An der Schwelle

Bykow warf die Decke beiseite und setzte sich auf. Sosehr er sich auch Mühe gab, er konnte nicht einschlafen. Im Zimmer war es dunkel, nur die auf den Fußboden gerutschten Betttücher schimmerten matt. Hinter den breiten Fenstern leuchtete der nächtliche Himmel vom Widerschein des Moskauer Lichtermeeres.

Bykow streckte die Hand nach seiner Armbanduhr aus, die vor ihm auf einem Stuhl lag. Die Uhr entglitt ihm und fiel auf den Fußboden. Bykow bückte sich und tastete suchend über den Läufer. Die Uhr war nicht zu finden. Fluchend stand er von der Couch auf und begann die Betttücher zu ordnen. Er tat es bereits zum dritten Mal, nachdem Dauge ihm gute Nacht gewünscht und sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen hatte, um – wie er sagte – noch einige Briefe zu schreiben. Bykow hatte sich hingelegt, doch der Schlaf floh ihn. Er wälzte sich hin und her, seufzte, versuchte eine bequemere Lage zu finden, zählte bis hundert. Es nutzte nichts.

Zu viele Eindrücke, dachte er, während er sich wieder auf die Couch setzte. Ich denke zu viel. Dauge hat mir manches erklärt, doch das meiste ist mir unklar geblieben. Schön wäre es, jetzt eine Zigarette zu rauchen. Aber nein, ich darf nicht: Ich muss mir das Rauchen und das Trinken von Alkohol abgewöhnen ... Am Abend hatte Johannytsch die Andeutung Bykows, in seinem Koffer warte auf sie beide eine Flasche ausgezeichneten armenischen Kognaks, ohne jeden Enthusiasmus aufgenommen und völlig gleichgültig gefragt: »Lagerung mindestens fünfzehn Jahre?«

»Zwanzig!«, trumpfte Bykow auf. »Na, dann schmeiß ihn doch raus!«, schlug Dauge vor. »Schmeiß ihn gleich in die Müllleitung oder gib ihn morgen jemandem. Und denke daran, dass du an Bord nicht rauchen darfst. So schreibt es die Dienstordnung vor. Auf der Erde – Traubenwein in kleinen Mengen, während der Fahrt – keinen Tropfen. So lautet die Satzung, Genosse Raumreisender.«

»Das reinste Kloster«, knurrte Bykow ärgerlich, während er sich bemühte, eine möglichst bequeme Lage unter der Decke zu finden. »Nichts als schlafen. Will’s noch mal versuchen.«

Er schloss die Augen, und sogleich erstand vor ihm die riesige leere Vorhalle, wo er nach der Besprechung auf Dauge gewartet hatte. Bogdan Spizyn und der dicke Krutikow waren an ihm vorbeigegangen und an den Bücherstand getreten. Soviel er verstehen konnte, sprachen sie über irgendein neu erschienenes Buch. Genauer gesagt, Spizyn schwieg mit einem einnehmenden Lächeln um den Mund, während Krutikow mit seiner hohen Tenorstimme unentwegt weiterredete und dabei dem Neuling Bykow die freundlichsten und wohlwollendsten Blicke zuwarf. Dieser merkte, dass sie ihn gern ins Gespräch gezogen hätten, doch da tauchten Dauge und Jurkowski auf. Dauge näherte sich ungestümen Schrittes, seine Lippen waren fest zusammengekniffen. Jurkowskis Wangenmuskeln zuckten vor Erregung; in der Hand hielt er eine zerknitterte Zeitung.

»Dangée ist umgekommen«, sagte Jurkowski, als er die Gefährten erreicht hatte.

Bykow sah, wie das Lächeln in Spizyns Gesicht augenblicklich erstarb.

»Verflucht!«, murmelte er.

Krutikow schob den Oberkörper vor, seine Lippen bebten. »Mein Gott – Paul?!«

»Über dem Jupiter!«, sagte Jurkowski wütend. »Ist in der Exosphäre stecken geblieben, hat an Fahrt verloren und wollte nicht umkehren.«

Er hielt den Kameraden die Zeitung hin. Bykows Blick fiel auf ein schwarzumrandetes Porträt – ein schlanker junger Mann mit schwermütigen Augen.

»Jupiter ... wieder der verfluchte Jupp!« Jurkowski ballte die Fäuste. »Schlimmer als die Venus! Schlimmer als alles auf der Welt!« Er wandte sich jäh um und ging mit langen Schritten davon.

