»Söhnchen«, sagte Madame de Guise, als sie endlich Zeit fand, meine neue Wohnung im Louvre zu besichtigen, »in dieser Kahlheit könnt Ihr nicht länger leben. Man würde Euch Pfennigfuchser, Hungerleider, Geizkragen und was weiß ich schimpfen. Knauserei am Hof tötet einen Edelmann sicherer als ein Degenstoß. In Eurem Empfangskabinett braucht Ihr mindestens Gardinen an den Fenstern, flandrische Tapisserien an den Wänden, einen Orientteppich auf dem Fußboden, zwei, drei hübsche Truhen und ein Halbdutzend Lehnstühle. Ich werde Réchignevoisin sagen, er soll auf unseren Böden nachsehen und Euch das alles binnen acht Tagen einrichten. Ah, nicht doch! Nicht doch! Bedankt Euch nicht. Das ist bei mir alles ausgemusterter Kram! Aber es ist noch sehr gut erhalten, ich wechsele in meinem Hôtel de Grenelle doch alle zwei Jahre die Ausstattung. Und sputet Euch, daß Ihr Euch ein Gesinde schafft, wie es Eurem Rang gebührt. Hört Ihr?«
»Ich bin ganz Ohr, Madame, und wie gewöhnlich auch ganz Auge, und sei es nur, um das Blau Eurer Vergißmeinnichtaugen zu bewundern. Mein Vater meint, ich soll Louison für meinen Haushalt und meine Küche anstellen.«
»Und für Eure Siesta … Oh, Söhnchen, nun werdet bloß nicht rot! Und kommt mir nicht scheinheilig. Louison, na gut. Aber Ihr braucht auch einen Reitknecht.«
»Einen Reitknecht, Madame?« sagte ich staunend.
»Braucht Ihr etwa keinen, der Euer Pferd sattelt und Euch begleitet, wenn Ihr bei dem Marquis de Siorac oder bei mir speist?«
»Viel hätte der Reitknecht nicht zu tun.«
»Und einen Lakaien.«
»Einen Lakaien auch noch, Madame?«
»Wollt Ihr selbst die Tür öffnen, wenn Besuch kommt?«
»Nur dafür einen Lakaien? Beim Himmel! Der stürbe nicht an Erschöpfung.«
|100|»Hier geht es nicht um Erschöpfung«, sagte die Herzogin, und ihre blauen Augen funkelten schwarz, »sondern um Euren Rang!«
»Madame«, sagte ich mit einer Verneigung, »bitte, zankt nicht mit mir. Ich will ja alles tun, was Ihr befehlt.«
»Und außerdem einen Pagen, Monsieur. Und sucht Euch einen flinken, aufgeweckten, möglichst hübschen und aus gutem Hause, denn wie der Page, so der Herr, sagt man. Söhnchen, ich verlasse Euch, ich werde bei der Königin erwartet.«
Noch einmal versicherte ich meiner lieben Patin, ihr in allem zu gehorchen. Sie tätschelte mir die Wangen (sie wollte sich Bleiweiß, Puder und Rouge nicht durch Küsse verderben) und ging, höchst zufrieden mit mir, mit sich selbst, mit meinem Vater, ihrem Rang, ihrer prächtigen Gesundheit, ihrer guten Laune, ihrem Witz und überhaupt mit ihrem Leben, das ihr nur echten Kummer machen würde, wenn es sie verließe.
Ein Reitknecht? dachte ich. Ein Lakai? Und wie soll ich die bezahlen, da ich meine Pension höchstens erst Ende Dezember erhalte? Auf keinen Fall wollte ich meinem Vater nach der riesigen Summe, die er sich für mich abgerungen hatte, abermals auf dem Beutel liegen, nur um Tagediebe zu bezahlen.
Für meine Begriffe war der einzige nützliche Diener außer Louison ein Page. Er konnte mein Pferd satteln, die Tür öffnen und auch noch Briefe und Botschaften besorgen.
Nach dem Burschen brauchte ich nicht zu suchen. Kaum sprach es sich herum, daß ich im Louvre wohnte, bot er sich von selbst an, weil er von Madame de Guercheville entlassen worden war. Er kannte mich aus der Zeit, als ich noch Dolmetsch unseres seligen Königs war. Er hieß La Barge und hatte mir einmal anvertraut, wie er versucht hatte, eine Kammerfrau zu verführen, die ihn aber gescholten und geohrfeigt hatte, weil sie ihn zu klein fand. Tatsächlich war er erst vierzehn und sogar für sein Alter nicht groß, aber flink, aufgeweckt, mit schönen nußbraunen Augen, die vieles sahen, und großen Ohren, die ihren Zweck trefflich erfüllten. Ein solcher Page gefiel mir, denn durch ihn, dachte ich, würde ich mancherlei erfahren, was sich hinter den Kulissen und Türen dieses Palastes abspielte, in dem ich neu war.
Bevor ich ihn einstellte, wollte ich aber hören, was Madame de Guercheville über ihn sagte. Wie man sich erinnern wird, |101|unterstanden dieser Dame die Ehrenjungfern der Königin, und sie wachte mit Argusaugen über deren Tugend. In der Blüte ihrer Jugend hatte Madame de Guercheville einst den Sturmangriff unseres Henri abgeschlagen, was ihr einen solchen Ruf von Prüderie eingetragen hatte, daß er hinfort alle Galane am Hof verschreckte. Vielleicht zu Unrecht. Denn in unserem Gespräch zeigte sie sich sehr verführerisch in Blicken und Lächeln und durchaus nicht geneigt, unsere Unterhaltung abzukürzen. Sie sang mir das höchste Lob auf La Barge, den sie nur entlassen hatte, um die Stelle dem Sohn einer hohen Dame zu geben, die sie darum gebeten hatte.
Während sie mich derweise am Bändel hielt – und zehn Worte sagte, wo zwei genügten –, fürchtete und hoffte ich doch zugleich, in ihrem Umkreis auf Mademoiselle de Fonlebon zu treffen. Aber so oft ich meine Augen auch auf Spähergang schickte, erblickte ich meine Cousine doch nirgends unter den reizenden Wesen, die uns umschwirrten.
Der erste Dienst, den ich von La Barge verlangte, war, mir zu sagen, wer mir zu einer Audienz bei der Marquise von Ancre verhelfen könnte.
»Entweder, Herr Chevalier«, sagte er, »Ihr wendet Euch an ihren Florentiner Sekretär, Andrea di Lizza, oder an ihren jüdischen Arzt Montalto.«
»Ein jüdischer Arzt im Louvre?« fragte ich verwundert. »Obwohl die Graubärte ein Edikt planen, nach dem alle Juden das Königreich verlassen müßten?«
»Eben deshalb«, sagte La Barge, »hat die Königin beim Papst die Erlaubnis eingeholt, Montalto aus Portugal kommen zu lassen, damit er die Marquise behandelt.«
»Und woher wußte sie seinen Namen und seinen Wohnort?«
»Von ihrem königlichen Parfumeur, Señor Maren, auch ein Jude. Montalto ist sein Neffe.«
»Und wer, meinst du, hat den größeren Einfluß auf die Marquise, Lizza oder Montalto?«
»Darauf würde ich nicht wetten. Andrea di Lizza spielt im Leben der Dame eine große Rolle. Er ist ihr Sekretär, Haushofmeister und Musikus. Es lindert ihre Schmerzen, wenn er ihr Florentiner Weisen zur Gitarre singt.«
»Und Montalto?«
»Montalto hat ihren Zustand durch seine Behandlung verbessert, |102|und, wie man hört, verehrt die Marquise ihn sowohl als Arzt wie als Philosophen und Magier.«
»Dann bin ich für Montalto.«
»Für den Juden, Herr Chevalier?« sagte La Barge und erblaßte. »Aber wie soll ich zu ihm gehen? Mit Juden zu sprechen ist eine Sünde.«
»Wer sagt das?«
»Mein Beichtvater.«
»Und warum ist es eine Sünde?«
»Weil die Juden unseren Herrn Jesus zum Tode verurteilt haben.«
»Und die Römer haben ihn gekreuzigt. Wenn ich dich nun nach Rom schicke, weigerst du dich dann auch, mit Römern zu sprechen?«
»Es sind doch nicht mehr dieselben Römer.«
»Es sind auch nicht mehr dieselben Juden.«
Dieses Argument machte ihn sprachlos.
»Du brauchst aber mit Montalto gar nicht zu sprechen, du übergibst ihm ein Billett von mir und hörst seine Antwort.«
»Ich gehorche Eurem Befehl, Herr Chevalier«, sagte La Barge, mehr von meinem entschiedenen Ton beeindruckt als von meinen Argumenten.
Am selben Tag, als La Barge sein Seelenheil riskierte und zu Montalto ging, wurde il mio piccolo salone1, wie man sein Empfangskabinett damals im Louvre gern nannte, mit dem ›ausgemusterten Kram‹ meiner lieben Patin geschmückt. Mir erschien aber alles so schön und neu, daß es jammerschade gewesen wäre, hätten es auf den Böden des Hôtel de Grenelle die Mäuse gefressen. Weil mein Vater derzeit auf seinem Gut Le Chêne Rogneux mit dem Dachdecken beschäftigt war, kam La Surie, meine Einrichtung zu bewundern: was er gewissenhaft tat, aber nicht ohne ein paar giftige Pfeile loszulassen, weil er mich schon ›im Luxus, wenn nicht in Ausschweifung versinken‹ sah.
