10
Das Haus, das Robert Hathall zur Zeit seiner ersten Ehe gekauft hatte, war eine jener Doppelhaushälften, die während der dreißiger Jahre zu Tausenden, vielmehr zu Zehntausenden aus dem Boden geschossen waren. Es hatte ein Erkerfenster am vorderen Wohnzimmer, einen Giebel über dem vorderen Schlafzimmer, und über der Haustür saß ein dekoratives, hölzernes Vordach, wie man es manchmal als Wetterschutz über den Perrons ländlicher Bahnhöfe sieht. Es standen an die vierhundert völlig gleicher Häuser in der Straße, einer breiten Verkehrsader, auf der der Verkehr nach Süden strömte.
»Dieses Haus«, schätzte Howard, »ist für ungefähr sechshundert Pfund erbaut worden. Hathall wird an die viertausend dafür gezahlt haben, denke ich. Wann hat er geheiratet?«
»Vor siebzehn Jahren.«
»Dann kommt es hin mit viertausend. Und jetzt würde es achtzehn bringen.«
»Bloß, er kann es nicht verkaufen«, meinte Wexford. »Ich bin überzeugt, er könnte achtzehntausend Pfund gut gebrauchen.« Sie stiegen aus dem Wagen und gingen zur Haustür.
Äußerlich hatte sie keinerlei Anzeichen einer Xanthippe. Sie war um die Vierzig, klein und von lebhaften Farben, denn ihre untersetzte, pummelige Figur war in ein enges, grünes Kleid gezwängt. Sie war eine der Frauen, die sich aus Rosen in Kohl verwandeln. Versteckte Spuren der Rose geisterten noch in den hübschen, verfetteten Zügen, auf der noch immer schönen Haut und auf dem rötlichen Haar, das einmal blond gewesen war. Sie führte sie in das Zimmer mit dem Erkerfenster. Der Einrichtung hier fehlte der Charme des Mobiliars von Bury Cottage, aber es war ebenso peinlich sauber. Es lag etwas Bedrückendes in dieser Untadeligkeit, in dem Fehlen jeglicher auch nur andeutungsweise unkonventionellen Zutat. Wexford hielt vergebens Ausschau nach irgendeinem Gegenstand, einem handgestickten Kissen vielleicht, einer Originalzeichnung oder einer Grünpflanze, in dem sich die Persönlichkeit der Frau und des Mädchens ausdrückte, die hier wohnten. Aber es gab rein gar nichts, kein Buch, nicht einmal eine Illustrierte, keinerlei Anzeichen eines persönlichen Hobbys. Es sah aus wie die Schaufensterausstellung eines Möbelhauses, bevor der Dekorateur jenen Touch hinzufügt, der dem Ganzen eine wohnliche Atmosphäre verleiht. Außer einem gerahmten Foto war das einzige Bild jene Reproduktion einer spanischen Zigeunerin mit schwarzem Hut auf den Locken und einer Rose zwischen den Zähnen, die Wexford schon hundertmal an der Wand eines Pubs gesehen hatte. Und selbst noch dieses stereotype Bild hatte mehr Leben in sich als der ganze Rest des Zimmers, und der Mund der Zigeunerin schien ein wenig abschätzig verzogen, während sie auf die sterile Umgebung herabblickte, in die das Schicksal sie verbannt hatte.
Obwohl es schon fortgeschrittener Vormittag und Eileen Hathall auf ihr Kommen vorbereitet war, bot sie ihnen nichts zu trinken an. Entweder hatte die Art ihrer Schwiegermutter auf sie abgefärbt, oder aber ihre von Natur aus fehlende Gastlichkeit war just eine der Eigenschaften, die sie der alten Frau so lieb gemacht hatten. Aber daß Mrs. Hathall senior sich in anderer Hinsicht in ihrer Schwiegertochter geirrt hatte, sollte sich bald zeigen. Weit entfernt nämlich, sich ›für sich zu halten‹, war Eileen durchaus bereit, sich in aller Bitterkeit über ihr Privatleben zu verbreiten.
