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Die Frau, die in der Victoria Station unter der Tafel mit den Abfahrtszeiten stand, hatte einen platten, rechteckigen Körper und ein ebenso rechteckiges wie eisenhartes Gesicht. Ein ausgebeulter, hellbrauner Filzhut umschloß ihren Kopf wie eine Walnußschale, ihre Hände steckten in hellbraunen Baumwollhandschuhen, und zu ihren Füßen stand ein robuster, aber kaum benutzter Lederkoffer, den sie vor fünfundvierzig Jahren auf ihre Hochzeitsreise mitgenommen hatte. Ihre Augen suchten den vorbeihastenden Strom der Berufspendler ab, und ihr Mund wurde immer verkniffener, bis die Lippen einer haardünnen Spalte glichen.

Sie wartete auf ihren Sohn. Er hatte sich bereits eine Minute verspätet, und seine Unpünktlichkeit bereitete ihr wachsende Befriedigung. Sie war sich dieser heimlichen Freude kaum bewußt, und hätte man sie ihr vorgeworfen, so hätte sie sie abgestritten, genauso, wie sie abgestritten hätte, daß anderer Leute Fehlschläge und Versagen in ihr stets Vergnügen auslösten. Aber es war da, ein undefinierbares Wohlbehagen, das allerdings bei Roberts plötzlichem, hastigem Erscheinen ebenso rasch verschwand, wie es sich eingestellt hatte, und ihrer üblichen schlechten Laune Platz machte. Er war immerhin noch so pünktlich, daß jede Bemerkung über eine Verspätung absurd geklungen hätte. Also begnügte sie sich damit, seinen Lippen die ledrige Wange hinzuhalten und zu sagen:

»Da bist du also.«

»Hast du schon deine Fahrkarte?« fragte Robert Hathall.

Sie hatte sie nicht. Sie wußte, daß er während der drei Jahre seiner zweiten Ehe immer knapp bei Kasse gewesen war, aber das war schließlich seine eigene Schuld. Wenn sie ihren Anteil selbst zahlte, würde ihn das bloß noch bestärken.

»Du solltest lieber gehen und sie besorgen«, sagte sie, »oder willst du, daß wir den Zug verpassen?« Und sie preßte ihre festverschlossene Handtasche noch enger an sich.

Er brauchte sehr lange. Sie stellte fest, daß der Zug nach Eastbourne, der in Toxborough, Myringham und Kingsmarkham hielt, um sechs Uhr zwölf abfahren sollte, und jetzt war es fünf nach. Wenn sie auch nicht bewußt daran dachte, wie wunderbar es doch wäre, den Zug zu versäumen, so gestand sie sich auch nicht bewußt ein, wie wunderbar es wäre, ihre Schwiegertochter in Tränen aufgelöst anzutreffen, das Haus schmutzig und natürlich keine Mahlzeit vorbereitet, so keimte wieder einmal jener angenehme Groll in ihr auf. Sie hatte sich mit tiefer Zufriedenheit auf dieses Wochenende gefreut, denn bestimmt würde alles danebengehen. Am liebsten wäre es ihr, wenn jetzt schon alles schiefginge. Ohne ihr Verschulden würden sie zu spät ankommen, und ihre Verspätung würde dann einen Streit zwischen Robert und Angela auslösen. Aber alles das schwelte verschwommen unter ihrer augenblicklichen Überzeugung, daß Robert wieder mal alles falsch machte.

