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Dies setzte den Schlußpunkt hinter Wexfords offizielle Ermittlungen im Mordfall Angela Hathall.

Später wurde ihm rückblickend klar, daß am Donnerstag, dem zweiten Oktober um drei Uhr einundzwanzig der Moment gekommen war, wo alle Hoffnung auf eine offene und zügige Aufklärung des Mordes starb. Aber in dem Augenblick selbst hatte er das nicht gewußt. Er war nur gekränkt und wütend gewesen und hatte resigniert bei dem Gedanken an die Verzögerungen und Irritationen, die es geben mußte, wenn Hathall nicht länger direkt befragt werden durfte. Aber er glaubte doch, es stünden ihm noch andere Wege offen, die Identität der Frau festzustellen, ohne erneute Empörung bei Hathall auszulösen. Er konnte delegieren. Burden und Martin konnten die Ermittlungen zurückhaltender weiterführen. Man konnte Leute auf die Spur der Mädchen von Aveneys Liste ansetzen. Auf Umwegen würde man zum Ziel kommen. Hathall hatte sich selbst verraten, Hathall war schuldig – also würde man Hathall letzten Endes das Verbrechen auch nachweisen können.

Aber er war doch entmutigt. Auf dem Weg zurück nach Kingsmarkham hatte er erwogen, Nancy Lake anzurufen, um – ja, um, ohne Umschweife gesagt – Doras Abwesenheit auszunutzen. Aber selbst der Gedanke an ein harmloses Dinner mit ihr verlor, wenn er es jetzt genau überlegte, den Reiz, den er beim Ausmalen gehabt hatte. Er meldete sich nicht bei ihr. Er rief auch Howard nicht an. Er verbrachte ein einsames Wochenende als grüner Witwer und kochte innerlich vor Wut über Hathalls unverschämtes Glück und über seine eigene Dummheit und Fahrlässigkeit im Umgang mit einer so krankhaft empfindlichen, heiklen Persönlichkeit.

›Von Menschen und Engeln‹ wurde mit einer Visitenkarte zurückgeschickt, auf der er mit ein paar höflichen handschriftlichen Zeilen bedauerte, es so lange behalten zu haben. Keine Antwort natürlich von Hathall, der sich, wie der Chief Inspector vermutete, bestimmt hämisch die Hände rieb.

Am Montag morgen fuhr er wieder nach Toxborough zu Kidds Spielzeugfabrik.

Mr. Aveney schien erfreut, ihn zu sehen – Leute, die nicht persönlich betroffen sind, begrüßen es gewöhnlich aufs lebhafteste, in polizeiliche Ermittlungen einbezogen zu werden –, aber viel helfen konnte er nicht. »Andere Frauen, denen Mr. Hathall hier begegnet sein könnte?« fragte er.

»Ich dachte zum Beispiel an Vertreterinnen. Schließlich stellen Sie doch Kinderspielzeug her.«

»Die Vertreter arbeiten alle von unserem Londoner Büro aus. Und es ist nur eine Frau dabei, und der ist er nie begegnet. Was ist denn mit den Namen der Mädchen, die ich Ihnen gegeben habe? Kein Glück?«

Wexford schüttelte den Kopf. »Bisher nicht.«

»Werden Sie auch nicht haben. Da steckt nichts drin. Blieben höchstens noch die Putzfrauen. Wir haben hier eine Putzfrau, die ist schon seit Anfang an bei uns, aber sie ist zweiundsechzig. Natürlich hat sie ein paar Mädchen, die mit ihr zusammenarbeiten, aber die wechseln auch dauernd, genau wie der Rest unserer Belegschaft. Natürlich könnte ich Ihnen also noch eine weitere Namensliste geben. Ich sehe die Frauen ja nie, und Mr. Hathall wird sie ebenfalls nie gesehen haben. Die sind ja immer schon fertig, ehe wir kommen. Ich kann mich aus dem Stegreif nur an eine einzige erinnern, und das nur deshalb, weil sie so ehrlich war. Die blieb eines Morgens da, um mir eine Pfundnote auszuhändigen, die sie unter einem Schreibtisch gefunden hatte.«

»Machen Sie sich gar nicht erst die Mühe mit der Liste, Mr. Aveney«, meinte Wexford. »Da ist offensichtlich wirklich nichts drin.«

»Sie haben die Hathall-itis«, sagte Burden, als sich die zweite Woche nach Angelas Tod dem Ende zuneigte.

