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Mit der Beschreibung ›nicht gerade ein richtiger Spion‹ hatte Wexford Ginge Matthews ein wenig unterbewertet. Die kläglichen Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen, verbitterten ihn. Besonders ärgerte ihn, daß Ginge sich weigerte, das Telefon zu benutzen. Ginge war sehr stolz auf seine gewählte Ausdrucksweise, die er aus Zeugenstandsauftritten einfältiger, meist sehr junger Constables gewonnen hatte, deren wortreichen Erläuterungen er von der Anklagebank aus zuhörte. In Ginges Berichten ging der Beobachtete nie irgendwohin, sondern er ›begab sich‹; seine Wohnung war sein ›Domizil‹, und statt nach Hause zu gehen, ›retirierte‹ er oder ›zog sich dorthin zurück‹. Aber um Ginge gerecht zu werden, mußte Wexford fairerweise zugeben, daß er zwar während dieser vergangenen Monate nichts über die geheimnisvolle Frau erfahren hatte, wohl aber eine Menge über Hathalls Lebensweise.

Nach Ginges Beschreibung war das Haus, in dem er seine Wohnung hatte, ein großes, dreistöckiges Gebäude und stammte – wie zwischen den Zeilen zu ersehen war – aus der Zeit Edwards VII. Hathall hatte keine Garage, sondern ließ seinen Wagen auf der Straße stehen. Aus Knauserigkeit oder wegen der Schwierigkeit, eine Mietgarage zu finden? Wexford wußte es nicht, und Ginge konnte es ihm auch nicht sagen. Hathall ging morgens um neun zur Arbeit, lief entweder zu Fuß oder stieg in einen Bus von West End Green zur U-Bahn-Station West Hampstead, wo er die Linie Bakerloo (vermutlich) Richtung Piccadilly nahm. Wieder nach Hause kam er kurz nach sechs, und verschiedene Male hatte Ginge, der in einer Telefonzelle gegenüber von Dartmeet Avenue 62 lauerte, ihn danach wieder mit dem Wagen wegfahren sehen. Ginge wußte immer, wann er abends zu Hause war, weil dann im Erkerfenster des zweiten Stockes Licht brannte. Er hatte ihn nie in anderer Begleitung als der seiner Mutter gesehen – nach der Beschreibung konnte es nur die alte Mrs. Hathall sein –, die er an einem Samstag nachmittag im Wagen mit zu sich nach Hause gebracht hatte. Mutter und Sohn hatten schon auf dem Bürgersteig, noch ehe sie die Haustür erreichten, einen Wortwechsel gehabt, einen verbissenen, mit gedämpften Stimmen ausgefochtenen Streit.

Ginge besaß kein Auto. Er hatte auch keinen Job, aber für die bescheidene Summe, die Wexford sich leisten konnte, schien es ihm dennoch nicht lohnend, mehr als einen Abend und vielleicht noch einen Samstag- oder Sonntagnachmittag pro Woche mit der Beobachtung von Robert Hathall zu verbringen. Es war also leicht möglich, daß Hathall sein Mädchen an ein oder zwei der übrigen sechs Abende mit nach Hause brachte. Und dennoch gab Wexford die Hoffnung nicht auf. Eines Tages, irgendwann … Er träumte nachts von Hathall, nicht sehr oft, etwa einmal in vierzehn Tagen, und in diesen Träumen sah er ihn zusammen mit dem dunkelhaarigen Mädchen mit der Narbe am Finger, oder auch allein, so wie er ihn gesehen hatte, als er in Bury Cottage am Kamin stand, paralysiert vor Angst, jähem Begreifen und – ja, und vor tiefem Schmerz.

»Am Nachmittag vom Samstag, dem fünfzehnten des laufenden Monats, um fünfzehn Uhr fünf wurde der Kontrahent beobachtet, wie er sich von seinem Domizil in der Dartmeet Avenue 62 zur West End Lane begab, wo er in einem Supermarkt Einkäufe tätigte …« Wexford fluchte. Es war fast immer dasselbe. Und welchen Beweis hatte er eigentlich, daß Ginge wirklich dort gewesen war, ›am Nachmittag vom Samstag, dem fünfzehnten des laufenden Monats‹? Natürlich würde Ginge sagen, er sei dagewesen, wenn pro Beobachtungswache ein Pfund für ihn heraussprang. Der Juli kam, der August, und Hathall führte, wenn man Ginge trauen konnte, ein einfaches, geregeltes Leben, ging zur Arbeit, kam nach Hause, kaufte am Samstag ein, unternahm gelegentlich abends Ausfahrten. Wenn man Ginge trauen konnte …

