20
Sheila Wexford, Schauspielerin und des Chief Inspectors älteste Tochter, traf am Samstag vormittag ein. Es sei schön, sie leibhaftig vor sich zu sehen, meinte ihr Vater, statt immer nur zweidimensional in ihrer Fernsehserie. Sie tänzelte durchs Haus, arrangierte die Karten kunstvoller und sang dabei »… dreaming of a white Christmas«. Es sah jedoch ganz so aus, als ob es ein nebliges Weihnachten würde. Die Langzeit-Wettervorhersage jedenfalls hatte es so angekündigt, und nun schien diese Prognose wahr zu werden. Der weiße Morgennebel verhüllte gegen Mittag vollständig die Sonne, und gegen Abend war er dick und gelblich.
Der kürzeste Tag des Jahres. Wintersonnenwende. Arktisch die Lichtverhältnisse, arktisch auch die Temperatur. Bereits um drei Uhr verdüsterte der Nebel das Tageslicht und kündigte eine siebzehnstündige Dunkelheit an. Überall in den Straßen sah man die Weihnachtsbäume nur als trübes, gelbliches Glimmen hinter den Fenstern. Siebzehn Stunden Dunkelheit, sechsunddreißig Stunden nur noch.
Wie versprochen rief Howard abends um zehn an. Hathall war seit drei Uhr in der Dartmeet Avenue allein in seinem Zimmer gewesen. Howard rief aus der Telefonzelle gegenüber der Nummer 62 an, aber jetzt würde er nach Hause fahren. Seine sechs Wachtposten-Abende waren vorbei – der heute war bereits ein zusätzlicher gewesen, drangehängt, weil er sich nicht geschlagen geben wollte, aber jetzt ginge er heim.
»Ich beobachte ihn morgen auch noch mal, Reg. Zum letztenmal.«
»Hat das noch irgendeinen Sinn?«
»Ich hab dann wenigstens das Gefühl, die Sache so gründlich wie nur irgend möglich gemacht zu haben.«
Hathall war den großen Teil des Tages allein gewesen. Hieß das, er hatte seine Freundin schon vorausgeschickt? Wexford ging früh zu Bett, lag wach und dachte an Weihnachten, dachte daran, wie er und Howard sich in einen stillen Winkel zurückziehen würden zu einer abschließenden Betrachtung all dessen, was passiert war, was sie sonst noch hätten tun können, was hätte geschehen können, wenn nicht Griswold am 2. Oktober vor einem Jahr seinen Bann verhängt hätte.
Am Sonntag begann sich der Nebel zu lichten. Die vage Hoffnung, die Wexford gehegt hatte, nämlich daß der Nebel Hathall zwingen werde, seine Abreise zu verschieben, schwand dahin, als die Sonne gegen Mittag hell und strahlend zum Vorschein kam. Er hörte die Nachrichten ab, aber kein Flughafen war geschlossen, kein Flug abgesagt. Und als der Abend mit einem leuchtenden Sonnenuntergang an klarem, frostigem Himmel begann – als ob der Winter nach Überschreiten der Sonnenwende bereits den Todeskeim in sich trüge –, da wußte er, daß er sich mit Hathalls gelungener Flucht abfinden mußte. Es war alles vorbei.
Aber wenn er sich auch zwingen konnte, nicht zu grübeln, soweit es Nancy Lake betraf, so konnte er doch nicht umhin, voll Bitterkeit und Bedauern über die lange Periode nachzusinnen, während der er und Hathall Feinde gewesen waren. Wie anders hätten die Dinge verlaufen können, wenn er rechtzeitig auf die Sache mit dem Lohnlistenbetrug gekommen wäre – wenn es denn ein Betrug gewesen war. Ebenso hätte er wissen müssen, daß ein wütender Paranoiker, für den so viel auf dem Spiel stand, nicht tatenlos reagieren würde auf seine plumpen Ermittlungsmethoden und das, worauf diese Ermittlungen abzielten. Aber jetzt war das alles vorbei, und er würde nie erfahren, wer die Frau war. Melancholisch dachte er an all die anderen Fragen, die nun unbeantwortet bleiben mußten. Was hatte dieses Buch über keltische Sprachen in Bury Cottage zu suchen? Warum hatte Hathall, der in seinen mittleren Jahren plötzlich Spaß an sexueller Abwechslung gefunden hatte, eine Frau wie Nancy Lake abgewiesen? Warum hatte seine Komplizin, die sonst in jeder Weise so gründlich und sorgfältig vorgegangen war, ausgerechnet an der Seite der Badewanne einen Handabdruck hinterlassen? Und warum hatte Angela, der doch so sehr daran gelegen war, ihrer Schwiegermutter zu gefallen und eine Versöhnung herbeizuführen, am Tag ihres Besuches ausgerechnet die Kleidung getragen, die mit dazu beigetragen hatte, ihre Schwiegermutter gegen sie aufzubringen?
