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Eine sehr geringfügige Unterschlagung … Wexford war auf so etwas nicht gefaßt gewesen, und wahrscheinlich war das auch irrelevant. Aber die verschwommene Person der Angela Hathall nahm jetzt doch, wie eine vom Nebel verhüllte Gestalt, nach und nach deutlichere Konturen an. Eine paranoide Persönlichkeit mit einer Tendenz zur Hypochondrie; intelligent, aber ohne Ausdauer im Beruf; ohne stabiles psychisches Gleichgewicht; in Gelddingen unsolide und Nebenverdiensten durch betrügerische Mittel nicht abgeneigt. Wie war sie dann aber über eine Periode von nahezu drei Jahren für sich und ihren Mann mit fünfzehn Pfund pro Woche zurechtgekommen?
Er verließ die Bibliothek und nahm die U-Bahn zur Chancery Lane. Craig und Butler, Wirtschaftsprüfer, hatten ihre Büros im dritten Stock eines alten Hauses in der Nähe des Royal Free Hospital. Er merkte sich das Gebäude, nahm in einem Café einen Imbiß aus Salat und Orangensaft zu sich, und eine Minute vor drei wurde er in das Büro des Seniorpartners William Butler geführt. Der Raum war genauso altmodisch und fast ebenso still wie die Bibliothek, und Mr. Butler genauso verhutzelt wie Miss Marcovitch. Aber er trug ein joviales Lächeln zur Schau, die Atmosphäre war mehr geschäftsmäßig als gelehrt, und das einzige Porträt war das starkfarbige Ölgemälde eines älteren Herrn im Abendanzug.
»Mein früherer Partner, Mr. Craig«, erklärte William Butler.
»Dann war es sein Sohn, nehme ich an, der Robert und Angela Hathall miteinander bekannt machte?«
»Sein Neffe. Paul Craig, sein Sohn, ist mein Partner, seit sein Vater sich zur Ruhe gesetzt hat. Das war Jonathan Craig, der früher bei diesen Archäologen gearbeitet hat.«
»Ich glaube, die Begegnung der beiden hat hier auf einer Büroparty stattgefunden?«
Der alte Mann gab ein scharfes, keckerndes Lachen von sich. »Eine Party hier? Wo sollten wir wohl Essen und Trinken hinstellen, ganz zu schweigen vom Platz für die Gäste? Außerdem würden sie hier an ihre Einkommensteuer erinnert und bekämen schlechte Laune und Depressionen. Nein, die Party damals fand in Mr. Craigs Privathaus in Finchley statt, als er nach fünfundvierzig Jahren in den Ruhestand trat.«
»Haben Sie Angela Hathall dort kennengelernt?«
»Es war das einzige Mal, daß ich ihr begegnet bin. Nett aussehende Person, obwohl auch so’n bißchen mit diesem Shetlandpony-Look, den sie heute alle haben. Trug natürlich auch Hosen. Ich persönlich finde, eine Frau sollte einen Rock anziehen, wenn sie zu einer Party geht. Bob Hathall war sofort hingerissen von ihr, das konnte man deutlich sehen.«
»Das kann aber Mr. Jonathan Craig nicht gefallen haben.«
Wieder gab Mr. Butler sein keckerndes Lachen von sich. »Dem war es doch nicht ernst mit ihr. Ist übrigens inzwischen verheiratet. Seine Frau ist keine Augenweide, aber betucht ist sie, mein lieber Mann, und wie! Diese Angela wäre bei seiner Familie sowieso niemals angekommen, die sind nicht so leger wie ich. Meine Güte, selbst mir verschlug es ein bißchen die Sprache, als sie auf Paul zutrat und meinte, er hätte aber mal einen feinen Job, genau das Richtige, um zu wissen, wie man die Steuererklärung frisiert. Das zu einem Wirtschaftsprüfer zu sagen, ist wie einem Arzt zu erklären, er sei fein raus, weil er an Heroin herankäme.« Mr. Butler schmunzelte vergnügt in sich hinein. »Ich habe auch die erste Mrs. Hathall kennengelernt, wissen Sie«, fuhr er fort. »Das war eine temperamentvolle Person. Wir hatten hier eine Mordsszene, sie donnerte gegen die Türen und versuchte, zu Bob zu kommen, der hatte sich nämlich in seinem Büro eingeschlossen. Eine Stimme hat die, wenn sie loslegt! Ein andermal hat sie den ganzen Tag auf der Treppe gesessen und gewartet, daß er rauskäme. Er schloß sich wieder ein und blieb die ganze Nacht über hier. Weiß Gott, wann sie nach Hause gegangen ist. Am nächsten Tag tauchte sie prompt wieder auf und brüllte mich an, ich solle dafür sorgen, daß er zu ihr und seiner Tochter zurückkäme. Ein Mordsspektakel war das, das vergesse ich nie.«
»Und deswegen haben Sie ihn entlassen«, setzte Wexford hinzu.
