Seit Louison mein Kabinett verlassen hatte und mich morgens nicht mehr auf die beschriebene Weise aus dem Schlaf lockte, weckte mich Paris, und zwar zuerst durch seine Hähne.
Wie es in dieser großen Stadt nur wenige Häuser, ob adlig, ob bürgerlich, gibt, die nicht einen Wirtschaftshof, einen Stall für ihre Pferde und einen Brunnen haben, um nicht auf das faulige Seinewasser angewiesen zu sein, so gibt es gewiß keines ohne einen Gemüsegarten und ohne Hähne, die über eine Schar Hennen regieren und sich bei Tagesanbruch mit Geschrei in den verschiedensten Tonlagen vor ihrer Herrschaft brüsten.
War das hundertfältige Spektakel der Pariser Hähne schließlich verstummt, ertönte hell und fröhlich das Glockenspiel der Samaritaine vom Pont-Neuf. In dessen letzte Klänge fiel das Uhrwerk des Gerichtspalastes ein mit seinen dunkel drohenden Schlägen wie zur Mahnung, daß Justitia stets darüber wachte, daß man die Kleinen hänge und die Großen laufen lasse. Dann läuteten endlos die Glocken von Saint-Germain-l’Auxerrois, die hundert Kirchen der Hauptstadt fielen ohne jede Achtung vor dem Schlaf der Pariser ein und befahlen ihren Getreuen, sich ihrem warmen Pfühl zu entreißen, herbeizueilen und ihre Sünden zu bereuen.
Sobald die Frühmessen begannen, verhallten die Glocken, und eine köstliche Stille folgte, doch dauerte sie viel zu kurz, als daß ich wieder hätte einschlummern können, denn schon legten mit ihren vollbeladenen Kähnen am nahen Hafen Port au Foin die Seineschiffer an, schwere Jungs allesamt. In ihrer kehligen Mundart riefen sie einander zotige Scherze zu oder gröhlten Lieder, die den morgendlichen Beterinnen, die durch die Gassen eilten, hätten sie das gehört, die Schamröte in die Wangen getrieben hätten.
Zu diesem Heidenlärm gesellte sich aus allen Ecken und Enden von Paris alsbald das höllische Geratter der schweren Karren, die dem Hafen zustrebten, um Stroh und Heu, Holzscheite, |187|Fleisch und Grünzeug zu laden, alles, was die Kähne herbeigeschleppt hatten. Und besagte Karren wurden von Körperschaften geführt und begleitet, die in Hinsicht auf Maulfertigkeit, gepfefferten Humor und Wegelagerei den Seineschiffern in nichts nachstanden: die Kutscher, Lastträger und Fleischhauer.
All dies grobianische Volk führte quasi unter meinen Fenstern sein Palaver aus Witzeleien und schmutzigen Gesängen, das gelegentlich auch in Schimpfkanonaden und wildes Handgemenge ausarten konnte, wo Peitsche, Stock oder Messer tödlich trafen, ohne daß die Bewaffneten der Schloßvogtei im mindesten eingriffen, weil sie ausschließlich damit beschäftigt waren, die riesigen Torflügel der Porte de Bourbon zu öffnen und einen hundertfachen Menschenstrom einzulassen: das Gesinde des Louvre. Doch selbstverständlich hätten unsere schönen blauen Waffenröcke auch sonst nicht geruht, den Flußschiffern und Fleischhauern einen Blick zu gönnen oder sie auch nur mit der Hellebardenspitze zu berühren, außer die Kanaille wäre darauf verfallen, mit Gewalt in den Louvre einzudringen.
Die Porte de Bourbon, die eine so entscheidende Rolle in Concinis Schicksal spielen sollte, öffnete sich zwischen zwei dicken Rundtürmen, die mein Vater liebte, weil sie ihn an die Burgen des Périgord erinnerten; mich dagegen, Kind einer neuen Zeit, dünkten sie ziemlich altertümlich. Das Tor aus dicken, eisenverstärkten Bohlen, dessen mächtige Angeln ich bis in mein Bett quietschen und ächzen hörte – obwohl man sie von Zeit zu Zeit schmierte, doch hätte man, um dem Gekreisch abzuhelfen, die Flügel ausheben und den Rost abschleifen müssen –, öffnete den Durchgang über eine feste Holzbrücke, ›schlafende Brücke‹ genannt, die wiederum auf zwei Zugbrücken führte, die nebeneinander den tiefen, morastigen Wehrgraben überspannten, der uns von Paris trennte. Die schmalere führte zu einer Fußgängerpforte, die man den ›Schalter‹ nannte, weil die Eintretenden dort bei Bedarf kontrolliert werden konnten. Die zweite Brücke war breit, aber gerade nur für eine Karosse, und führte durch einen gewölbten Torweg in den Hof des Louvre.
