22

Es war fast vier Uhr, ehe sie den Flughafen erreichten. Alle Maschinen standen am Boden, Weihnachtsurlauber füllten die Lounges, und lange Schlangen bildeten sich vor den Informationsschaltern. Der Nebel hüllte alles ein, er war duftig wie luftiger Schnee, lagerte wolkendick auf der Erde, ein weißes Gas, in dem die Menschen husteten und ihre Gesichter verbargen.

Hathall war nicht da.

Gegen halb zwölf hatte der Nebel begonnen, sich auf Heathrow herabzusenken, andere Stadtteile Londons hatte er jedoch schon früher heimgesucht. War Hathall unter den Hunderten von Leuten gewesen, die aus den nebeligen, äußeren Vororten angerufen hatten, um zu fragen, ob ihre Flüge abgehen würden? Das war nicht festzustellen. Langsam und gewissenhaft durchkämmte Wexford sämtliche Lounges, ging von der Bar ins Restaurant und auf die Zuschauerterrasse, er blickte in jedes Gesicht, in müde Gesichter, empörte Gesichter, gelangweilte Gesichter. Hathall war nicht da.

»Nach dem Wetterbericht soll sich der Nebel gegen Abend lichten«, sagte Burden.

»Und wenn es nach dem Langzeit-Wetterbericht geht, dann soll es weiße Weihnachten geben, weiße Nebelweihnachten. Sie und Polly bleiben hier, Mike. Setzen Sie sich mit dem Chief Constable in Verbindung und sorgen Sie dafür, daß sämtliche Ausreisehäfen überwacht werden, nicht bloß Heathrow.«

So blieben Burden und Polly zurück, während Wexford und Lovat und Hutton sich auf die lange Fahrt nach Hampstead begaben. Es ging sehr langsam voran. Dichte Verkehrsströme, die auf die M1 strebten, verstopften die nordwestlichen Straßen, und der Nebel, bräunlich verfärbt durch die von oben scheinende, gelbe Straßenbeleuchtung, warf ein undurchsichtiges Leichentuch über die Stadt. Sämtliche Landmarken auf dem Weg, die ihm mittlerweile nur zu vertraut waren, hatten ihre scharfen Konturen verloren und sahen verwaschen aus. Das hügelige Hampstead lag unter einem rauchigen Schleier, und die großen Bäume von Hampstead kauerten wie schwarze Wolken am Boden, ehe sie weiter oben vom blasseren Dunst verschlungen wurden. Zehn Minuten vor sieben krochen sie endlich in die Dartmeet Avenue und hielten vor Nummer 62. Das Haus lag im Dunkeln, jedes Fenster fest verschlossen und nachtschwarz. Die Mülltonnen waren von Nässe überzogen, wo der Nebel auf ihnen kondensiert war. Ihre Deckel waren zerbrochen, und unter einem kam eine Katze herausgeschossen, einen Hühnerknochen im Maul. Als Wexford aus dem Wagen stieg, drang ihm der Nebel in die Kehle. Er mußte an einen anderen Nebeltag denken, damals, in der Altstadt von Myringham, an Männer, die vergeblich nach einer Leiche gegraben hatten, die dort nie gewesen war. Er mußte daran denken, wie überhaupt seine ganze Verfolgungsjagd auf Hathall von Zweifeln und Konfusion und Behinderung vernebelt gewesen war. Dann trat er an die Haustür und drückte auf den Klingelknopf des Hauswirts.

Er hatte schon zweimal geläutet, als es endlich hinter der Glasscheibe des Oberlichts über der Tür hell wurde. Schließlich wurde die Tür von demselben kleinen, älteren Mann geöffnet, den Wexford schon einmal gesehen hatte, als er nach draußen kam, um seine Katze zu holen. Er rauchte eine dünne Zigarre und zeigte weder Überraschung noch Interesse, als der Chief Inspector sagte, wer er sei, und seinen Ausweis zeigte.

»Mr. Hathall ist gestern abend ausgezogen«, sagte er nur.