»Das hab ich nicht! Behauptet er das?«
Wexford nickte.
»Verdammt noch mal! Bob Hathall war immer ein Lügner. Ich sag Ihnen, was passiert ist, und Sie können es glauben oder nicht, wie’s Ihnen beliebt. Ich holte ihn nach dem ganzen Theater hier rein zu mir und sagte ihm, er solle mal seine Privatangelegenheiten ein bißchen besser unter Kontrolle bringen. Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung, und schließlich kriegte er einen Wutanfall und schrie, er würde kündigen. Ich versuchte, ihn zu besänftigen. Er war als Laufbursche zu uns gekommen und hat seine ganze Ausbildung hier bei uns gemacht. Ich sagte ihm, wenn er sich scheiden ließe, dann werde er jeden Penny brauchen, und auch, daß er im nächsten Jahr eine Gehaltserhöhung bekommen würde. Aber er hörte nicht zu und sagte bloß immer wieder, alle seien gegen ihn und diese Angela. So ging er wirklich und kriegte irgend so einen lumpigen Teilzeitjob. Tja, geschah ihm recht.«
Wexford dachte an Angelas Unterschlagung und an ihre Bemerkungen gegenüber Paul Craig, und eingedenk des Sprichwortes ›Gleich und gleich gesellt sich gern‹ fragte er Mr. Butler, ob Robert Hathall je irgend etwas getan hätte, das auch nur entfernt nicht ganz einwandfrei gewesen wäre? Mr. Butler blickte schockiert drein.
»Ganz bestimmt nicht. Ich habe zwar gesagt, er blieb nicht immer ganz bei der Wahrheit, aber sonst war er ehrlich.«
»Hatte er eine Schwäche für Frauen?«
Wieder lachte William Butler keckernd und schüttelte heftig den Kopf. »Er war fünfzehn, als er hier anfing, und schon damals lief er mit seiner späteren ersten Frau herum. Die beiden waren weiß Gott wie viele Jahre verlobt. Ich sage Ihnen, Bob war so borniert, so durch und durch verklemmt, der wußte nicht mal, daß es auf Erden noch andere Frauen gab. Wir hatten hier eine sehr hübsche Schreibkraft, aber gemessen an der Notiz, die er von ihr nahm, hätte sie eine Schreibmaschine sein können. Nein, und das war auch der Grund, weshalb er so verrückt war nach dieser Angela. Völlig verdreht war er, wie ein dummer, romantischer Schuljunge. Eines Tages wachte er auf, und die Schuppen fielen ihm von den Augen. Ist ja oft so. Und diese Spätentwickler sind die schlimmsten.«
»Dann hat er sich vielleicht, nachdem er aufgewacht war, auch noch ein bißchen weiter umgesehen?«
»Vielleicht hat er, aber da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Sie meinen, er könnte diese Angela um die Ecke gebracht haben?«
»Darauf möchte ich mich lieber nicht festlegen, Mr. Butler«, sagte Wexford und verabschiedete sich.
Howard Fortune war ein großer, hagerer Mann, knochendürr trotz seines enormen Appetits. Er hatte das aschblonde Haar der Wexfords, eine Farbe wie verblichenes, braunes Papier, und ihre hellen, graublauen Augen, klein und scharf. Trotz ihres unterschiedlichen Körperbaus hatte er seinem Onkel schon immer ähnlich gesehen, und jetzt, da Wexford so viel Gewicht verloren hatte, war die Ähnlichkeit noch größer geworden. Wie sie sich so gegenübersaßen in Howards Arbeitszimmer, hätten sie Vater und Sohn sein können, zumal – abgesehen von der Ähnlichkeit – Wexford es jetzt fertigbrachte, mit seinem Neffen genauso familiär zu reden wie etwa mit Burden, und Howard seinerseits ihm jetzt ohne jene frühere Rücksichtnahme und taktvolle Vorsicht Rede und Antwort stand.
Ihre Frauen waren unterwegs. Nachdem sie den Tag mit Einkäufen verbracht hatten, waren sie jetzt ins Theater gegangen, und Onkel und Neffe hatten allein zu Abend gegessen. Und nun, während Howard seinen Cognac trank und er sich mit einem Glas Weißwein begnügte, verbreitete sich Wexford über die Theorie, die er am Abend zuvor zur Debatte gestellt hatte.