Daß man es – bis zu einem gewissen Grade – konnte, erwies sich im September kurz vor Angelas erstem Todestag. »Es besteht Grund zu der Annahme«, schrieb Ginge, »daß der Kontrahent sein Kraftfahrzeug aufgegeben hat, da es von seinen üblichen Parkplätzen verschwunden ist. Am Abend vom Donnerstag, dem 10. September, begab er sich, nachdem er um achtzehn Uhr zehn von seiner Arbeitsstelle nach Hause gekommen war, um achtzehn Uhr fünfzig aus seinem Domizil und bestieg bei West End Green, NW 6, den Bus Nummer achtundzwanzig.«

Steckte da etwas dahinter? Wexford glaubte es nicht. Bei seinem Gehalt konnte Hathall es sich sehr wohl leisten, einen Wagen zu fahren, aber vielleicht hatte er ihn bloß wegen der auf der Straße immer schlechter werdenden Parkmöglichkeiten abgeschafft. Immerhin, von seinem Standpunkt aus war das eine gute Sache. Denn jetzt konnte man ihn verfolgen.

Wexford schrieb nie an Ginge. Das war zu riskant. Der kleine Bursche war womöglich nicht völlig immun gegen Erpressung, und wenn irgendwelche Briefe Griswold in die Hände fielen … Sein Entgelt schickte er in Banknoten in einem neutralen Briefumschlag, und wenn er mit ihm sprechen mußte, was wegen der dürftigen Neuigkeiten selten war, dann konnte er ihn immer zwischen zwölf und eins in einem Pub in Kilburn erreichen, der sich Countess of Castlemaine nannte.

»Ihn verfolgen?« fragte Ginge nervös. »Wie, in dem Scheißbus, dem Achtundzwanziger?«

»Warum denn nicht. Er hat Sie doch nie gesehen, oder?«

»Vielleicht doch. Wie kann ich das wissen? Es ist verdammt nicht einfach, einen Typen in so ‘nem Scheißbus zu verfolgen.« Ginges Redeweise unterschied sich markant von seinem schriftlichen Stil, besonders im Gebrauch von Kraftausdrücken. »Wenn er nun nach oben geht, und ich gehe nach drinnen, oder andersrum …«

»Was heißt hier andersrum?« meinte Wexford. »Sie setzen sich auf den Sitz hinter ihm und bleiben ihm auf den Fersen. Klar?«

Für Ginge schien das durchaus nicht so klar zu sein, aber er willigte doch widerstrebend ein, es zu versuchen. Ob er es nun versucht hatte oder nicht, erfuhr Wexford nicht, denn in Ginges nächstem Bericht stand von Bussen nichts. Und doch, je genauer er diesen Bericht mit seinen Amtsgerichtsfloskeln studierte, desto mehr interessierte er ihn. »Da ich mich am sechsundzwanzigsten des laufenden Monats gegen fünfzehn Uhr in der Umgebung der Dartmeet Avenue, NW 6, aufhielt, nahm ich es auf mich, Nachforschungen bezüglich des Domizils des Kontrahenten anzustellen. Während eines Gesprächs mit dem Hauswirt, bei dem ich mich als Beamter der örtlichen Steuerbehörde ausgab, erfragte ich die Anzahl der Wohnungen und wurde informiert, daß in diesem Gebäude lediglich einzelne Zimmer zu mieten sind …«

Ziemlich verwegen von Ginge, war Wexfords erster Gedanke, obwohl er sich diese Rolle wahrscheinlich nur zugelegt hatte, um seinen Arbeitgeber zu beeindrucken, und in der Hoffnung, der würde darüber den weit gefährlicheren Auftrag, Hathall im Bus zu verfolgen, vergessen. Aber das war unwichtig. Was Wexford verblüffte, war, daß Hathall nicht Wohnungseigentümer, sondern Mieter war, und noch dazu nur eines Zimmers statt einer Wohnung. Merkwürdig, sehr merkwürdig. Er hätte es sich leisten können, eine Wohnung auf Hypothekenbasis zu kaufen. Warum hatte er das nicht getan? Weil er nicht beabsichtigte, auf Dauer ein Domizil (wie Ginge es ausdrücken würde) in London zu haben? Oder weil er sein Geld anderweitig verwendete? Beides war möglich. Aber Wexford hielt dies doch für den bemerkenswertesten Umstand, den er bisher in Hathalls derzeitigem Leben entdeckt hatte. Selbst bei den Londoner Mieten, ungeheuerlich, wie sie waren, konnte er für ein Zimmer nicht mehr als allerhöchstens fünfzehn Pfund wöchentlich zahlen, dabei mußte er nach allen Abzügen an die sechzig verdienen. Wexford hatte außer Howard keinen Vertrauten, also sprach er mit ihm am Telefon darüber.