Am folgenden Abend um Punkt neun Uhr besuchte mich Montalto und schien hochgerührt, als ich ihn bat, Platz zu nehmen (auf einem meiner karmesinroten, mit Goldborten verzierten Samtstühle) und ihn zu einem Glas Cahors-Wein einlud. |103|La Barge bediente, gekränkt darüber, daß ich diese Mühe ihm abverlangte und nicht Louison, die sich vor Schreck über den Besucher in die Kammer geflüchtet hatte.
Montalto bestand nur aus Haut und Knochen und wirkte nicht sehr gesund. Sieh an, die Mediziner, dachte ich: sie wollen andere heilen und wissen sich selbst nicht zu helfen. Sein Gesicht war wirklich so mager, daß er statt der Wangen Höhlen hatte und man, wenn er sprach, seine Kiefermuskeln spielen sah. Und sein Schädel war so unwiderruflich aller Haare bloß, daß man schwer sagen konnte, wo seine Stirn ansetzte, die mir jedoch wohlgeformt und an der Basis schön betont schien durch dichte schwarze Brauen und herrliche grüne Augen. Montalto ließ sie zur Begleitung seiner leisen, wohlklingenden Stimme lebhaft sprechen, ebenso seine langen, ausdrucksvollen und so beweglichen Hände, daß man meinte, seinen Fingerspitzen werde jeden Augenblick eine Taube entschlüpfen.
Zuerst erkundigte ich mich nach der Gesundheit der Marquise, und zu meiner großen Überraschung antwortete Montalto auf diese aus reiner Höflichkeit gestellte Frage mit einer ziemlich langen Ausführung, die ihm, wie ich vermutete, Zeit ließ, mich zu erforschen und sich über mich eine Meinung zu bilden.
»Die Marquise«, sagte er, »leidet an den Nerven und überdies an einem Quartfieber, das sie in eine melancholische und hypochondrische Gemütsverfassung versetzt. Sie lebt ganz ihren Leiden und Ängsten, von denen die schlimmste ist, kein Geld zu haben. Diese Angst quält sie derart, daß sie, schenkte man ihr den gesamten Schatz Frankreichs und beider Spanien, noch immer nicht beruhigt wäre. Dieses Faß hat keinen Boden. Auch die Befürchtungen nicht, die ihr Zustand ihr eingibt. Wenn man sie nur überzeugen könnte, sich nicht soviel mit ihrem Befinden zu beschäftigen, wäre sie zweifellos weniger krank. Aber dagegen ist kein Kraut gewachsen. Der Herr Marquis von Ancre möchte sie als Wahnsinnige in das Schloß von Caen einliefern, ich bin dagegen. Die Marquise ist nicht irre, sie ist nur unvernünftig, besonders in ihren Wutausbrüchen. Und davon kann man sie auf sanftem Wege abbringen. Ich habe ihr Ruhe, Abgeschiedenheit und Diät verordnet, eine maßvolle Diät, und vor allem verlangt, daß man ihr zur Besänftigung ihrer Habsucht ständig kleine Geschenke macht, |104|mögen es auch ganz alltägliche sein, denn es beruhigt sie allein schon, daß sie etwas bekommt.«
Mich erstaunte diese Rede. Sie dünkte mich scharfsinnig und durchaus nicht von einem Scharlatan, wie La Barge es mit dem Wort ›Magier‹ angedeutet hatte. Noch erstaunlicher war, daß Montalto mein Interesse an der Gesundheit der Marquise von Ancre erregt hatte, die mich bis dahin keinen Deut gekümmert hatte. Und ganz ernsthaft fragte ich: »Und ist die Marquise auf dem Weg der Heilung?«
»Das würde ich nicht beschwören, Herr Chevalier, aber es geht ihr besser.«
Hierauf verschränkte Montalto seine Fingerspitzen, neigte den Kopf seitlich und sah mich freundlich und fragend an. Und ich sagte ihm nun, was ich mir von ihm erhoffte.
»Nichts einfacher als das«, sagte er sofort, ohne sich im mindesten mit seinem Einfluß zu brüsten. »Ich erwirke Euch in den nächsten acht Tagen eine Audienz, und wenn Ihr erlaubt, Herr Chevalier, Euch dafür einen Rat zu geben, gebraucht bei diesem Besuch einige Vorsicht. Sprecht zu der Marquise beispielsweise nur sanft und leise.«
»Warum?«
»Weil der Marquis so heftig und roh zu ihr ist, daß sie sich bei jedem lauten Ton verschließt. Auch wäre es ratsam, sie nur verstohlen anzusehen und ihr nie direkt in die Augen zu blicken.«
»Und warum das, verflixt?« fragte ich.
»Die Marquise«, sagte Montalto, »ist wie viele Italienerinnen ebensogut katholisch wie abergläubisch. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, daß jeder, der sie fest anblickt, sie verhexen will, denn sie hält eine dämonische Besessenheit für die Ursache ihrer Leiden … Deshalb lebt sie zurückgezogen, verläßt nie ihren Ort und sieht keine lebende Seele.«
»Außer denen«, sagte ich, »die ihr Nadelgelder bringen …«
»Dann siegt eben«, sagte Montalto mit gewundenem Lächeln, »die Habsucht über die Angst. Und wundert Euch nicht, wenn sie Euch mit einem schwarzen Schleier vor dem Gesicht empfängt. Er schützt sie vor dem bösen Blick. Das hat aber auch einen Vorteil. Wenn sie im Verlauf Eures Gesprächs den Schleier lüftet, wißt Ihr, daß sie einverstanden ist. Nur müßt Ihr Eure Augen dann um so mehr zügeln.«
|105|»Monsieur«, sagte ich, »für diese kostbaren Hinweise schulde ich Euch tausend Dank.«
»Laßt mich noch diesen hinzufügen: Da es sich für Euch ja nur darum handelt, die Rückkehr einer Freundin nach Frankreich zu erwirken, kann ich nicht sagen, ein wie hohes Nadelgeld die Marquise dafür fordern wird. Aber Ihr würdet sie von vornherein günstig stimmen, wenn Ihr ihr ein hübsches kleines Geschenk mitbringt, auch wenn es keinen großen Wert hat, und ihr deutlich macht, daß es ihr auch bleiben wird, falls Euer Handel scheitert.«
»Daran soll es nicht fehlen«, sagte ich und stand auf. »Großen Dank noch einmal für Eure Vermittlung und für die guten Ratschläge, die ihr mir gegeben habt. Erlaubt bitte, ehrwürdiger Doktor«, fügte ich hinzu, die Hand an meiner Börse, »Euch meine Dankbarkeit zu bezeugen …«
»Oh, nein, nein, Chevalier!« sagte Montalto rasch. »Ich bin bereits belohnt.«
»Wie das?« fragte ich, »von wem?«
»Von Euch, Herr Chevalier. Mich haben schon viele Edelleute und darunter einige, die sehr hochgestellt sind an diesem Hof, um meine Fürsprache bei der Marquise gebeten, aber Ihr als einziger habt mich bei Euch empfangen. Dafür weiß ich Euch großen Dank.«
Hierauf verabschiedete er sich mit einer tiefen Verneigung und ging. Und ich sann noch eine Weile über seine freundliche Bereitschaft nach und über die Eleganz, mit der er mein Geld ausgeschlagen hatte.
* * *
Nie hat ein Untertan die Audienz einer großen Königin mit solcher Ungeduld und Bangnis erwartet wie ich die Audienz dieser ›Hergelaufenen‹, wie unser Henri sie zu nennen pflegte, der sich niemals hätte einfallen lassen, sie vom Stand einer Zofe in die Würde eines Marquisats zu erheben, noch sich hätte träumen lassen, daß die Regentin, deren Macht er im voraus so stark eingeschränkt hatte, kaum daß er tot war, das Reich als absolute Herrscherin regieren und dabei selbst regiert werden würde von ihrer Friseuse und einem ehrlosen Abenteurer.
Meine Wohnung im Louvre und der für mich so neue Luxus meines piccolo salone stiegen mir durchaus nicht zu Kopfe, im |106|Gegenteil, ich fühlte mich ziemlich unwohl in meinem Warten, meinen Ungewißheiten und sogar bei meinen Vergnügungen. Zuerst hatte ich Louison nicht zu mir nehmen wollen, was die Ärmste allerdings tief enttäuscht hätte, die sich so aus Herzensgrund wünschte, unter demselben Dach wie die Königin und ihr Sohn zu leben und Kammerfrau eines Ersten Kammerherrn zu sein, daß die Aureole davon sie bis in ihr hohes Alter umstrahlen würde. Trotzdem entschied ich mich schließlich doch dafür, weil mein Vater mir vorgestellt hatte, daß ich schließlich nicht ewig ›meinen Braten aus dem Rauch essen‹ könne in Erwartung einer Zukunft, die sich womöglich nicht einstellen würde. Aber ich war noch so jung, so unverdorben, und nach jeder Siesta fühlte ich mich treulos gegen Frau von Lichtenberg, obwohl ich von ihr bisher nichts gehabt hatte als hohle Träume im Kopf und mir auch alles andere als sicher war – falls es mir gelänge, sie nach Paris zu holen –, daß sie mir die letzten Beweise einer Liebe gewähren würde, die sich seit Monaten nur von Papier und Tinte nährte.