»Gestern abend?«

»Richtig. Wenn ich ehrlich sein soll, so hatte ich gedacht, daß er nicht vor heute morgen ausziehen würde. Er hat bis heute abend Miete bezahlt. Aber gestern abend tauchte er ziemlich in Eile bei mir auf und sagte, er hätte sich entschlossen, gleich auszuziehen. Und dagegen konnte ich ja auch gar nichts haben, nicht wahr?«

Die Diele war eiskalt trotz des Ölofens, der am Fuß der Treppe stand, und es roch nach verbrennendem Öl und nach Zigarrenrauch. Lovat rieb die Hände aneinander und hielt sie dann über die blaugelben Flammen unter dem Gitter.

»Mr. Hathall kam gestern abend gegen acht mit einem Taxi nach Hause«, berichtete der Hauswirt. »Ich war draußen im Vorgarten und rief meine Katze. Er kam zu mir und sagte, er wolle sein Zimmer jetzt auf der Stelle aufgeben.«

»Was für einen Eindruck machte er?« hakte Wexford nach. »Hatte er Angst? War er aufgeregt?«

»Nein, nichts Außergewöhnliches. Der war ja nie das, was man einen umgänglichen Menschen nennt. Meckerte immer und ewig über irgendwas. Wir gingen gemeinsam rauf in sein Zimmer, damit ich das Inventar überprüfen konnte. Darauf bestehe ich immer, ehe ich ihnen ihre Vorauszahlung zurückgebe. Möchten Sie jetzt raufgehen? Da ist zwar nichts zu sehen, aber wenn Sie wollen, bitte schön.«

Wexford nickte, und sie stiegen die Treppe hinauf. Diele und Treppenflur waren von Lampen erhellt, die nach zwei Minuten automatisch ausgingen, und sie gingen aus, ehe Hathalls Tür erreicht war. Der Hauswirt fluchte in der stockschwarzen Dunkelheit und suchte umständlich nach Schlüsseln und Lichtschalter. Und Wexford, dessen Nerven wieder unter Spannung standen, gab einen panischen Grunzlaut von sich, als etwas auf dem Handlauf des Treppengeländers entlangstrich und dem Hauswirt auf die Schulter sprang. Es war natürlich bloß die Katze. Das Licht ging wieder an, die Schlüssel kamen zum Vorschein, und die Tür wurde geöffnet. Das Zimmer war muffig und verkommen und kalt obendrein. Wexford sah, wie Hutton ironisch den Mund verzog angesichts des Schrankes aus dem Ersten Weltkrieg, der Kaminsessel und der häßlichen Gemälde, vor allem wohl bei dem Gedanken, daß dieser Flohmarktströdel in einer Inventarliste erfaßt war. Dünne Decken lagen unordentlich zusammengefaltet auf der nackten Matratze. Sonst gab es noch ein Bündel Nickelbestecke, die mit einem Gummiband zusammengehalten waren, einen Pfeifkessel, dessen Griff mit Bindfaden repariert war, und eine Steingutvase, auf deren Boden noch das Preisschild klebte, demzufolge sie fünfunddreißig Pence gekostet hatte.

Die Katze lief auf dem Kaminsims entlang und sprang auf den Wandschirm. »Ich hatte mir schon gedacht, daß mit dem irgendwas faul war«, meinte der Hauswirt.

»Und wieso? Wie sind Sie darauf gekommen?«

Er bedachte Wexford mit einem ziemlich geringschätzigen Blick. »Also zuerst mal – Sie hab ich doch schon mal gesehen. Einen Bullen erkenn ich doch auf tausend Meter Entfernung. Und hier trieben sich ja dauernd welche rum, die ihn beobachteten. Mir entgeht so leicht nichts, auch wenn ich nicht viel darüber rede. Auch den kleinen Burschen mit den roten Haaren hab ich natürlich bemerkt – hätte mich schieflachen können, als der ankam und sagte, er käme von der Behörde –, und dann der lange Dünne, der immer im Wagen sitzengeblieben ist.«

