den luftleeren Raum oder in eine Umwelt mit giftiger Atmosphäre. Ein bisschen eng, nicht wahr?«

»Aber nein ... es geht schon«, murmelte Bykow unschlüssig.

»Eng ist es, jawohl!«, brummte Krajuchin verdrossen. »Bei der Projektierung hat man vieles nicht berücksichtigt. Sie werden’s ja sehen, wenn wir die Ladung an Bord bringen. Wir müssen Dutzende und Hunderte von Tonnen Nutzlast durch drei solche Nadelöhre hinaufschaffen.« Er zeigte mit dem Finger auf die Luke. »Im Schiffsinnern sieht es noch schlimmer aus. Die Gänge sind schmal, von luftdichten Schotten durchzogen.«

»Vom Standpunkt der Hermetik und der Sicherung gegen Meteoriten sind das große Vorteile«, bemerkte Jermakow.

Sie verließen die Kammer und stiegen über geriffelte Stufen einen hell erleuchteten Gang hinauf.

»Eine thermonukleare Rakete ist sozusagen etwas ganz Neues. Viele ihrer Möglichkeiten und Vorzüge wurden nicht berücksichtigt, man hat sie auf althergebrachte Weise projektiert, wie eine gewöhnliche Atomrakete.«

Krajuchin stieß die schwere Stahltür auf, und sie betraten einen großen Raum, der mit unzähligen, Bykow unbekannten Geräten und Schaltpulten ausgestattet war.

»Das hier ist der Kommandostand, und dort« – Krajuchin wies auf die Wand gegenüber dem Eingang – »dort hinter der Titanhülle befindet sich das Herz der Chius, der Photonenreaktor. Eine besondere Vorrichtung erzeugt einen Plasmastrom, einen Strom nackter Tritonen, also Kernen überschweren Wasserstoffs, der in winzigen Mengen – einigen Tausend in der Sekunde – hinabgeschleudert wird. Ein mächtiges elektromagnetisches Feld, das von fünf über den Reaktorringen angebrachten Solenoiden erzeugt wird, übt eine scharfe Bremswirkung auf das Plasma aus, wodurch darin eine thermonukleare Reaktion eintritt. Der Bremspunkt befindet sich im Fokus des Parabolspiegels – der Grundfläche des Schiffsrumpfes. Der dichte Strom von Photonen, Neutronen, Heliumkernen und nicht fusionierten Tritonen schlägt in den Spiegel und erzeugt eine gewaltige Schubkraft ... Freilich«, fügte Krajuchin nach einer Pause hinzu, »wäre der Spiegel nicht mit einer Schicht ›absoluten Reflektors‹ versehen, würde der Schiffsrumpf augenblicklich durchschmoren. Die Chius eins ist nur deshalb verbrannt, weil diese Schutzschicht an irgendeiner Stelle gerissen war.«

»Das weiß man nicht genau«, bemerkte Jermakow, ohne aufzublicken.

Er wanderte hin und her, betrachtete aufmerksam die Geräte und machte sich Notizen.

Eine Weile kaute Krajuchin schweigend auf den Lippen herum.

»Die Photonenrakete ist etwas Neues«, wiederholte er dann. »Eine gewaltige Errungenschaft. Die Zukunft der Menschheit.« Er nahm die Brille ab, um die Gläser blank zu putzen, und sah Bykow dabei mit runden Augen an. »›Die gütige Natur wird wissen, warum sie nicht will, dass wir unsere Welt zum genügsamen Paradies gestalten und uns damit begnügen, und warum sie uns neue Welten erobern heißt – jene letzten und äußersten Welten, zu denen nur die Photonenrakete der Schlüssel sein soll.‹ So etwas hat vor mehr als einem halben Jahrhundert ein sehr kluger Deutscher gesagt; damals schienen die Photonenraketen ein ferner Traum zu sein. Jetzt aber haben wir diesen Schlüssel zu den letzten, äußersten Welten in der Hand. Doch verstehen wir noch nicht, ihn richtig zu gebrauchen. Es gibt vieles, sehr vieles, was bislang unvollkommen und unklar ist. Und dann der Schematismus. Beispielsweise diese Atomraketen an der Chius. Beim Photonenantrieb sind sie wie eine alte Mähre, die man vor den modernsten Atomwagen gespannt hat.«

»Aber andernfalls könnte die Chius nicht von der Erde starten«, warf Bykow schüchtern ein.