Der Marquis von Ancre bewohnte ein kleines Haus neben dem Louvre, die Marquise aber genoß, wie ich wohl schon sagte, das Privileg dreier zusammenhängender Räume über den Gemächern der Königin, zu denen sie über eine kleine Wendeltreppe gelangte. Diese drei Räume, durch die man hindurch mußte, wollte man zu Stellen, Ämtern, Ehren, Steuerpachten und sogar zu Abteien gelangen, waren das Heiligste vom Allerheiligsten. Und in Abwandlung des Bibelwortes wäre ein Kamel eher durch ein Nadelöhr gekommen als ein Armer dort hinein.
Auf Tag und Stunde, die Montalto mir nannte, stellte ich mich an der Tür unserer Vizekönigin ein, begleitet von La Barge und Pissebœuf, aus Gründen, die sich noch zeigen werden, aber eintreten durfte ich nur allein. Empfangen wurde ich von Marie Brille, einer Französin, die – La Barge dixit – für die Marquise kochte, eine dicke Trutschel, die auch, als ich meinen Namen nannte, nicht von der Schwelle wich und mir den Eintritt durch ihre schiere Masse verwehrte. Also begriff ich, daß man ihr einen Obolus zahlen mußte wie Charon, um den Styx zu überqueren. Ich drückte ihr einen Ecu in die Pranke, und das Weib wich. Das kleine Kabinett, das ich betrat, war Küche, Apotheke, Spezereienlager und, ich wette, auch Baderaum in einem, denn in einer Ecke sah man einen |107|Badezuber stehen. Die Dicke steckte meinen Ecu zwischen ihre gewaltigen Brüste (wo selbst die habgierigste Kreatur Gottes nicht hätte hinlangen mögen) und zeigte mit ihrer Hand, groß und rot wie ein Schlegel, wortlos auf eine Tür hinten im Raum. Ich klopfte, und die Tür öffnete sich vor einer Dienerin, die an Häßlichkeit, wenn auch nicht an Fett, die erste noch übertraf, ein schielendes, schiefnasiges, zahnloses Wesen. Diese Schönheit war Italienerin. Laut La Barge hieß sie Marcella, und auch sie verweigerte mir stumm den Eintritt, bis sie meinen Obolus kassiert hatte. Nachher fiel mir ein, daß die beiden Gorgonen ihren Wegezoll sicherlich darum ohne ein Sterbenswörtchen einforderten, weil sie fürchteten, ihre Herrin könnte ihnen sonst von ihren Nadelgelderchen noch einen Anteil abzwacken.
Trotzdem war Marcella der gesprochenen Sprache durchaus mächtig, denn nachdem sie mir einen Sitz angeboten hatte, sagte sie mit leiser, kratziger Stimme, indem sie auf die Tür zum benachbarten Raum wies: »Die Marquise schläft. Sie wird Euch nach diesem Edelmann empfangen.«
Das also war die dritte Tür, die ich zu durchschreiten hatte, bevor ich das Allerheiligste betreten durfte, wo die Gottheit die Fürbitten und Opfergaben der Pilger entgegennahm. Ich setzte mich und warf ein Auge auf den, der vor mir dran war.
»Monsieur«, sagte ich und verneigte mich, ohne mich aber vorzustellen, »ich bin Euer Diener.«
»Euer Diener, Monsieur«, sagte er, »ich bin Antoine Allory, Seigneur de la Borderie.«
Auf diesen Austausch folgte ein ziemlich langes Schweigen, das jeder von uns benutzte, den anderen scheinbar zerstreut ins Auge zu fassen, während Marcella, ohne uns mehr zu beachten als Möbel, unbekümmert mit einem Lappen über die kleinen Scheibenvierecke fuhr. Doch wurde sie darin von Marie Brille unterbrochen, die den Kopf durch einen Türspalt steckte und sie mit lockendem Finger in die Küche rief.
Ihrer Gegenwart ledig, musterte mich Antoine Allory nun mit zunehmender Aufdringlichkeit, was ich einigermaßen unverschämt fand. Ich wollte mir das nicht länger bieten lassen und blickte ihm unverhohlen ins Gesicht. Ehrlich gesagt, mir gefiel nicht sehr, was ich sah: ein großer, dicker Mann, ziemlich gewöhnlich, mit einem rotgedunsenen Gesicht, aus dem harte, |108|mißtrauische Augen blitzten. Wahrlich! Er hatte nicht geknausert an den Perlen auf seinem Wams, am Federbusch auf seinem Hut, an Fingerringen und Steinen, von denen sein Degenknauf funkelte – wobei ich stark bezweifelte, daß er den Degen zu führen wußte, so schwer, wie der war.
Trotzdem, da der Mensch fortfuhr, mich immer unfreundlicher anzustarren, entsann ich mich der Empfehlungen meines Vaters, und um einen Streit zu vermeiden, den ich gären fühlte – Gott weiß, warum! –, wandte ich die Augen ab und schaute zur Decke. Aber dieser Rückzug, den Allory wahrscheinlich für Ausflucht hielt, hatte die gegenteilige Wirkung. Er legte die Hände auf seine Schenkel und kehrte mir sein hochrotes Gesicht mit zornsprühenden Augen zu.
»Monsieur«, sagte er leise, aber wütend, »wenn Ihr, wie ich vermute, hier seid, meine Pläne zu durchkreuzen, dann laßt Euch gesagt sein: noch mit dem Kopf auf dem Richtblock stehe ich davon nicht ab. Die fünf Pachten sind mir im Königlichen Rat nach öffentlicher Versteigerung zugeschlagen worden. Das ging alles mit rechten Dingen zu. Ich habe diese fünf Pachten auf acht Jahre für achthundertsechsundneunzigtausend Livres gekauft, und wer versuchen sollte, mich um meine Pachten zu bringen, dem jage ich eine Pistolenkugel in den Kopf.«
»Monsieur«, sagte ich verblüfft, »ich weiß nicht, wovon Ihr redet.«
»Larifari!« zischte er wütend. »Ihr denkt wohl, Ihr könnt mich hochnehmen? Wollt Ihr mir weismachen, Ihr hättet noch nie was von Pierre de La Sablière gehört?«
»In der Tat, nein.«
»Oder von dem Schuft Giovannini?« Den Namen sprach er nur flüsternd aus.
»Auch nicht.«
»Und wollt nichts davon wissen, daß der erste nur der Strohmann des zweiten ist, weil Sully verboten hat, Pachten an Ausländer zu vergeben?«
»Monsieur«, sagte ich mit äußerster Kühle, »ich bin der Chevalier de Siorac, Erster Kammerherr des Königs. Ich habe keine Ahnung von alledem, womit Ihr mir in den Ohren liegt. Ich kenne weder La Sablière noch Giovannini, weiß nicht, daß der erste der Strohmann des zweiten ist, und verstehe nicht, um welche Zwistigkeiten es bei diesen fünf Pachten geht.«
|109|»Monsieur, wenn ich mir erlauben darf, Ihre Erzählung zu unterbrechen: auch ich verstehe kein bißchen.«
»Sie, schöne Leserin?«
»Was ist mit diesen fünf Pachthöfen, Monsieur? Warum sind sie so teuer, und weshalb mußten sie nach einer Versteigerung für eine fabelhafte Summe diesem Lumpen vom Königlichen Rat im Beisein des Königs zugesprochen werden?«
»Dieser Allory, Madame, ist kein Lump, sondern ein Finanzier. Die Pachten sind keine Pachthöfe auf dem Land, sondern Steuerpachten, die der König diesem Finanzier (oder anderen) zu einem tatsächlich sehr hohen Preis abtritt mit der Maßgabe, sich diese Summe durch die Steuern wieder hereinzuholen, die er bei dem armen Volk eintreiben darf.«
»Welchen Vorteil bringt das dem König?«
»Er kommt schneller an die Gelder und spart sich selbst die Plackerei der Steuereintreibung.«
»Und der Pächter?«
»Madame, verstehen Sie nicht? Können Sie sich nicht vorstellen, was ein Geldmann tut, wenn er das alleinige Privileg besitzt, an Stelle des Königs Steuern zu erheben?«
»Monsieur, ich weiß Ihnen Dank, daß Sie mein Wissen über das System der Steuerpachten aufgefrischt haben. Fahren Sie bitte fort.«
Als ich mich mit Namen, Titel und Amt vorstellte (nicht ohne einen gewissen Hochmut), wurde Allorys rotes Gesicht blaß, er schoß in die Höhe, drückte seinen Hut ans Herz und schwenkte ihn bis zum Fußboden, ohne Rücksicht auf den Federbusch, der mindestens tausend Ecus gekostet haben mochte.