»Paul Dangée, Paul ...«, wiederholte Krutikow und schüttelte kummervoll den Kopf.

»Und ich habe nicht mal auf seinen Brief geantwortet, bin einfach nicht dazu gekommen«, presste Dauge hervor.

Dann waren sie verstummt. Nur der Buchdeckel hatte in Michail Antonowitsch Krutikows Händen geknistert ...

Bykow öffnete die Augen und drehte sich auf den Rücken. Dieses Vorkommnis hatte einen Schatten auf den ganzen Abend geworfen. Eine gute Unterhaltung mit Johannytsch war nicht zustande gekommen. Diese Raumfahrer sind verdammt kühne Burschen, dachte Bykow. Und erstaunlich hartnäckig. Richtige Helden! Wie viele von ihnen sind auf der Venus umgekommen! In den klobigen Impulsraketen mit dem begrenzten Brennstoffvorrat sind sie zum Angriff vorgegangen. Niemand hat sie getrieben, man hat versucht, sie zurückzuhalten, und wer lebendig wiederkehrte, dem wollte man nicht erlauben, noch einmal zu fliegen.

Jetzt würde die Chius zum Sturm auf die Venus starten.

Die Photonenrakete Chius ... Wie jeder Ingenieur, der sich in der Kernphysik auskennt, war auch Bykow mit der Theorie des Photonenantriebs vertraut; interessiert verfolgte er alles Neue, was in der Presse darüber erschien. Der Photonenreaktor verwandelt den Treibstoff in Quanten elektromagnetischer Strahlung, die – als Antriebskraft verwendet – der Rakete fast Lichtgeschwindigkeit verleihen. Als Energiequelle für den Photonenantrieb können entweder thermonukleare Prozesse dienen (teilweise Umwandlung des Treibstoffs in Strahlung) oder Annihilationsprozesse von Antimaterie (vollständige Umwandlung des Treibstoffs in Strahlung). Die Vorzüge der Photonenrakete gegenüber der Atomrakete mit flüssigem Treibstoff sind gewaltig. Erstens: relativ niedriges Gewicht des Treibstoffs; zweitens: große Nutzlast; drittens: phantastisch hohe Manövrierfähigkeit; viertens ...

So lautete die Theorie. Doch Bykow wusste ebenso gut, dass bis vor Kurzem alle Versuche, die Idee des Photonenantriebs in die Praxis umzusetzen, gescheitert waren. Ein unlösbares Problem schien die Reflexion der Strahlung zu sein. Für die Erzeugung der Photonenschubkraft ist ein Strahlungsdruck von vielen Millionen Kilokalorien je Sekunde auf einen Quadratzentimeter der Reflektoroberfläche erforderlich, doch keiner der bekannten Stoffe hielt den dabei entstehenden Temperaturen von Hunderttausenden von Graden stand. Unbemannte Modelle verbrannten, ohne auch nur den hundertsten Teil des Treibstoffs verbraucht zu haben. Und nichtsdestoweniger war die Photonenrakete Chius gebaut worden!

»Man schuf einen idealen Spiegel«, hatte Dauge gesagt, »einen ›absoluten Reflektor‹! Eine Substanz, die alle Strahlenarten von beliebiger Intensität und alle Arten von Elementarteilchen mit Energien bis zu hundert und hundertfünfzig Millionen Elektronenvolt reflektiert. Außer dem Neutrino, glaube ich. Eine zauberhafte Substanz! Ihre Theorie hat ein Institut in Nowosibirsk ausgearbeitet. Freilich, dort dachte man nicht an die Photonenrakete. Man suchte nach einem Idealschutz vor den Strahlen, die aus Kernreaktoren dringen. Aber Krajuchin hat sofort erkannt, was sich daraus machen ließ.« Dauge lächelte. »Krajuchin ist ein Fanatiker der Photonenrakete. Der Aphorismus ›Die Photonenrakete bedeutet die Eroberung des Weltalls‹ stammt von ihm. Sogleich riss er den ›absoluten Reflektor‹ an sich, setzte zu seiner Herstellung zwei Drittel der Komiteelaboratorien ein, und das Ergebnis ist die Chius

Der »absolute Reflektor« war die erste reale Errungenschaft einer neuen, beinahe phantastischen Wissenschaft – der mesoatomaren Chemie, der Chemie der künstlichen Atome, deren Hüllenelektronen durch Mesonen ersetzt wurden. Das hatte Bykows Interesse so erregt, dass er vorübergehend alles vergaß – den unglücklichen Paul Dangée, die Venus, sogar die Expedition. Leider wusste Dauge nur wenig über den »absoluten Reflektor«, dafür konnte er aber viel Interessantes über die Chius berichten.