Anfangs war sie noch reserviert. Wexford fragte sie als erstes, wie sie den vergangenen Freitag verbracht hätte, und sie antwortete in ruhigem, vernünftigem Tonfall, sie sei bei ihrem Vater in Balham gewesen und bis zum Abend dort geblieben, denn ihre Tochter hätte an einem von ihrer Schule finanzierten Tagesausflug nach Frankreich teilgenommen, von dem sie erst so gegen Mitternacht zurückgekommen sei. Sie nannte Wexford die Adresse ihres verwitweten Vaters, und Howard, der London gut kannte, meinte, das sei ja nur eine Straße von der Wohnung der alten Mrs. Hathall entfernt. Und da ging es los: Eileens Gesicht rötete sich, und in ihren Augen glomm der Haß auf, der jetzt vielleicht zum Hauptantrieb ihres Lebens geworden war.
»Wir sind doch zusammen aufgewachsen, Bob und ich. Wir gingen in dieselbe Schule, und es gab keinen Tag, an dem wir uns nicht gesehen haben. Und nachdem wir geheiratet hatten, waren wir nie auch nur eine einzige Nacht getrennt, bis dieses Weibsbild kam und ihn mir gestohlen hat.«
Wexford, der der Meinung war, daß es für einen Außenseiter unmöglich sei, in eine gute und glückliche Ehe einzubrechen, gab keinen Kommentar. Er hatte sich schon oft genug über eine Geisteshaltung gewundert, die Menschen als Gegenstände betrachtete und Ehepartner als Objekte, die gestohlen werden konnten wie Fernseher oder Perlenketten.
»Wann haben Sie Ihren früheren Mann das letzte Mal gesehen?«
»Ich habe ihn seit dreieinhalb Jahren nicht mehr gesehen.«
»Aber ich nehme doch an, obwohl Sie das Sorgerecht haben, besucht er sie regelmäßig?«
Ihr Gesicht war bitter geworden, ein Wurm nagte an der verblühten Rose. »Er hatte das Recht, sie jeden zweiten Sonntag zu sehen. Ich schickte sie dann immer zu seiner Mutter, und er holte sie dort ab und verbrachte den Tag mit ihr.«
»Aber Sie selbst sahen ihn bei diesen Gelegenheiten nicht?«
Sie blickte zu Boden, vielleicht, um ihre Kränkung zu verbergen. »Er hat gesagt, er würde nicht kommen, wenn ich dort wäre.«
»Sie sagten, ›ich schickte sie immer‹, Mrs. Hathall. Heißt das, diese Begegnungen zwischen Vater und Tochter haben aufgehört?«
»Na ja, sie ist schließlich fast erwachsen, nicht wahr? Sie ist alt genug, eine eigene Meinung zu haben. Ich und Bobs Mutter, wir sind immer gut miteinander ausgekommen, sie ist immer wie eine zweite Mutter für mich gewesen. Rosemary merkte ja, wie wir darüber dachten – ich meine, sie war alt genug, um zu verstehen, was mir ihr Vater angetan hat, und es ist doch nur natürlich, daß sie wütend auf ihn war.« Das zänkische Weib kam zum Vorschein, und mit ihm jene Stimme, von der Mr. Butler gesagt hatte, er werde sie immer im Gedächtnis behalten. »Jawohl, sie stellte sich gegen ihn. Sie fand gemein, was er getan hatte!«
»Sie traf sich also nicht mehr mit ihm?«
»Sie wollte ihn nicht mehr sehen. Sie sagte, sie hätte an ihren Sonntagen etwas Besseres zu tun, und ihre Omi und ich, wir fanden, da hätte sie ganz recht. Bloß einmal war sie da draußen in diesem Haus, und als sie wiederkam, war sie in einem entsetzlichen Zustand – Tränen und Schluchzen und was sonst noch alles. Und das wundert mich auch nicht. Können Sie sich einen Vater vorstellen, der allen Ernstes seine kleine Tochter zusehen läßt, wie er eine andere Frau küßt? Das ist tatsächlich passiert. Als es Zeit wurde, Rosemary nach Hause zu bringen, da sah sie, wie er die Arme um diese Frau legte und sie küßte. Und das war nicht etwa so ein gewöhnlicher Kuß. Nein, so, wie man es im Fernsehen sieht, hat Rosemary gesagt. Aber ich will nicht ins Detail gehen, obwohl ich außer mir war, das kann ich Ihnen sagen. Das Ende vom Lied war, daß Rosemary ihren Vater nicht mehr ausstehen konnte, und ich nahm ihr das nicht übel. Ich hoffe bloß, sie hat keinen seelischen Knacks gekriegt, so wie es diese Leute, diese Psychologen, immer behaupten.«
Ihre Haut hatte sich dunkelrot verfärbt, und ihre Augen flammten. Und jetzt, wie sie so mit wogendem Busen den Kopf zurückwarf, hatte sie etwas mit der Zigeunerin an der Wand gemein.