»Herr Chevalier«, sagte er, »ich bitte millionenmal um Entschuldigung.«
Hierauf setzte er sich, suchte sich zu sammeln und fuhr fort: »Monsieur, seid Ihr der Siorac, welcher der Patensohn von Madame de Guise ist?«
»Der bin ich in der Tat.«
»Monsieur«, sagte er, »ich bitte abermals um Vergebung.« Und nach kurzem erklärte er: »Ich bin um so untröstlicher, Monsieur, Euch für einen Vertrauten dieses teuflischen Florentiners gehalten zu haben, weil ich ein guter Freund des ältesten Sohnes Eurer Frau Patin bin. Und nur dank Herzog Charles habe ich mich auch der Königin vorstellen dürfen, die mir |110|sagte, ich solle ›diese Sache‹ mit der Marquise von Ancre regeln.«
Eine Weile beobachtete ich ihn nun schweigend, und da die Logik mich trieb, konnte ich mich nicht entschlagen, ihm quasi ins Ohr zu raunen: »Wenn Euer Widersacher ein Florentiner ist, glaubt Ihr dann nicht, daß die Macht, Euch die Wolle vom Leibe zu scheren, ihm hier verliehen worden ist?«
Allory sah mich an, als hätte ich in seinem Beisein Amerika noch einmal entdeckt.
»Selbstverständlich!« sagte er und hob die Brauen.
»Klopft Ihr dann hier an die richtige Tür?«
»Was bleibt mir weiter übrig? Eine andere gibt es nicht!«
Während ich über diese Antwort nachsann und sie leider nur allzu wahr fand, fuhr er mit ernster, tief überzeugter Miene fort: »Ich habe einen Grundsatz, der mein Leben regiert, und dieser Grundsatz, Monsieur, lautet: was Geld erbaut, kann Geld auch einreißen.«
In dem Augenblick ertönte aus dem Allerheiligsten ein schrilles Läuten so lange und herrisch, daß ich an das Glöckchen erinnert wurde, das Chorknaben in der Messe schwenken, damit alle den Kopf senken. Die Wirkung ließ nicht auf sich warten. Marcella eilte durch den Raum, klopfte an die heilige Pforte, öffnete sie, steckte den Kopf ins Innere, dann wandte sie sich zu uns um und machte mit dem Finger, ohne ein Wort, ohne auch nur eine Andeutung von Höflichkeit Allory das Zeichen, einzutreten.
Was nun hinter dieser Tür gesprochen wurde, erfuhr ich erst später von Allory selbst, der sich in der Folge um die Freundschaft des halben Guise, der ich war, bemühte, ohne mir jedoch Geld anzubieten wie dem Herzog Charles, der sich nicht genierte, es zu nehmen.
Allorys Gespräch mit der Marquise war von einer Kürze, die mich entsetzte. Er bot der Vizekönigin als Nadelgeld dreißigtausend Livres an. »È derisorio, Signor«, sagte sie mit schneidender Stimme. »Euer Gewinn beläuft sich nach meiner Berechnung auf zweihunderttausend Ecus.« – »Bei weitem nicht, bei weitem nicht!« ächzte Allory. – »Signor«, sagte die Marquise, »wir haben uns nichts mehr zu sagen.«
Als Allory aus dem Allerheiligsten kam, wankte er gewissermaßen, bleich vor Demütigung, die Augen traten ihm aus dem |111|Kopf. Er sah mich nicht einmal. Und hätte Marcella nicht mit fester Hand seine Schritte gelenkt, er hätte die Tür nicht gefunden.
Von da an erwartete ich meinen Eintritt in der größten Beklommenheit und fragte mich, ob es mir nicht ebenso ergehen werde. Zum Glück verstrich eine so lange Zeit, bis das schreckliche Glöckchen erneut ertönte, daß ich meine Gedanken doch wieder zu sammeln vermochte. Vor allem versuchte ich, mich auf Montaltos Ratschläge zu besinnen, was die schonungsvolle Begegnung mit einer Kranken betraf, die sich durch eine zu jähe Annäherung gekränkt oder durch einen zu direkten Blick von Verhexung bedroht fühlte. Letzteres erschien mir als der schwierigste Punkt, weil ich fürchtete, meine zu beharrlich gesenkten Augen könnten mir einen Anstrich von Hinterhältigkeit geben und sie letztlich mißtrauisch machen. Und so beschloß ich, lieber den Schüchternen zu spielen als den Heuchler.
Endlich erklang das Glöckchen, und mir war, als würde sein Schrillen mit meinem Herzklopfen eins, während ich mich, von Marcella gerufen, erhob und wahrhaftig mehr tot als lebendig auf die Schicksalstür zuschritt, denn in dem Augenblick schien es mir, als hingen mein ganzes Leben und das meiner Gräfin davon ab, was sich in den Gehirnwindungen jener Halbirren abspielen würde.
Sie saß mit dem Rücken zum Fenster, wo die Vorhänge nur leicht geöffnet waren, so daß es mir, auch wenn ihr Kopf und Gesicht nicht von einem schwarzen Schleier verhüllt gewesen wären, schwergefallen wäre, ihre Züge in dem Halbdunkel zu erkennen.
»Setzt Euch!« sagte barsch die Stimme Marcellas hinter mir. Höflichkeiten schienen ihr offenbar unnötig gegenüber den Bittstellern ihrer allmächtigen Herrin. Ich machte der vor mir sitzenden Gestalt eine tiefe Verbeugung, und nur unter verstohlenen Blicken setzte ich mich in den Lehnstuhl, der in ehrerbietigem Abstand von ihr wartete. Wie ich zu sehen meinte, atmete sie unter ihrem Schleier irgendeine Arznei ein, deren Kampfergeruch bis zu mir drang. Doch kann ich es nicht beschwören, denn verlegenen und furchtsam zwinkernden Auges ließ ich meine Blicke über Fußboden, Decke und Wände schweifen, ohne sie auch nur einmal auf ihre Person zu richten.
Allerdings gab es da einiges zu sehen und geblendet zu sein, |112|denn die Kassettendecke war mit mythologischen Figuren bemalt, die Wände mit Flandernteppichen bespannt, der Fußboden mit türkischen Teppichen ausgelegt, deren leuchtende Farben noch im Dämmerlicht dem Auge schmeichelten. Drei Paar Lehnsessel sah ich in purpurrotem Samt mit golddurchwirkten Streifen. Von der Decke hing ein venezianischer Kronleuchter mit vielen Kristallgehängen. Flankiert von zwei schlanken Ebenholzschränken, auf denen sich zahllose Ziergegenstände aus Gold, Silber und Elfenbein drängten, erhob sich ein riesiges Bett – völlig unangemessen dem schmächtigen Körper, den es aufzunehmen hatte –, und gewundene, mit Blattgold belegte Säulen trugen einen Baldachin, der ebenso wie die Bettstatt, ihre Decke und Kissen, mit Gold- und Seidenstickereien geziert war, die sich an den Vorhängen wiederholten. Was mich jedoch am meisten erstaunte, war die Anzahl der Truhen an den Wänden und in den Fensternischen. Sie waren sehr groß, augenscheinlich sehr schwer, aus kostbaren Hölzern gefertigt, mit Eisen verstärkt, mit silbernen Bändern beschlagen, die nicht weniger als drei Schlösser hatten, was voraussetzte, daß man, um sie zu öffnen und die darin enthaltenen Schätze zu betrachten, drei verschiedene Schlüssel haben mußte oder aber mit der Axt dreinschlug, was indes ausgeschlossen war, solange die Regentin das Land regierte. Leser, vergib mir die Axt, sollte sie dir zu gewalttätig erscheinen, zumal man auch nicht auf diese Hölzer und Bänder hätte einschlagen müssen, sondern auf die Veruntreuung öffentlicher Gelder, die vermöge der Regentin auf der obersten Staatsebene Einzug gehalten hatte.
Dies ist also das berühmte Kabinett, dachte ich, das die Concini seit neun Jahren mit ihrer Raffgier verschönert. Es genügt ihr nicht, reich zu sein, sie muß sich auch mit Reichtümern umgeben, deren etliche, wie es heißt – Goldmünzen, Perlen, Edelsteine, Diamanten –, sich in ihren Truhen häufen. Und wahrhaftig, es ist ein Zimmer von märchenhaftem Luxus, würdig einer Prinzessin von Geblüt. Nur noch die Ahnenbilder fehlen.
In diesen Überlegungen war ich, als die schwarzverschleierte Gestalt mir gegenüber anhob zu sprechen, und diese Stimme verblüffte mich, nicht durch das, was sie sagte, sondern durch ihre Kraft, denn die Gerüchte, die am Hof über die Marquise umliefen, hatten mir soviel eingeblasen über ihre |113|Schmächtigkeit, ihren kleinen Körper und ihre schwache Konstitution, daß ich mir aus der zerbrechlichen Hülle niemals eine so starke, tiefe Stimme erwartet hätte.
»Nun, Monsieur!« sagte sie, »was habt Ihr mir vorzutragen?«
»Madame«, sagte ich, indem ich mich so unbedarft und schüchtern wie möglich stellte, »bevor ich mein Anliegen erkläre, möchte ich Euch, wenn Ihr erlaubt, einen ziemlich seltenen kleinen Gegenstand zeigen und ihn, ohne den Erfolg meines Ersuchens im geringsten beeinflussen zu wollen, Euch zum Geschenk machen, sollte er Euch zusagen.«
»Laßt sehen«, sagte die Gestalt mit einer Kühle, die mir ein leise erbebendes Interesse zu verhehlen schien.
Ich zog aus dem Ärmelaufschlag meines Wamses eine kleine Sandelholzschachtel, öffnete sie mit einem winzigen Schlüssel und entnahm ihr einen kleinen Elefanten aus Elfenbein, den ich, indem ich mich vom Sitz erhob, mit gesenkten Augen der Marquise von Ancre entgegenstreckte.