»Dann wissen Sie wahrscheinlich auch«, sagte Wexford, der an dieser Demütigung zu schlucken hatte, »weshalb er beobachtet wurde?«

»Keine Ahnung. Der tat doch weiter nichts als zu kommen und zu gehen, seine Mutter zum Tee mitzubringen und über die Miete zu meckern.«

»Ist er nie von einer Frau besucht worden? Von einer Frau mit kurzem, blondem Haar?«

»Der doch nicht! Bloß seine Mutter und seine Tochter, das war alles. Jedenfalls hat er mir gesagt, daß sie das wären, und das stimmte wohl auch, denn sie sahen ihm ja ähnlich wie gespuckt. Los, komm, Pussy, wir gehen wieder ins Warme zurück.«

Wexford wandte sich verdrossen um, blieb an der Stelle stehen, wo Hathall ihn um ein Haar die Treppe hinuntergestoßen hätte, und fragte: »Sie gaben ihm also seine Vorauszahlung zurück, und er fuhr weg? Um welche Zeit war das?«

»Gegen neun.« Das Flurlicht ging wieder aus, wieder drückte der Hauswirt auf den Schalter, und während die Katze auf seiner Schulter schnurrte, meinte er halblaut: »Der wollte irgendwie nach Übersee, hat er gesagt. Waren auch ‘ne Menge Aufkleber auf seinen Koffern, aber ich hab nicht näher hingeguckt. Ich behalt die Leutchen möglichst im Auge und weiß immer gern, was sie so machen, bis sie aus dem Haus sind. Der hier ist rübergegangen über die Straße ans Telefon, und dann kam ein Taxi und holte ihn ab.«

Sie waren in der nach Öl riechenden unteren Diele angekommen, und wieder ging das Licht aus. Diesmal knipste der Hauswirt es nicht wieder an. Er schloß hastig die Tür hinter ihnen.

»Möglich, daß er schon gestern abend weggefahren ist«, meinte Wexford zu Lovat. »Er könnte nach Paris oder Brüssel oder Amsterdam gefahren und von dort geflogen sein.«

»Aber warum hätte er das tun sollen?« widersprach Hutton. »Er konnte doch gar nicht wissen, daß wir nach all der Zeit immer noch hinter ihm her sind.«

Wexford hatte keine Lust, ihnen in diesem Stadium von Howards Beteiligung an der Sache oder gar von Howards Begegnung mit Hathall gestern abend zu erzählen. Ihm selbst aber war es da oben in dem kalten, verlassenen Zimmer in aller Schärfe bewußt geworden: Hathall hatte Howard etwa um sieben Uhr gesehen, hatte begriffen, daß dieser Mann ihn verfolgte, und hatte ihn kurz darauf abgehängt. Das Taxi, in das er gestiegen war, hatte zuerst das Mädchen abgesetzt und ihn dann in die Dartmeet Avenue gefahren. Dort hatte er rasch alles mit dem Hauswirt geregelt, hatte sein Gepäck genommen und war abgehauen. Aber wohin? Erst wieder zu ihr, und dann …? Wexford hob unglücklich die Schultern und ging über die Straße in die Telefonzelle.

Burdens Stimme teilte ihm mit, daß der Flughafen noch durch den Nebel lahmgelegt sei. Es wimmele dort nicht nur von enttäuschten, verhinderten Reisenden, sondern mittlerweile auch von gewissenhaft fahndenden Polizisten. Hathall sei aber nicht aufgetaucht. Und wenn er, wie Hunderte von anderen Leuten auch, angerufen hätte, so habe er nicht seinen Namen genannt.

»Aber er weiß, daß wir hinter ihm her sind«, sagte Burden.