»Ihm gefiel das natürlich nicht. Er bettelte, sie solle sich doch mit ihm treffen, schrieb ihr Briefe und Gott weiß was alles. Schickte ihr Geschenke und wollte mit ihr in den Urlaub fahren. Ausgerechnet er, wo er doch immer behauptet hat, er hätte keinen Pfennig übrig. Mit Händen und Füßen hat er sich dagegen gewehrt, daß ich dieses Haus kriegte und ein bißchen von seinem Geld zum Leben. Oh, der hat genug Geld, wenn er welches ausgeben will, für alle anderen natürlich, bloß nicht für mich.«
Howard hatte das gerahmte Foto betrachtet, und nun fragte er, ob es Rosemary darstellte.
»Ja, das ist meine Rosemary.« Eileen war noch ganz außer Atem von ihrer Schmährede und japste nach Luft. »Das ist vor sechs Monaten aufgenommen worden.«
Wexford und Howard betrachteten das Porträt eines ziemlich nichtssagenden Mädchens mit groben Gesichtszügen, das ein kleines goldenes Kreuz um den Hals trug, dem das glatte, dunkle Haar bis auf die Schultern fiel und das eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit seiner Großmutter väterlicherseits besaß. Wexford, der es nicht schaffte, rundheraus zu lügen und zu sagen, das Mädchen sei hübsch, fragte, was sie denn wohl machen werde, wenn sie die Schule hinter sich hätte? Das war ein geschickter Schachzug, denn es hatte eine beruhigende Wirkung auf Eileen, deren Zorn, wenn auch nur vorübergehend, vom Stolz abgelöst wurde.
»Die geht aufs College. All ihre Lehrer sagen, sie hat das Zeug dazu, und ich will ihr da nicht im Weg stehen. Sie muß ja auch nicht mit dem Lernen aufhören, um Geld zu verdienen. Bob hat jetzt ja ‘ne Menge übrig. Ich hab ihr schon gesagt, ich habe nichts dagegen, wenn sie mit ihrer Ausbildung weitermacht, bis sie fünfundzwanzig ist. Ich krieg Bobs Mutter auch soweit, daß sie ihm sagt, er soll Rosemary zum achtzehnten Geburtstag ein Auto schenken. Schließlich ist das heutzutage ja so, als wenn man einundzwanzig wird, oder? Mein Bruder hat ihr schon das Fahren beigebracht, und sowie sie siebzehn ist, macht sie ihre Fahrprüfung. Es ist seine Pflicht, ihr einen Wagen zu schenken. Wenn er schon mein Leben ruiniert hat, so ist das noch lange kein Grund, auch ihrs zu ruinieren, oder?«
Wexford hielt ihr die Hand hin, als sie sich verabschiedeten. Sie gab ihm ihre sehr zögernd, aber dieses Zögern war vielleicht nur ein wesentlicher Bestandteil eben jener Unbeholfenheit, die der gesamten Sippe der Hathalls anzuhaften schien. Er hielt ihre Hand gerade lange genug, um festzustellen, daß auf der relevanten Fingerkuppe keine Narbe war.
»Seien wir dankbar für unsere Frauen«, meinte Howard inbrünstig, als sie wieder im Wagen saßen und südwärts fuhren. »Jedenfalls hat er Angela nicht umgebracht, um zu der zurückzukehren.«
»Ist dir aufgefallen, daß sie Angelas Tod mit keinem Wort erwähnt hat? Nicht mal, um zu sagen, es täte ihr nicht leid, daß sie tot ist? Mir ist wirklich noch nie eine Familie begegnet, die derartig von Haß zerfressen ist.« Wexford mußte plötzlich an seine eigenen zwei Töchter denken, die ihn liebten und für deren Ausbildung er gern und bereitwillig Geld ausgegeben hatte, weil sie ihn liebten und weil er sie liebte. »Es muß verdammt scheußlich sein, jemanden unterhalten zu müssen, den man haßt, und Geschenke für jemanden kaufen zu müssen, dem beigebracht worden ist, einen zu hassen«, sagte er.