Immerhin, sie erreichten noch den Zug. Er war voll, und sie mußten beide stehen. Mrs. Hathall beklagte sich nie. Sie würde lieber ohnmächtig werden, als ihr Alter und ihre Krampfadern anzuführen, um diesen oder jenen Mann zu bewegen, ihr seinen Sitz zu überlassen. Stoische Selbstbeherrschung war ihr eigen. Also pflanzte sie ihren dicken Körper, der – hochgeknöpft bis zum steifen, hellbraunen Kragen – einem Schrank ähnelte, so auf, daß der Reisende auf seinem Fensterplatz weder die Beine bewegen, noch seine Zeitung lesen konnte. Sie hatte Robert nur eine einzige Sache zu sagen, und die konnte warten, bis weniger Zuhörer anwesend waren, außerdem konnte sie sich kaum vorstellen, daß er ihr etwas zu sagen hätte. Hatten sie nicht immerhin während der letzten beiden Monate die Abende sämtlicher Werktage gemeinsam verbracht? Aber wie sie mit einigem Staunen festgestellt hatte, waren die Leute ja imstande, daherzuplappern, auch wenn sie nichts zu sagen hatten. Das traf leider auch auf ihren eigenen Sohn zu. Grimmig hörte sie zu, wie er sich über die schöne Umgebung erging, die bald an ihnen vorbeiziehen würde, über die Annehmlichkeiten von Bury Cottage und wie sehr Angela sich darauf freue, sie bei sich zu haben. Auf diese Bemerkung hin erlaubte sich Mrs. Hathall eine Art Schnauben, ein zweisilbiges Grunzen irgendwo aus den Tiefen ihrer Stimmbänder, das notfalls als Lachen interpretiert werden konnte. Ihre Lippen bewegten sich nicht. Sie dachte an jenes eine und einzige Mal, als sie ihrer Schwiegertochter begegnet war. In diesem Zimmer in Earls Court hatte Angela die Ungeheuerlichkeit begangen, Eileen als habgierige Hexe zu bezeichnen. Viel mußte geschehen, vielfache Wiedergutmachung mußte geleistet werden, ehe diese Taktlosigkeit vergessen werden konnte. Mrs. Hathall erinnerte sich noch gut daran, wie sie damals beschlossen hatte, Angela nie – niemals und unter keinen Umständen – wiederzusehen. Es bewies wirklich, wie nachsichtig sie war, daß sie jetzt nach Kingsmarkham fuhr.

In Myringham stolperte der Mann am Fenster mit taub gewordenen Beinen aus dem Zug, und Mrs. Hathall nahm seinen Platz ein. Robert, das bemerkte sie wohl, wurde allmählich nervös. Das war ja auch kein Wunder. Er wußte sehr wohl, daß Angela sich als Köchin und Hausfrau mit Eileen nicht messen konnte, und er fragte sich wohl, wie weit seine zweite Frau hinter den Maßstäben der ersten zurückbleiben würde. Seine nächsten Worte bestätigten denn auch ihre Vermutung, daß ihn das beunruhigte.

»Angela hat die ganze Woche mit dem Frühjahrsputz zugebracht, damit du es schön hast.«

Mrs. Hathall war schockiert, daß jemand so etwas laut äußerte, noch dazu in einem Abteil voller Leute. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, daß er erstens leiser sprechen sollte und zweitens, daß jede anständige Frau ihr Haus immer sauberhielte. Aber sie begnügte sich mit einem: »Meinetwegen hätte sie sich die Mühe nicht machen müssen.« Kurz und knapp fügte sie hinzu, daß es jetzt Zeit sei, ihren Koffer herunterzuholen.

»Es sind noch fünf Minuten«, wandte Robert ein.

Statt einer Antwort erhob sie sich schwerfällig und mühte sich selber mit dem Koffer ab. Robert und noch ein anderer Mann beeilten sich, ihr zu helfen. Beinahe wäre der Koffer einer jungen Frau mit einem Baby im Arm auf den Kopf gefallen, und als der Zug abbremste, um in Kingsmarkham zu halten, stolperten alle durcheinander, jeder klammerte sich an jeden, und im ganzen Wagen herrschte ein gelindes Chaos.

Draußen auf dem Bahnsteig sagte Mrs. Hathall: »Wenn du mir geholfen hättest, wäre das nicht passiert. Aber du warst ja schon immer eigensinnig.«

Sie verstand nicht, warum er sich nicht zur Wehr setzte und sich verteidigte. Anscheinend war er noch viel nervöser, als sie gedacht hatte. Um ihn noch mehr zu reizen, sagte sie: »Wir nehmen doch ein Taxi?«

»Angela holt uns mit dem Wagen ab.«

Dann blieb also nicht mehr viel Zeit für das, was sie ihm sagen wollte. Sie schob ihm den Koffer zu und hängte sich mit besitzergreifender Miene bei ihm ein. Nicht, daß sie seine Unterstützung und seinen Beistand nötig hätte, aber sie fand es äußerst wichtig, daß diese Schwiegertochter – wie ärgerlich und anrüchig, zwei Schwiegertöchter zu haben! – sie beide gleich beim ersten Anblick vertraut Arm in Arm sehen sollte.

»Eileen ist heute morgen bei mir vorbeigekommen«, begann sie, als sie ihre Fahrkarten abgaben.