»Klingt nach schlechtem Atem.«

»Ich hab Sie noch nie so – also fast hätte ich gesagt, so ›verbiestert‹ erlebt. Sie haben doch nicht die Spur eines Beweises, daß Hathall auch nur mit einer anderen Frau ausgegangen wäre, geschweige denn, daß er mit ihr einen Mord geplant hätte.«

»Der Handabdruck«, erwiderte Wexford hartnäckig, »und die langen, dunklen Haare, und die Frau, die mit Angela im Wagen gesehen worden ist.«

»Er glaubte, es sei eine Frau gewesen. Wie oft haben Sie und ich jemanden auf der anderen Straßenseite gesehen, ohne uns entscheiden zu können, ob das nun ein Junge oder ein Mädchen war? Sie sagen doch selbst immer, der Adamsapfel ist noch das einzige sichere Erkennungszeichen. Und bemerkt ein Radfahrer, der flüchtig in ein Auto schaut, ob der Mitfahrer einen Adamsapfel hat oder nicht? Wir haben sämtliche Mädchen auf der Liste überprüft, bis auf die, die jetzt in den Vereinigten Staaten ist, und die, die am neunzehnten im Krankenhaus lag. Die meisten von ihnen konnten sich kaum erinnern, wer Hathall war.«

»Und was ist Ihre Vorstellung? Wie erklären Sie sich diesen Abdruck an der Badewanne?«

»Das kann ich Ihnen sagen. Es war ein Kerl, der Angela umgebracht hat. Sie war einsam und hat ihn sich aufgegabelt, wie Sie ja selbst anfangs gesagt haben. Er hat sie stranguliert – womöglich aus Versehen –, während er versuchte, ihr die Halskette abzunehmen. Warum sollte er Abdrücke hinterlassen haben? Warum soll er irgend etwas im Haus angefaßt haben – außer Angela? Und wenn doch, dann waren es bestimmt nicht viele Spuren, und die kann er abgewischt haben. Die Frau, die diesen Handabdruck hinterlassen hat, die ist überhaupt nicht beteiligt. Die kann zufällig vorbeigekommen sein, eine Autofahrerin etwa, die reinkam und bat, das Telefon benutzen zu dürfen …«

»Und das Klo?«

»Warum nicht? Solche Sachen passieren. So was Ähnliches ist erst gestern bei uns zu Hause passiert. Meine Tochter war ganz allein zu Hause, und ein junger Mann, der von Stowerton aus zu Fuß gelaufen war, weil’s mit dem Autostop nicht geklappt hatte, klingelte und bat um einen Schluck Wasser. Sie ließ ihn rein – wozu ich einiges zu sagen hatte, wie Sie sich vorstellen können –, und sie ließ ihn auch das Bad benutzen. Glücklicherweise war der in Ordnung, und es ist nichts passiert. Aber weshalb sollte nicht so was Ähnliches auch in Bury Cottage abgelaufen sein? Die Frau hat sich nicht gemeldet, weil sie nicht mal den Namen des Hauses weiß, wo sie klingelte, oder den Namen der Frau, die sie einließ. Ihre Abdrücke sind nicht am Telefon, weil Angela noch beim Saubermachen war, als sie reinkam. Ist das nicht plausibler als die Konspirationstheorie, für die es rein gar keine Grundlage gibt?«