Den Strom des Gesindes morgens und abends durch den ›Schalter‹ zu schleusen erschien zu umständlich. Also ergoß er |188|sich durch die weit geöffnete Porte de Bourbon über beide Brücken. Das heißt, niemand wurde kontrolliert: eine Nachlässigkeit, die es verwegenen Schnapphähnen ermöglichte, sich morgens unter das Gewimmel der Livrierten zu mischen, sich in das Schloß einzuschleichen und, wie schon gesagt, sich an der Garderobe der Königin zu vergreifen. Und nachdem sie ihren Raub in irgendeinem Winkel versteckt hatten, gelangten sie abends im selben Strom mit ihren großen Bündeln hinaus, als trügen sie wie die Wäscherinnen Schmutzwäsche in die Waschhäuser der Stadt.
Nach dem Quietschen der Porte de Bourbon und dem endlosen Fußgetrappel, wenn das Gesinde in den gepflasterten Hof des Louvre einzog, dröhnte in meinen morgendlichen Dämmer wenig später der Gardeaufzug über die Holzbrücke, der die abziehende Nachtwache ablöste. Und weil der Schritt beider Kompanien derselbe war, ließ ich mir’s in meinem Halbschlummer gleich sein, ob es die blauen Röcke mit den roten Litzen waren oder die roten Röcke mit den blauen Litzen, die da auf- oder abzogen.
Sowie aber die Flut des Gesindes sich auf die vier Ecken des Hofes verteilt hatte und rücksichtslos schwatzend, einander zurufend und Türen knallend in den Louvre einfiel, wo ein jeder durch Gänge und Galerien seiner Stelle zueilte, wurde der riesige Palast zu einem so wimmelnden Ameisenhaufen, daß es auch um den Rest meines Schlafes geschehen war. Und war ich erst voll erwacht, galt mein erster Gedanke Frau von Lichtenberg, mit einem unendlichen Glück und dann sogleich mit einer ebendiesem Glück entsprungenen Qual. Denn jede Minute meines Erdenlebens hätte ich bei ihr verbringen mögen, während mich der Dienst beim König doch für so lange Stunden im Louvre festhielt und, wenn der Hof in Saint-Germain-en-Laye weilte, sogar für endlose Tage.
Sicher war ich stets gleichermaßen bemüht, meinem kleinen König zu dienen und ihm mit meinen schwachen Mitteln in der Einöde seines Daseins beizustehen. Aber dazu hatte ich wenig Gelegenheit, denn aus den genannten Gründen ließ Ludwig manchmal eine ganze Woche verstreichen, ohne das Wort an mich zu richten. Und seiner Person so fremd, während ich doch um ihn war, und gleichzeitig so fern meiner Gräfin, hatte ich das niederdrückende Gefühl, umsonst zu leben.
|189|Wenigstens aber war ich Frau von Lichtenberg in Paris nahe und fühlte durch noch so viele Wände und Mauern ihre Gegenwart. In Saint-Germain-en-Laye hingegen ging dies nicht halb so gut, denn hier war ich der Gefangene des Hofes für eine Dauer, die ich weder abkürzen noch überhaupt vorhersehen konnte, weil darüber andere entschieden. Diese Ungewißheit zehrte so sehr an mir, daß ich dann in einem unvorstellbaren Sehnen nach Frau von Lichtenberg lebte, das mir die Kehle dörrte, meine Hände zittrig und mein Herz beklommen machte.
Alles außer ihr war Langeweile. Mich verlangte nach ihr mit einer solchen Ungeduld, daß ich nicht wußte, wie ich den ganzen Tag überstehen sollte, bis es Nacht war, und die ganze Nacht, bis es wieder Tag war. Und wenn der Hof endlich nach Paris zurückkehrte, fand ich sie, wenigstens dem Anschein nach, so seelenruhig, so gefaßt, so um das Schickliche besorgt, daß ich, außerstande, mir Zügel anzulegen, nur mehr stammeln konnte und mich fragte, ob sie mich wirklich liebte. Sei es, daß eine so jugendliche, so wenig zurückhaltende Liebe sie rührte, sei es, daß sie der Ansteckung des Begehrens nachgab, jedenfalls, wenn ich sie dann entkleiden durfte, wußte ich nichts mehr, überschwemmte sie nur noch mit meinen Zärtlichkeiten, ohne daß mir jemals der Gedanke kam, ich könnte ihrer eines Tages satt werden. Ganz im Gegenteil, denn im selben Augenblick, da ich sie besaß – sofern dieses Wort überhaupt einen Sinn hat –, verlangte ich schon aufs neue nach ihr.