Abwesend zuckte er die Schultern. »Ich wundere mich bloß, daß ihr beiden nicht schon zusammen wohnt.«

»Das würde dir so passen, was? Dann müßtest du ihr nicht mehr ein Dach über dem Kopf finanzieren.« Mrs. Hathall verstärkte den Klammergriff um den Arm, den er ihr entziehen wollte. »Sie sagt, ich soll dich herzlich grüßen, und warum du eigentlich nicht mal abends bei ihr reinschaust, wenn du in London bist.«

»Du machst Witze«, meinte Robert Hathall, aber er sagte es ausdruckslos und ohne Verbitterung. Er ließ seinen Blick über den Parkplatz schweifen.

Stur auf ihrem Thema beharrend, fing Mrs. Hathall wieder an: »Es ist eine gottlose Schande …« und blieb mitten im Satz stecken. Eine geradezu wundervolle Ahnung stieg in ihr auf. Sie kannte Roberts Wagen, hätte ihn überall erkannt, er besaß ihn dank all der Schwierigkeiten, die diese Frau über ihn gebracht hatte, lange genug. Auch sie ließ ihre scharfen Augen suchend über den Platz schweifen, und dann sagte sie in zufriedenem Ton: »Sieht nicht so aus, als hätte sie sich die Mühe gemacht, uns abzuholen.«

Robert schien aus der Fassung gebracht. »Der Zug war ein paar Minuten zu früh.«

»Er hatte drei Minuten Verspätung«, versetzte seine Mutter. Sie seufzte glücklich. Eileen wäre pünktlich gewesen, um sie abzuholen. Eileen hätte auf dem Bahnsteig gestanden, hätte ihre Schwiegermutter geküßt und fröhlich versichert, daß sie ein üppig gedeckter Tisch erwarte. Und ihre Enkeltochter auch … Mrs. Hathall sagte seufzend zu sich selbst, aber doch so laut, daß man es hören konnte: »Arme kleine Rosemary.«

Es war untypisch für Robert, der schließlich der Sohn seiner Mutter war, daß er derartige Sticheleien ohne Kommentar hinnahm, aber wieder ging er nicht darauf ein. »Macht nichts«, meinte er nur, »es ist ja nicht weit.«

»Ich kann laufen«, sagte Mrs. Hathall im stoischen Ton dessen, der sich darüber klar ist, daß noch schlimmere Prüfungen bevorstanden und daß diese erste und leichteste tapfer ertragen werden muß. »Ich bin ja ans Laufen gewöhnt.«

Der Weg führte sie an der Bahnhofsauffahrt und der Station Road vorbei, über die Kingsmarkhamer High Street und dann die Stowerton Road entlang. Es war ein schöner Septemberabend, die Luft schimmerte im Licht des Sonnenuntergangs, die Bäume hingen noch voller Blätter, in den Gärten leuchteten die letzten und schönsten Blumen des Sommers. Aber Mrs. Hathall bemerkte nichts von alledem. Ihre freudige Vermutung war zur Gewißheit geworden. Roberts Niedergeschlagenheit konnte nur eins bedeuten: Diese Person, seine Frau, diese Diebin, diese Zerstörerin einer glücklichen Ehe, war dabei, ihn im Stich zu lassen, und er wußte es.

Sie bogen in die Wool Lane ein, eine enge, von Bäumen beschattete Nebenstraße ohne Bürgersteig. »Das nenne ich ein schönes Haus«, sagte Mrs. Hathall.

Robert warf flüchtig einen Blick auf die alleinstehende Villa aus der Zeit zwischen den Kriegen. »Es ist das einzige Haus hier unten außer unserem. Eine Frau namens Lake wohnt da. Sie ist Witwe.«

»Schade, daß es nicht deins ist«, sagte seine Mutter mit bedeutungsschwerem Unterton. »Ist es noch weit?«

»Gleich hinter der nächsten Biegung. Ich verstehe gar nicht, was mit Angela los ist.« Er blickte sie nervös an. »Es tut mir sehr leid, Mutter. Wirklich, es tut mir leid.«

Sie war so verblüfft, daß er tatsächlich von der Gepflogenheit der Familie abwich und sich allen Ernstes für etwas entschuldigte, daß sie darauf gar nicht antworten konnte. Sie blieb stumm, bis das Haus in Sicht kam. Eine leichte Enttäuschung beeinträchtigte ihre innere Befriedigung, denn es war ein Haus, ein annehmbares, wenn auch altes Haus aus braunen Ziegeln mit einem soliden Schieferdach. »Das ist es?«

