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»Mr. Hathall«, sagte Wexford, »Sie haben zweifellos Ihre eigenen Vorstellungen, wie diese Untersuchung durchgeführt werden sollte. Sie halten meine Methoden vielleicht für unorthodox, aber es sind nun mal meine Methoden, und ich kann Ihnen versichern, sie führen zu Ergebnissen. Ich kann mich bei der Aufklärung dieses Falles nicht allein auf Indizienbeweise beschränken. Es ist für mich unerläßlich, so viel wie möglich über alle betroffenen Personen zu erfahren. Also, wenn Sie meine Fragen einfach und zutreffend beantworten würden, kämen wir sehr viel schneller voran. Ich versichere Ihnen, ich stelle sie in der reinen und einzigen Absicht, herauszufinden, wer Ihre Frau getötet hat. Wenn Sie sich dadurch gekränkt fühlen, geraten wir nur in Verzug. Wenn Sie darauf bestehen, daß gewisse Dinge ausschließlich Ihr Privatleben betreffen, und sich weigern, sie offenzulegen, dann kann dadurch sehr viel kostbare Zeit verlorengehen. Können Sie das bitte verstehen und sich entsprechend kooperativ verhalten?«

Diese kleine Rede war nötig geworden durch Hathalls Reaktion auf die erste Frage, die Wexford am Sonntag morgen um neun bei der Vernehmung an ihn gestellt hatte. Er hatte wissen wollen, ob Angela die Gewohnheit hatte, Fremde im Wagen mitzunehmen, aber Hathall, der nach seinem durch Medikamente bewirkten Nachtschlaf eigentlich ganz ausgeruht schien, hatte einen Wutanfall bekommen.

»Was für ein Recht haben Sie, die Moral meiner Frau in Zweifel zu ziehen?«

Ruhig hatte Wexford geantwortet: »Die überwiegende Mehrheit der Leute, die Anhalter mitnehmen, wollen einfach hilfsbereit sein«, und dann, als Hathall ihn weiterhin mit zornigen Augen anstarrte, hatte er diesen Sermon vom Stapel gelassen.

Der Witwer machte eine unwirsche Gebärde, zuckte die Schultern und gestikulierte mit den Händen. »In einem Fall wie diesem sollte man doch meinen, Sie würden sich an Fingerabdrücken und – na ja, eben an solche Sache halten. Ich meine, es ist doch offensichtlich, daß irgendein Mann hier reingekommen ist und … Er muß doch Spuren hinterlassen haben. Ich habe darüber gelesen, wie solche Untersuchungen geführt werden. Ist doch alles eine Frage der Deduktion aufgrund von Haaren und Fußspuren und – na ja, Fingerabdrücken.«

»Ich sagte Ihnen ja bereits, ich bin überzeugt, Sie haben Ihre eigene Vorstellung, wie eine Untersuchung geführt werden sollte. Meine Methoden schließen aber das, was Sie empfehlen, auch ein. Sie haben doch selbst gesehen, wie gründlich wir uns gestern abend dieses Haus vorgenommen haben. Aber wir sind keine Zauberer, Mr. Hathall. Wir können nicht um Mitternacht einen Fingerabdruck oder ein Haar finden und Ihnen neun Stunden später sagen, von wem sie sind.«

»Wann dann?«

»Das kann ich nicht sagen. Sicher werde ich in ein paar Stunden wissen, ob gestern nachmittag ein Fremder hier in Bury Cottage gewesen ist.«

»Ein Fremder! Natürlich war es ein Fremder. Das hätte ich Ihnen schon gestern abend um acht sagen können. Ein pathologischer Killer, der hier reingekommen, nein eingebrochen ist – und dann hinterher meinen Wagen gestohlen hat. Haben Sie meinen Wagen schon gefunden?«

Sehr verbindlich und kühl erwiderte Wexford: »Ich weiß es nicht, Mr. Hathall. Ich bin weder der Herrgott, noch kann ich hellsehen. Ich habe noch nicht einmal Zeit gehabt, mit meinen Leuten zu reden. Wenn Sie mir die eine Frage beantworten, die ich Ihnen gestellt habe, dann lasse ich Sie eine Weile in Ruhe und spreche mit Ihrer Mutter.«