»Wie meinen Sie das?«

»Erinnern Sie sich an einen Burschen namens Aveney? Manager bei Kidds?«

»Natürlich. Was zum Teufel soll das?«

»Der hat gestern abend bei sich zu Hause einen Anruf von Hathall bekommen. Hathall wollte wissen – er fragte das so ganz nebenher, versteht sich –, ob wir uns bei Kidds nach ihm erkundigt hätten. Und Aveney, der Idiot, hat gesagt ja, aber nicht wegen seiner Frau, das sei ja alles vorbei, wir hätten uns bloß die Bücher ansehen wollen für den Fall, daß da mit den Lohnlisten irgendwas faul sei.«

»Und wieso wissen wir das?« fragte Wexford verblüfft.

»Aveney kriegte hinterher Bedenken, überlegte, ob er ihm überhaupt irgendwas hätte sagen dürfen, obgleich er ja wußte, daß unsere Ermittlungen zu nichts geführt hatten. Anscheinend hat er versucht, Sie heute morgen zu erreichen, und als das nicht klappte, hat er sich schließlich an Mr. Griswold gewandt.«

Das also war der Anruf gewesen, den Hathall von der Telefonzelle in der Dartmeet Avenue aus getätigt hatte, dieser verflixten Telefonzelle, nachdem er sich von seinem Hauswirt verabschiedet hatte und bevor er in das Taxi stieg. Aveneys Auskünfte zusätzlich zu der Tatsache, daß er Howard erkannt hatte, reichten natürlich vollkommen aus, ihn in Panik zu versetzen. Wexford ging wieder zurück über die Straße und stieg in den Wagen, wo Lovat eine seiner gräßlichen kleinen, qualmenden Zigaretten rauchte.

»Ich glaub, der Nebel lichtet sich, Sir«, sagte Hutton.

»Schon möglich. Wie spät ist es?«

»Zehn vor acht. Was machen wir jetzt? Zurück zum Flugplatz, oder sollen wir versuchen, Morag Greys Wohnung ausfindig zu machen?«

Mit gedehntem Sarkasmus erwiderte Wexford: »Das versuche ich seit neun Monaten, Sergeant, der normalen Zeitspanne des Austragens, aber zur Welt gebracht hab ich nichts. Vielleicht glauben Sie, das innerhalb von ein paar Stunden bewerkstelligen zu können?«

»Wir könnten ja wenigstens durch Notting Hill zurückfahren, Sir, statt den schnelleren Weg über die North Circular zu nehmen.«

»Mensch, machen Sie, was Sie wollen«, knurrte Wexford und lehnte sich in die Ecke, so weit wie möglich von Lovat und seiner Zigarette entfernt, die genauso schlecht roch wie die Zigarre des Hauswirts. Dachse! Landgendarme! dachte er wütend und ungerecht. Idioten, die nicht mal mit einem einfachen Ladendiebstahl anständig fertig wurden. Was glaubte Hutton eigentlich, was Notting Hill war? Ein Dorf wie Passingham St. John, wo jeder jeden kannte und auf jede Neuigkeit erpicht war, wo der Klatsch blühte, wenn ein Nachbar in ferne Länder weggezogen war?

Sie folgten der Route des Achtundzwanziger-Busses. West End Lane, Quex Road, Kilburn Road, Kilburn Park … Der Nebel lichtete sich wirklich, bewegte sich, lag hier in dichten Schwaden, waberte dort und löste sich zu dünnen Streifen auf. Die weihnachtliche Farbenpracht glitzerte wieder durch ihn hindurch, schreiend bunte Papierfahnen in den Fenstern, grelle Sternenlämpchen, die rhythmisch aufblinkten. Shirland Road, Great Western Road, Pembridge Villas, Pembridge Road …

Eine von diesen Haltestellen, dachte Wexford und richtete sich auf, mußte die sein, wo Howard Hathall in den Achtundzwanziger hatte einsteigen sehen. Überall zweigten Straßen ab, Straßen, die wieder in andere Straßen mündeten, in Plätze, in ein bevölkertes, urbanes Dickicht. Sollte Hutton doch sehen, was er hier …

»Halten Sie bitte, ja?« sagte er plötzlich.