Er nickte und öffnete ihr die Gartenpforte. Mrs. Hathall bemerkte, daß in dem ungepflegten Garten die Blumenbeete voller Unkraut und das Gras kniehoch waren. Unter einem vernachlässigt aussehenden Baum lagen verrottete Pflaumen. Sie sagte nur: »Hmm.« Dies undefinierbare Geräusch war typisch für sie und bedeutete, daß sich die Situation genau so entwickelte, wie sie es erwartet hatte. Er steckte den Schlüssel in das Haustürschloß, und die Tür ging auf. »Komm rein, Mutter.«

Er war jetzt eindeutig aus der Fassung geraten. Daran bestand jetzt kein Zweifel mehr. Sie kannte seine Angewohnheit, die Lippen zusammenzupressen, während in der linken Wange ein kleiner Muskel arbeitete. Und in seiner Stimme schwang ein barscher, nervöser Ton mit, als er rief: »Angela, wir sind da!«

Mrs. Hathall folgte ihm ins Wohnzimmer. Sie traute kaum ihren Augen. Wo waren die schmutzigen Teetassen, die Gingläser mit den Fingerspuren, die herumliegenden Kleidungsstücke, wo waren die Krümel und der Staub? Sie pflanzte sich in ihrer ganzen Rechteckigkeit auf dem fleckenlosen Teppich auf und drehte sich langsam um sich selbst. Sie suchte die Decke nach Spinnweben, die Fenster nach Schmierflecken und die Aschenbecher nach vergessenen Zigarettenkippen ab. Ein merkwürdiges, unangenehmes Frösteln überfiel sie. Sie fühlte sich wie ein Champion, der siegessicher von seiner Überlegenheit überzeugt die erste Runde gegen einen Anfänger verlor.

Robert kam zurück und sagte: »Ich begreife nicht, wo Angela steckt. Sie ist nicht im Garten. Ich sehe mal eben in die Garage, ob der Wagen da ist. Gehst du schon rauf, Mutter? Dein Zimmer ist das große, ganz hinten.«

Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß der Eßzimmertisch nicht gedeckt war und daß es in der makellosen Küche, wo die Gummihandschuhe und Staubhandschuhe nach getaner Hausarbeit noch neben dem Spülbecken lagen, keinerlei Anzeichen für eine vorbereitete Mahlzeit gab, stieg Mrs. Hathall die Treppe hinauf. Sie fuhr mit einem Finger über die Bilderleiste auf dem Treppenabsatz. Kein Staubkorn, nichts – als wäre das Holz frisch gestrichen. Ihr Zimmer war ebenso makellos sauber wie der Rest des Hauses. In dem aufgeschlagenen Bett konnte sie die buntgestreifte Bettwäsche sehen, und eine mit Seidenpapier ausgelegte Schublade des Frisiertisches war herausgezogen worden. Sie bemerkte das alles, aber nie konnte Angelas vorzügliche Leistung ihren Haß mildern. Es war einfach nur schade, daß ihre Schwiegertochter sich mit diesen Waffen ausgerüstet hatte, schade, das war alles. Und kein Zweifel: All ihre anderen Fehler, etwa der, daß sie nicht da war, um ihre Schwiegermutter zu begrüßen, wogen diese geringe Tugend mehr als auf.

Mrs. Hathall ging ins Badezimmer. Blankgeputzte Kacheln, duftig saubere Handtücher, Gästeseife … Sie verzog grimmig den Mund. Das Geld konnte doch nicht so knapp sein, wie Robert ihr immer weisgemacht hatte. Immer wieder sagte sie sich, wie sehr sie diese Täuschung verabscheue, ohne sich einzugestehen, daß sie erneut um einen Triumph gebracht worden war, denn nun konnte sie den beiden nicht mehr ihre Armut vorhalten und ihnen die Gründe dafür ins Gesicht sagen. Sie wusch sich die Hände und trat wieder auf den Korridor hinaus. Die Tür zum Schlafzimmer der beiden war nur angelehnt. Mrs. Hathall zögerte. Aber die Versuchung, hineinzusehen und womöglich ein zerwühltes Bett, ein Durcheinander schäbiger Kosmetikartikel vorzufinden, war zu groß, um ihr zu widerstehen. Vorsichtig trat sie ein.