»Meine Mutter weiß nichts über das alles. Meine Mutter hat bis gestern abend noch nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt.«

»Meine Frage, Mr. Hathall.«

»Nein, sie hatte nicht die Gewohnheit, jemanden mitzunehmen!« brüllte Hathall, das Gesicht rot und verzerrt. »Sie war sogar zu schüchtern und nervös, um hier unten Freunde zu gewinnen. Ich war der einzige Mensch, dem sie vertrauen konnte, und das ist auch kein Wunder nach allem, was sie durchgemacht hat. Der Mann, der hier reingekommen ist, hat das gewußt, der hat gewußt, daß sie immer allein war. Darum sollten Sie sich kümmern, da sollten Sie ansetzen! Und dies ist mein Privatleben, wie Sie es nennen: Ich bin erst drei Jahre verheiratet gewesen, und ich habe meine Frau angebetet. Aber ich habe sie die ganze Woche über allein gelassen, weil ich die Hinundherfahrerei nicht auf mich nehmen wollte, und das ist nun dabei herausgekommen! Sie hat sich zu Tode geängstigt hier so allein, aber ich hab gesagt, es sei doch nicht mehr für lange, und sie solle es um meinetwillen aushalten. Es war ja tatsächlich auch nicht mehr für lange, nicht wahr?«

Er warf den Arm über die Rückenlehne des Sessels und vergrub das Gesicht in der Armbeuge. Sein Körper zitterte. Wexford betrachtete ihn gedankenvoll, sagte aber nichts weiter. Er ging in die Küche, wo er Mrs. Hathall am Spülbecken beim Abwaschen des Frühstücksgeschirrs vorfand. Auf der Arbeitsplatte lag ein Paar Gummihandschuhe, aber die waren trocken, und Mrs. Hathalls nackte Hände steckten in der Lauge. Sie gehörte zu der Sorte Frauen, vermutete Wexford, die sich der Hausarbeit gegenüber geradezu masochistisch verhielten, die eher eine Bürste benutzten als einen Staubsauger, und die behaupteten, Waschmaschinen kriegten die Wäsche nicht sauber. Er sah, daß sie anstelle einer Schürze ein kariertes Geschirrhandtuch um die Taille gebunden hatte, und das kam ihm merkwürdig vor. Natürlich würde sie sich für ihren Wochenendbesuch keine eigene Schürze mitbringen, aber sicherlich besaß doch eine so gute Hausfrau wie Angela etliche davon? Aber er erwähnte das nicht, sondern sagte guten Morgen und fragte Mrs. Hathall, ob es ihr etwas ausmache, ihm während der Arbeit ein paar Fragen zu beantworten.

»Hmmm«, sagte Mrs. Hathall. Sie spülte ihre Hände ab, drehte sich behäbig um und trocknete sie an einem Handtuch ab, das an einem Haken hing. »Es hat gar keinen Zweck, mich zu fragen. Ich weiß ja nicht, was die so gemacht hat, während er weg war.«

»Ich habe gehört, Ihre Schwiegertochter war sehr schüchtern und einsam und hielt sich sehr für sich?« Der Ton, den sie von sich gab, faszinierte ihn. Es war eine Art ersticktes Grunzen, das einem Todesröcheln ähnelte. Tatsächlich aber war es wohl ein Lachen, vermutete er. »Sie hatten nicht diesen Eindruck von ihr?«

»Erotisch war sie«, sagte Mrs. Hathall.

»Wie bitte?«

Sie sah ihn grimmig an. »Nervös. Eigentlich schon hysterisch.«

»Ah«, sagte Wexford. Diese Version eines falsch angewandten Fremdwortes war ihm noch nicht vorgekommen, und er fand sie amüsant. »Und warum war sie wohl so? Ich meine, warum war sie so – äh – neurotisch?«

»Kann ich nicht sagen. Ich hab sie nur einmal gesehen.«

Aber die beiden waren doch drei Jahre verheiratet gewesen … »Ich verstehe das nicht ganz, Mrs. Hathall.«