Griswold war von dieser Version sehr angetan, und Wexford sah sich gezwungen, eine Ermittlungskampagne zu leiten, welche auf Mutmaßungen basierte, an die er nicht einen Augenblick glauben konnte. Er war gezwungen, eine landesweite, steckbriefliche Fahndung zu befürworten, die zum Ziel hatte, eine von Amnesie befallene Autofahrerin ausfindig zu machen sowie einen Dieb, der wegen einer wertlosen Halskette versehentlich gemordet hatte. Keiner von beiden wurde gefunden, keiner von beiden nahm deutlichere Gestalt an als die vagen Umrisse, die Burden für sie erfunden hatte, aber Griswold und Burden und auch die Zeitungen sprachen von ihnen, als ob sie existierten. Und Robert Hathall, so hörte Wexford hintenherum, hatte diverse hilfreiche Hinweise gegeben, die nacheinander zu immer neuen Spuren führten. Der Chief Constable könne gar nicht begreifen, so hieß es, was zu der Auffassung geführt hatte, dieser Mann litte an Verfolgungswahn oder sei jähzornig. Sein Verhalten konnte doch gar nicht kooperativer sein, seit Wexford in keinem direkten Kontakt mehr mit ihm stand.

Wexford nahm an, daß er bald die ganze Sache gründlich satt haben würde. Die Wochen schleppten sich dahin, und es gab keine neuen Entwicklungen. Zuerst ist es natürlich zum Verrücktwerden, wenn das eigene unerschütterliche Wissen geringgeachtet und bespöttelt wird. Dann aber, wenn neue Interessen und neue Aufgaben auf einen zukommen, wird es allmählich bloß noch lästig, und am Ende ist es nichts als langweilig. Wexford wäre heilfroh gewesen, hätte er Hathall bloß noch als langweilig betrachten können. Schließlich löst kein Mensch jeden einzelnen Mordfall. Zu Dutzenden bleiben sie unaufgeklärt und werden es auch in Zukunft bleiben. Natürlich mußten Recht und Gerechtigkeit hochgehalten werden, aber manchmal machte das menschliche Element das unmöglich. Einige kamen eben ungeschoren davon, und anscheinend gehörte Hathall zu denen. Eigentlich hätte er ihn also jetzt unter der Rubrik ›langweilig‹ ablegen müssen, denn er war ja kein interessanter Mensch, sondern im wesentlichen ein enervierend humorloser Langweiler. Und doch konnte ihn Wexford nicht so sehen. Als Person mochte er langweilig sein, aber was er getan hatte, war es nicht. Wexford wollte wissen, warum er es getan hatte, mit wessen Hilfe und mit welchen Mitteln. Und vor allem war er rundweg empört, daß ein Mann seine Frau umbringt, dann seine Mutter holt, um sie die Leiche finden zu lassen und nichtsdestoweniger von der zuständigen Behörde als ›kooperativ‹ bezeichnet wurde.

Er durfte diese Angelegenheit nicht zur Obsession werden lassen. Er mußte sich energisch sagen, daß er schließlich ein vernünftiger, klardenkender Mann war, ein Polizist, dem eine Aufgabe gestellt war, und kein Menschenjäger aus politischer Mission oder um einer heiligen Sache willen. Vielleicht hatte ihn die monatelange Abmagerungskur um seine Nüchternheit und seine Ausgeglichenheit gebracht. Aber nur ein Narr würde sich um den Preis geistiger Unausgeglichenheit eine gute Figur zulegen. An diese ausgezeichnete Maxime hielt er sich und blieb völlig kühl, als Burden ihm erzählte, Hathall habe vor, Bury Cottage nicht länger zu mieten. Und er antwortete mehr sarkastisch als explosiv.

»Darf ich denn wenigstens erfahren, wo er hinzieht?«

Da Griswold von Burdens diplomatischem Geschick eine hohe Meinung hatte, war dieser den ganzen Herbst hindurch Verbindungsmann zu Hathall gewesen. Den Botschafter von Mid-Sussex nannte Wexford ihn und setzte hinzu, er nehme an, daß ›unser Mann in Wool Lane‹ doch wohl im Besitz eines solchen Staatsgeheimnisses sei?