Ihre Hände kamen unter dem schwarzen Schleier hervor, der ihr vom Kopf bis über die Brust fiel. Sie waren weiß, mager, nervig, sehr klein und erinnerten mich, wer weiß warum, an die Pfoten eines Eichhörnchens. Sie ergriffen meinen ›seltenen Gegenstand‹ mit einer solchen Gier, als würde er mir entrissen.
Dieser Gegenstand hatte eine Geschichte. Als mein Vater vor gut zwanzig Jahren von Rom schied, nachdem er dort eine heikle Mission beendet hatte (es handelte sich immerhin darum, die Exkommunikation Henri Quatres aufzuheben, nachdem er sich bekehrt hatte), kaufte er von einem Händler diesen kleinen Elefanten, den er der Pasticciera zum Abschied schenken wollte. Diese nun, eine sehr schöne und hochgeachtete Kurtisane, weil sie stets sechs getreue und hochrangige Liebhaber auf einmal hatte, warf meinem Vater den kleinen Elefanten wütend an den Kopf, weil er es wagte, sie zu verlassen, ohne daß sie es wollte. Da eine Narbe an der Schläfe ihm die unglückliche Erinnerung daran ohnehin bewahrte, trennte er sich leicht von dem Nippes. »Ich hätte ihr besser etwas ohne Schachtel anbieten sollen«, sagte er. »Denn eine Ecke davon hat mich verletzt.«
Die kleinen weißen Hände waren unter dem Schleier, der die Marquise vor dem bösen Blick schützte, sehr gut zu sehen, und |114|auf sie richtete ich meine Augen, damit sie denen der Marquise ja nicht begegneten. Aber allein an der Art, wie sie den elfenbeinernen Elefanten in ihren Fingern drehte und wendete, erkannte ich, daß ihr das Geschenk gefiel: ein Eindruck, der sich bestätigte, als sie mit gleichsam kindlichem Eifer sagte: »Die Schachtel möchte ich auch.«
»Sie gehört Euch selbstverständlich, Madame«, sagte ich und überreichte sie ihr.
Sie bemächtigte sich ihrer mit derselben Behendigkeit und betastete sie mit offensichtlichem gusto, ehe sie den Elefanten hineinlegte und darin verschloß. Darauf entschwand die Schachtel meiner Sicht, wahrscheinlich in einer Tasche ihres Reifrocks; und ohne daß die Marquise das mindeste ›È molto gentile da parte vostra‹1 oder auch das kleinste ›grazie‹ gesagt hätte, kam sie auf mein Anliegen zurück.
»Alsdann, Monsieur«, sagte sie mit ihrer männlichen Stimme nun wieder steif und kalt, als hätte sich in den verflossenen Minuten nichts zugetragen, »was wollt Ihr von mir?«
So bündig wie möglich stellte ich mein Ersuchen dar, und ich tat gut daran, kurz zu sein, denn da die Marquise sah, daß meine Angelegenheit ihr wenig einbringen konnte, hörte sie nur ungeduldig, mich wieder loszuwerden, zu.
»Und welches Interesse«, sagte sie, sowie ich geendet hatte, »habt Ihr daran, daß diese Dame nach Frankreich zurückkehrt?«
»Ein rein freundschaftliches, Madame. Außerdem ist sie meine Deutschlehrerin.«
»Eure Deutschlehrerin oder Eure deutsche Geliebte?« fragte die Marquise in schneidendem Ton.
Die Frage, die ihrem Scharfsinn mehr Ehre machte als ihrem Taktgefühl, verwirrte mich, und ich lief rot an.
»Frau von Lichtenberg, Madame, ist nur meine Deutschlehrerin«, sagte ich mit niedergeschlagenen Augen, wobei ich mir sagte, daß mein Rotwerden meinen Zwecken diesmal besser diente als die Schlagfertigkeit, mit der ich sonst aufzuwarten wußte.
»Und wieviel bietet Ihr, Monsieur, um ihre Rückkehr zu begünstigen?«
»Das ist nicht viel«, sagte sie.
Aber anstatt, wie ich erwartete, die Forderung zu erhöhen, womöglich über die Grenze hinaus, die Frau von Lichtenberg gesetzt hatte, schwieg die Marquise, und in Erwartung ihrer Entscheidung schwieg auch ich mit klopfendem Herzen.
»Monsieur«, sagte sie, »Ihr steht, wie ich höre, in großer Gunst bei Madame de Guise, und jedermann hält Ihre Hoheit für eine sehr angenehme und kurzweilige Dame; es ist aber auch keine Kränkung, zu sagen, was sie selbst über ihre Finanzen meint: sie ist in sehr bedrängter Lage.«
Ich hob mit unschuldiger Miene die Brauen, aber natürlich bewunderte ich, daß jemand, der so eingezogen lebte wie die Marquise von Ancre, so vieles wußte, obwohl sie sich nicht aus ihrem Bau rührte.
»Trotzdem«, fuhr sie fort, »besitzt Ihre Hoheit noch ein stattliches Kapital, das sie bei Pfandleihhäusern in Rom und Florenz zu jeweils fünf Prozent angelegt hat und das ihr eine jährliche Rente von hundertfünfzehntausend Ecus einbringt.«1
»Das wußte ich nicht«, sagte ich, »Ihre Hoheit spricht mit mir nie über Geld.«
»Weil sie nie dran denkt«, sagte die Marquise mit einer Spur Sarkasmus. »Vielleicht könntet Ihr Ihrer Hoheit übermitteln, daß ich bereit bin, ihr diese Kapitalien zu einem guten Preis abzukaufen.«
Ich ließ mir ein wenig Zeit, bevor ich antwortete, so sehr bezweifelte ich, daß es im Interesse meiner Patin wäre, ein Kapital zu veräußern, das ihr soviel einbrachte. Da ich wußte, daß sie ohnehin jedes Jahr Ländereien und Wälder aus ihrem Besitz verkaufte, sagte ich mir, wenn ich sie vom Interesse der Marquise durch meinen Vater unterrichten ließe, würde dieser ihr schon klarmachen, wie verlustreich ein solcher Verkauf für sie wäre.
»Madame«, sagte ich, »ich verspreche Euch, daß ich Madame de Guise Euren Vorschlag übermitteln werde.«
»Denkt Ihr auch wirklich dran?« fragte sie, weil sie mein Zögern bemerkt hatte.
|116|»Versprochen ist versprochen, Madame.«
»Gut«, sagte sie. »Um auf unsere Angelegenheit zurückzukommen, Euer Angebot ist schwach, Monsieur. Aber da Ihr an der Geschichte kein Geld verdient, nehme ich an. Wann bringt Ihr die vereinbarte Summe?«
»Sofort, Madame. Sie befindet sich in den Händen meiner Leute, die vor Eurer Tür warten.«
»Marcella«, sagte die Marquise eilig, als hätte sie für nur fünftausend Ecus schon zuviel Zeit aufgewendet. »Laß die Leute des Herrn Chevalier de Siorac ein!«
Sie kamen, von Marcella und Marie Brille gleichsam geschoben, herein, Pissebœuf mit drei Beuteln unterm Mantel, La Barge mit zwei. Aber kaum hatten sie ihre Bürde (jeder Beutel enthielt tausend Goldstücke) auf einem Tisch abgesetzt, auf dem eine Waage mit zwei Schalen stand, bedeutete die Marquise meinen Leuten mit einer hochfahrenden Gebärde, daß sie zu verschwinden hätten. Das paßte nun Pissebœuf nicht im geringsten, und er rührte sich keinen Daumen breit vom Fleck.
»Herr Chevalier«, sagte er mit einer Verneigung, »was mach ich jetzt? Ist es Euer Wunsch, daß ich gehe?«
»Ja, mein guter Pissebœuf.«
»La Barge auch?«
»Ja, La Barge auch.«
Er grüßte mich, dann grüßte er die Marquise, und als Marie Brille sich unterstand, ihm die Hand auf den Rücken zu legen, um ihn zum Ausgang zu drängen, drehte er sich zu der Dicken um und knurrte stirnrunzelnd: »Gevatterin, ich bin Soldat. Wenn ich Euch schiebe, landet Ihr mit dem Arsch in den Talern.«
Nachdem er seinen Rückzug in Würde und Ehren gesichert hatte, schritt er gemessen hinaus, gefolgt von La Barge, der in seinem Schlepptau unglaublich klein aussah.
Nun geschah etwas Unerwartetes: die Marquise faßte mit beiden Händen den Saum ihres Schleiers und schlug ihn zurück, sofort und wortlos half ihr Marcella. Ich war so erstaunt, sie unverhüllt zu sehen, daß ich sie ums Haar genauer ins Auge gefaßt hätte, doch besann ich mich rechtzeitig und verschob meine Betrachtung auf den Moment, wenn sie in das Zählen meiner Ecus versunken wäre.
Ich wußte nicht, was für Münzen ich ihr da brachte, weil Bassompierre sie mir in Beuteln mit einem wächsernen Siegel |117|übergeben hatte, das ich lieber nicht hatte erbrechen wollen. Ich konnte nur hoffen, daß die Anzahl stimmte.