Die Chius war ein kombiniertes Raumschiff: Fünf gewöhnliche Atomimpulsraketen trugen einen Parabolspiegel, den »absoluten Reflektor«, in dessen Brennpunkt genau dosierte Mengen Tritiumplasma mit bestimmter Frequenz eingespritzt wurden. Die Atomraketen hatten zweierlei Bestimmung: Erstens gaben sie der Chius die Möglichkeit, auf der Erde zu starten und zu landen; der Photonenantrieb eignete sich dazu nicht, er hätte die Atmosphäre vergiftet, wie eine Explosion Dutzender von Wasserstoffbomben. Zweitens speisten die Raketenreaktoren mächtige Elektromagneten, in deren Feld das Plasma gebremst wurde und eine thermonukleare Fusion entstand.

Sehr einfach und scharfsinnig. Fünf Raketen und ein Spiegel. Übrigens, die hässliche fünfbeinige Schildkröte, die Bykow in Krajuchins Arbeitszimmer gesehen hatte, war das Modell der Chius. Offen gesagt – eleganter Formen konnte sich das Photonenschiff nicht rühmen ...

Der Ingenieur setzte sich wieder auf und lehnte seinen Rücken gegen die kühle Wand.

»Wir starten mit der Photonenrakete Chius 2. Chius 1 ist vor zwei Jahren während eines Probefluges verbrannt«, hatte Dauge widerwillig gesagt. »Kein Mensch weiß, warum. Niemand ist da, den man danach fragen könnte. Der Einzige, der etwas Näheres darüber gewusst haben mag, der gute Aschot Petrosjan, ist zusammen mit der ganzen Masse legierten Titans, woraus die Chius 1 bestand, zu Atomstaub zerfallen. Ein leichter und ehrlicher Tod ...«

Wahrscheinlich fürchtet niemand von uns den Tod, dachte Bykow. Wir wollen ihn bloß nicht ... Wer hat das gesagt?

Er erhob sich von der Couch. Es würde ihm nicht gelingen einzuschlafen, das war klar. »Absoluter Reflektor«, Dangée, die Chius, Petrosjan ... Es blieb nur noch das letzte Mittel. Wenn man nicht schlafen konnte, musste man sich gehörig abkühlen.

Er trat auf den Balkon und tastete mechanisch in der Jackentasche nach der Zigarettenpackung. Dann lehnte er sich über die Brüstung. Stille herrschte ringsum, die riesige Stadt schlief in dem trügerischen Halbdunkel der Julinacht. In der Ferne leuchtete zart rosig der Horizont, im Norden stach wie ein Pfeil die blendend weiße Spitze auf dem Palast der Sowjets in den grauen Himmel.

Es muss schon mindestens zwei sein, dachte Bykow. Wo ist bloß meine Uhr geblieben? Erstaunlich warm! Und was für ein sanfter, lauer Wind ... Chius aber – so nennen die Sibirier den Wintersturm, den Nordwind. Die Photonenrakete wurde von sibirischen Ingenieuren projektiert, und sie waren es auch, die dieses Wort als Bezeichnung für das Projekt vorschlugen. Später ging die Bezeichnung auf die Rakete über.

Seltsame, ungewohnte Namen! Chius – als Inbegriff sibirischer Kälte, »Urangolkonda« – anscheinend nach der alten Stadt, wo König Salomon einst seine Diamanten aufbewahrte ... Und dann noch – das »Rätsel Tachmasibs«.

Tachmasib Mechti, ein bekannter aserbaidshanischer Geologe, war der erste Mensch, der dem Atomvulkan Golkonda einen Besuch abstattete. Jermakow, Tachmasib und zwei weitere Geologen landeten mit einer eigens dazu ausgerüsteten Sportrakete auf der Venus. Es war ein gewaltiger Erfolg und ein glücklicher Zufall. Alle waren dieser Meinung, auch Jermakow selbst.