»Er bleibt zunächst einmal bei seiner Mutter in Balham, und er spricht davon, sich eine Wohnung in Hampstead zu kaufen.«

»Der Verkäufer wird ihn übers Ohr hauen«, meinte Wexford ironisch, »die Zugverbindungen werden unmöglich sein. Er wird eine exorbitante Extramiete für seine Garage zahlen müssen, und irgend jemand wird ein Hochhaus so bauen, daß seine Aussicht über die Heath ruiniert ist. Alles in allem – er wird sehr glücklich sein.«

»Ich weiß wirklich nicht, weshalb Sie ihn für einen solchen Masochisten halten.«

»Ich halte ihn für einen Mörder.«

»Hathall hat seine Frau nicht ermordet«, sagte Burden. »Er hat einfach bloß so eine unglückliche Art, die Ihnen gegen den Strich geht.«

»Unglückliche Art! Warum nennen wir die Dinge nicht beim Namen und sagen, er hat Anfälle? Er ist allergisch gegen Fingerabdrücke. Erwähnt man, daß man einen an seiner Badewanne gefunden hat, dann kriegt er nahezu einen epileptischen Anfall.«

»Aber das können Sie doch wohl kaum als Indiz werten, nicht wahr?« fragte Burden ziemlich kühl, und er setzte seine Brille auf, aus keinem anderen Grund, fand Wexford, als seinen Chef durch sie hindurch zurechtweisend anzublicken.

Aber der Gedanke, daß Hathall sich aus dem Staub machte und jenes neue Leben begann, das er für sich geplant und durch den Mord möglich gemacht hatte, war sehr beunruhigend. Daß es überhaupt soweit hatte kommen können, lag größtenteils an seiner eigenen falschen Führung der Ermittlung. Er hatte alles verdorben, indem er hart und aggressiv mit einem Mann umgesprungen war, der auf solche Behandlung nicht ansprach. Und jetzt gab es nichts mehr, was sich dagegen tun ließ, weil Hathalls Person sakrosankt war und jeglicher Hinweis auf die Identität der unbekannten Frau in seinem sakrosankten Gehirn versiegelt war. Hatte es überhaupt noch Sinn, Hathalls neue Adresse in Erfahrung zu bringen? Wenn es ihm nicht erlaubt war, in Kingsmarkham mit ihm zu sprechen, welche Hoffnung konnte er dann haben, seine Privatsphäre in London zu durchbrechen? Lange Zeit hinderte ihn sein persönlicher Stolz daran, Burden nach Neuigkeiten über Hathall auszufragen, und Burden erzählte ihm auch nichts, bis sie eines Tages im Frühjahr gemeinsam im Carousel beim Mittagessen saßen. Der Inspector ließ Hathalls neue Adresse ganz beiläufig in die Unterhaltung einfließen, leitete seine Erwähnung mit einem ›Nebenbei gesagt‹ ein, als spräche er von einem gemeinsamen flüchtigen Bekannten, einem Mann, an dem keiner von ihnen mehr als ein vorübergehendes Interesse gehabt haben konnte.

»Daß er mir das tatsächlich erzählt …«, sagte Wexford zu der tomatenförmigen Ketchupflasche.

»Ich wüßte keinen Grund, weshalb Sie es nicht wissen sollten.«

»Haben sich’s wohl vom Innenministerium absegnen lassen, was?«

Aber daß er die Adresse nun hatte, half in der Sache wenig, und die Straße selbst sagte Wexford nichts. Er war bereit, das Thema sofort wieder fallenzulassen, weil er wußte, daß eine Diskussion über Hathall sowohl für Burden als für ihn bloß zu Peinlichkeiten führen mußte. Merkwürdigerweise war es Burden, der darauf beharrte. Möglich, daß ihm die spitze Bemerkung über das Innenministerium nicht geschmeckt hatte, möglich aber auch, daß er fürchtete, jener Seitenhieb würde unnötig bedeutungsschwer, wenn er ihn frei im Raum schweben ließe.