Rosa Licht ergoß sich über den Fahrdamm aus den verglasten Türen des Pubs. Wexford hatte das Schild gesehen und sich blitzartig erinnert. Das Rosy Cross. Wenn sie hier regelmäßig Gäste gewesen waren, wenn sie sich hier häufig getroffen hatten, dann erinnerte sich vielleicht der Inhaber oder der Barkeeper an sie. Vielleicht hatten sie sich auch gestern abend hier getroffen, ehe sie wegfuhren, oder sie hatten bloß noch einmal hereingeschaut, um sich zu verabschieden. Mindestens würde er es erfahren. Auf diese Weise würde er vielleicht endgültig Bescheid wissen.

Der Innenraum war ein Inferno aus Licht und Lärm und Qualm. Die Menschenmenge war von einer Dichte und Ausgelassenheit, wie sie sich gewöhnlich erst viel später am Abend einstellen, aber es war schließlich Weihnachten, ein Tag vor Heiligabend. Es war nicht nur jeder Tisch besetzt, jeder Barhocker und jeder Platz an der Bar, sondern auch jeder Quadratzentimeter Fußboden. Die Leute standen dicht aneinandergedrängt, die Augen blinzelnd halb geschlossen, denn aus ihren Zigaretten stiegen Rauchspiralen auf, die sich mit dem blauen Dunst vermengten, der zwischen den leise schwankenden Girlanden hing. Wexford bahnte sich einen Weg an die Bar. Zwei Barmänner und ein Mädchen bedienten, servierten fieberhaft Getränke, wischten über den Tresen, versenkten schmutzige Gläser in das dampfende Spülbecken.

»Der nächste bitte?« rief der ältere der beiden Barkeeper, der Inhaber vielleicht. Sein Gesicht war rot, die Stirn glänzte von Schweiß, und das graue Haar klebte ihm in feuchten Locken am Kopf. »Was nehmen Sie, Sir?«

Wexford sagte: »Polizei. Ich suche nach einem großen, schwarzhaarigen Mann, etwa fünfundvierzig, und einer jüngeren, blonden Frau.« Sein Ellbogen wurde angestoßen, und er spürte, wie ihm ein Rinnsal aus Bier das Handgelenk entlanglief. »Sie waren gestern abend hier. Sein Name ist…«

»Die sagen mir doch nicht ihre Namen. Und gestern abend waren hier ungefähr fünfhundert Leute.«

»Ich habe aber Grund zu der Annahme, daß sie regelmäßig hierhergekommen sind.«

Der Barmann zuckte die Achseln. »Ich muß meine Gäste bedienen. Können Sie zehn Minuten warten?«

Aber Wexford fand, er habe lange genug gewartet. Sollte die Sache in andere Hände übergehen, er konnte nichts weiter tun. Er drängte sich wieder durch die dichte Menschenmenge, wollte zur Tür. Er war wie benebelt von den Farben, den Lichtern, dem dichten Qualm und dem schweren Alkoholdunst. Farbige Umrisse allenthalben, die Kreise der roten und purpurnen Ballons, die leuchtenden, durchsichtigen Konusse der Likörflaschen, die Rechtecke der farbigen Glasfenster … Ihm schwindelte der Kopf, und ihm fiel ein, daß er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Rote und purpurne Kreise, orange und blaue Papierkugeln, hier ein grünes Glasquadrat, dort ein hellgelbes Rechteck …

Ein hellgelbes Rechteck! Sein Kopf wurde augenblicklich klar. Er hatte sich wieder in der Gewalt. Eingeklemmt zwischen einem Mann in einem Ledermantel und einem Mädchen in einem Pelzmantel blickte er durch einen winzigen Spalt, der nicht von Röcken und Beinen und Stuhlbeinen und Handtaschen verstellt war, blickte durch den beißenden blauen Qualm auf jenes gelbe Rechteck, das eine Flüssigkeit in einem hohen Glas war, und er sah, wie es von einer Hand gehoben wurde und aus seinem Gesichtsfeld entschwand.