»Du meinst, er könnte jemand anderen unterstützen?«

»Genau das«, erwiderte Wexford.

»Nehmen wir also an, fünfzehn die Woche für ihn und fünfzehn für sie als Miete …? Und wenn sie nicht arbeitet, dann muß er sie auch noch unterhalten.«

»Mann, du weißt gar nicht, wie gut es mir tut, wenn ich höre, daß jemand von ihr wie von einer realen Person, einfach von ›ihr‹ spricht. Du glaubst doch, daß sie existiert, oder?«

»Es war schließlich kein Geist, der den Abdruck hinterlassen hat, Reg, die existiert wirklich.«

In Kingsmarkham hatten sie aufgegeben. Sie hatten die Nachforschungen abgebrochen. Griswold hatte zwar den Zeitungen irgendwelchen Mist erzählt – so nannte es Wexford –, von wegen der Fall sei nicht abgeschlossen, aber genaugenommen war er abgeschlossen. Er äußerte das nur, um sein Gesicht zu wahren. Somerset hatte Bury Cottage an ein junges, amerikanisches Paar vermietet, beide Volkswirtschaftler an der Universität. Der Vorgarten war in Ordnung gebracht worden, und sie sprachen davon, den hinteren Garten auf eigene Kosten neu anlegen zu lassen. An einem Tag hingen die Pflaumen schwer am Baum, am nächsten war er leergepflückt. Wexford erfuhr nie, ob Nancy Lake sie bekommen und ›Mirakelmarmelade‹ daraus gekocht hatte, denn seit dem Tag, an dem ihm befohlen worden war, die Finger von Hathall zu lassen, hatte er Nancy nicht wiedergesehen.

Vierzehn Tage nichts von Ginge. Schließlich rief Wexford ihn im Countess of Castlemaine an, nur um von ihm zu erfahren, daß Hathall an den ›überwachten‹ Abenden zu Hause geblieben sei. Er werde aber heute abend und auch am Samstag nachmittag wieder Posten beziehen. Am Montag kam sein Bericht. Hathall hatte am Samstag seine üblichen Einkäufe erledigt, aber am Abend vorher sei er um sieben Uhr zur Bushaltestelle West End Green hinuntergegangen. Ginge war ihm gefolgt, hatte sich aber einschüchtern lassen (›war vorsichtig geworden‹, lautete sein Ausdruck), weil Hathall sich argwöhnisch umgeblickt hätte. Aus diesem Grund sei er ihm nicht bis in den Achtundzwanziger gefolgt, in den der Kontrahent zehn nach sieben eingestiegen sei. Wexford schleuderte den Briefbogen in den Papierkorb. Das war genau, was ihm noch fehlte: daß Hathall auf Ginge aufmerksam wurde!

Wieder verstrich eine Woche. Wexford war schon soweit, Ginges nächsten Bericht ungeöffnet wegzuwerfen. Er hatte das Gefühl, noch einen Bericht über Hathalls samstägliche Einkaufsaktivitäten nicht verkraften zu können. Aber er öffnete den Brief doch. Und natürlich stand darin der übliche Quatsch über den Besuch im Supermarkt. Es stand aber auch, gleichsam beiläufig angefügt, als ob es nicht weiter wichtig, sondern lediglich ein zeilenfüllendes Anhängsel sei, daß Hathall nach seinen Einkäufen in ein Reisebüro gegangen sei.

»Der Laden, in dem er war, nennt sich SÜDAMERIKATOURS, Howard. Ginge hat sich nicht getraut, ihm zu folgen, dieser feige Hund.«

Howards Stimme klang dünn und trocken. »Und jetzt denkst du, was ich auch denke.«

»Natürlich. Irgendein Ort, wo wir keine Zugriffsmöglichkeit haben. Der hat bestimmt über Eisenbahnräuber gelesen, und dabei ist er auf die Idee gekommen. Die verdammten Zeitungen stiften wirklich mehr Schaden als Nutzen.«

»Aber mein Gott, Reg, der muß ja eine Todesangst haben, wenn er es auf sich nimmt, seinen Job an den Nagel zu hängen und nach Brasilien oder sonstwohin abzuhauen. Was will er dort machen? Wovon will er leben?«