»Ich habe immer gefunden«, meinte er, »obwohl ich es noch nie ausgesprochen habe, daß es in Ihrer Theorie einen gravierenden Schwachpunkt gibt. Wenn Hathall eine Komplizin mit einer solchen Narbe am Finger gehabt hätte, dann hätte er doch darauf bestanden, daß sie Handschuhe trägt. Denn wenn sie auch nur einen einzigen Abdruck hinterlassen hätte, wäre es für ihn doch unmöglich geworden, mit Ihr zusammenzuleben oder sie zu heiraten, oder sie auch nur wiederzusehen. Und Sie behaupten, er habe Angela umgebracht, um genau das zu tun. Das kann also nicht seine Absicht gewesen sein. Ist doch eigentlich ganz einfach, wenn man darüber nachdenkt.«

Wexford erwiderte nichts darauf. Er ließ sich keinerlei Aufregung anmerken. Aber als er abends nach Hause kam, studierte er seinen Stadtplan von London, führte ein Telefongespräch und verbrachte einige Zeit grübelnd über seinem letzten Bankauszug.

Die Fortunes waren auf einen Wochenendbesuch gekommen. Onkel und Neffe spazierten die Wool Lane entlang und blieben vor Bury Cottage stehen, das noch nicht wieder vermietet worden war. Der ›Mirakel‹-Baum war mit Blüten übersät, und hinter dem Haus am Hügel, der von einer Baumgruppe gekrönt war, weideten junge Lämmer.

»Hathall hält eben auch nichts von Herden blöder Schafe«, meinte Wexford, dem eine Unterhaltung einfiel, die sie einmal hier ganz in der Nähe geführt hatten. »Er hat sich so weit wie nur irgend möglich von den Epsom Downs entfernt niedergelassen, dabei ist er doch ein gebürtiger Südlondoner. Er wohnt jetzt in West Hampstead. Dartmeet Avenue. Kennst du die?«

»Ich weiß, wo sie liegt. Zwischen Finchley Road und West End Lane. Warum hat er sich wohl gerade Hampstead ausgesucht?«

»Weil es am weitesten von Südlondon weg ist, wo seine Mutter und seine Exfrau und seine Tochter leben.« Wexford zog einen Pflaumenblütenzweig herunter an sein Gesicht und roch den zarten Honigduft. »Jedenfalls vermute ich das.« Der Zweig schnellte zurück und ließ Blütenblätter ins Gras rieseln. Nachdenklich fuhr er fort: »Er scheint ein zölibatäres Leben zu führen. Die einzige Frau, mit der er gesehen worden ist, ist seine Mutter.«

Howard war verblüfft. »Willst du damit sagen, du läßt ihn – durch jemanden observieren?«

»Ein richtiger Spion ist dieser Jemand gerade nicht«, räumte Wexford ein, »aber er war das Beste und Sicherste, was ich finden konnte. Genauer gesagt, es ist der Bruder eines meiner alten Stammkunden, eines Burschen namens Monkey Matthews. Der Bruder heißt Ginge, wegen seiner rötlich-gelben Haare. Er wohnt in Kilburn.«

Howard lachte, aber wohlwollend. »Und was macht dieser Ginge? Ihn verfolgen?«

»Nicht direkt. Er behält ihn ein bißchen im Auge. Ich zahle ihm ein kleines Entgelt. Natürlich aus meiner eigenen Tasche.«

»Ich wußte gar nicht, daß dir die Sache so ernst ist.«

»Ich weiß nicht, wann in meiner ganzen Karriere mir eine Sache so ernst gewesen ist wie diese.«

Sie kehrten um. Ein leichter Wind hatte sich erhoben, und es begann kühl zu werden. Howard warf einen Blick zurück auf den Heckentunnel, der bereits grün und dicht wurde, und fragte ruhig: »Was erhoffst du dir davon, Reg?«