Sie landeten etwa zwanzig Kilometer von der Golkonda entfernt. Tachmasib ließ Jermakow in der Rakete zurück und ging mit seinen Geologen auf Erkundung aus. Nach vier Tagen kehrte er allein zurück, halbtot vor Durst, furchtbar ausgemergelt und über und über mit Strahlenwunden bedeckt. Er brachte Proben von Uran-, Radium- und Transuranerzen mit (»Die reichhaltigsten Erze, die es je gegeben hat, Alexej, wunderbare Erze!«, hatte Dauge gesagt) und in einem Behälter rötlich-grauen radioaktiven Staub. Der Ärmste war bereits halb wahnsinnig. Er hielt Jermakow den Behälter entgegen und redete rasch und eifrig etwas auf Aserbaidshanisch. Jermakow verstand Tachmasibs Muttersprache nicht und flehte den Geologen an, russisch zu sprechen, weil es sich offenbar um etwas sehr Wichtiges handelte. Aber Tachmasib sagte auf Russisch nur folgende Worte, wobei er wieder auf den Behälter zeigte: »Hütet euch vor dem Roten Ring, flieht vor dem Roten Ring!« Dann sprach er bis zu seinem Tode kein Wort mehr. Er starb beim Start, und Jermakow verbrachte fast zwei Wochen mit der Leiche in der Rakete.

Der Rote Ring – das war das Rätsel Tachmasibs, das Rätsel um den Tod dreier Geologen, das Rätsel der Golkonda. Vielleicht war es auch kein Rätsel. Vielleicht war Tachmasib, wie viele annahmen, von der Strahlenkrankheit oder vom Anblick der Todesqualen seiner Kameraden wahnsinnig geworden. Das rötlich-graue Pulver im Behälter erwies sich als eine komplizierte siliziumorganische Verbindung – auf der Erde übrigens schon seit Langem bekannt.

Weshalb Tachmasib diesen Behälter bis zum Raumschiff mitgeschleppt hatte, war unergründlich. Und unergründlich war auch, was der »rote Ring« damit zu tun hatte ...

Dauge erzählte davon mit raschen, sich überstürzenden Worten und verzog immer wieder das Gesicht, als habe er Sodbrennen. Er glaubte nicht an das »Rätsel Tachmasibs«. Dafür hätte er stundenlang über den Reichtum der Golkonda reden können. Wenn es ihm nur gelänge, dorthin zu kommen, und müsste er auch auf allen vieren kriechen!

Bykow setzte sich seitwärts auf die Balkonbrüstung; das Zigarettenpäckchen drückte ihn, und er legte es neben sich. Mit leisem Surren zog ein kleiner Hubschrauber über das Haus hinweg. Bykow folgte mit den Augen den Positionslichtern – dem roten und dem gelben –, und wieder musste er an sein Gespräch mit Dauge denken.

Tachmasib und seine Kameraden sind zu Fuß zur Golkonda gegangen. Aber unsere Expedition nimmt einen Geländewagen mit. Dauge meint, die Maschine sei ausgezeichnet. Bei Johannytsch ist alles ausgezeichnet: die Chius, der Geländewagen, Jurkowski ... Nur über den Kommandanten hat er sich merkwürdigerweise zurückhaltend geäußert. Wie es sich herausstellt, ist Jermakow Krajuchins Pflegesohn. Einer der besten Kosmonauten der Welt, aber ein Sonderling. Freilich, er hat Schweres erlebt. Dauge hat irgendwie unbestimmt von ihm gesprochen.

»Persönlich kenne ich ihn fast gar nicht ... Man sagt ... man sagt, er sei sehr mutig, sehr klug und sehr grausam. Man sagt, dass er nie lacht ...«

Jermakows Frau war der erste Mensch, der den natürlichen Trabanten der Venus betrat. Und dort geschah irgendein Unglück. Niemand weiß darüber etwas Genaues – es soll zu einem Zusammenstoß zwischen den Besatzungsmitgliedern gekommen sein. Seither werden keine Frauen mehr auf interplanetare Fernflüge mitgenommen, und Jermakow widmet sich voll und ganz der Erstürmung der Venus. Vier seiner Versuche, auf dem Planeten zu landen, verliefen erfolglos. Das fünfte Mal flog er mit Tachmasib Mechti. Und jetzt begibt er sich mit der Chius zum sechsten Mal zur Venus.

Die Hände auf dem Rücken, durchmaß Bykow den Balkon. Nein, an eine Abkühlung war gar nicht zu denken. Es war warm, sogar schwül. Vielleicht sollte er sich doch eine Zigarette anstecken? Er spürte in sich die Überzeugung wachsen, dass eine Zigarette das beste und radikalste Mittel gegen Schlaflosigkeit sei. Seine Hand streckte sich nach der Packung aus.