Er kam gar nicht auf die Idee, daß Howard in diesem späten Stadium noch irgendwelche Erfolge erzielen könnte. Normalerweise blieb Hathall sonntags daheim und hatte seine Mutter oder seine Tochter zu Gast. Auch wenn er sich von den beiden bereits verabschiedet hatte, bestand ja kein Grund, diese Gewohnheit dahingehend zu ändern, daß er nun nach Notting Hill zu ihr fuhr, da sie ohnehin am nächsten Tag gemeinsam das Land verlassen würden. Als er daher an jenem Sonntag abend um elf Uhr den Hörer abnahm und die vertraute Stimme hörte – ein wenig müde und gereizt –, da dachte er, Howard wolle ihm bloß mitteilen, wann er und Denise am Weihnachtsabend ankämen. Und als er dann den wahren Grund des Anrufes begriff, daß nämlich Howard jetzt, da es zu spät war, kurz davor stand, seine Mission doch noch zu Ende zu bringen, da überfiel ihn die kranke Verzweiflung eines Menschen, der seine Resignation nicht durch neue Hoffnung bedroht wissen möchte.
»Du hast sie gesehen?« fragte er wie betäubt. »Du hast sie tatsächlich gesehen?«
»Ich weiß, wie dir jetzt zumute ist, Reg, aber ich muß es dir erzählen, ich kann es einfach nicht für mich behalten. Ich habe ihn gesehen, ich habe sie gesehen, ich habe sie zusammen gesehen. Und dann hab ich sie aus den Augen verloren!«
»O Gott. Mein Gott, das ist mehr, als ich verkraften kann.«
»Bring nicht den Boten um, Reg«, seufzte Howard.
»Ich bin nicht böse auf dich. Wie könnte ich auch, nach allem, was du getan hast? Ich bin böse auf – auf das Schicksal. Erzähl mir, was passiert ist.«
»Gleich nach dem Mittagessen fing ich an, das Haus in der Dartmeet Avenue zu beobachten. Ich hatte keine Ahnung, ob Hathall zu Hause war oder nicht, bis ich ihn rauskommen und einen großen Abfallsack in eine dieser Mülltonnen stopfen sah. Der war beim Ausräumen und beim Packen, nehme ich an, und warf alles weg, was er nicht mehr brauchte. Ich saß da in meinem Wagen und wäre schon fast nach Hause gefahren, als ich um halb fünf sein Licht angehen sah.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich nach Hause gefahren wäre. Wenigstens hätte ich dann bei dir keine neuen Hoffnungen geweckt. Er kam um sechs aus dem Haus, Reg, und ging nach West End Green hinunter. Ich folgte ihm mit dem Wagen und parkte in der Mill Lane – das ist die Straße, die von der Fortune Green Road nach Westen abbiegt. Wir warteten beide ungefähr fünf Minuten. Der Achtundzwanziger-Bus kam nicht, und er stieg statt dessen in ein Taxi.«
»Und dem bist du gefolgt?« Für einen Moment überwog Wexfords Bewunderung seine Bitterkeit.
»Es ist leichter, einem Taxi zu folgen als einem Bus. Busse halten ja dauernd. Und einem Taxi in London am Sonntag abend zu folgen ist viel leichter als werktags während der Hauptverkehrszeit. Jedenfalls, der Fahrer nahm mehr oder weniger dieselbe Route wie der Bus. Und vor einem Pub in der Pembridge Road stieg Hathall dann aus.«
»In der Nähe der Haltestelle, wo du ihn schon mal in den Bus hast einsteigen sehen?«
»Ja, ganz in der Nähe. Ich bin jeden Abend dieser Woche an dieser Haltestelle und in den Straßen ringsum gewesen, Reg. Aber er muß irgendeinen Weg hintenherum benutzt haben, um von der Station Notting Hill Gate dort hinzugelangen. Ich habe ihn nicht ein einziges Mal gesehen.«
»Bist du ihm in den Pub nachgegangen?«
»Er nennt sich Rosy Cross und war gestopft voll. Er holte sich zwei Drinks, Gin für sich selbst und Pernod für sie, obwohl sie noch gar nicht da war. Es gelang ihm, zwei Plätze in einer Ecke zu ergattern, und über einen davon legte er seinen Mantel, um ihn freizuhalten. Die meiste Zeit verdeckten die vielen Leute mir die Sicht auf ihn, aber ich konnte dieses Glas mit dem gelben Pernod sehen, das auf dem Tisch stand und darauf wartete, daß sie kam und es austrank.