Damit in der Rue des Bourbons über meine zu häufigen Besuche nicht geklatscht werde, wollte Frau von Lichtenberg, daß ich nicht mehr zu Pferde oder in der wappengezeichneten Kutsche meines Vaters käme, sondern wie zur Zeit meiner Deutschstunden in einer Mietdroschke. Und genau entsinne ich mich des sechsundzwanzigsten Januars, als ich in so bescheidenem Gefährt in ihren Hof einfuhr und Nase an Nase auf Bassompierre stieß, der gerade aus ihrem Hause kam und seinen Wagen, eine der elegantesten Karossen von Paris, bestieg. Ich war darüber tief beschämt und außerdem ziemlich eifersüchtig, daß der begehrteste Herr des Hofes von meiner Schönen empfangen worden war, obwohl ich genau wußte, daß beide seit langem befreundet waren und ohne jeden Schatten eines Verdachts, weil meine Gräfin sich niemals zu den Lerchen herabgelassen hätte, die diesem Fänger auf den Leim gingen.
|190|»Nanu, Chevalier!« sagte Bassompierre, der meine Verlegenheit spürte und mich arglos ein bißchen aufziehen wollte, »wo habt Ihr denn Eure edle Fuchsstute? Und wo die frischgemalte Karosse Eures Vaters, daß Ihr als Erster Kammerherr in einem so glanzlosen Kasten bei Damen vorfahrt? Die rachitischen Gäule da würden glatt umfallen, wenn die Deichseln sie nicht hielten!«
»Monseigneur«, sagte der Kutscher, »bitte, schimpft meine armen Tiere nicht. Sind sie auch nicht fett, kriegen sie doch mehr zu fressen als ich.«
»Wenn es so ist, Kutscher«, sagte Bassompierre, indem er ihm einen Ecu zuwarf, »magst du hiermit ihre und deine Ration aufbessern.«
Woraufhin mir in meiner Beschämung nichts anderes übrigblieb, als seinem Ecu einen weiteren hinzuzufügen, was meine Laune auch nicht hob, dafür aber die des Kutschers.
»Zu dem Preis, Ihr Herren«, sagte er mit einer Verbeugung bis aufs Pflaster, »könnt Ihr meine Mähren von morgens bis abends beschimpfen, ohne daß ich protestiere.«
»Alsdann, schöner Neffe«, sagte Bassompierre, indem er den Stiefel auf seinen Kutschentritt setzte, »eilt an Euren Platz. Ich hätte mir ja etwas vorzuwerfen, hielte ich Euch länger auf, da ich sehe, wie Ihr vor Ungeduld stampft, zu Eurer Deutschstunde zu kommen.«
Hiermit umarmte er mich, warf sich in seine Seidenpolster, und ein Diener in goldbetreßter Livree schloß mit der Feierlichkeit eines Bischofs hinter ihm den Schlag.
Leider fand ich meine Gräfin nicht in ihrem Zimmer, sondern im kleinen Kabinett und ganz beschäftigt, sich eine Waffel zu bestreichen. Zum Teufel! dachte ich, während ich ihr die Hand küßte, zum Teufel mit diesem ewigen Imbiß! Wieviel Zeit soll der mir noch abzwacken?
»Mein Freund, was ist Ihnen?« fragte die Gräfin. »Sie machen eine so verdrossene Miene, ist Ihnen nicht wohl in Ihrer Haut?«
»Ach, ich bin wütend, Madame«, sagte ich. »Zuerst zieht mich Bassompierre mit meiner Mietdroschke auf, und was sehe ich hier? Zwei Teller, und den einen voller Krümel! Was beweist: Sie haben ihm eine Waffel gestrichen!«
»Wäre es Ihnen lieber, wir hätten etwas anderes getan?« |191|fragte sie mit einem so vergnügten kleinen Lachen, daß es mich entzückt hätte, wäre ich besserer Stimmung gewesen. »Hören Sie auf, Pierre«, fuhr sie fort, »setzen Sie sich und denken Sie bitte nach: Sie haben keinen Grund, auf Bassompierre eifersüchtig zu sein, vielmehr ist er es auf Sie!«
»Er auf mich? Ist er das wirklich?« fragte ich verdutzt, indem ich mich nicht in den Lehnstuhl setzte, den zweifellos Bassompierre innegehabt hatte, sondern zu Füßen meiner Schönen auf einen Schemel.