Das beste Mittel, über eine Versuchung hinwegzukommen, ist, ihr nachzugeben. Er lächelte sarkastisch. Teufel noch mal! Die Satzung! ... Das Päckchen flog von der elften Etage in die Tiefe. Bykow beugte sich über die Brüstung und blickte in das Dunkel hinab. Plötzlich flammten unten die Lichtkegel zweier Autoscheinwerfer auf, glitten lautlos über den Asphalt und verschwanden.

Schade um die Zigaretten!, dachte Bykow ... Ach, ihr Schwächen und Sünden! Schlafen muss man ... Er trat ins Zimmer und gelangte tastend zur Couch. Etwas knirschte unter seinem Fuß. Arme Uhr!, dachte er, bemüht, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden.

Mit einem Seufzer ließ er sich auf die Schaumgummipolsterung fallen. Nein, heute wirst du nicht einschlafen können, Genosse Ingenieur und Wüstenspezialist! Warum hat dieser stutzerhafte Jurkowski nur so einen Rochus auf mich? Jetzt habe ich meinen Spitznamen weg: Wüstenspezialist! Und wie sich sein Gesicht veränderte, als er von Paul Dangée sprach! Ja, so einer leidet selbst vor dem Start nicht an Schlaflosigkeit. »Wir fürchten den Tod nicht, wir wollen ihn bloß nicht ...« Stimmt’s, Ingenieur? Und wenn nun auf einmal ein halbes Jahr später jemand in derselben Vorhalle die Neuigkeit verbreitet: »Haben Sie schon gehört, Genossen, die Chius ist verloren, Jermakow ist umgekommen, Jurkowski und dieser, wie heißt er doch gleich ... der Wüstenspezialist ...« Unsinn, Alexej! Das kommt alles von der Schlaflosigkeit und vom Nichtstun. Wenn es nur bald hell würde! Dann geht’s zum Siebenten Testgelände, auf den Raketenflugplatz im hohen Norden, wo sich die Expedition zum Start vorbereiten und auf die Chius warten soll, die jetzt ihre Probefahrt absolviert. Heute muss ich um acht aufstehen, und ich kann nicht einschlafen, zum Kuckuck! Dauge schläft natürlich schon ...

Erst jetzt bemerkte Bykow, dass durch die spaltbreit geöffnete Tür zum Schlafzimmer ein schwacher Lichtschein an die Wand fiel. Er stand auf, schlich sich auf Zehenspitzen zur Tür und blickte durch den Spalt.

Am Tisch neben dem aufgedeckten Bett saß Dauge, den Kopf in die Hände gestützt. Der Tisch war fast leer, auf dem Fußboden stand ein riesiger praller Rucksack. Darauf lag ein Geologenhammer mit poliertem Stiel. Bykow räusperte sich verhalten.

»Komm herein«, sagte Dauge, ohne sich umzudrehen.

»Äh ...«, machte Bykow, völlig verwirrt. »Weißt du, ich habe ganz vergessen, zu fragen ...«

Dauge wandte sich um. »Komm doch herein ... Nimm Platz. Na, was hast du vergessen zu fragen?«

Bykow strengte sein Gedächtnis an, knirschte sogar mit den Zähnen. »Ja ... Weißt du ...« Und da kam ihm endlich die Erleuchtung. »Warum sollen wir auf der Venus Funkfeuer aufstellen, wenn ihre Atmosphäre sowieso keine Funksignale durchlässt?«

Auf Dauges Gesicht lag der dunkle Schatten des Lampenschirms. Bykow machte es sich in dem niedrigen Sessel bequem und schlug siegesbewusst ein Bein über das andere. Jetzt, da er sich in einem erhellten Zimmer und in Gesellschaft seines treuen Freundes Johannytsch befand, war ihm um vieles leichter.

»Ja«, sagte Dauge nachdenklich. »Das ist tatsächlich eine außerordentlich wichtige Frage. Jetzt verstehe ich, warum du nicht schlafen kannst. Und ich denke – was rennt er da im Zimmer herum? Hat er etwa Zahnschmerzen? Die Funkfeuer sind also daran schuld ...«

»T-ja«, brachte Bykow unsicher hervor und ließ das übergeschlagene Bein wieder sinken. Das Gefühl der Erleichterung war plötzlich verschwunden.