»Wie die Vögelein unter dem Himmel, mein lieber Neffe. Ja, weiß Gott. Hör mal, Howard, könntest du wohl was für mich tun? Könntest du dich bei Marcus Flower erkundigen, ob die ihn womöglich nach Übersee schicken? Ich trau mich nicht.«

»Na gut, ich traue mich«, meinte Howard. »Bloß, in dem Fall würden sie doch auch die ganze Sache arrangieren und bezahlen?«

»Aber sie würden es nicht für das Mädchen arrangieren und bezahlen, stimmt’s?«

»Also, ich tue, was ich kann, und ruf dich heute abend an.«

War das der Grund, weshalb Hathall so sparsam gelebt hatte? Um die Reisekosten für seine Komplizin zusammenzusparen? Er mußte entweder bereits drüben einen Job haben, oder aber er mußte verzweifelt darauf aus sein, sich in Sicherheit zu bringen. In dem Fall wollte das Geld für zwei Flugtickets erst einmal zusammengebracht sein. Ihm fiel ein, daß er im Kingsmarkham Courier, der ihm am Morgen auf den Schreibtisch gelegt worden war, eine Werbeanzeige für Reisen nach Rio de Janeiro gesehen hatte. Er fischte die Zeitung unter einem Papierstapel hervor und betrachtete die Rückseite. Da war sie: Hin- und Rückreise angeboten für wenig mehr als dreihundertfünfzig Pfund. Rechnete man für zwei Einzelflüge ein wenig mehr, dann wurden Hathalls Sparmaßnahmen durchaus plausibel…

Er wollte die Zeitung eben wegwerfen, da fiel sein Blick auf einen Namen in den Todesanzeigen. Somerset. »Am 15. Oktober verstarb in Church House, Old Myringham, meine geliebte Frau Gwendolen Mary Somerset. Mark Somerset. Trauerfeier am 22. Oktober in der St.-Lukas-Kirche. Bitte keine Blumen, sondern Spenden an das Heim für unheilbar Kranke in Stowerton.« So war also jene arme, ewig klagende Frau schließlich gestorben. Die ›geliebte‹ Frau? Vielleicht war sie es gewesen, vielleicht war es aber auch nur die übliche Heuchelei, eine so schale, allgemeine und automatische Formel, daß sie schon kaum noch eine Heuchelei war. Wexford lächelte flüchtig und vergaß es dann. Er ging früh nach Hause – die Stadt war ruhig und ohne Kriminalität – und wartete auf Howards Anruf.

Das Telefon klingelte um sieben, aber es war Sheila, seine jüngere Tochter. Sie und ihre Mutter plauderten etwa zwanzig Minuten lang, und danach klingelte das Telefon nicht wieder. Wexford wartete bis halb elf, dann wählte er selbst Howards Nummer.

»Verdammt noch mal, er ist ausgegangen«, sagte er verstimmt zu seiner Frau, »das ist doch wirklich die Höhe.«

»Warum soll er abends nicht ausgehen? Ich meine, er arbeitet doch hart genug.«

»Arbeite ich vielleicht nicht? Ich treib mich aber abends nicht rum, wenn ich Leuten versprochen habe, sie anzurufen.«

»Nein, aber wenn du es tätest, dann würde dein Blutdruck vielleicht nicht in die Höhe gehen wie jetzt«, sagte Dora.

Um elf versuchte er noch einmal, Howard zu erreichen, aber wieder meldete sich niemand, und er ging übelgelaunt zu Bett. Kein Wunder, daß er wieder einen seiner obsessiven Hathall-Träume hatte. Er war auf einem Flugplatz. Die große Düsenmaschine war startbereit, und die Türen waren schon geschlossen. Aber sie gingen noch einmal auf, und am Kopf der Treppe erschienen, huldvoll der jubelnden Menge zuwinkend wie ein königliches Paar, Hathall und eine Frau. Die Frau erhob die rechte Hand zu einer Abschiedsgeste, und er sah die L-förmige Narbe rot aufflammen, ein zorniges Wundmal – L für Liebe, für Leiden, für Lebewohl. Aber noch ehe er die Treppe hinaufrennen konnte, die er schon erreicht hatte, schmolzen die Stufen vor ihm dahin, das Paar zog sich zurück, und das Flugzeug stieg auf in den eisblauen Himmel.