Entweder war Hathall zu früh dort oder sie zehn Minuten zu spät. Ich wußte gar nicht, daß sie gekommen war, bis ich eine Hand sah, die sich um das gelbe Glas schloß und es hochhob, bis es aus meinem Gesichtsfeld verschwand. Da setzte ich mich in Bewegung und drängte mich durch die Menge, um besser sehen zu können. Es war dieselbe Frau, die ich mit ihm vor dem Marcus-Flower-Gebäude gesehen habe, eine hübsche Frau Anfang Dreißig mit kurzem, blondgefärbtem Haar. Nein, frag nicht. Ich habe ihre Hand nicht gesehen. Ich war sowieso schon zu nahe dran. Ich glaube, Hathall hat mich wiedererkannt. Mein Gott, er hätte ja auch blind sein müssen, um nichts zu merken, trotz aller Vorsicht, die ich habe walten lassen.
Sie tranken ihre Gläser sehr schnell aus und drängten sich nach draußen. Sie muß dort ganz in der Nähe wohnen, aber wo genau, kann ich dir nicht sagen. Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Als ich herauskam, sah ich sie davongehen, und ich wollte ihnen zu Fuß folgen. Da kam ein Taxi vorbei, und sie stiegen ein. Hathall hat nicht mal gewartet, um dem Fahrer das Fahrtziel zu nennen. Er stieg nur ein und muß ihm hinterher Anweisungen gegeben haben. Er wollte auf jeden Fall seinen Verfolger abschütteln, und ich konnte ja nicht hinter ihm her. Das Taxi fuhr die Pembridge Road hinauf, und ich verlor sie aus den Augen – verlor sie glatt aus den Augen und fuhr nach Hause.
Und damit Schluß mit Robert Hathall, Reg. Die Jagd ist vorüber. Ich dachte wirklich … aber vergiß es. Du hast auf der ganzen Linie recht gehabt, und das ist leider dein einziger Trost.«
Wexford sagte seinem Neffen gute Nacht, und sie sähen sich ja am Weihnachtsabend. Über ihm dröhnte ein Flugzeug, das in Gatwick gestartet war. Er trat an sein Schlafzimmerfenster und beobachtete, wie seine weißen und roten Lichter gleich Meteoren über den sternklaren Himmel fuhren. Nur noch ein paar Stunden, und Hathall würde auch in einem solchen Flugzeug sitzen. Gleich morgen früh? Oder ein Nachmittagsflug? Oder würden er und sie über Nacht fliegen? Er mußte feststellen, daß er sehr wenig über Auslieferungsmodalitäten wußte. Es hatte für ihn bislang kein Grund bestanden, sich damit vertraut zu machen. Und diese Dinge hatten sich in jüngster Zeit so merkwürdig entwickelt, daß ein Land vermutlich unverblümt feilschte, daß es irgendwelche Konzessionen oder Gegenleistungen verlangte, ehe es einen fremden Staatsangehörigen auslieferte. Außerdem, bei Mord mochte ja eine Auslieferung durchzusetzen sein, bei Betrug ganz bestimmt nicht. Auf arglistige Täuschung gemäß Paragraph 15 des Diebstahlgesetzes von 1968 würde die Anklage hinauslaufen, überlegte er. Und plötzlich erschien es ihm völlig absurd, die ganze politische Maschinerie in Gang zu setzen, bloß um einen Mann aus Brasilien herauszuholen, der sich an den Lohngeldern einer Plastikpuppenfabrik vergriffen hatte.
Er dachte an Crippen, den man mitten auf dem Ozean durch eine drahtlose Übermittlung gestellt, an Zugräuber, die man nach einer langen Periode der Freiheit im fernen Süden geschnappt hatte, an Filme, die er gesehen, in denen irgendein Krimineller, der sich wohlgemut in Sicherheit wiegt, plötzlich die schwere Hand des Gesetzes auf der Schulter spürt, während er in einem sonnigen Straßencafé seinen Wein trinkt. Das war nicht seine Welt. Er sah sich nicht – nicht einmal in einer untergeordneten Rolle – als Akteur in solch einem exotischen Drama. Statt dessen sah er Hathall davonfliegen in die Freiheit, in ein Leben, das er geplant, für das er einen Mord begangen hatte, während vielleicht in ein, zwei Wochen Lovat gezwungen war, sich geschlagen zu geben, weil er auf keinerlei Betrug oder arglistige Täuschung gestoßen war, sondern bloß auf ein paar vage Verdachtsmomente, wegen der man Hathall hätte zur Rede stellen können – wenn Hathall verfügbar gewesen wäre.