Sie wandte den Blick von seinem Gesicht zum Fenster, vom Fenster zum Spülbecken, dann griff sie nach einem Tuch und begann das Geschirr abzutrocknen. Dieser massive Klotz von einem Körper, den Rücken gegen ihn gewandt, drückte genausoviel Abweisung aus wie eine geschlossene Tür. Schweigend trocknete sie jede Tasse, jedes Glas und jeden Teller, jedes Besteckteil einzeln ab, scheuerte dann das Tropfbrett sauber, trocknete auch das ab und hängte endlich das Handtuch weg – alles mit einer Konzentration, als praktizierte sie ein kompliziertes, mühsam erworbenes Ritual. Zu guter Letzt aber war sie doch gezwungen, sich wieder umzudrehen und sich seiner stur ausharrenden Person zu stellen.

»Ich muß noch die Betten machen«, sagte sie hastig.

»Ihre Schwiegertochter ist ermordet worden, Mrs. Hathall.«

»Als ob ich das nicht wüßte. Ich hab sie ja schließlich gefunden.«

»Richtig. Wie war das genau?«

»Hab ich schon gesagt. Hab ich schon erzählt.« Sie öffnete den Besenschrank, nahm einen Handfeger und ein Staubtuch heraus, überflüssige Gerätschaften in einem so makellos sauberen Haus. »Also ich habe zu tun; Sie ja vielleicht nicht.«

»Mrs. Hathall«, sagte er sanft, »ist Ihnen klar, daß Sie vor dem Untersuchungsgericht erscheinen müssen? Sie sind eine äußerst wichtige Zeugin. Man wird Sie sehr eingehend vernehmen, und dort werden Sie sich nicht weigern können, Fragen zu beantworten. Ich verstehe sehr wohl, daß Sie noch nie zuvor mit dem Gesetz in Berührung gekommen sind, aber ich muß Sie darauf hinweisen, daß Behinderung der Polizei streng bestraft wird.«

Sie starrte ihn finster an, nun ein bißchen eingeschüchtert. »Ich hätte nie hierherkommen sollen«, brummte sie. »Ich hatte gesagt, daß ich nie einen Fuß in dieses Haus setzen würde, und dabei hätte ich auch bleiben sollen.«

»Und warum sind Sie dann doch gekommen?«

»Weil mein Sohn darauf bestanden hat. Wir sollten uns versöhnen.« Sie stampfte ein paar Schritte näher und blieb vor ihm stehen. Wexford mußte an die Illustration in einem Geschichtenbuch denken, das einem seiner Enkel gehörte, an das Bild eines Schranks mit Armen und Beinen und einem mürrischen Gesicht. »Eins kann ich Ihnen sagen«, meinte sie, »wenn diese Angela nervös war, dann höchstens vor Scham. Geschämt hat sie sich wohl, daß sie seine Ehe zerstört und daß sie ihn zu einem armen Mann gemacht hat. Die hatte wirklich allen Grund, sich zu schämen. Das Leben von drei Menschen hat sie ruiniert. Das werd ich vor Ihrem Untersuchungsrichter sagen. Jedem sag ich das, da kenn ich nichts!«

»Ich bezweifle«, wandte Wexford ein, »daß Sie danach gefragt werden. Ich jedenfalls habe Sie nach gestern abend gefragt.«

Sie warf den Kopf zurück. Aufgebracht sagte sie: »Ich habe nichts zu verbergen. Ich denke bloß an ihn, wenn das alles an die Öffentlichkeit gezerrt wird. Sie sollte uns gestern abend am Bahnhof abholen …« Ein trockenes »Hmm!« kappte das letzte Wort.

»Aber sie war tot, Mrs. Hathall.«

Sie überhörte das und fuhr kurz und knapp fort: »Wir kamen hier an, und er hat sie gesucht. Gerufen hat er nach ihr. Hier unten hat er überall nach ihr gesucht, auch im Garten und in der Garage.«

»Und oben?«

»Nach oben gegangen ist er nicht. Er hat mir gesagt, ich soll schon mal raufgehen und meine Sachen ablegen. Und da bin ich in ihr Schlafzimmer gegangen, und da lag sie. Zufrieden? Fragen Sie ihn doch selbst, und passen Sie auf, ob er Ihnen was anderes erzählt.« Der wandelnde Schrank stampfte aus dem Zimmer, und die Treppenstufen ächzten, als er hinaufstieg.