»In Zukunft werden wir wahrscheinlich überhaupt von Erdstarts absehen. Die Chiusse werden von künstlichen Satelliten starten.«

»Das ist einleuchtend«, sagte Bykow. »Doch vorläufig nimmt die Chius wohl auch Treibstoff für gewöhnliche Raketen mit?«

»Sehr wenig. Etwa den fünften Teil des Fluggewichts. Nur um sich von der Erde zu lösen, aus den dichten Schichten der Atmosphäre herauszukommen, die leicht radioaktiv verseucht werden. Danach schaltet man das Photonentriebwerk ein. Die Chius kennt keine mit der Schwerelosigkeit verbundenen Unannehmlichkeiten. Sie fliegt mit einer ständigen Beschleunigung von 10 m/s². Das kommt der Schwerebeschleunigung auf der Erdoberfläche ziemlich gleich. Somit bleibt die Besatzung der Chius vor der Schwerelosigkeit und allen ihren Begleiterscheinungen bewahrt. Die Chius kennt – wenigstens bei interplanetaren Flügen – keine langen, zermürbenden Reisen nach dem Beharrungsvermögen, die Monate und Jahre dauern können. Sie entwickelt gigantische Geschwindigkeiten und bewältigt die Entfernungen zu den Planeten in Tagen und Wochen. Die Chius ist eben der Schlüssel zu den letzten und äußersten Welten.«

»Die Chius ist der Schlüssel zu den großen Planeten«, sagte Jermakow mit merkwürdig gepresster Stimme.

Er stand über ein Gerät gebeugt, und sein Gesicht blieb Bykow verborgen.

Krajuchin kniff die Lippen zusammen. Dann sagte er unwirsch: »Kommen Sie, Genosse Bykow, ich will Ihnen die übrigen Räume zeigen.«

Sie wanderten durch das ganze Schiff, schauten in die Messe, in die Wohnkabinen und Lagerräume. Überall war die Einrichtung denkbar einfach. In den Wohnkabinen – kahle gepolsterte Wände, herausziehbare Kojen mit breiten elastischen Gurten, eingebaute Schränke, niedrige, an dem federnden Fußboden festgeschraubte weiche Sessel; in der Messe – ein großer runder Tisch, Schaumgummisessel; in den gepolsterten Wänden – ein Büfett, Bücherschränke.

Auf dem Tisch lag ein offenbar vergessenes, mit ungleichmäßigen Formelzeilen bedecktes Blatt Papier. Krajuchin steckte es ein. »Tschokan«, sagte er, schief lächelnd. »Der Mathematiker ...«

Als sie zur Luke zurückkehrten, wimmelte es um die Chius von Fahrzeugen und Menschen. Jermakow stand bereits unten und sprach mit dem Chef der Versorgungsgruppe. Jener nickte bereitwillig, stellte Fragen und gab im Weitergehen den ihn umdrängenden Arbeitern – jungen Burschen, die wahrscheinlich gerade erst ihr Studium beendet hatten – seine Befehle.

»Fahren wir nach Hause, sagte Krajuchin. »Sollte morgen das Laden der Reaktoren beendet sein, können wir übermorgen anfangen, die Ausrüstung an Bord zu schaffen.«

»Ach, beinahe hätte ich es vergessen!«, sagte Bykow plötzlich, während er im Wagen neben dem Chauffeur Platz nahm. »Was wird mit dem Knaben? Wo soll er untergebracht werden?«

»Oben«, gab Krajuchin zurück. »Der Knabe wird die Reise durch den Raum oben auf der Chius machen. Jawohl ...«

Bykow wollte etwas einwenden, geriet jedoch ins Stocken und verzichtete auf weitere Fragen.