»Soweit ich es sehe«, sagte er, »besteht die einzige Möglichkeit, Hathalls Entsetzen zu erklären – und es war Entsetzen, Howard –, darin, daß er den Mord an Angela mit Hilfe einer Komplizin arrangiert hat.«
»Mit der er auch eine Liebesaffäre hatte?«
»Vermutlich. Das war wohl das Motiv.«
»Ein reichlich dünnes Motiv heutzutage, oder? Scheidung ist ziemlich einfach, und Kinder waren ja auch keine da.«
»Du übersiehst den Kern der Sache.« Wexford sagte es mit einer Schärfe, die früher unmöglich gewesen wäre. »Selbst bei diesem neuen Job hätte er sich zwei abgeschobene Ehefrauen nicht leisten können. Und er ist außerdem genau der Mensch, der einen Mord praktisch für gerechtfertigt hält, wenn dieser Mord ihm weitere Belastungen vom Hals schafft.«
»Dann wäre also seine Freundin nachmittags ins Haus gekommen …«
»Oder sie wurde von Angela abgeholt.«
»Das kann ich mir nicht denken, Reg.«
»Eine Nachbarin, eine Frau namens Lake, sagt, Angela habe ihr erzählt, sie wolle wegfahren.« Wexford nippte an seinem Glas, um die leichte Verwirrung zu kaschieren, die ihn allein schon bei der Erwähnung von Nancy Lakes Namen befiel. »Das darf man dabei nicht vergessen.«
»Na gut, vielleicht. Das Mädchen tötete also Angela, indem sie sie mit einer goldenen Halskette erdrosselte, die bisher nicht gefunden wurde. Dann säuberte sie das ganze Haus von ihren Fingerspuren, ließ aber einen Abdruck seitlich an der Badewanne zurück. Ist das deine Theorie?«
»Das ist meine Theorie. Dann fuhr sie Robert Hathalls Wagen nach London und ließ ihn in Wood Green stehen. Vielleicht fahre ich morgen mal dorthin, aber viel Hoffnung habe ich nicht. Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß sie so weit wie möglich von Wood Green entfernt wohnt.«
»Und dann willst du doch noch zu diesem Spielzeugfabrikanten in – wie heißt das doch gleich? – Toxborough? Ich verstehe gar nicht, weshalb du dir das bis zuletzt aufhebst. Er hat doch immerhin seit seiner Heirat bis zum letzten Juli dort gearbeitet.«
»Und genau das ist der Grund dafür«, sagte Wexford. »Es ist möglich, daß er diese Frau schon kannte, bevor er Angela begegnete, oder aber er hat sie kennengelernt, als seine Ehe etwa drei Jahre alt war. Es besteht doch kein Zweifel, daß er in Angela sehr verliebt war – jeder bezeugt das. Ist es also wahrscheinlich, daß er während des Anfangsstadiums seiner Ehe ein neues Verhältnis angefangen hat?«
»Nein, das sehe ich ein. Muß es denn jemand sein, den er bei der Arbeit kennengelernt hat? Warum nicht jemand aus seinem Bekanntenkreis oder auch die Frau eines Freundes?«
»Weil es so aussieht, als ob er überhaupt keine Freunde hatte, und das ist ja auch ganz erklärlich. Während seiner ersten Ehe hatten er und seine Frau – wie ich es mir vorstelle – Kontakt mit anderen Ehepaaren. Aber du weißt ja, wie es so geht, Howard. In diesen Fällen sind doch die Freunde eines Ehepaares die Nachbarn oder ihre Freundinnen mit ihren Männern. Ist nicht anzunehmen, daß nach der Scheidung all diese Leute zu Eileen Hathall hielten? Mit anderen Worten, sie blieben ihre Freunde und ließen ihn im Stich.«
»Diese unbekannte Frau könnte aber auch eine sein, die er auf der Straße aufgegabelt oder mit der er sich zufällig in einem Pub unterhalten hat. Hast du daran gedacht?«
»Natürlich. Wenn das der Fall ist, dann sind meine Chancen, sie zu finden, sehr gering.«
»Alsdann – morgen auf nach Wood Green! Ich selbst nehme mir morgen den Tag frei. Ich muß abends bei einem Essen in Brighton sprechen, und ich hatte mir gedacht, ich fahre ganz gemütlich dort runter, aber vielleicht komme ich erst mal mit dir in die Höhle des Löwen.«
Das Schrillen des Telefons unterbrach Wexfords Dank für dieses Angebot. Howard griff nach dem Hörer, und schon seine ersten Worte, sehr freundlich, aber ohne sonderliche Vertrautheit gesprochen, zeigten seinem Onkel, daß der Anrufer jemand war, den er zwar flüchtig, aber nicht sehr gut kannte. Dann reichte er Wexford den Hörer, und er hörte Burdens Stimme.
