21
Lovat kam gemächlich herein, und mit ihm sein unvermeidliches Sprachrohr, Sergeant Hutton.
»Schöner Tag heute.«
»Verschonen Sie mich mit Ihrem schönen Tag«, knurrte Wexford mit kehliger Stimme, denn sein Herz und sein Blutdruck benahmen sich höchst merkwürdig. »Von wegen schöner Tag. Ich wollte, es würde schneien, verdammt noch mal, ich wollte …«
Hutton sagte ruhig: »Wenn wir uns vielleicht eine Weile setzen könnten, Sir? Mr. Lovat hat Ihnen etwas zu sagen, wovon er annimmt, daß es Sie sehr interessiert. Und da er den Tip Ihnen verdankt, erschien es ihm als ein Gebot der Kollegialität …«
»Setzen Sie sich, ganz nach Belieben, nehmen Sie sich einen Kalender, nehmen Sie jeder einen. Ich weiß, weshalb Sie kommen. Aber sagen Sie mir bloß eins: Reicht das, was Sie gefunden haben, um einen Mann ausgeliefert zu kriegen? Wenn nicht, können Sie sich Ihren ganzen Kram sparen. Hathall fliegt heute nach Brasilien, und es steht zehn zu eins, daß er bereits weg ist.«
»Meine Güte«, sagte Lovat seelenruhig.
Wexford hätte fast den Kopf in den Händen vergraben. »Also, was ist? Haben Sie was?« brüllte er.
»Ich berichte Ihnen wohl besser, was Mr. Lovat gefunden hat, Sir. Wir haben gestern abend nochmals in dem Haus von Mr. und Mrs. Kingsbury vorgesprochen. Sie waren gerade zurückgekommen. Sie hatten ihre verheiratete Tochter besucht, die ein Baby bekommen hat. Keine Mrs. Mary Lewis hat je bei ihnen in Untermiete gewohnt, und sie hatten nie Verbindung zu Kidd und Co. Ferner hat Mr. Lovat auch durch weitere Ermittlungen in der Pension, von der er Ihnen berichtete, keinerlei Existenznachweis der anderen angeblichen Kontoinhaberin erbringen können.«
»Also haben Sie einen Haftbefehl für Robert Hathall ausstellen lassen?«
»Mr. Lovat möchte zuerst mit Robert Hathall sprechen, Sir«, verwahrte sich Hutton. »Ich nehme an, Sie werden verstehen, daß wir noch etwas mehr brauchen, auf das wir uns stützen können. Wir sind nicht nur aus – äh, Kollegialität gekommen, sondern möchten von Ihnen auch Hathalls derzeitige Adresse erfahren.«
»Seine derzeitige Adresse«, fauchte Wexford, »ist vermutlich etwa sechs Kilometer hoch in der Luft über Madeira oder wo immer dieses verdammte Flugzeug fliegt.«
»Pech«, meinte Lovat kopfschüttelnd.
»Vielleicht ist er noch gar nicht fort, Sir. Wenn wir ihn vielleicht anrufen könnten?«
»Aber gewiß doch könnten Sie – wenn er nur Telefon hätte und noch nicht weg wäre!« Wexford blickte verzweifelt auf die Uhr. Es war halb elf. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich machen soll. Das einzige, was ich vorschlagen kann, ist, daß wir alle rausfahren nach Millerton-les-deux – äh, ich meine Hightrees Farm, und das alles dem Chief Constable vorlegen.«
»Gute Idee«, sagte Lovat. »Dort habe ich manche schöne Nacht mit dem Beobachten der Dachse verbracht.«
Wexford hätte ihm in den Hintern treten können.
Er wußte selbst nicht, weshalb er die Frage gestellt hatte. Mit dem sechsten Sinn hatte das nichts zu tun. Vielleicht bloß, weil er die Details dieses Betruges ebenso genau im Kopf haben wollte wie Hutton. Aber er stellte sie, und hinterher dankte er Gott, daß er sie dort auf der Landstraße nach Millerton gestellt hatte.