Das Bett war nicht zerwühlt, sondern ordentlich gemacht. Auf der Decke lag ein Mädchen mit dem Gesicht nach unten, anscheinend in tiefem Schlaf. Ihr dunkles, ziemlich ungepflegtes Haar bedeckte die Schultern, und der linke Arm war weit ausgestreckt. Mrs. Hathall sagte wieder »Hmm …«, und jene warme innige Befriedigung strömte ungetrübt in sie zurück. Hier lag Roberts Frau und schlief, war vielleicht sogar betrunken. Sie hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, ihre Leinenschuhe auszuziehen, ehe sie dort zusammensackte. Sie hatte die gleichen Sachen an wie an jenem Tag in Earls Court, wahrscheinlich war sie immer so angezogen. Sie trug abgenutzte Jeans und ein rotkariertes Hemd. Mrs. Hathall dachte an Eileens hübsche Kleider für den Nachmittag und an ihr kurzes, zu einer Dauerwelle frisiertes Haar, an Eileen, die höchstens am Tag schlief, wenn sie sich an der Schwelle des Todes befände. Und dann ging Mrs. Hathall hinüber zu dem Bett, blickte darauf nieder und runzelte die Stirn. »Hm …« sagte sie wieder, aber diesmal hatte sie ein warnendes »Hm …« geäußert, um ihre Gegenwart kundzutun und eine sofortige, beschämte Reaktion auszulösen.

Aber es passierte nichts. Der natürliche Zorn eines Menschen, der sich unerträglich beleidigt fühlt, ergriff Mrs. Hathall. Sie legte eine Hand auf die Schulter ihrer Schwiegertochter, um sie zu schütteln. Aber sie tat es nicht. Das Fleisch des Nackens war eiskalt, und als sie die Haarmähne anhob, sah sie eine bleiche Wange, aufgedunsen und bläulich.

Die meisten Frauen hätten geschrien. Mrs. Hathall gab keinen Laut von sich. Ihr Körper wurde noch ein wenig kompakter und schrankähnlicher, als sie sich aufrichtete und die dicke, große Hand auf ihr pumpendes Herz legte. Schon oft in ihrem langen Leben hatte sie den Tod gesehen – den ihrer Eltern, ihres Mannes, den von Onkel und Tanten, aber noch nie zuvor hatte sie gesehen, was das dunkelrote Mal auf diesem Nacken signalisierte – Tod durch Gewalt. Sie empfand weder Triumph noch Furcht, sie fühlte nichts als den Schock. Schwerfällig ging sie durch das Zimmer und begann die Stufen hinabzusteigen.

Robert wartete am Fuß der Treppe. In dem Maße, in dem sie zur Liebe fähig war, liebte sie ihn, und als sie jetzt auf ihn zuging, ihm die Hand auf den Arm legte und ihn mit verhaltener, zögernder Stimme ansprach, da war sie der Zärtlichkeit so nahe wie nur irgend möglich. Und sie benutzte die einzigen Worte, die sie wußte, um eine solche Hiobsbotschaft zu überbringen.

»Da ist ein Unfall geschehen. Geh am besten hoch und sieh es dir an. Es ist… es ist zu spät, um irgend etwas zu tun. Versuch es wie ein Mann zu nehmen.«

Er stand ganz still. Er sagte nichts.

»Sie ist gestorben, Robert. Deine Frau ist tot.« Sie wiederholte die Worte, denn er schien sie nicht zu begreifen. »Angela ist tot, mein Sohn.«

Sie empfand das vage, unangenehme Gefühl, daß sie ihn umarmen, ein paar zärtliche Worte sagen müßte, aber sie hatte seit langem vergessen, wie man das machte. Außerdem zitterte sie jetzt, und ihr Herz pumpte unregelmäßig. Er war weder blaß noch rot geworden. Beherrscht ging er an ihr vorbei und stieg die Treppe hinauf. Sie stand wartend da, zu nichts fähig, rieb die Hände gegeneinander und zog die Schultern nach vorn. Dann rief er mit rauher, aber ruhiger Stimme von oben:

»Ruf die Polizei an, Mutter, und sag ihnen, was passiert ist.«

Sie war froh, etwas tun zu können, und als sie das Telefon auf dem niedrigen Tisch unter einem Bücherregal gefunden hatte, setzte sie den Finger auf die Neun in der Wählscheibe.