»Du hast dir sicher den Kopf zerbrochen«, fuhr Dauge in ernstem Ton fort, »hast dir natürlich etwas einfallen lassen. Etwas allgemein Nützliches ...«

»Sieh mal, Johannytsch ...«, begann Bykow gefühlvoll und setzte eine bedeutsame Miene auf; er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er den Satz beenden sollte.

»Jaja, ich habe dich verstanden«, unterbrach ihn Dauge kopfnickend. »Du hast vollkommen recht, begreifst du – absolut recht! Genauso verhält sich die Sache. Die Atmosphäre der Venus ist in der Tat für Radiowellen undurchlässig. Doch bei einem ganz bestimmten Frequenzbereich erscheint uns die Durchbrechung dieser Funkblockade möglich. Dieser Bereich ist rein theoretisch, aber auch durch Beobachtung der lokalen ionisierenden Felder ermittelt worden, der Felder welches Planeten, Ingenieur ...?«

»Der Venus«, gab Bykow finster zur Antwort.

»Genau – der Venus! Die Atmosphäre dieses Planeten lässt zuweilen auch Wellen anderer Längen durch, doch das ist eine zufällige Erscheinung, und darauf dürfen wir nicht bauen. Deshalb besteht die Aufgabe darin, die Durchlasszone auszumachen und, nachdem man es getan, die Funkfeuer auf die Oberfläche abzuwerfen ... Auf welche Oberfläche?«

»Der Venus«, wiederholte Bykow erbost.

»Ausgezeichnet!«, rief Dauge begeistert. »Du hast nicht umsonst schlaflos die Nacht verbracht. Aber alle bisherigen Bemühungen, auf die Venus automatische Funkstationen abzuwerfen, haben ... womit geendet, Ingenieur?«

»Schluss jetzt!«, sagte Bykow, im Sessel hin und her rutschend.

»Hm ... Merkwürdig. Sie haben mit einem Misserfolg geendet, mein Freund. Wahrscheinlich sind die Funkfeuer an den Felsen zerschellt. Oder sie sind während des Abstiegs unbrauchbar geworden. Doch wenn sie auch nicht zerschellt wären, was hätten sie uns genützt? Gar nichts! Dafür haben wir jetzt ... Was haben wir?«

»Keine Geduld mehr!«, stieß Bykow hasserfüllt hervor.

Dauge verkündete feierlich: »Wir haben die Chius und haben die Funkfeuer; und die Zone ist gefunden, in der die Signale besagter Funkfeuer durch die Atmosphäre dringen. Wir haben also alles, außer Geduld, und die lässt sich noch erlernen. Deshalb kann man, glaube ich, ganz beruhigt schlafen.«

Alexej Petrowitsch seufzte kummervoll und erhob sich.

»Aber ich kann doch nicht schlafen«, sagte er.

»Kommt vor ...« Dauge nickte.

Bykow wanderte durch das Zimmer und blieb vor drei an der Wand hängenden Stereofotos stehen. Das linke stellte eine enge alte Gasse in irgendeiner baltischen Stadt dar, das rechte – ein interplanetares Schiff, das einer kolossal vergrößerten Gewehrpatrone aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges glich und mit dem spitzen Bug in den schwarzen Himmel stach. Auf der mittleren Fotografie war eine melancholisch dreinschauende junge Frau in einem hochgeschlossenen blauen Kleid abgebildet.

»Wer ist das, Johannytsch? Deine Frau?«

»N-ja ... Eigentlich nein«, sagte Dauge lustlos. »Das ist Mascha Jurkowskaja, Wolodjas Schwester. Wir haben uns getrennt ...«

»Ach so, entschuldige bitte ...«

Bykow biss sich auf die Unterlippe, kehrte zum Sessel zurück und setzte sich wieder.

Wahllos blätterte Dauge in einem vor ihm liegenden Buch. »Eigentlich hat sie mich verlassen ..., um es genau zu sagen ...«

Bykow schaute aufmerksam in das hagere braungebrannte Gesicht des Freundes. In dem blauen Lampenschein sah es fast schwarz aus.