»Die Adressen der Kontoinhaberinnen, Sir? Die eine lautete auf Mrs. Dorothy Carter, Ascot House, Myringham – das ist diese Hotelpension – und die andere auf Mrs. Mary Lewis, Maynnot Way 19, Toxborough.«
»Haben Sie Maynnot Way gesagt?« fragte Wexford mit einer Stimme, die wie von weit her kam und nicht seine eigene zu sein schien.
»Richtig, Sir. Sie verläuft von der Hauptverkehrsstraße nach …«
»Ich weiß, wo sie verläuft, Sergeant. Und ich weiß auch, wer in der Maynnot Hall mitten im Maynnot Way gewohnt hat.« Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. »Lovat«, sagte er, »was haben Sie bei Kidds gemacht an dem Tag, als wir uns in der Einfahrt begegnet sind?«
Lovat sah Hutton an, und Hutton sagte: »Mr. Lovat führte seine Ermittlungen in Verbindung mit dem Verschwinden von Morag Grey durch, Sir. Morag Grey arbeitete kurze Zeit als Putzfrau bei Kidds, während ihr Mann Gärtner in Maynnot Hall war. Selbstverständlich haben wir alles sondiert, was uns möglich war.«
»Maynnot Way habt ihr nicht gründlich genug sondiert.« Wexford rang nahezu nach Atem angesichts der Tragweite seiner Entdeckung. Seine Schimäre, dachte er, sein Hirngespinst! »Eure Morag Grey liegt nicht in irgendeinem Garten begraben. Sie ist Robert Hathalls Geliebte, und sie haut mit ihm nach Brasilien ab. Mein Gott, jetzt ist mir alles klar…« Wenn er doch bloß Howard neben sich hätte, um ihm alles dies zu erklären, statt des phlegmatischen Lovat und seines großmäuligen Sergeants. »Hören Sie zu«, sagte er. »Diese Person, diese Grey war Hathalls Komplizin bei der Betrügerei. Er hat sie kennengelernt, während sie beide bei Kidds arbeiteten, und sie und seine Frau hatten die Aufgabe, von diesen Konten Geld abzuheben. Ohne Zweifel hat sie den Namen und die Adresse einer Mrs. Mary Lewis erfunden, weil sie den Maynnot Way kannte und weil sie wußte, daß die Kingsburys Zimmer vermieteten. Hathall wurde ihr hörig, und sie ermordete Hathalls Frau. Sie ist nicht tot, Lovat, sie hat seitdem die ganze Zeit als Hathalls Geliebte in London gelebt… Wann war das, wann ist sie verschwunden?«
»Soweit wir wissen im August oder September letzten Jahres, Sir«, sagte der Sergeant, und er brachte den Wagen auf dem Kies vor Hightrees Farm zum Stehen.
Dem Ansehen von Mid-Sussex sei es höchst unzuträglich, wenn Hathall die Flucht gelänge. So lautete zu Wexfords Verblüffung die Meinung von Charles Griswold. Und er bemerkte denn auch, wie eine leichte Welle des Unbehagens das staatsmännische Gesicht rötete, als der Chief Constable sich gezwungen sah, diese Theorie für stichhaltig zu akzeptieren.
»Dies ist ein wenig mehr als bloß ›Gefühle‹, meine ich, Reg«, sagte er, und dann rief er höchstpersönlich den Londoner Flughafen an.
Wexford, Lovat und Hutton mußten lange warten, ehe er zurückkam. Als er schließlich erschien, berichtete er, daß Robert Hathall und eine Frau, die als Mrs. Hathall reiste, auf der Passagierliste der Maschine nach Rio stünden, die um zwölf Uhr fünfundvierzig startete. Die Flughafenpolizei würde angewiesen, beide wegen Verdachts auf arglistige Täuschung festzunehmen. Man müsse also umgehend einen Haftbefehl ausstellen.