Wexford ging in das Zimmer zurück, in dem Hathall war. Er bewegte sich nicht gerade verstohlen, machte aber auch nicht viel Geräusch. Etwa eine halbe Stunde lang war er in der Küche gewesen, und vielleicht glaubte Hathall, er habe bereits das Haus verlassen, denn er hatte sich von seiner völligen Hingabe an den Schmerz äußerst schnell erholt. Jetzt stand er am Fenster und las angestrengt etwas, das auf der Vorderseite der Morgenzeitung stand. Auf seinem hageren, geröteten Gesicht lag der Ausdruck äußerster Anspannung, einer intensiven, ja abwägenden Konzentration, und seine Hände waren völlig ruhig. Wexford hüstelte leicht. Hathall fuhr nicht zusammen. Er wandte sich um, und augenblicklich ließ wieder jene Seelenqual, von der Wexford hätte schwören können, daß sie echt war, sein Gesicht zucken.

»Ich will Sie jetzt nicht wieder belästigen, Mr. Hathall. Ich habe darüber nachgedacht, und ich glaube, es wäre viel besser für Sie, wenn wir uns in einer anderen Umgebung unterhalten. Unter den gegebenen Umständen ist diese hier wohl nicht gerade die beste für die Art Unterredung, die wir führen müssen. Würden Sie bitte so gegen drei zum Polizeipräsidium kommen und dort nach mir fragen?«

Hathall nickte. Er schien erleichtert. »Tut mir leid, daß mir vorhin die Nerven durchgegangen sind.«

»Schon gut. Das war nur natürlich. Bevor Sie heute nachmittag kommen – würden Sie wohl die Sachen Ihrer Frau durchsehen und mir dann sagen, ob etwas fehlt?«

»Ja, das mache ich. Ihre Leute werden das Haus nicht noch einmal durchsuchen?«

»Nein, das ist abgeschlossen.«

Kaum war Wexford in seinem Büro im Kingsmarkhamer Polizeipräsidium angekommen, nahm er sich die Morgenzeitungen vor und fand auch, was Hathall so aufmerksam studiert hatte, im Daily Telegraph. Am Fuß der ersten Seite, unter der Rubrik Letzte Nachrichten war ein schmaler Absatz, der lautete: »Mrs. Angela Hathall, 32, wurde gestern abend in ihrem Haus in der Wool Lane, Kingsmarkham, Sussex, tot aufgefunden. Sie wurde erdrosselt. Nach Ansicht der Polizei handelt es sich um Mord.« Das war es, worauf Hathalls Augen mit solcher Intensität fixiert gewesen waren. Wexford überlegte eine Weile. Wenn seine eigene Frau ermordet aufgefunden würde, dann wäre doch das letzte, was er wollte, darüber auch noch in der Zeitung zu lesen! Er sprach seine Gedanken laut aus, als Burden ins Zimmer kam, fügte aber gleich hinzu, es habe wohl keinen Sinn, seine eigenen Empfindungen auf andere zu projizieren, schließlich seien nicht alle Menschen gleich.

»Manchmal denke ich«, meinte Burden beinahe trübsinnig, »die Welt wäre besser dran, wenn alle so wären wie Sie und ich.«

»Ganz schön arrogant sind Sie! Haben wir schon irgendwas von unseren Fingerabdruckjungens? Hathall ist ganz versessen auf Fingerabdrücke. Er ist einer von denen, die uns für Jagdhunde halten: Zeigt uns einen Abdruck oder eine Fußspur, da senken wir unsere Nasen auf den Boden und verfolgen die Spur, bis wir ein, zwei Stunden später den Fuchsbau gefunden haben.«

Burden schnaubte und warf dem Chief Inspector ein Bündel Papier auf den Tisch. »Da steht alles drin«, sagte er. »Ich hab’s mir angesehen, es gibt da zwar ein paar interessante Punkte, aber den Fuchs schnappen wir nicht in zwei Stunden. Wer immer er ist, er ist weit, weit weg, darauf können Sie Gift nehmen.«