»Allerdings! Zwar nicht, weil er mich liebte, aber es verletzt seine Eitelkeit, Sie da zu sehen, wo er gern wäre … Trotzdem mag er Sie sehr, und zu meiner Rückkehr nach Paris hat er Ihnen wie mir sehr geholfen.«
»Aber wissen Sie«, sagte ich, »was er sich unterstand? Ich stampfte vor Ungeduld, sagte er, zu meiner Deutschstunde zu kommen! Er hat sich über mich mokiert!«
»Über mich auch«, sagte sie lächelnd, »denn ich wartete nicht minder ungeduldig, daß er Ihnen seinen Platz räume. Und obwohl ich es ihm nicht gezeigt habe, hat er als Frauenkenner das gespürt. Also, mein Pierre, maulen Sie nicht mehr. Essen Sie diese Waffel und trinken Sie einen Becher Wein. Das wird Ihnen guttun.«
Die Waffel lehnte ich ab aus Furcht, sie würde sie mir auf Bassompierres Teller reichen – was mir ein Graus gewesen wäre –, aber den Rheinwein nahm ich in der Hoffnung, er werde den Knoten in meiner Kehle lösen. Was er auch tat.
»Madame«, sagte ich ein wenig besänftigt, »erlauben Sie mir, zu fragen, um was Ihre Unterhaltung sich drehte?«
»Mit Bassompierre? Ist das nicht ein bißchen vorwitzig, Monsieur?« sagte sie, und in ihren schönen schwarzen Augen funkelte es verschmitzt.
»Wenn es Sie stört, Madame, ziehe ich die Frage zurück«, sagte ich verstockt.
»Die Frage stört mich nicht«, sagte sie duldsamer, als ich es verdiente, »aber sie greift dem vor, was ich Ihnen sowieso anvertrauen wollte.«
Ich war so verwirrt, aufs neue mit Sanftmut genommen zu werden, daß ich nichts mehr sagen konnte und rot anlief. Was mich ärgerlich machte, aber diesmal auf mich. Frau von Lichtenberg fühlte es und streichelte mit dem Handrücken über |192|meine Wange. Es war eine leichte, rasche Liebkosung, die mich sehr bewegte.
»Für gewöhnlich«, sagte sie, »erzählt mir Bassompierre mit Witz die Neuigkeiten des Hofes, weil er weiß, wie zurückgezogen ich lebe. Aber diesmal kam er mit ernsten Dingen, die er anscheinend nur mitteilte, damit ich sie weitersage.«
»Wem?«
»Ihnen natürlich. Wem sonst, da es sich um Ihren kleinen König handelt.«
»Und was hat er Ihnen erzählt?« fragte ich begierig.
»Er berichtete mir in allen Einzelheiten, was sich gestern im Großen Rat zugetragen hat.«
»Und woher weiß er das? Er ist doch nicht dabei. Zum Großen Rat gehören nur die Minister, Marschälle, Herzöge und Pairs.«
»Herzog Bellegarde hat ihn ins Vertrauen gezogen. Wie dem auch sei, auf diesem Großen Rat verkündete die Regentin feierlich die spanischen Hochzeiten.«
»Die spanischen Hochzeiten? Haben Sie Hochzeiten gesagt?«
»Ja, es wird nicht nur eine geben, sondern zwei. Ludwig wird mit der Infantin Anna vermählt und Madame mit dem Infanten Philipp.«
»Also wird die Infantin Anna Königin von Frankreich und Madame Königin von Spanien. Alle Wetter! Mehr kann man uns nicht spanifizieren! Welch unfaßliche Verkehrung der Politik des seligen Königs. Unsere Feinde von gestern werden unsere Freunde! Auf einen Schlag gibt man ihnen zwei Kinder Frankreichs preis! Und wie haben die Großen das aufgenommen?«
»Guise und Montmorency begeistert, weil sie von der Liga sind. Die Hugenotten Bouillon und Lesdiguières mit großer Zurückhaltung, weil sie um die protestantischen Bündnisse fürchten. Condé sagte nichts. Und als die Regentin nach dem Grund seines Schweigens fragte, antwortete er: ›Beschlossene Sachen bedürfen keines Rates mehr.‹«
»Immerhin etwas! Und Ludwig?«
»Der kleine König war nicht dabei.«
»Ist das die Möglichkeit! Er präsidierte nicht einmal dem Großen Rat, als die Regentin seine und seiner Schwester Vermählung bekanntgab? Ich bin sprachlos!«