»Sie muß auf seinen Paß reisen.«
»Oder auf Angelas«, sagte Wexford. »Den hat er noch. Ich erinnere mich, ich habe ihn gesehen, aber er blieb dann bei ihm in Bury Cottage zurück.«
»Überhaupt kein Grund zur Verzweiflung, Reg. Besser spät als gar nicht.«
»Darf ich darauf aufmerksam machen, Sir«, sagte Wexford betont höflich, wenn auch mit einer gewissen Schärfe in der Stimme, »daß es jetzt zwanzig vor zwölf ist. Ich kann nur hoffen, daß wir noch rechtzeitig kommen.«
»Oh, der entwischt uns ja nicht mehr«, meinte Griswold leichthin und forsch. »Sie halten ihn doch auf dem Flugplatz fest, wohin Sie sich jetzt bitte umgehend begeben werden. Umgehend, Reg. Und morgen früh können Sie dann auf einen Weihnachtsdrink herüberkommen und mir alles berichten.«
Sie fuhren nach Kingsmarkham zurück, um Burden mitzunehmen. Der Inspector stand in der Halle, blickte durch seine Brillengläser auf den Umschlag in seiner Hand, fuchtelte wütend damit dem verdutzten, diensthabenden Sergeant vor der Nase herum und fragte, wer sich die Frechheit erlaubt hätte, ihm Pornographie zuzuschicken.
»Hathall?« sagte er, als Wexford berichtete. »Das kann doch nicht wahr sein. Sie machen einen Witz!«
»Los, steigen Sie ein, Mike, ich erzähle Ihnen unterwegs alles. Nein, Sergeant Hutton wird es uns unterwegs erzählen. Was haben Sie denn da? Künstlerische Fotografie? Ach, jetzt verstehe ich, wozu Sie eine Brille brauchten.«
Burden gab als Antwort ein wütendes Schnauben von sich und wollte sich lang und breit über seine Unschuld ergehen, aber Wexford schnitt ihm das Wort ab. Er hatte jetzt keine Ablenkung mehr nötig. Auf diesen Tag hatte er gewartet, auf diesen Moment – und das seit fünfzehn Monaten. Er hätte seinen Triumph in die prickelnde, blaue Luft, in die frühlingshafte Sonne hinausbrüllen mögen. Sie fuhren in zwei Wagen. In dem ersten saßen Lovat und sein Fahrer und Polly Davis, im zweiten Wexford, Burden und Sergeant Hutton mit ihrem Fahrer.
»Ich möchte alles hören, was Sie mir über Morag Grey erzählen können.«
»Sie war – ich meine ist – Schottin, Sir. Aus dem Nordwesten Schottlands, aus Ullapool. Aber dort oben gibt es nicht viel Arbeit, und so ging sie nach Süden und nahm eine Stellung an. Grey lernte sie vor sieben oder acht Jahren kennen. Sie heirateten und bekamen diesen Job in Maynnot Hall.«
»Was, er machte den Garten, und sie putzte das Haus?«
»Richtig. Ich verstehe zwar nicht ganz, warum, denn allem Anschein nach war so ein Job ziemlich unter ihrem Niveau. Laut Aussage ihrer Mutter und – was wohl stichhaltiger ist – ihres Arbeitgebers in Maynnot Hall hatte sie eine vernünftige Ausbildung und war recht intelligent. Ihre Mutter sagt, Grey habe sie heruntergezogen.«
»Wie alt ist sie, und wie sieht sie aus?«
»Sie dürfte jetzt zweiunddreißig sei, Sir. Dünn, dunkelhaarig, keine besonderen Merkmale. Sie erledigte die Hausarbeit in Maynnot Hall und hatte darüber hinaus auch noch außerhalb Putzstellen. Eine davon war bei Kidds, im März vor einem Jahr, aber da blieb sie nur zwei oder drei Wochen. Dann wurde Grey fristlos entlassen, weil er der Frau seines Arbeitgebers ein paar Scheine aus der Handtasche gestohlen hatte. Sie mußten ihre Dienstwohnung räumen und zogen als illegale Bewohner in eines der baufälligen Häuser in der Altstadt von Myringham. Aber bald darauf gab Morag ihm den Laufpaß. Grey sagt, sie habe den wahren Grund seiner Kündigung herausgefunden und erklärt, sie wolle nicht mehr mit einem Dieb zusammenleben. Ziemlich windige Geschichte, das werden Sie mir zugeben, Sir, aber er beharrte darauf, trotz der Tatsache, daß er unmittelbar von ihr zu einer anderen Frau zog, die ein Zimmer auf der anderen Seite von Myringham hatte, etwas über einen Kilometer entfernt.«