»Die gute Nachricht zuerst«, sagte der Inspector, »wenn man es denn eine gute Nachricht nennen kann.« Und er berichtete, es habe sich doch noch jemand gemeldet und gesagt, er habe gesehen, wie Hathalls Wagen am vergangenen Freitag nachmittag um fünf nach drei in die Einfahrt von Bury Cottage eingebogen sei. Aber er hatte nur die Fahrerin gesehen, die er als eine dunkelhaarige junge Frau beschrieb, und sie habe so was wie eine rotkarierte Bluse oder ein rotkariertes Hemd getragen. Sie habe noch jemanden bei sich gehabt, da sei er sicher, und mit ziemlicher Sicherheit sei das eine Frau gewesen, aber genauere Details konnte er nicht liefern. Er sei auf dem Fahrrad die Wool Lane in Richtung Wool Farm entlanggefahren, habe sich deshalb auf der linken Straßenseite befunden, der Seite also, von der aus er den Fahrer im Blickfeld hatte, nicht unbedingt aber auch den Beifahrer. Der Wagen habe gestoppt, denn er hätte Vorfahrt gehabt, und weil der rechte Blinker geleuchtet habe, sei er sicher gewesen, daß er in die Hauseinfahrt einbiegen wollte.
»Warum hat sich dieser Radfahrer denn bloß nicht früher gemeldet?«
»Er war hier unten auf Urlaub, er und sein Fahrrad«, sagte Burden, »und er sagt, er habe bis heute keine Zeitung zu Gesicht gekriegt.«
»Manche Leute«, brummte Wexford, »leben wie die Schmetterlingslarven. Wenn das die gute Nachricht war, welches ist dann die schlechte?«
»Möglich, daß sie gar nicht schlecht ist, ich weiß es nicht. Aber der Chief Constable ist hier gewesen und hat nach Ihnen gefragt. Er möchte Sie morgen nachmittag Punkt drei sprechen.«
»Das kommt uns ziemlich in die Quere mit unserem Besuch in Wood Green«, sagte Wexford nachdenklich zu seinem Neffen, und er erzählte ihm, was Burden gesagt hatte. »Ich muß also zurück, und ich kann nur versuchen, entweder Croydon oder Toxborough auf dem Weg zu erledigen. Für beides werde ich keine Zeit haben.«
»Hör mal, Reg, warum soll ich dich nicht nach Croydon fahren und dann via Toxborough nach Kingsmarkham? Dann hätte ich immer noch drei oder vier Stunden, ehe ich in Brighton sein muß.«
»Das wäre aber ganz schön lästig für dich, was?«
»Im Gegenteil. Ich muß dir ganz ehrlich sagen, ich bin richtig scharf darauf, diese Xanthippe zu Gesicht zu kriegen, diese erste Mrs. Hathall. Du kommst dann mit mir zurück, und Dora kann gleich hierbleiben. Ich weiß, Denise will sie unbedingt am Freitag dabeihaben, wegen irgendeiner Party, auf die sie geht.«
Und Dora, die zehn Minuten später hereinkam, ließ sich nicht lange bitten, bis Sonntag in London zu bleiben.
»Aber du – kommst du allein zurecht?«
»Ich komm schon zurecht. Ich hoffe, du auch. Ich persönlich fürchte bloß, du wirst hier zugrunde gehen in der Kälte dieser entsetzlichen Klimaanlage.«
»Ich habe mein Fettgewebe, Liebling, das hält mich warm.«
»Im Gegensatz zu dir, Onkel Reg«, sagte Denise, die beim Eintreten den letzen Satz mitgehört hatte. »Deins ist ganz wunderbar geschmolzen. Ich nehme doch an, das kommt wirklich bloß von der Diät? Ich habe nämlich neulich in einem Buch gelesen, daß Männer, die andauernd Liebesaffären haben, ihre Figur halten, weil ein Mann jedesmal unbewußt die Bauchmuskeln einzieht, wenn er einer neuen Frau den Hof macht.«
»Jetzt wissen wir also, woran wir sind«, meinte Dora.
Aber Wexford, der in diesem Moment die seinen bewußt eingezogen hatte, reagierte nicht mit Erröten, wie er es noch am Tag zuvor getan hätte. Er überlegte angestrengt, was von dieser Vorladung beim Chief Constable zu halten war, und seine Vermutung war nicht angenehm.