|193|»Mein Freund«, sagte Frau von Lichtenberg, indem sie aufstand, »nun haben Sie wohl genug zu grübeln. Setzen Sie sich bequem in meinen Sessel und sehen Sie: Ich habe Ihre Waffel auf meinen Teller gelegt (dabei lächelte sie). Es gibt also keinen Grund mehr, sie nicht zu essen. Ich ziehe mich jetzt in mein Zimmer zurück, dahin dürfen Sie mir folgen, sobald Sie gesättigt sind und Ihre liebenswürdige Laune wiederhaben.«
* * *
Am nächsten Tag stellte ich mich in den königlichen Gemächern ein, indem ich einen Knopf meines Wamses ungeknöpft ließ. Das war keine Nachlässigkeit, es war eine Sprache. Es sollte heißen, daß ich über etwas informiert war, was ich dem König mitzuteilen hatte. Als er trotzdem eine Zeitlang weder ein Auge auf mich warf noch das Wort an mich richtete, fragte ich mich, ob er mein Signal überhaupt bemerkt hatte, doch beruhigte ich mich bei dem Gedanken daran, wie genau Ludwig immer alle und alles wahrnahm, auch wenn er nichts zu sehen schien. Und tatsächlich sagte er nach einer Stunde zu Monsieur de Souvré, er wolle Madame besuchen. Sein Erzieher stimmte sofort zu, und Ludwig fragte mich: »Monsieur de Siorac, wollt Ihr mich begleiten?«
»Sire, ich wäre entzückt.«
Sowie der König die Große Galerie betrat, hielt ich den Augenblick zu sprechen für gekommen, aber da Ludwig sich nicht wie sonst umwandte, mich dazu aufzufordern, warf ich einen Blick über meine Schulter und sah, daß uns in geringem Abstand Monsieur de Blainville folgte, zweifellos auf Anweisung von Monsieur de Souvré. Daraus schloß ich, daß der König entweder nicht wollte, daß Blainville meine Worte aus Leichtsinn weitersagte, oder daß er ihn verdächtigte, wie seine Amme Doundoun ein Spion der Königin zu sein. Und ich nahm mir vor, diesen Edelmann künftig genauer zu beobachten.
Madame war ein Jahr jünger als ihr ältester Bruder, der damals zehn Jahre und vier Monate alt war. Recht gewachsen für ihr Alter und ein bißchen pummelig, war sie niedlich anzusehen, blond, blauäugig, zwei Grübchen in den Winkeln des Kirschenmundes und mit einer sanftmütigen Miene, die nicht |194|trog, weil sie einem leicht lenkbaren Naturell entsprang. Ludwig hatte sie immer geliebt, wobei er sie gerne neckte und den großen Bruder hervorkehrte. Und seit man ihm den Chevalier de Vendôme geraubt und nach Malta geschickt hatte, war seine Liebe zu ihr noch gewachsen, so daß er sie, wenn auch nicht täglich, so doch sehr oft besuchte. Als sie ihn eintreten sah, legte Madame ihre Puppe in eine kleine Wiege, erhob sich und machte ihm einen tiefen Knicks.
»Sire«, sagte sie, »Ihr erweist mir große Ehre, daß Ihr mich besucht.«
Es war ein protokollarischer Satz, von den Lippen des Großkämmerers übernommen. Aber während Madame ihn im singenden Tonfall einer Schülerin aufsagte, färbten sich ihre Wangen rosig, und ihre Augen belebten sich so, daß sie besser als die einstudierten Worte ihre helle Freude ausdrückten.
Ludwig ging der kleinen Schwester schwungvoll entgegen, drückte sie an sich und küßte sie mit soviel Wärme, daß ich mich wieder einmal fragte, ob er vor der Weiblichkeit wirklich soviel Angst hatte.
»Madame«, sagte der König, »wie geht es Euch bei dieser Kälte?«
»Sehr gut, Sire, danke. Und Euch, Sire?«
»Man fragt den König nicht nach seiner Gesundheit«, sagte Ludwig streng. »Man bittet den Himmel, daß es ihm gut gehen möge.«
»Sire, ich bitte den Himmel, es möge Eurer Majestät gut gehen«, sagte Madame, deren naive Augen sich fragten, ob dies ein Spiel sei oder ein zarter Vorwurf.