»Klingt nicht sehr wahrscheinlich«, meinte Wexford nachdenklich, »unter solchen Umständen.«
»Er sagt, er habe das Geld, das er geklaut hat, für ein Geschenk für sie ausgegeben, für eine goldene Schlangenkette.«
»Ach.«
»Was ja wahr sein mag, aber nicht viel beweist.«
»Das würde ich nicht sagen, Sergeant. Was ist aus ihr geworden, nachdem sie allein dort zurückblieb?«
»Darüber wissen wir sehr wenig. Illegale Hausbewohner haben keine Nachbarn im normalen Sinne, das sind ja ständig umherziehende Leute. Sie hatte verschiedene Putzstellen bis in den August, von da an lebte sie von der Sozialunterstützung. Alles, was wir wissen, ist, daß Morag einer Frau in der Häuserzeile dort erzählt hat, sie habe in der Umgebung einen guten Job gefunden und würde wegziehen. Was das für ein Job war und wohin sie zog, haben wir nicht feststellen können. Seit Mitte September hat niemand sie mehr gesehen. Grey kam gegen Weihnachten zurück und nahm mit, was sie an Besitztümern zurückgelassen hatte.«
»Sagten Sie nicht, es sei ihre Mutter gewesen, die schließlich Alarm geschlagen hätte?«
»Morag war eine regelmäßige Briefschreiberin gewesen, und als ihre Mutter keine Antwort auf ihre Briefe mehr kriegte, schrieb sie an Grey. Er fand die Briefe, als er Weihnachten dorthin zurückging, und schließlich schrieb er auch zurück, irgendeine Lügengeschichte, daß er gedacht hätte, seine Frau sei nach Schottland zurückgekehrt. Die Mutter hatte Richard Grey nie über den Weg getraut, und sie ging zur Polizei. Sie kam sogar persönlich her, und wir mußten uns einen Dolmetscher suchen, weil – glauben Sie’s oder nicht – weil sie bloß gälisch sprach.«
Wexford, der in diesem Moment das schwindelnde Gefühl hatte, daß es nichts auf der Welt gäbe, was es nicht gab, fragte nur: »Spricht Morag auch – auch gälisch?«
»Ja, Sir. Sie ist zweisprachig.«
Mit einem Seufzer sank Wexford in die Polsterung zurück. Es gab noch ein paar lose Enden, die verknüpft werden, ein paar unerklärte Einzelheiten, die erklärt werden mußten, aber sonst… Er schloß die Augen. Der Wagen fuhr sehr langsam. Ohne aufzublicken, überlegte er vage, ob sie wohl in dichten Verkehr gerieten, je näher sie London kamen. Aber das machte ja nichts. Inzwischen hatte man Hathall wohl schon festgehalten, hatte ihn in irgendeinen kleinen Seitenraum des Flughafens gesperrt. Und selbst wenn man ihm nicht gesagt hatte, weshalb er nicht fliegen dürfe – er würde es wissen. Er würde wissen, daß alles aus war. Der Wagen stand annähernd still. Wexford öffnete die Augen und griff nach Burdens Arm. Er kurbelte das Fenster hinunter.
»Sehen Sie«, meinte er und zeigte auf den Erdboden, der jetzt im Schneckentempo vorbeirollte. »Sie bewegt sich doch. Und das da …« Sein Arm zeigte nach oben, himmelwärts, »… das bewegt sich nicht.«
»Was bewegt sich nicht?« fragte Burden. »Da ist doch nichts zu sehen. Schauen Sie selbst. Wir haben Nebel.«