»Allerdings. Und woher stammt das Geld für diese Geschenke und für die angebotene Urlaubsreise, Reg? Doch nicht von den fünfzehn Pfund wöchentlich.«
Gegen Viertel vor zwölf waren sie in Toxborough. Wexford war für halb eins in Kidds Fabrik verabredet, also nahmen sie in einem kleinen Restaurant am Stadtrand ein schnelles Mittagessen zu sich, ehe sie sich auf die Suche nach dem Industrieviertel machten. Die Fabrik, ein großer, weißer Betonklotz, war die Quelle jenes Kinderspielzeuges, das er oft in den Werbespots des Fernsehens gesehen hatte und das unter dem Slogan ›Kidds Kits for Kids‹ angepriesen wurde. Der Manager, ein Mr. Aveney, berichtete ihm, sie hätten dreihundert Arbeiter auf der Gehaltsliste, die meisten davon Frauen in Teilzeitarbeit. Das Betriebsleitungsteam sei klein, bestehe nur aus ihm selbst, dem Personalchef, dem Teilzeit-Buchhalter, Hathalls Nachfolger, seiner eigenen Sekretärin, zwei Schreibkräften und einem Mädchen in der Telefonzentrale.
»Sie wollen wissen, was für weibliche Büroangestellte wir hier hatten, während Mr. Hathall bei uns war? So habe ich Sie am Telefon jedenfalls verstanden, und ich habe mein Bestes getan, Ihnen eine Liste mit Namen und Adressen aufzustellen. Aber dieses ewige Kommen und Gehen bei denen ist schon beinahe lächerlich, Chief Inspector. Die Mädchen sind heutzutage geradezu versessen darauf, alle paar Monate ihre Stellung zu wechseln. Von den Büroangestellten, die während Mr. Hathalls Zeit hier waren, ist jetzt niemand mehr da, und dabei ist er doch erst seit zehn Wochen weg. Jedenfalls, was die Mädchen betrifft. Der Personalchef ist ja schon seit fünf Jahren bei uns, aber sein Büro ist unten im Werk, und ich glaube, die beiden sind sich nie begegnet.«
»Können Sie sich erinnern, ob er mit irgendeinem der Mädchen besonders befreundet war?«
»Ich kann mich sehr wohl erinnern, daß er das nicht war«, sagte Mr. Aveney. »Er war bloß verrückt nach seiner eigenen Frau, der, die jetzt ums Leben gekommen ist. Ich habe noch nie einen Mann erlebt, der so ein Affentheater um eine Frau machte wie er. Für ihn war sie Marilyn Monroe, Kaiserin von Persien und die Jungfrau Maria in einer Person.«
Aber Wexford war es leid, von Robert Hathalls Gattenliebe zu hören. Er überflog die Liste. Sie war erschreckend lang, Namen über Namen, alle von der Art, wie sie sie heute anscheinend samt und sonders hatten, Junes und Janes und Susans und Lindas und Julies. Alle hatten sie in oder um Toxborough herum gewohnt, und nicht eine von ihnen war länger als ein halbes Jahr bei Kidds geblieben. Die dumpfe Vorahnung wochenlanger Kleinarbeit befiel ihn. Entsetzlicher Gedanke, daß ein halbes Dutzend Männer die umliegenden Grafschaften nach dieser oder jener Jane oder Julie oder Susan durchfilzen müßte … Er steckte die Liste in seine Aktentasche.
»Ihr Freund hat gesagt, er wolle sich gern einmal das Werk ansehen. Wenn Sie nichts dagegen haben, gehen wir doch hinunter und suchen ihn.«
Sie fanden Howard in der Obhut einer Julie, die ihn zwischen Werkbänken hindurchführte, an denen Frauen in Overalls und mit Tüchern um den Kopf die Gußformen von Plastikpuppen ablösten. Die Fabrik war luftig und angenehm, abgesehen von dem Geruch nach Zellulose, und aus verschiedenen Lautsprechern tönte die verführerische Stimme von Engelbert Humperdinck, der seine Zuhörerinnen beschwor, ihn freizugeben und aufs neue lieben zu lassen.