»Und wie geht es Eurem Kind, Madame?« fuhr der König in milderem Ton fort. Damit beugte er sich über die Wiege und kitzelte die Puppe unterm Kinn.
»Seht Ihr, sie lacht«, sagte er.
»Es geht ihr recht gut, Sire«, sagte Madame, »aber sie hat Würmer, und ich denke, wir müssen sie purgieren.«
»Purgiert sie nicht zu oft«, sagte Ludwig, dem allein schon das Wort ›purgieren‹ die Haare zu Berge steigen ließ. »Madame«, fuhr er fort, »als Ihr mich das letzte Mal besuchtet, zeigte ich Euch meine Hakenbüchsen und nannte Euch ihren Namen. Warum habe ich das nach Eurer Meinung getan?«
»Um mich zu belehren«, sagte Madame mit einem Knicks.
|195|»Gut, diesmal will ich Euch zur Belehrung Verse vortragen.«
»Verse, Sire?« fragte Madame und machte große Augen.
»Verse von mir. Ich will Euch Verse aufsagen, die ich gemacht habe. Richtige Verse mit Reim.«
Er zog ein Stück Papier aus seinem Ärmel und las mit wohlartikulierter Stimme, ohne über ein Wort zu stolpern, was aber nichts Besonderes war: wenn er sang oder etwas aufsagte, stotterte er nie.
Ich sah einst ein Fröschlein,
das spitzte ein Hälmlein,
so hatt es ein Stöcklein.
»Nun, Madame, wie findet Ihr meine Verse?«
»Sire«, fragte sie errötend, »habt Ihr wirklich einen Frosch gesehen, der einen Halm schärfte?«
»Selbstverständlich«, sagte Ludwig, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Aber, Sire«, sagte Madame, »wozu brauchte der Frosch denn einen Stock?«
»Er hinkte«, sagte Ludwig.
Hierauf schwieg Madame, weil sie nicht wußte, was sie davon halten sollte.
»Monsieur de Siorac«, wandte sich Ludwig mit einem verschmitzten Blick zu mir um, »wie findet Ihr meine Verse?«
»Sie sind sehr gut, Sire.«
»Habt Ihr gehört, Madame? Monsieur de Siorac findet meine Verse sehr gut. Und Monsieur de Siorac ist ein Born der Weisheit. Ich will ihn Euch vorstellen, Madame. Bereitet ihm mir zuliebe einen guten Empfang.«
Ich trat vor, neigte ein Knie zu Boden, und Madame hielt mir ihre Patschhand hin, die ich ehrerbietig küßte. Hierauf stellte Ludwig ihr auch Monsieur de Blainville vor, und das gleiche Zeremoniell lief ab.
»Nun, Madame«, sagte Ludwig, »wie findet Ihr diese Edelmänner?«
»Ich finde sie schön«, sagte Madame begeistert.
»Madame«, sagte Ludwig streng, »eine Dame sagt nicht, daß sie einen Edelmann schön findet. Die Höflichkeit gebietet ihr, lediglich zu sagen, sie finde ihn ritterlich.«
»Ich finde sie sehr ritterlich«, sagte Madame.
|196|»Schön, und jetzt wollen wir in Eure kleine Küche gehen, und ich lehre Euch, wie man ein Omelette macht.«
»Warum, Sire?« fragte Madame.
»Es ist sehr nützlich im Leben, wenn man ein Omelette machen kann«, sagte der König bestimmt. »Das erste, das ich gemacht habe, war für Madame de Guise, und es hat ihr sehr gut geschmeckt. Madame«, sagte er, »gebt mir eine Serviette, damit ich mich vor Spritzern schütze.«
Madame gehorchte, er knüpfte sich das Tuch wie eine Schürze über sein Wams und sagte: »Von jetzt ab, Madame, seid Ihr mein Gehilfe, und ich rufe Euch beim Vornamen. Und weil ich Euer Meisterkoch bin, müßt Ihr zu mir ›Maître Louis‹ sagen und nicht ›Sire‹. Merkt Ihr Euch das?«
»Ja, Maître Louis«, sagte Madame, die sich auf diesem Terrain sicherer fühlte als in der Poesie und an dem Spiel langsam Gefallen fand.