Woran liegt es bloß, daß man, wenn man älter wird, um fünf Uhr aufwacht und nicht wieder einschlafen kann? Hat das mit dem Blutzuckerspiegel zu tun, der zu niedrig ist? Oder übt das Herannahen der Dämmerung einen atavistischen Einfluß aus? Wexford wußte, daß er auf weiteren Schlaf nicht hoffen konnte, also stand er um halb sieben auf und machte sich selber Frühstück. Der Gedanke, Howard vor acht Uhr anzurufen, behagte ihm nicht, aber gegen Viertel vor war er derartig nervös und kribbelig, daß er Dora eine Tasse Tee brachte und sich auf den Weg ins Büro machte. Jetzt würde Howard natürlich auch schon nach Kenbourne Vale unterwegs sein. Er war mittlerweile bitter gekränkt, und die alten Gefühle, die er früher Howard gegenüber gehegt hatte, stellten sich wieder ein. Gewiß, er hatte sich das Gefasel seines Onkels über den Fall geduldig angehört, aber was dachte er wirklich? Daß das Ganze eine Altmännerphantasie war? Die Hirngespinste eines Hinterwäldlers? Es war sehr wahrscheinlich, daß er bloß dem Onkel zuliebe mitgespielt, den Anruf bei Marcus jedoch hinausgeschoben hatte, bis er zwischen den weit wichtigeren Erfordernissen der Metropole Zeit dafür erübrigen konnte. Wahrscheinlich war er noch nicht dazu gekommen. Aber egal, es hatte keinen Sinn, darüber ähnlich paranoid zu werden wie Hathall. Er mußte in den sauren Apfel beißen, Kenbourne Vale anrufen und nochmals nachfragen.

Das tat er um halb zehn. Howard war noch gar nicht aufgetaucht, statt dessen fand er sich in eine Plauderei mit Sergeant Clements verwickelt, einem alten Freund aus den Tagen, als sie in dem Mordfall von Kenbourne Vale zusammengearbeitet hatten. Wexford war ein zu freundlicher Mensch, um den Sergeant kurzerhand abzufertigen, nachdem er erfahren hatte, daß Howard durch eine Konferenz auf höchster Ebene aufgehalten wurde, also hörte er sich geduldig alles mögliche über Clements adoptierten Sohn, über eine demnächst zu adoptierende Tochter und eine neue Maisonettewohnung an. Er könne dem Chief Superintendent ja eine Nachricht hinterlassen, meinte Clements zum Schluß, aber vor zwölf werde er nicht erwartet.

Der Anruf kam endlich um zehn Minuten nach zwölf.

»Ich habe versucht, dich zu Hause zu erreichen, bevor ich wegfuhr«, sagte Howard, »aber Dora sagte, du seist schon fort. Seitdem hab ich keine Minute Zeit gehabt, Reg.«

Aus der Stimme seines Neffen klang mühsam unterdrückte Erregung. Vielleicht war er wieder befördert worden, dachte Wexford, und ohne sonderliche Wärme sagte er: »Du hast gesagt, du wolltest mich gestern abend anrufen.«

»Hab ich auch. Um sieben. Aber eure Leitung war besetzt. Später konnte ich dann nicht mehr. Denise und ich waren im Kino.«

Es war dieser amüsierte Unterton – nein, fast schon ein Feixen, das ihm über die Hutschnur ging. Rangunterschiede hin oder her, Wexford explodierte. »Reizend«, knurrte er. »Ich hoffe bloß, die Leute in der Reihe hinter dir haben die ganze Zeit gequatscht, die Leute vor dir haben in ihren Sitzen gebumst und die in der Loge haben dir Orangenschalen auf den Kopf fallen lassen. Und was ist mit meinem Mann? Was ist mit meiner Südamerikasache, he?«

»Ach, das«, meinte Howard, und Wexford hätte schwören können, er habe ein Gähnen gehört. »Der verläßt Marcus Flower. Hat gekündigt. Mehr konnte ich nicht rauskriegen.«

»Besten Dank. Und das ist alles?«

Jetzt lachte Howard los. »O Reg«, sagte er, »es ist gemein, dich auf die Folter zu spannen, aber du warst wirklich reif dafür. Du bist so ein jähzorniger alter Teufel, da konnte ich einfach nicht widerstehen.« Er bezwang sein Lachen, und seine Stimme wurde plötzlich ernst und gemessen. »Das ist durchaus nicht alles«, sagte er. »Ich bin ihm begegnet.«

»Du bist – was? Du meinst, du hast mit Hathall gesprochen?«

»Nein, ich hab ihn gesehen. Und nicht alleine. Mit einer Frau. Ich hab ihn mit einer Frau gesehen, Reg.«

»O mein Gott«, sagte Wexford sanft, »der Herrgott hat ihn in meine Hände gegeben.«