»Ziemlich überflüssige Aktion, das«, meinte Wexford, als sie Mr. Aveney auf Wiedersehen gesagt hatten. »Das hatte ich mir gleich gedacht. Immerhin, du kommst jedenfalls zeitig zu deiner Dinnerverabredung. Es ist bloß ungefähr eine halbe Stunde von hier bis Kingsmarkham. Und ich bin zeitig zur Stelle, um mir glühende Kohlen aufs Haupt laden zu lassen. Soll ich dich mal über Schleichwege hintenrum lotsen? Dann umgehen wir den Verkehr, und ich kann dir ein oder zwei interessante Punkte zeigen.«
Howard war einverstanden, und sein Onkel dirigierte ihn zur Myringham Road. Sie fuhren durch das Zentrum der Stadt und vorbei an jenem Einkaufszentrum, dessen Häßlichkeit Mark Somerset so beleidigte und wo er die Hathalls bei ihrem Einkaufsbummel getroffen hatte.
»Orientiere dich jetzt mal lieber an den Schildern nach Pomfret als an denen nach Kingsmarkham, ich lotse dich dann durch die Wool Lane nach Kingsmarkham hinein.«
Gehorsam folgte Howard den Hinweisschildern, und bereits nach zehn Minuten fuhren sie über schmale Landstraßen. Hier war noch unverschandelte Landschaft, das liebliche Sussex mit seinen welligen, von Baumgruppen gekrönten Hügeln, mit seinen ausgedehnten Nadelwäldern und den kleinen Bauerngehöften unter braunen Dächern, die sich in waldige Mulden schmiegten. Die Ernte war eingebracht, und wo der Weizen gemäht war, leuchteten die Felder blaßblond, schimmerten in der Sonne wie silbriges Blattgold.
»Wenn ich hier draußen bin«, meinte Howard, »dann empfinde ich immer, wie recht Orwell hat, wenn er sagt, jeder Mensch wisse im Grunde seines Herzens, daß es das Zauberhafteste auf der Welt ist, einen schönen Tag auf dem Lande zu verbringen. Wenn ich dagegen in London bin, dann gebe ich wieder Charles Lamb recht.«
»Du meinst, daß es erfreulicher sei, eine Menschenmenge vor dem Theater zu sehen als all die Herden blöder Schafe auf den Epson Downs?«
Howard lachte und nickte. »Ich nehme an, in diese Abzweigung da mit dem Hinweisschild Sewingbury soll ich nicht einbiegen?«
»Wir nehmen nach Kingsmarkham eine Abzweigung nach rechts, die nach einem guten Kilometer kommt. Das ist eine kleine Seitenstraße, die nach einer Weile in die Wool Lane mündet. Ich glaube, Angela muß letzten Freitag mit ihrem Passagier im Wagen dort entlang gefahren sein. Aber woher kam sie?«
Howard nahm die Abzweigung. Sie fuhren an der Wool Farm vorüber und sahen das Schild Wool Lane an der Stelle, wo sich die Straße zu einem schmalen Tunnel verengte. Wären sie einem anderen Wagen begegnet, so hätte dessen Fahrer oder Howard seitlich auf die ansteigende Böschung ausweichen müssen, um den anderen vorbeifahren zu lassen, aber sie begegneten keinem anderen Wagen. Die Autofahrer mieden den schmalen, gefährlichen Weg, und Fremde hielten ihn meistens gar nicht für eine Durchfahrt.
»Bury Cottage«, erklärte Wexford.
Howard fuhr ein wenig langsamer. Gerade in diesem Augenblick kam Robert Hathall, eine Gartenschere in der Hand, seitlich um das Haus herum. Er blickte nicht auf, sondern begann die Heidekraut-Astern zu beschneiden. Wexford fragte sich, ob seine nörgelnde Mutter ihn wohl zu dieser ungewohnten Arbeit getrieben hatte.
»Das ist er«, sagte er. »Hast du ihn gesehen?«
»Gut genug, um ihn wiederzuerkennen«, meinte Howard, »obwohl das wohl nie notwendig sein wird.«
Sie trennten sich am Polizeipräsidium. Der Rover des Chief Constable stand bereits auf dem Vorplatz. Er war zu ihrer Unterredung zeitig gekommen, aber Wexford ebenfalls. So brauchte er wenigstens nicht atemlos und zerknirscht hinaufzuhasten, er konnte sich Zeit lassen und geradezu gemächlich dorthin spazieren, wo der ausgerollte Teppich und die glühenden Kohlen seiner harrten.