»Weißt du, ich kann auch nicht schlafen, Alexej«, gestand Dauge mit trauriger Stimme. »Paul tut mir leid. Hab zu dieser Fahrt auch keine große Lust. Ich liebe die Erde, liebe sie sehr! Sicher glaubst du, alle Raumfahrer seien überzeugte Himmelsbewohner? Stimmt nicht. Wir alle lieben die Erde und sehnen uns nach dem blauen Himmel. Diese Sehnsucht ist unsere Krankheit. Da sitzt man irgendwo, meinetwegen auf dem Phobos. Der Himmel – bodenlos schwarz. Die Sterne – wie Diamantnadeln, stechen förmlich in die Augen. Die Sternbilder kommen einem fremd und ungewohnt vor, und alles ringsum ist künstlich – die Luft, die Wärme und sogar das eigene Gewicht ...«

Bykow hörte zu, ohne sich zu rühren.

»Das alles ist dir unbekannt. Du schläfst nur deshalb nicht, weil du das Gefühl hast, an der Schwelle zu stehen: ein Fuß hier, der andere dort. Jurkowski aber, der sitzt jetzt und schreibt Verse. Über den blauen Himmel, über wallende Nebel, über weiße Wolken, die sich im See spiegeln. Schlechte Verse, in jeder Redaktion gibt es kiloweise davon, das weiß er genau. Und dennoch schreibt er.«

Dauge klappte das Buch zu und lehnte sich, den Kopf im Nacken, im Sessel zurück.

»Und der dicke Krutikow, unser Navigator, saust jetzt bestimmt im Wagen durch Moskau. Mit Frau. Sie am Steuer. Er sitzt daneben und wendet keinen Blick von ihr. Er bedauert, dass sie die Kinder nicht bei sich haben. Seine Kinder leben nämlich in Nowosibirsk bei der Großmutter. Ein Junge und ein Mädelchen. Nette Kinder ...« Dauge lachte plötzlich hell auf. »Wer aber schläft, das ist Bogdan Spizyn, unser zweiter Pilot. Er hat sein Zuhause in der Rakete. ›Ich fühle mich auf der Erde wie in der Eisenbahn‹, sagt er. ›Immer möchte ich mich hinlegen und schlafen und erst daheim wieder aufwachen.‹ Bogdan ist ein Himmelsbewohner. Es gibt unter uns Menschen, die für ihr ganzes Leben wie vergiftet sind. Bogdan ist auf dem Mars geboren, in dem Forschungsstädtchen an der Großen Syrte. Als er fünf Jahre alt war, erkrankte seine Mutter, und beide wurden zur Erde gebracht. Und eines Tages – so wird erzählt – ließ man den kleinen Bogdan auf die Wiese hinaus. Er watschelte eine Weile hin und her, geriet dann in eine Pfütze und brüllte plötzlich los: ›Ich will nach Hause! Auf den Mars!‹«

Bykow lachte. Er spürte, wie die schwere Last unbegreiflicher Gefühle von seiner Seele wich. Alles war sehr einfach, er stand tatsächlich auf der Schwelle – mit dem einen Fuß noch hier, mit dem anderen schon »dort«.

»Nun, und was macht unser Kommandant?«

Dauge straffte sich. »Ich weiß nicht. Kann’s mir einfach nicht vorstellen ... Weiß nicht.«

»Wahrscheinlich schläft er, ebenso wie Bogdan, der Himmelsbewohner ...«

Dauge schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht ... Ist der Himmel jetzt klar?«

»Nein, bezogen ...«

»Na, dann weiß ich es erst recht nicht.« Dauge zuckte die Achseln. »Ich könnte mir vorstellen, dass Anatoli Jermakow jetzt dasteht und zu dem hellen Stern über dem Horizont schaut. Zur Venus. Und seine Hände ...« Dauge machte eine kleine Pause. »Seine Hände sind zu Fäusten geballt, die Knöchel weiß.«

»Du hast keine schlechte Phantasie, Johannytsch!«

»Nein, Alexej, das ist keine Phantasie. Für uns andere ist die Venus gewissermaßen die nächste Etappe. Wir waren auf dem Mond, auf dem Mars und sind jetzt im Begriff, einen neuen Planeten zu erobern. Wir tun unsere Arbeit, weiter nichts. Jermakow aber ... Jermakow hat einige Rechnungen mit der Venus zu begleichen – alte, grimmige Rechnungen. Ich sage dir, warum er mitfliegt: Er fliegt, um Rache zu nehmen, um zu unterwerfen – unbarmherzig und für immer. So stelle ich mir das vor ... Er hat der Venus den Kampf auf Leben und Tod angesagt ...«

»So gut kennst du ihn?«

Dauge hob die Schultern. »Nein. Aber was macht das? Ich fühle es. Überleg nur« – er begann an den Fingern abzuzählen –, »den Japaner Nishijima, seinen Freund, Sokolowski, seinen besten Freund, Shi Fenyu, seinen Lehrer, Jekaterina Romanowna, seine Frau – sie alle hat die Venus verschlungen. Krajuchin ist sein zweiter Vater. Krajuchins letzter Flug ging zur Venus. Nach diesem Flug haben ihm die Ärzte das Fliegen für immer verboten ...«

Dauge sprang auf und durchmaß mit schnellen Schritten das Zimmer.