Sein Onkel antwortete nicht gleich. Er sprach erst wieder, als sie an der alleinstehenden Villa vorüber waren, in deren Garageneinfahrt Nancy Lakes Wagen stand. Er war so tief in Gedanken versunken gewesen, so still und geistesabwesend, daß Howard vielleicht geglaubt hatte, er habe die Frage vergessen oder wisse keine Antwort darauf. Aber jetzt, als sie die Stowerton Road erreichten, sagte er: »Lange Zeit habe ich überlegt, warum Hathall derartig entsetzt war – und das ist noch eine Untertreibung –, als ich ihm von dem Abdruck berichtete. Natürlich, er wollte nicht, daß die Frau entdeckt wird. Aber es war nicht nur Angst, die man ihm ansah. Das war noch mehr, es war so was wie eine furchtbare Trauer, die aus ihm sprach – nachdem er sich etwas gefangen hatte, jedenfalls. Und da kam ich zu dem Schluß, daß seine Reaktion völlig unmißverständlich war: Er hatte Angela eigens dazu umgebracht, um mit dieser anderen Frau leben zu können. Und nun plötzlich begriff er, daß er nicht einmal wagen konnte, sie je wiederzusehen.

Und dann hat er überlegt. Also schrieb er diesen Beschwerdebrief an Griswold, um mich aus dem Feld zu räumen, denn er wußte, daß ich wußte … Immer noch bestand ja für ihn die Möglichkeit, davonzukommen und zu erreichen, was er wollte, nämlich ein gemeinsames Leben mit dieser Frau. Nicht, wie er es anfangs geplant hatte, nicht einfach ein Umzug nach London, und dann nach ein paar Wochen eine Freundschaft mit einem Mädchen – der einsame Witwer, der bei einer neuen Freundin Trost sucht, und die er, wenn genug Zeit verstrichen ist, heiraten kann. Das nicht – jedenfalls jetzt nicht mehr. Auch wenn er Griswold an der Nase herumgeführt hat, das konnte er sich jetzt nicht mehr trauen. Der Handabdruck war nun mal gefunden worden, und so sehr es auch den Anschein hatte, als ignorierten wir ihn, er konnte doch nicht hoffen, daß das glatt ginge – eine Werbung in aller Öffentlichkeit und dann eine Heirat mit einer Frau, deren Hand sie verraten konnte, und zwar jedem verraten konnte, nicht bloß einem Experten.«

»Was kann er also tun?«

»Er hat zwei Möglichkeiten«, sagte Wexford. »Entweder er und die Frau sind übereingekommen, sich zu trennen. Vermutlich ist die Freiheit, selbst wenn man sehr verliebt ist, den Freuden der Liebe vorzuziehen. Ja, sie könnten sich getrennt haben.«

»›So laß uns scheiden denn für immer, gelöst sei alles, was wir uns gelobt …‹ Die nächsten Zeilen passen sogar noch besser: ›Und wenn wir je einander wiedersehen, darf uns’rer heißen Liebe Schimmer kein Aug auf uns’rer Stirn erspäh’n.‹ Oder aber«, fuhr Wexford fort, »sie haben sich für Zusammenkünfte im geheimen entschieden; sagen wir pathetisch, ihre Leidenschaft hat für sie entschieden, denn die Liebe war stärker als sie: Nicht zusammen zu leben, sich nie in der Öffentlichkeit zu treffen, sondern sich so zu verhalten, als hätte jeder von ihnen einen eifersüchtigen Ehepartner.«

»Was, und das für immer und ewig?«

»Vielleicht. Bis es von selbst zu Ende geht, oder aber bis sie eine andere Lösung finden. Und genau das, denke ich, tun sie, Howard. Wenn es nicht so wäre, warum hat er sich dann eine Wohnung im Nordwesten von London ausgesucht, wo ihn niemand kennt? Warum nicht südlich des Flusses, wo seine Mutter lebt und seine Tochter? Oder irgendwas in der Nähe seiner Arbeitsstelle? Er verdient jetzt ein sehr ordentliches Gehalt. Er hätte sich genausogut eine Wohnung in Central London nehmen können. Er hat sich dort oben versteckt, damit er sich abends wegschleichen und mit ihr Zusammensein kann.

Ich werde sie aufspüren«, schloß Wexford nachdenklich. »Es wird mich ‘ne Stange Geld kosten und meine Freizeit obendrein, aber versuchen muß ich es einfach.«