Die Marquise zählte den ersten Beutel Stück für Stück. Dann häufte sie diese Münzen auf die eine Waagschale, schüttete den Inhalt des zweiten Beutels auf die andere und überzeugte sich, daß die Lasten beiderseits gleich waren. Ebenso verfuhr sie mit den drei übrigen Beuteln. Woraufhin sie, nachdem die Waage weggeräumt war, den Inhalt der fünf Beutel zu einem großen Haufen zusammenschob und dann mit ihren Fingern immer zehn Goldstücke auf einmal zu sich harkte, sie, ohne zu zählen, zu einem neuen Stoß häufte und damit erst aufhörte, als der erste Haufen zugunsten des zweiten verschwunden war.
Endlich begriff ich, daß sie sich dadurch versicherte, daß sich in ihr Nadelgeld nicht etwa ein Silberling, eine Kupfermünze oder ein angebissenes Goldstück geschmuggelt hatte. Für meine Begriffe hätte sie sich die Mühe sparen können, denn die Ecus waren durchweg neu und blank, jedes falsche Stück wäre aufgefallen wie eine Ente unter Schwänen.
Bei dieser langen, kleinlichen Operation jedenfalls bewiesen ihre mageren weißen Krallenfinger die größte Hurtigkeit. Und nun war auch der Moment gekommen, daß ich die Marquise eingehend betrachten konnte, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen, weil sie ohne jeden Wimpernschlag mit einer Miene innigster Wollust in ihr Tun vertieft war.
Am Hof wie in der Stadt war der Ruf ihrer Häßlichkeit nicht mehr zu überbieten. Für die Herzogin von Guise war sie ›nicht sehr appetitanregend‹. Die Prinzessin Conti fand sie ›unansehbar‹, und im Volksmund hieß es, ›ohne Zauberei und Hexenkünste hätte eine so häßliche Kreatur nie und nimmer einen solchen Einfluß auf ihre Herrin gewonnen‹.
Schön fand ich sie tatsächlich nicht. Die Stirn war zu sehr gewölbt, die Brauenbögen traten zu stark vor, die Nase war zu groß, die Gesichtshaut wie grobkörniges Leder. Trotzdem wären diese Züge bei einem Mann nicht beanstandet worden, und vielleicht war das Unglück der Marquise nur, als Weib geboren zu sein. Denn betrachtete man den Glanz ihrer Augen und diesen entschiedenen Mund, konnte man ihrer Physiognomie weder Willenskraft noch Klugheit absprechen; die aber machten jene Zauberei und Hexenkünste aus, mit denen sie eine ihr geistig unterlegene Herrin lenkte.
|118|Ich spürte deutlich, daß ich die Marquise jetzt weder um Urlaub bitten noch überhaupt den Mund auftun durfte, bis die Manipulation abgeschlossen war, in die sie ihre ganze Seele legte. Und die Zeit wäre mir schließlich sehr lang geworden, hätte ich angesichts dieses Haufens von Goldstücken nicht endlich bemerkt, daß diese so neu nur funkelten, weil sie ganz frisch mit dem Bild des Königskindes geprägt waren. Zuerst erfreute mich dies, weil es nach seiner Salbung eine weitere Bestätigung seiner Herrschaft war. Aber als meine Gedanken weitergingen, befielen mich Scham und Traurigkeit. War es nicht eine unerhörte Schande, einer hohen Dame eines befreundeten Landes auf diese niederträchtige Weise ein Lösegeld abzupressen, ehe man ihr erlaubte, nach Paris zurückzukehren und in dem Hause zu leben, das ihr gehörte? Aber noch mehr vielleicht hatte das Gespräch mit Allory mich überzeugt, daß in diesem Land nichts geschah, was mit Geld zusammenhing, ohne daß die Marquise von Ancre oder ihr Mann davon ihren Zehnten abzweigte. So wurde der Schatz, der Frankreichs großen Interessen hätte dienen sollen, an der Nase des jungen Königs vorbei tagtäglich von gemeinen Abenteurern veruntreut, weil Ludwigs eigene Mutter so blödsinnig einverstanden mit diesen Veruntreuungen war.
Diese Gedanken tauchten mich in ein solches Unbehagen und eine so tiefe Melancholie, daß ich, wieder in meiner Wohnung, mich über den Erfolg meiner Verhandlung überhaupt nicht freuen konnte, sosehr mir die Sache doch am Herzen lag. Erst am darauffolgenden Abend, als Montalto mir freundlicherweise das Schriftstück überbrachte, das Frau von Lichtenberg unsere Grenzen öffnete, überkam mich plötzlich ein Freudensturm, unter dem ich wie ein Blatt erbebte.
* * *
Wenn der Januar 1611 auch nicht so streng war wie der von 1608, als der Seinestrom zugefroren lag und viele Pariser erfroren und verhungerten, war er gleichwohl hart, und das Holz zum Heizen wurde sehr teuer. In den Häfen der Hauptstadt und besonders am Quai au Foin, dem Hafen gleich am Louvre, gab es ein so wildes Gebalge beim Verkauf der Scheite, die stromab mit den Lastkähnen kamen, daß mehrere arme Leute in das |119|eisige Wasser stürzten und ertranken. Das erzeugte Erbitterung im Volk, es murrte gegen den Zivilleutnant, dessen Polizei nichts tat, um solche Aufläufe zu regulieren, und nichts, die armen Menschen aus dem Wasser zu fischen.
Dieser Zivilleutnant, Le Geay mit Namen, war derselbe, dessen Kommissare die von Toinons Ehemann gebackenen Brote gewogen und zu leicht befunden und unserem Bäckermeister die Wahl gelassen hatten, ob er ein Bußgeld zahlen oder etwas fürs Becken ausspucken wolle, und als Mérilhou etwas für besagtes Becken ausgespuckt hatte, ihm obendrein das Bußgeld abverlangten.
Le Geay hatte das Amt des Zivilleutnants für achtzigtausend Ecus erworben, und so war sein einziger Gedanke hinfort nicht etwa, für die Sicherheit der Pariser zu sorgen, sondern sein Geld wieder hereinzuholen. Es lief das Gerücht um, er entschädige sich jährlich mit zwanzigtausend Ecus.
Am zwölften Januar nun, als ich bei rauhem Wind zu Pferde den Pont-Neuf überquerte, gefolgt von La Barge auf seinem kleinen Spanier, der, so zierlich er war, immer noch zu groß für ihn wirkte, sahen wir auf der Kreuzung der Rue Dauphine einen ziemlich großen Volksauflauf um einen Galgen versammelt.
Als La Barge vorausritt, um mir Durchlaß zu schaffen, teilte sich die Menge nur widerwillig, und ich sah mich direkt den Gardesoldaten gegenüber, dem Polizeioffizier, der sie befehligte, dem Henker, seinem Gehilfen und dem Verurteilten, der mit gebundenen Füßen und Händen darauf wartete, daß man ihm den Strick um den Hals legte. Es war ein Bürschchen, keine fünfzehn Jahre alt, sehr mager, mehr Schreck in den Augen als Todesangst, und er klapperte mit den Zähnen vor Kälte, denn es fror zum Steinespalten, und er hatte nur ein geflicktes Leinenhemd und eine zerlumpte Kniehose an. Bei seinem Anblick zügelte ich mein Pferd.
Ein eingemummter Gerichtsvollstrecker verlas seinen Urteilsspruch, ein Mischmasch aus Latein und Französisch, der jedoch klar besagte, daß der Gefangene am Hals aufgehängt werden solle, bis daß der Tod eintrete. Hierauf rollte der Mann sein Papier ein und ging höchst eilig seiner warmen Stube und seinem Kaminfeuer zu – sein Rückzug, besser gesagt seine Flucht wurde vom Murren der Volksmenge begleitet.
|120|»Was hat denn das Kerlchen getan?« fragte ich. »In seinem Alter kann er doch kaum schon sehr boshaft sein.«
»Er hat ein Scheit gestohlen«, sagte der Polizeioffizier in sturem Ton.
»Den Tod für ein Holzscheit!«
»Gesetz ist Gesetz«, sagte der Polizeioffizier.
»Bloß, daß es nicht gleich ist für alle!« sagte eine Gevatterin, die mich an Mariette erinnerte, so mächtig war ihr Busen und so schlagfertig ihr Mundwerk. »Wie hätte der Ärmste das Scheit denn kaufen sollen, wo er keinen Heller in der Tasche hat? So dünn, wie er angezogen ist, ganz blau ist er vor Kälte!«
»Ach, was!« sagte der Polizeioffizier. »Der Strolch ist ein Höllenbraten. Der kriegt es warm, da wo er hinkommt.«
Die Garden lachten, die Menge schimpfte.
»Offizier!« sagte ein Mönch aus der Menge, »es steht Euch nicht zu, Gottes Urteil vorzugreifen!«
»Gut gegeben, ehrwürdiger Pater!« rief die Gevatterin.
»Soviel steht fest«, sagte der Henker, der dem Jungen mit entsetzlicher Langsamkeit den Strick um den Hals legte, »an den Lumpen, die er anhat, mach ich keinen Gewinn.«
Aber auf dieses schäbige Wort erwiderte niemand etwas, soviel Grauen und Verachtung flößte der Henker ein.
»Herr Edelmann«, wandte sich die Gevatterin an mich, »Ihr seht mir nicht unbarmherzig aus. Wenn Ihr dem Polizeioffizier und dem Henker je einen halben Ecu geben wolltet, würde der eine dem anderen erlauben, den Ärmsten zu erdrosseln anstatt ihn zu hängen.«
»Und was hätte er davon?«
Die Einfalt dieser Frage rief bei der Menge Lachen und Gespött hervor.