Der Tag war da.
Wexford war früh wach und dachte an Hathall, der wohl ebenfalls schon wach war. Am Abend zuvor hatte er Howard bemerkt, hatte befürchten müssen, daß er weiterhin verfolgt würde, und sicher nicht riskiert, die Nacht bei der Frau zu verbringen oder sie mit zu sich zu nehmen. Jetzt wusch er sich vielleicht gerade an dem Ausguß des schäbigen kleinen Zimmers, nahm einen Anzug aus seinem uralten Schrank, rasierte sich, bevor er seinen Rasierapparat in dem kleinen Handkoffer verstaute, den er mit ins Flugzeug nehmen würde. Wexford sah das rote, granitene Gesicht vor sich, das schüttere, schwarze Haar, mit nassem Kamm zurückgestriegelt. Jetzt warf Hathall einen letzten Blick auf die winzige Zelle, die für neun Monate sein Zuhause gewesen war, und dachte dabei wahrscheinlich voller Vorfreude an das Zuhause, das ihn erwartete. Und jetzt hinüber in die Telefonzelle, beim ersten, winterlichen Tagesgrauen, um sicherheitshalber beim Flughafen wegen seines Fluges rückzufragen, dabei würde er natürlich das Mädchen, mit dem er sprach, herunterputzen, weil sie nicht schnell oder nicht effizient oder nicht höflich genug war, und zu guter Letzt ein Anruf bei ihr, wo immer sie war in dem Labyrinth von Notting Hill. Nein, vielleicht auch noch ein weiterer Anruf. Beim Taxistand oder bei einer Autovermietung wegen des Wagens, der ihn und sein Gepäck auf Nimmerwiedersehen wegfahren würde …
Hör auf! befahl Wexford sich energisch. Laß das. Schluß damit. Das ist der Weg, der zum Wahnsinn führt – oder wenigstens zu obsessiven Neurosen. Weihnachten steht vor der Tür, los, an die Arbeit, vergiß ihn! Er brachte Dora eine Tasse Tee und ging zum Dienst.
In seinem Büro sah er die morgendliche Post durch und stellte hier und da ein paar Weihnachtspostkarten auf. Eine war von Nancy Lake, und er betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich, ehe er sie in seine Schreibtischschublade schob. Nicht weniger als fünf Kalender waren gekommen, davon einer vom Genre ›nackte Schönheit auf Glanzpapier‹, die Neujahrsgabe einer lokalen Autowerkstatt. Das brachte ihn auf Ginge an der Station West Hampstead, auf die Büros von Marcus Flower … Wurde er langsam verrückt? Was war los mit ihm, wenn ihm angesichts solcher Erotika eine Mörderjagd in den Sinn kam? Hör auf! Er wählte aus seiner Kollektion einen hübschen, unendlich langweiligen Kalender, zwölf Farbdrucke mit Landschaftsszenen aus Sussex, und hängte ihn neben den Übersichtsplan des Distrikts an die Wand. Das Geschenk der dankbaren Autowerkstatt schob er in einen neuen Umschlag, schrieb ›persönlich‹ darauf und ließ ihn in Burdens Büro bringen. Das würde den prüden Inspector zu Wutausbrüchen gegen die heruntergekommene Moral veranlassen, und ihn, Wexford, von dem gottverdammten, entwischten, triumphierenden, betrügerischen und flüchtigen Robert Hathall ablenken!
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den Dingen zu, mit denen die Kingsmarkhamer Polizei im Augenblick befaßt war. Fünf Frauen in der Stadt und zwei aus umliegenden Dörfern hatten sich über obszöne Telefonanrufe beschwert. Das einzig Außergewöhnliche bei der Geschichte war, daß es sich bei dem Anrufer um eine Frau handelte. Wexford mußte lächeln bei dem Gedanken, bis in welche obskuren Winkel des Lebens sich die Frauenemanzipation auswirkte. Sein Lächeln wurde sehr viel grimmiger und sogar verärgert, als er Sergeant Martins Versuch las, die Aktivitäten von vier kleinen Jungen aufzubauschen, die einen Bindfaden zwischen einem Laternenpfahl und einer Gartenmauer gespannt hatten, um Passanten zu Fall zu bringen. Warum mußte er mit solchem Blödsinn seine Zeit vergeuden? Aber manchmal war es vielleicht besser, man vergeudete seine Zeit, als daß man sie damit verbrachte, immer und immer wieder einer gescheiterten Sache nachzuhängen …
Das interne Telefon piepte. Er nahm den Hörer ab und war auf die Stimme eines selbstgefälligen und empörten Burden gefaßt.
»Chief Inspector Lovat möchte Sie sprechen, Sir.«