»Elisabeth«, sagte der König, »laßt Euren Diener ein gutes Holzfeuer machen und gebt mir drei Eier, Butter, Salz, Milch, eine Bratpfanne und einen Kupfernapf.«
»Kupfer?« fragte Madame.
»Ja, es muß Kupfer sein.«
»Eine Bratpfanne mit Stiel, Maître Louis?«
»Natürlich«, sagte der König. »Wie soll ich das Omelette in der Pfanne hochwerfen, wenn sie keinen Stiel hat?«
Madame brachte, was Ludwig verlangt hatte, und auf sein Geheiß knüpfte auch sie sich eine Serviette um. Sie war eifrig bei der Sache und blickte mit einer Bewunderung auf ihren Bruder, als schicke er sich zu einem Heldenstück an.
Ludwig schlug die Eier säuberlich in den Kupfernapf, gab Salz, ein wenig Milch hinzu und sagte: »Und jetzt, Elisabeth, müßt Ihr die Eier schlagen.«
»Aber, das habe ich noch nie gemacht!« sagte Madame ängstlich.
»Deshalb will ich es Euch ja beibringen«, sagte der König. Er drückte ihr eine Gabel in die Hand, und indem er seine Finger darum schloß, setzte er sie in rasche, kreisende Bewegung, während er mit der anderen Hand den Kupernapf hielt.
»Und warum muß man so lange schlagen?« fragte Madame, die das wenige, was sie tat, schon ermüdete.
»Damit die Eier bündig werden.«
|197|Und weil Madame vor Anstrengung Grimassen schnitt, gab er ihre Hand frei und schlug allein weiter, dann ließ er den Eierbrei ruhen und schlug ihn ein zweites Mal. Was mich betraf, hegte ich keinen Zweifel, daß er die Dinge tadellos machte, denn Ludwig war in allem Handwerklichen bestens bewandert, weil er es sich mit großer Mühe angeeignet hatte.
»Also, das heißt Eier schlagen!« sagte Madame, der die Vorbereitung ein bißchen lange dauerte.
»Richtig«, sagte Ludwig, indem er ein nußgroßes Stück Butter in die Pfanne tat und diese auf das Holzfeuer stellte. »Daher der Ausdruck: Jemand ist zu dumm, ein Ei zu schlagen.«
»Aber ist es nicht sehr ungehörig, das zu sagen?« fragte Madame.
»Es kommt darauf an, zu wem Ihr es sagt«, sagte Ludwig, indem er den Eierbrei in die Pfanne goß.
»Kann ich es zu einer Zofe sagen?« fragte Madame.
»Das könnt Ihr, aber nur, wenn sie es verdient. Vergeßt nicht«, fuhr er ernsthaft fort, »Ihr müßt gerecht sein gegen jene, die Euch dienen, weil Ihr die Schwester Ludwigs des Gerechten seid.«
»Nennt man Euch so, Sire?« fragte Madame ganz eingeschüchtert.
»So will ich einmal genannt werden«, sagte Ludwig, »und nicht Ludwig der Stotterer, wie böse Zungen sagen.«
»Wer sind denn die bösen Zungen?« fragte Madame.
»Keine französischen«, sagte Ludwig, der sich trotzdem hütete, sie zu nennen. »Elisabeth«, fuhr er fort, »nennt mich nicht ›Sire‹, solange ich Euer Meisterkoch bin.«
»Ich denke dran, Maître Louis«, sagte Madame.
Sie verstummte, Ludwig auch. Und Schulter an Schulter sahen beide Kinder ehrfürchtig zu, wie das Omelett stockte.
»Wollt Ihr es wirklich hochwerfen, Maître Louis?« fragte Madame bänglich.
»Jawohl, Elisabeth!«
»Geht es nicht anders?« fragte sie.
»Es geht anders und würde am Geschmack des Omelettes auch nichts ändern. Aber es ist galanter, wenn man es hochwirft. Geht beiseite, Elisabeth, falls es mißlingt, soll Euch das Omelett ja nicht auf den Kopf fallen.«
Das war reiner Spaß, denn er wendete das Omelette geschickt in der Luft und fing es flach in der Pfanne auf.
|198|»Bravo!« sagte Madame und klatschte in die Hände, und zwar so freudig, daß Blainville und ich einfielen.