»Ruhe!« schrie die Gevatterin.
Und die Autorität einer kräftigen Stimme über eine Menge ist so groß, daß alles schwieg.
»Herr Edelmann«, fuhr sie, gegen mich gewandt, fort, »wie man sieht, seid Ihr neu in den Dingen. Wird der Kleine erdrosselt, stirbt er augenblicklich, wird er gehenkt, muß er eine halbe Stunde leiden, bis er hinüber ist.«
Ich entsann mich, wie mein Vater gesagt hatte, was für ein grausamer Tod das Erhängen sei. Ich warf einen halben Ecu dem Henker zu und einen halben Ecu dem Offizier, der ihn im |121|Fluge auffing und sagte: »Ich mag sowas nicht. Das Leiden des Gehenkten gehört zur Strafe.«
Trotzdem steckte er das Geld ein und machte dem Henker ein Zeichen. Der brach dem Kerlchen im Handumdrehen das Genick und drückte seinen Adamsapfel ein. Der Gerichtete erschlaffte und wäre niedergesackt, hätte der Henkersgehilfe ihn nicht solange aufrecht gehalten, bis der Henker ihm die Schlinge umgeknüpft hatte. Als er aber zum Galgen hochgezogen wurde, tanzte er nicht verzweifelt in der Luft, um einen Halt für seine Füße zu suchen, denn er war der grausamen Menschenwelt schon entronnen.
»So ein Jammer!« sagte die Gevatterin, und Tränen rannen ihr übers Gesicht. »Er war noch ein halbes Kind!«
»Das ist Gerechtigkeit!« sagte der Offizier mit steifer Tugendmiene.
»Gerechtigkeit!« schrie die Gevatterin aufgebracht. »Eine Gerechtigkeit für Spinnen: die Eintagsfliegen werden geschnappt, die dicken Brummer sausen durchs Netz!«
»Vor allem, wenn’s Italiener sind!« schrie eine Stimme aus der Menge.
»Das sind unzulässige und aufrührerische Reden!« drohte der Offizier. »Wer hat das gesagt?«
Aber auf diese Frage hin begann die Menge so wütend zu schimpfen, daß er lieber nicht beharrte, sondern sich hinter seine Gardisten verzog und vom Platz trollte.
Bei dieser Kälte und großen Not vervielfachten sich die Diebstähle, und in dem Versuch, sie einzudämmen, wurden überall in Paris Galgen aufgestellt. Eine Maßnahme, die nichts bewirkte: welcher Notleidende zögerte schon vor der Wahl zwischen einem Tod am Galgen und einem Tod durch Frost und Hunger, wenn er beim ersten immerhin die Chance hatte, nicht geschnappt zu werden? Trotzdem, wenn ich, wie der Volkszorn soeben, die Marquise von Ancre mit der Eintagsfliege verglich – wie klein war sie und wie nichtig ihr Raub! Ich hatte das grausige Knacken noch im Ohr, als das junge Genick unter den eisernen Händen des Henkers brach.
In diesen düsteren Tagen erschien mir die Welt schlecht, die Gegenwart freudlos, die Zukunft ungewiß. Denn obwohl Bassompierre in der Befürchtung, die Reiseerlaubnis für Frau von Lichtenberg könnte durch die Post und berittene Boten |122|verlorengehen, sich großzügig erboten hatte, sie ihr persönlich zu überbringen – was ich wegen meines Amtes im Louvre nicht konnte –, war mir doch klar, daß die Reise oder vielmehr der Umzug meiner Gräfin nach Paris erst nach Wochen, wenn nicht nach Monaten vonstatten gehen konnte. »Immerhin«, hatte Bassompierre vor seiner Abreise gesagt, »bleibt noch ein dunkler Punkt: wer weiß, ob der Regent der Pfalz Frau von Lichtenberg erlauben wird, sein Land zu verlassen.« Mir wollten fast die Sinne schwinden, als ich diese Schreckensworte hörte.
Ich wohnte im Louvre, ja, aber dieses vielbeneidete Vorrecht blendete meine Augen nicht. Oft dachte ich an mein Zuhause im Champ Fleuri, das warme Nest meiner Kindheit, und mehr, als ich wollte, vermißte ich den täglichen Umgang mit meinem Vater, mit La Surie und auch mit unseren Leuten, die mir alle so zugetan waren, und ich ihnen. So großartig der Louvre aussah, so unbehaglich war er auch, und ich fühlte mich in dem riesigen Gemäuer wie verbannt aus dem kleinen Königreich, in dem ich Prinz gewesen war. Um so mehr, als der wahre Prinz dieses Ortes mir noch immer dieselbe Kälte wie bei meiner Vorstellung bezeigte. Ich zermarterte mir das Gehirn hierüber, ohne daß Héroard in seiner gleichbleibenden Distanziertheit mir erlaubt hätte, deswegen auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln.
Seltsam, ich kann mich nicht entsinnen, an welchem Tag genau im Verlauf dieses Januars die Sonne plötzlich für mich aufging, und noch seltsamer: obwohl ich diesen Tag im Kalender rot hätte anstreichen müssen, habe ich ihn nicht einmal in meinem Tagebuch vermerkt. Der Szene jedoch erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen, so lebendig steht sie mir noch vor Augen.
Es war ein eisiger Morgen, und in den königlichen Gemächern waren nur wenige Personen anwesend: Monsieur de Souvré, Héroard, Bellegarde, d’Auzeray, Hauptmann Vitry und Descluseaux. Der kleine König saß beim Frühstück, das aus Korintherbeeren in Zucker und Rosenwasser, aus Brot, Butter und Kräutertee bestand, denn morgens bekam er keinen Wein. Er machte einen guten Eindruck und aß schweigend und mit Appetit. Als er fertig war, befahl er Monsieur d’Auzeray, ihm eine Serviette zu reichen, säuberte sich Mund und Hände, wandte sich auf einmal an mich und fragte: »Monsieur de Siorac, beliebt es Euch, meine Waffen zu sehen?«
|123|»Sehr gern, Sire«, sagte ich, und mein Herz klopfte.
Er stand auf und sagte in munterem Ton zu Descluseaux, einem französischen Gardisten, der ihm sehr lieb war und den er zu seinem Waffenmeister gemacht hatte: »Descluseaux, lauf in den Oberstock und schließ mein Waffenkabinett auf!«
Descluseaux stieg die Treppe, vier Stufen auf einmal nehmend, hinauf, Ludwig folgte ihm dicht auf dem Fuße, und ich folgte ihm. Sowie die Tür entriegelt war, faßte mich der König bei der Hand, zog mich in das Kabinett und schloß hinter uns die Tür.
Dort gab es, an der Wand aufgehängt oder in Ständern gereiht, alle Arten von blanken Hieb- oder Stichwaffen, die man sich nur vorstellen konnte: alte, wie Bögen und Armbrüste, die nur noch zum Anschauen taugten, und ganz moderne, alle sehr gut instand gehalten und fertig zum Gebrauch, besonders die Feuerrohre: Pistolen, Sattelpistolen, Hakenbüchsen mit Lunte oder mit Rad. Sogar zwei kleine Kanonen samt Kugeln sah ich.
Ludwig konnte es nicht satt werden, die schönen Waffen mit Augen und Händen zu liebkosen, sie aber auch, wie ich hörte, auseinanderzunehmen, ihren Mechanismus zu überprüfen, sie zu fetten oder zu entfetten, je nachdem, und sie mit überraschender Geschwindigkeit wieder zusammenzusetzen, denn im Waffenbau war er ebenso kundig wie geschickt im Schießen. Er strahlte, wenn er sie nur berührte, nicht daß er im mindesten blutrünstig war, sondern weil er sich in dem Moment seinem Vater nahe fühlte, dem Soldatenkönig, auf dessen Spuren er sein ganzes Leben wandeln, als dessen Erben er sich erweisen wollte. Das Habsburger Blut seiner Mutter dagegen hatte er sozusagen ein für allemal in sich verworfen.
Ich fand ihn wenn auch nicht gewachsen, so doch durch seine tiefe Trauer gereift, das Gesicht weniger rundlich, die Miene sicherer, verschwiegen, und wenn er sprach, dann kurz und knapp, dabei stotterte er viel weniger als früher. Wohl war das Gesicht in der Ruhe verschlossen, undurchschaubar, aber die großen schwarzen Augen blickten stets aufmerksam, und das Ohr lauschte gespannt, was um ihn gesprochen wurde. Er wußte sehr wohl, daß er bislang nur den Anschein und den Pomp der Macht hatte, und wartete mit einer weit über sein Alter hinausgehenden Vorsicht auf seine Stunde.
|124|Ich spürte, daß hinter dieser Zweisamkeit in seiner Waffenkammer ein Vorsatz steckte, wie auch eine Absicht hinter der Kälte lag, die er mir so lange bezeigt hatte, während er mich mit seinen unsichtbaren Antennen beurteilte und abtastete. Und ich war mir auch sicher, wenn er zu einer Entscheidung über mich gelangt sein würde, würde er sie mich auf indirektem Wege wissen lassen, ohne es mir ausdrücklich mitzuteilen, so sehr mißtraute er Worten. »Wißt Ihr nicht, Monsieur de Souvré«, hatte er eines Tages zu seinem Erzieher gesagt, »daß ich kein großer Redner bin?«
»Das hier ist meine Blainville«, sagte er, indem er eine Hakenbüchse mit Radschloß von der Wand nahm. »Ich nenne sie so, weil Monsieur de Blainville sie mir geschenkt hat. Und diese andere hier, die ich besonders schätze, weil sie präzise ist und weit reicht, nenne ich ›meine dicke Vitry‹.«
»Warum ›dicke‹, Sire?« fragte ich.