»Ich kann mir schon denken, worum es geht, Sir. Hathall hat sich beschwert.«
»Wenn Sie es sich schon denken können«, sagte Charles Griswold, »um so schlimmer.« Er runzelte die Stirn und reckte sich zu seiner vollen Größe auf, die Wexfords eigene eins fünfundneunzig noch um einiges überstieg. Der Chief Constable hatte verblüffende Ähnlichkeit mit dem verstorbenen General de Gaulle – mit dem er ja auch die Initialen gemein hatte –, und er mußte sich dessen bewußt sein. Für die körperliche Ähnlichkeit mit einem berühmten Mann kann eine Laune der Natur verantwortlich sein, nur das Bewußtsein solcher Ähnlichkeit jedoch und ihre häufige Erwähnung durch Freunde und Feinde kann zur Angleichung der Persönlichkeit an die des anderen führen. Griswold jedenfalls hatte die Gewohnheit, von Mid-Sussex, seinem Gebiet, in fast dem gleichen Ton zu sprechen, wie der tote Staatsmann von ›La France‹ gesprochen hatte. »Er hat mir einen sehr scharf formulierten Beschwerdebrief geschrieben. Er schreibt, Sie hätten versucht, ihm Fallen zu stellen, unter Anwendung höchst unorthodoxer Methoden. Sie hätten ihm irgendwas über einen Fingerabdruck an den Kopf geworfen und waren dann aus dem Haus gegangen, ohne seine Antwort abzuwarten. Haben Sie irgendwelche Gründe zu der Annahme, daß er seine Frau umgebracht hat?«
»Nicht mit den eigenen Händen, Sir. Er war zu der Zeit in London in seinem Büro.«
»Und worauf, verdammt noch mal, wollen Sie dann hinaus? Ich bin stolz auf Mid-Sussex. Ich habe Mid-Sussex meine Lebensarbeit gewidmet. Ich war immer stolz auf die Rechtschaffenheit meiner Beamten in Mid-Sussex, überzeugt, daß ihr Verhalten nicht nur über jeden Tadel erhaben wäre, sondern auch deutlich sichtbar über jeden Tadel erhaben.« Griswold seufzte schwer. Als nächstes, dachte Wexford, würde er sagen: ›L’état, c’est moi.‹ »Warum belästigen Sie diesen Mann? Er selbst spricht sogar von Verfolgung.«
»Verfolgung nennt er es immer«, wandte Wexford ein.
»Was soll das heißen?«
»Daß er paranoid ist, Sir.«
»Kommen Sie mir nicht mit diesem Klapsdoktorjargon, Reg. Haben Sie ein einziges konkretes Beweismittel gegen diesen Burschen in der Hand?«
»Nein. Bloß mein felsenfestes, persönliches Gefühl, daß er seine Frau umgebracht hat.«
»Gefühl? Gefühl? Von Gefühlen ist heutzutage wirklich mehr als zuviel die Rede, und Sie in Ihrem Alter sollten es verdammt noch mal besser wissen. Was glauben Sie denn? Daß er einen Komplizen hatte? Und haben Sie vielleicht auch ein Gefühl, wer dieser Komplize sein könnte? Haben Sie über den Beweismaterial?«
Was konnte er anderes sagen als: »Nein, Sir, das habe ich nicht.« Sehr viel bestimmter fügte er hinzu: »Kann ich den Brief mal sehen?«
»Nein, das können Sie nicht«, fauchte Griswold. »Ich habe Ihnen ja gesagt, was drinsteht. Seien Sie froh, daß ich Ihnen seine wenig schmeichelhaften Bemerkungen über Ihr Auftreten und Ihre Taktik vorenthalte. Er schreibt übrigens, Sie hätten ihm ein Buch gestohlen.«
»Um Himmels willen … das glauben Sie doch nicht?«
»Also – nein, Reg, das glaube ich nicht. Aber schicken Sie es ihm zurück, und zwar schnell. Und lassen Sie die Finger von ihm, ist das klar?«
»Die Finger von ihm lassen?« fragte Wexford entgeistert. »Ich muß mit ihm sprechen. Es gibt sonst keine Ermittlungsspur, die man verfolgen könnte.«
»Ich sagte Finger weg! Das ist ein Befehl. Ich will nichts mehr davon hören. Ich opfere doch nicht den guten Ruf von Mid-Sussex Ihren Gefühlen.«