Schmunzelnd meinte Wexford: »Und von dem Wagen noch keine Spur?«

»Der wird wahrscheinlich irgendwann Mitte der nächsten Woche in Glasgow oder so auftauchen. Martin hat bei Hathalls Firma nachgefragt, bei Marcus Flower. Er hat dort mit einer Sekretärin gesprochen. Sie heißt Linda Kipling, und sie sagt, Hathall ist gestern den ganzen Tag dort gewesen. Sie seien beide etwa gegen zehn gekommen – mein Gott, so gut möchte ich es auch mal haben! –, und abgesehen von anderthalb Stunden Mittagspause war Hathall da, bis er um halb sechs gegangen ist.«

»Daß ich gesagt habe, er habe über den Tod seiner Frau in der Zeitung nachgelesen, heißt noch nicht, daß ich ihn für den Mörder halte.« Wexford klopfte einladend auf einen Stuhl neben sich und sagte: »Setzen Sie sich, Mike, und erzählen Sie mir, was da drinsteht in dem Wust, den Sie mir gebracht haben. Aber möglichst knapp bitte, ich seh es mir später noch selbst an.«

Der Inspector nahm Platz und setzte die Brille auf, die er sich kürzlich zugelegt hatte. Es war eine elegante Brille mit schmalem schwarzen Rand, die Burden das Aussehen eines erfolgreichen Rechtsanwalts verlieh. Mit seiner reichhaltigen Kollektion gutgeschnittener Anzüge, seinem vorzüglich geschnittenen, blonden Haar und einer Figur, die keine Diät nötig hatte, um in Form zu bleiben, hatte er ohnehin nie wie ein Kriminalbeamter ausgesehen – eine Tatsache, die ihm oft nützte. Seine Stimme war klar, ein wenig unsicherer als sonst, denn er hatte sich noch nicht an die Brille gewöhnt, und er schien zu glauben, sie würde nicht nur sein Aussehen, sondern seine gesamte Persönlichkeit verändern.

»Als erstes wäre zu bemerken«, fing er an, »daß es in dem Haus nicht annähernd so viele Abdrücke gab, wie man hätte erwarten müssen. Es war ein ganz ungewöhnlich gepflegtes Haus, alles und jedes total sauber, geradezu poliert. Sie muß wirklich supergründlich saubergemacht haben, denn es gab sogar von Hathall selbst kaum Fingerabdrücke. Ein deutlicher, voller Handabdruck auf der Haustür, außerdem Spuren an anderen Türen und am Treppengeländer, aber die sind offensichtlich entstanden, nachdem er gestern abend heimgekommen ist. Die Abdrücke der alten Mrs. Hathall waren auf dem Küchentresen, am Handlauf des Treppengeländers, im hinteren Schlafzimmer, an den Wasserhähnen im Bad, an der Toilettenspülung, am Telefon und – merkwürdigerweise – auch auf den Bilderleisten am Treppenabsatz.«

»Gar nicht merkwürdig«, fiel Wexford ein. »Sie ist doch so ein alter Drachen und fährt natürlich mit dem Finger über eine Bilderleiste, um zu sehen, ob die Schwiegertochter Staub gewischt hat. Und hätte die das nicht getan, dann hätte die Alte sicher ›Schlampe‹ oder sonst was Provokatives in den Staub geschrieben.«

Burden rückte seine Brille zurecht, verschmierte die Gläser dabei mit den Fingerspitzen und rieb sie ungeduldig an der Hemdmanschette sauber. »Angelas Fingerabdrücke waren an der Hintertür, an der Tür zwischen Küche und Diele, an ihrer Schlafzimmertür und an verschiedenen Flaschen und Dosen auf ihrem Frisiertisch. Aber sonst waren nirgends welche von ihr. Anscheinend trug sie Handschuhe bei der Hausarbeit, und wenn sie die auszog, um aufs Klo zu gehen, dann muß sie hinterher alles saubergewischt haben.«

»Kommt mir ziemlich zwanghaft vor. Aber wahrscheinlich sind manche Frauen wirklich so.«