»Weil Vitry mir zwei gebracht hat und diese die dickere ist.«
Während er sprach, sah ich, daß er in seiner Sammlung kleinerer Waffen auch eine Brustbüchse besaß, und ich fragte ihn, ob sie noch im Gebrauch sei.
»Das ist eine kleine Hakenbüchse, die an der Brust angelegt wird und nicht an der Schulter. Sie ist ungenau. Im Kampf wird sie kaum noch benutzt.«
Auf einmal lächelte er schalkhaft, faßte mich am Arm und führte mich zu den Wurfgeschossen, Bögen und Armbrüsten.
»Als ich noch kleiner war, gab man mir keine Feuerwaffen, und ich schoß viel mit diesen kleinen Waffen. Und unter meinen Armbrüsten war mir diese hier die liebste.«
Damit hakte er sie ab und legte sie in meine Hände. Ich erkannte diejenige wieder, die ich ihm vor drei Jahren im Garten von Saint-Germain-en-Laye geschenkt hatte, als ich ihn die ganze Zeit für den Sohn des Hauptmanns de Marsan gehalten hatte, der damals die Garde des Schlosses befehligte.
»Es ist eine schöne Waffe«, sagte er, indem er sie mir wieder aus den Händen nahm, »man kann ihr vertrauen. Ich nenne sie meine ›Siorac‹.«
»Ihr könnt ihr immer vertrauen, Sire. Hegt daran keinen Zweifel«, sagte ich, rot vor Glück.
»Das glaube ich«, sagte er fest und hängte die Waffe an ihren Platz.
|125|Dann wandte er sich zu mir, näherte seinen Kopf dem meinen und sagte leise: »Ich erinnere mich, von meinem Vater gehört zu haben, Monsieur de Sully sei ihm ein sehr guter Diener. Wie denkt Ihr darüber?«
»Sire«, sagte ich überrascht, »der König Euer Vater täuschte sich nicht: Wie mein Vater mir sagte, hat Monsieur de Sully die Finanzen des Reiches immer bewundernswert verwaltet.«
Ludwig nahm meine Antwort auf, indem er hierhin und dorthin schaute, als höre er gar nicht zu. Doch konnte ich nicht bezweifeln, daß er sie gehört hatte, denn er fragte leise und mit gleichgültiger Miene weiter: »Und was hat er sonst getan?«
»Er hat Frankreichs Straßen und Brücken gebaut oder erneuert. Und als Großmeister der Artillerie hat er ein gewaltiges Arsenal geschaffen.«
Auch dies schien er nicht zu hören, und mit einem Blick auf seine Uhr, die er an einem Band um den Hals trug, sagte er: »Schluß mit der Besichtigung. Ich muß studieren.«
Er eilte mir aus der Waffenkammer voraus, machte Descluseaux ein Zeichen, hinter mir abzuschließen, lief in seine Gemächer hinunter und an seinen kleinen Tisch, wo die Bücher auf ihn warteten. Er hatte eine Mathematikstunde und schien mir sehr aufmerksam bei der Sache zu sein.
Ich blieb bei den anwesenden Herren stehen, stellte mich aber nicht zu Héroard, sondern an die Wand neben Vitry, den Sohn jenes Vitry, der unserem Henri zu seinen Lebzeiten so gut gedient hatte. Als Gardehauptmann, wie sein Vater, hatte der junge Vitry die gleichen rauhen Manieren, aber auch eine kühne Seele, denn er hatte nicht gezaudert, in ein Staatsgefängnis einzudringen und einen seiner Soldaten zu befreien, den er für unschuldig hielt. »Ich habe Eure ›dicke Vitry‹ gesehen«, raunte ich ihm zu. »Eine schöne Waffe!« – »Ja«, sagte er zufrieden, »eine schöne Waffe, und das Gute daran ist, der König kann damit umgehen.« Aber als Monsieur de Souvré sich mißbilligend nach ihm umwandte, verstummte er.
Ich für mein Teil fragte mich nun, warum Ludwig mir diese Fragen über Sully gestellt hatte, da er doch sehr wohl wissen mußte, daß dieser große Staatsdiener der Oberintendant der Finanzen, der große Wegebauer Frankreichs und der Großmeister der Artillerie war. Aber vielleicht wollte er über die Fakten hinaus durch mich erfahren, wie mein Vater ihn einschätzte, |126|der so wie Sully einer der ältesten Weggefährten des seligen Königs war.
Aber die Gedanken, die ich mir hierüber machte, wurden wenige Minuten später schon beantwortet, denn als die Stunde zu Ende und Ludwig aufgestanden war, seinem Lehrer gedankt und seine Bücher beiseite geräumt hatte, fragte er Monsieur de Souvré: »Monsieur de Sully ist der Finanzen enthoben worden?«
Ich war baff: von dieser verhängnisvollen Entlassung hatte ich nichts gewußt. So abgeschieden in seinen Gemächern, so quasi verborgen Ludwig lebte, war er doch besser unterrichtet als ich.
»Ja, Sire«, sagte Souvré, offenbar ebenso überrascht wie ich, daß sein Zögling die Nachricht schon erfahren hatte. Trotzdem fragte er nicht, woher er sie hatte, denn wie Souvré aus langer Erfahrung wußte, verriet der König seine Quellen nicht.
»Warum?« fragte Ludwig und gab sich erstaunt.
Monsieur de Souvré schien in Verlegenheit. Der große dicke Mann, eher kleinlich als boshaft, eher frömmelnd als fromm, eher borniert als wirklich dumm, in der Etikette ganz im Sattel, blickte über seine Stupsnase nicht hinaus. Er verstand nur wenig von dem, was in seinem Zögling vorging. Blind wiederholte er alles, was dieser sagte, der Königin, die ihren Sohn ebensowenig verstand und oft zu Unrecht bestrafte.
Ludwig, der Souvré die Allmacht verargte, die er über ihn und seinen Tagesablauf hatte, trieb mit ihm seinen kleinen Spott, der manchmal stark genug war, die Elefantenhaut seines Erziehers zu durchdringen. Souvré erboste sich dann und drohte, die ungehörigen Worte der Königin zu melden. Eine Meldung, die für Ludwig die Rute bedeutet hätte und ihn zur Besinnung brachte. Dann bat er Souvré um Verzeihung, manchmal sogar auf Knien, und Souvré versprach ihm gutmütig, zu schweigen. Was nun Monsieur de Souvré bei dieser Gelegenheit verwirrte, war, daß Ludwigs scheinbar naives ›warum‹ bereits eine Kritik an der Herrschaft der Regentin darstellte.
»Sire«, sagte er, »ich weiß nicht, aus welchem Grund Monsieur de Sully entlassen wurde. Aber die Königin hat es nicht ohne Grund getan. Sie hat es getan, wie sie alles tut: mit großer Besonnenheit.«
|127|Das Argument der mütterlichen Unfehlbarkeit, so dachte ich, war wohl am wenigsten geeignet, Ludwig zu überzeugen. Er wußte sehr gut, daß sie nur eine Puppe in den Händen der beiden Concinis war. Und sogar er wandte sich ja, wenn eine Sache ihm sehr am Herzen lag, beispielsweise eine Unglückliche begnadigen zu lassen, die zu Unrecht wegen Kindsmordes verurteilt war, an die Marquise von Ancre, um die Regentin zu erweichen.
Als Ludwig, die schönen schwarzen Augen auf Monsieur de Souvré gerichtet, ihm mit keiner Silbe antwortete, brach sich die Wahrheit oder vielmehr eine halbe Wahrheit im nebligen Hirn seines Erziehers Bahn: daß er seinen Zögling womöglich nicht hinreichend überzeugt hatte, und so fragte er: »Seid Ihr über Monsieur de Sullys Gehen verärgert?«
»Ja«, sagte der König.
Damit kehrte er ihm den Rücken und ging auf die Galerie spielen. Er baute sich aus Klötzern ein kleines Haus, eine Beschäftigung, die Monsieur de Souvré ihm als kindisch vorwarf.
Monsieur de Souvré hatte große und berechtigte Ambitionen. Wenn Ludwig eines Tages die Volljährigkeit erreichte, würde er sein Erzieheramt los, und er hoffte, dann zum Marschall von Frankreich ernannt zu werden, was die Regentin ihm auch so gut wie versprochen hatte.
Am selben Abend, nachdem Ludwig sich über die Entlassung Sullys erregt hatte, berichtete Monsieur de Souvré sein Gespräch mit seinem Zögling getreulich der Königin. Anschließend sprach er herablassend von dem kleinen Haus, das der König sich in der Galerie gebaut hatte. Und zum Schluß fragte er, ob die Regentin es für nötig halte, mit Ludwig noch einmal über das Thema Sully zu sprechen.
»Non mi sembra necessario«, sagte die Regentin verächtlich. »È una bambinata.«1