Pernod. Kein populäres Getränk in England. Ginge hatte es mit Guiness vermischt als ›Demon King‹ getrunken. Und jemand anders, nämlich sie, die er suchte, seine Schimäre, sein Hirngespinst, trank es verdünnt und gelb gefärbt durch Wasser. Er bewegte sich langsam vorwärts, schob sich auf den Ecktisch zu, wo sie saß, aber er kam nur auf drei Meter an sie heran. Es waren zu viele Leute im Weg. Aber jetzt gab es für ihn eine Sichtscharte auf Augenhöhe, durch die er sie sehen konnte, und erblickte sie an, unentwegt, starrte sie begierig an, wie ein verliebter Mann eine Frau anstarrt, auf deren Erscheinen er Monate und Monate gewartet hat.

Sie hatte ein hübsches Gesicht, ein müdes, blasses Gesicht. Ihre Augen waren durch den Qualm gerötet, und ihre kurzgeschorenen, blonden Haare waren an der Kopfhaut gut einen Zentimeter dunkel nachgewachsen. Sie war allein, aber der Stuhl neben ihr war mit einem zusammengefalteten Mantel belegt, einem Herrenmantel. An der Wand hinter ihr aber und zu ihren Füßen standen wie eine Mauer um sie herum ein halbes Dutzend Koffer aufgetürmt. Wieder hob sie ihr Glas und nippte daran, ohne im geringsten von ihm Notiz zu nehmen, aber sie blickte immer wieder nervös und hastig zu der schweren Mahagonitür hinüber, an der Telefon und Toiletten stand. Wexford zögerte, starrte weiter auf seine fleischgewordene Schimäre, bis Hüte und Haare und Gesichter sich davor schoben und sie seinen Blicken entzogen.

Er öffnete die Mahagonitür, schlüpfte in den Korridor dahinter, sah gegenüber zwei weitere Türen, und am Ende des Korridors war eine Glaszelle. Darin stand Hathall über das Telefon gebeugt; er hatte Wexford den Rücken zugekehrt. Er ruft den Flughafen an, dachte Wexford, ruft an, um zu fragen, ob sein Flug jetzt, wo der Nebel sich lichtet, abgeht. Er ging in die Herrentoilette, zog die Tür hinter sich zu, wartete, bis er Hathalls Schritte im Korridor hörte.

Die Mahagonitür fiel ins Schloß. Wexford ließ noch eine Minute verstreichen, dann ging auch er zurück in die Bar. Die Koffer waren fort, das gelbe Glas leer. Er boxte die Leute zur Seite, ignorierte Beschimpfungen, erreichte die Tür zur Straße und stieß sie auf. Hathall und die Frau standen an der Straßenecke, umgeben von ihren Koffern, und warteten darauf, daß ein Taxi vorbeikäme.

Wexford sah scharf zum Wagen hinüber, begegnete Huttons Blick, hob kurz die Hand und nickte. Drei Türen des Wagens öffneten sich gleichzeitig, und die drei Polizisten standen draußen, als hätten sie Sprungfedern in den Füßen. Und da begriff Hathall. Er fuhr herum, blickte ihnen entgegen und legte mit schützender, aber vergeblicher Geste den Arm um die Frau. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, das vorspringende Kinn, die scharfe Nase und die hohe Stirn verfärbten sich im dunstigen Licht der gelben Straßenlampen grünlich vor Entsetzen über das endgültige Scheitern all seiner Hoffnungen. Wexford trat auf ihn zu.

Die Frau sagte: »Wir hätten gestern abend fliegen sollen, Bob.« Und als er ihren Akzent hörte, der durch die Angst noch verstärkt wurde, da wußte er Bescheid. Es gab keinen Zweifel mehr. Aber es verschlug ihm die Sprache, er stand stumm da und überließ es Lovat, auf sie zuzugehen und mit den üblichen Verhaftungsfloskeln zu beginnen:

»Morag Grey…«

Sie preßte die Fingerknöchel an die zitternden Lippen, und Wexford sah die kleine L-förmige Narbe auf ihrem Zeigefinger, genauso, wie er sie im Traum gesehen hatte.