»Bändigen und unterwerfen«, wiederholte er. »Erbarmungslos und für immer. Für Jermakow ist die Venus die unnachgiebige, bösartige Verkörperung aller dem Menschen feindlich gesinnten Naturgewalten. Ich bezweifle, ob es uns jemals gegeben sein wird, dieses Gefühl zu begreifen. Und vielleicht ist es auch ganz gut so. Um das nachzuempfinden, muss man kämpfen, wie Jermakow es getan, und leiden, wie er gelitten hat ... Unterwerfen für immer ...«, wiederholte Dauge nachdenklich.

Bykow bewegte die Schultern, als ob ihn fröre.

»Deshalb habe ich auch das von den geballten Fäusten gesagt.« Dauge blickte Bykow scharf in die Augen. »Doch da es heute bewölkt ist, kann ich mir einfach nicht vorstellen, was er jetzt tut. Höchstwahrscheinlich schläft er wirklich.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Bykow dachte, dass er bisher noch nie unter einem solchen Vorgesetzten gearbeitet hatte.

»Und wie steht’s mit deinen Angelegenheiten?«, fragte Dauge plötzlich.

»Was meinst du damit?«

»Ich meine deine Aschchabader Lehrerin.«

Bykow wurde sofort ernst. Er senkte missmutig den Kopf. »Wir treffen uns hin und wieder ...«

»Ach so! Ihr trefft euch. Na und?«

»Nichts weiter.«

»Hast du ihr einen Antrag gemacht?«

»Ja.«

»Hat sie abgeschlagen?«

»Nein. Sie sagte, sie wolle es sich überlegen.«

»Wie lange ist das schon her?«

»Ein halbes Jahr.«

»Und?«

»Was – ›und‹? Weiter ist nichts gewesen.«

»Du bist ein kompletter Narr, Alexej. Entschuldige bitte, wenn ich dir das sage.«

Bykow seufzte.

Dauge blickte ihn mit offenkundigem Spott an. »Unbegreiflich!«, sagte er. »Der Mann ist über dreißig Jahre alt, liebt eine schöne Frau und trifft sich mit ihr nur hin und wieder. Schon sieben Jahre lang ...«

»Fünf.«

»Gut. Meinetwegen fünf. Im fünften Jahr erklärt er sich ihr. Wohlgemerkt, sie hat fünf Jahre lang geduldig gewartet, diese unglückliche Frau ...«

»Lass sein, Grigori«, sagte Bykow stirnrunzelnd.

»Einen Augenblick! Nachdem sie sich aus Bescheidenheit oder um einer kleinen Rache willen Bedenkzeit erbeten hat ...«

»Genug jetzt!«

Dauge seufzte und machte eine resignierende Handbewegung. »Du bist selber schuld, Alexej. Wie du ihr den Hof machst, ist der reinste Hohn. Was wird sie von dir denken? Trottel!«

Bykow schwieg bekümmert, dann sagte er hoffnungsvoll: »Wenn wir zurückkehren ...«

Dauge kicherte. »Ach du Eroberer ... Verzeihung, Wüstenspezialist ... ›Wenn wir zurückkehren ...‹ Geh schlafen, ich kann dich gar nicht mehr sehen.«

Bykow stand auf und griff nach dem Buch auf dem Tisch.

»La description planétographique du Phobos. Paul Dangée«, las er. Auf dem Titelblatt stand eine mit fettem Rotstift in russischer Sprache geschriebene Widmung: Meinem lieben Dauge in dankbarer Erinnerung. Paul Dangée.

Im Morgengrauen erwachte Bykow. Die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen. Dauge – in kurzer Sporthose, braungebrannt und mit wirrem Haar – stand am Schreibtisch und schaute auf das Porträt der melancholischen jungen Frau: Mascha Jurkowskaja. Dann nahm er das Porträt von der Wand und steckte es in den Rucksack. Vorsichtig drehte sich Bykow auf die andere Seite und schlief wieder ein.