Burden, dessen Ausdruck verriet, daß er solche Frauen eher schätzte, fuhr fort: »Die einzigen anderen Abdrücke im Haus waren die eines unbekannten Mannes und einer unbekannten Frau. Die des Mannes wurden lediglich auf Büchern entdeckt und auch an der Innenseite einer Kleiderschranktür in einem Schlafzimmer – nicht Angelas Schlafzimmer. Und dann war da noch ein Abdruck, ein einziger, von dieser anderen Frau. Auch das ein voller Handabdruck, von der rechten Hand, sehr deutlich. Er zeigt eine kleine, L-förmige Narbe am Zeigefinger, und gefunden wurde er am Rand der Badewanne.«

»Hmm«, machte Wexford, und weil der Ton ihn an Mrs. Hathall erinnerte, änderte er ihn in »Huh« ab. Nachdenklich schwieg er. »Diese Abdrücke haben wir nicht im Archiv?«

»Weiß ich noch nicht. Lassen Sie denen ein bißchen Zeit.«

»Ich bin schon wie Hathall. Gibt’s sonst noch was?«

»Ein paar kräftige, lange, dunkle Haare, drei Stück, auf dem Fußboden des Badezimmers. Angelas sind es nicht. Ihre waren feiner – ihre fanden sich zum Beispiel ausschließlich in der Haarbürste auf dem Frisiertisch.«

»Männer- oder Frauenhaare?«

»Unmöglich festzustellen. Sie wissen ja selber, mit was für Mähnen die meisten jungen Kerle heutzutage herumlaufen.«

Burden fuhr sich über das eigene kurzgeschnittene Haar und nahm die Brille ab. »Einen Obduktionsbefund bekommen wir nicht vor heute abend.«

»Okay. Wir müssen also den Wagen finden und jemand, der sie damit fahren sah. Und wenn wir Glück haben auch jemanden, der sie und ihren Fang darin hat zurückkommen sehen – wenn es sich überhaupt so abgespielt hat. Außerdem müssen wir ihre Freunde finden. Ein paar Freunde muß sie doch gehabt haben.«

Sie fuhren mit dem Lift hinunter und durchquerten die Halle mit dem Schachbrettboden. Während Burden stehenblieb, um ein paar Worte mit dem Beamten vom Dienst zu wechseln, ging Wexford auf die Schwingtür zu, die zur Außentreppe und zum Vorplatz führte. Eine Frau kam gerade diese Stufen herauf. Sie bewegte sich mit dem Selbstgefühl eines Menschen, der niemals Ablehnung erfahren hat. Wexford hielt ihr den rechten Türflügel auf, und als sie auf gleicher Höhe mit ihm war, blieb sie stehen und blickte ihm voll ins Gesicht.

Sie war nicht mehr jung, schätzungsweise Ende Vierzig, aber schon auf den ersten Blick merkte man, daß sie zu jenen seltenen Kreaturen gehörte, denen die Zeit wenig anhaben, ihnen weder die Schönheit noch ihre Vitalität nehmen kann. Jede der feinen Linien in ihrem Gesicht schien von Lachen und übermütigem Witz geprägt, und ohnehin gab es nur wenige um die großen, hellblauen und überraschend jungen Augen herum. Sie lächelte ihn an, mit einem Lächeln, das das Herz eines jeden Mannes Kobolz schlagen ließ, und sie sagte:

»Guten Morgen. Mein Name ist Nancy Lake. Ich möchte mit einem Polizeibeamten sprechen, dem ranghöchsten – mit jemand Wichtigem. Sind Sie hier ein wichtiger Mann?«

»Ich glaube, ich bin wichtig genug«, erwiderte Wexford.

Sie blickte ihn von oben bis unten an, wie ihn seit zwanzig Jahren keine Frau mehr angesehen hatte. Das Lächeln wurde nachdenklich, feingeschwungene Brauen schoben sich in die Höhe.

»Ich glaube, das stimmt«, sagte sie, und während sie eintrat, fuhr sie fort: »Aber Spaß beiseite. Ich bin hergekommen, weil ich wahrscheinlich als letzte Angela Hathall lebend gesehen habe.«