Ludwig warf einen Blick auf seine Uhr, und als er meinte, das Omelett sei nun golden genug, ließ er es auf einen Teller gleiten und fragte mit ziemlich stolzem Blick in die Runde: »Wer möchte?«
Aber weder ich noch Blainville noch Madame hatten Hunger und Ludwig auch nicht. Also faßte er einen Entschluß, der zeigte, daß er vorher nicht über das Omelettebacken hinausgedacht hatte.
»Monsieur de Blainville«, sagte er, »beliebt es Euch, aus meinen Gemächern drei meiner kleinen Edelleute zu holen?1 Die räumen sicher augenblicks mit diesem Gericht auf.«
Und kaum hatte Blainville kehrtgemacht, sagte der König in seinem spielerischen Ton zu Madame: »Und Ihr, Elisabeth, müßt jetzt in Eurem Kabinett den Tisch für meine drei kleinen Edelleute decken.«
Madame machte einen Knicks und lief emsig aus der Küche. Ich staunte, wie geschickt und schnell Ludwig sich der Zeugen entledigt hatte.
»Sioac?« sagte er, die Brauen hebend, und ohne meine Worte abzuwarten, begann er, mit großem Spektakel die Küche aufzuräumen.
»Sire«, sagte ich leise, »gestern wurde im Großen Rat Eure Vermählung verkündet.«
»Ich weiß.«
»Und auch die von Madame.«
»Madame wird verheiratet?« fragte er erregt. »Und mit wem?« fuhr er fort, indem er mich anblickte.
»Mit dem Infanten Philippe, dem künftigen König von Spanien.«
»Soll die Hochzeit von Madame und mir gemeinsam stattfinden?«
»Ja, Sire.«
»Wann?«
»Das Datum steht noch nicht fest, Sire. Wahrscheinlich wartet man, bis Ihr volljährig seid.«
»Und wann bin ich volljährig?«
|199|»Sire, hat man Euch das nicht gesagt? In Frankreich wird ein König laut einer Verordnung Karls V. volljährig mit dem vollendeten dreizehnten Lebensjahr. Das heißt für Eure Majestät Ende September 1614.«
Ludwig setzte sich auf einen Schemel und verharrte eine Zeitlang stumm, mit vorgebeugtem Kopf, gesenkten Augen. Bei seinem schwermütigen Ausdruck sagte ich mir, daß er wohl bezweifelte, nach seiner Volljährigkeit mit dreizehn Jahren mehr Macht im Staat zu haben als jetzt. Ich täuschte mich. Als er endlich sprach, zeigte sich, daß ihn eine ganz andere Frage quälte.
»Sioac«, sagte er, »wenn Madame mit dem Infanten Philipp von Spanien verheiratet ist, kann ich sie dann noch besuchen?«
»Nein, Sire, das wird nicht möglich sein. Der König von Frankreich kann die Grenzen seines Reiches nur an der Spitze eines Heeres überschreiten. Und das gilt ebenso in umgekehrter Richtung für den Infanten Philipp und seine Gemahlin.«
»Also«, sagte Ludwig nach einer Weile, »wenn Madame die Pyrenäen einmal überquert hat, ist sie für mich verloren?«
»Ich fürchte es, Sire, Ihr könnt Ihr nur schreiben, und sie Euch.«
»Ach, Briefe! Briefe!« sagte Ludwig mit tief betrübter Miene und zuckte mit den Schultern.
* * *
Schöne Leserin, Sie dürfen aber nicht glauben, Ludwig habe über all den Traurigkeiten, wenn er die mütterliche Bevormundung zu stark verspürte, seinen schalkhaften Sinn eingebüßt. Und weil das Vorausgegangene nicht eben heiter ist, will ich Ihnen eine Episode erzählen, die Sie hoffentlich ergötzt.
Als Ludwig einmal die Gemächer der Königin betrat, fand er seine Mutter matt zu Bette liegen und sich endlos gegen einen Abführtrank sträuben, den ihr ärztliches Personal ihr in einem Silberbecher darbot: ein Anblick, der ihn an all die Prügeltrachten erinnern mußte, die er auf mütterliches Geheiß erhalten hatte, wenn er Héroards bittere Gebräue nicht schlucken wollte. Aber obwohl die Schrecken seiner Mutter ihm schon einige Genugtuung bereiten mochten, ließ er es dabei nicht bewenden. Wie ein Soldat ging er zum Angriff über, |200|indem er sich vor das Bett stellte und rief: »Auf, auf, Madame! Trinkt nur, trinkt! Nur Mut, Madame! Nur Mut!«
Und während er sprach, näherte er sich dem Nachttisch, auf dem er Bonbons liegen sah, und langte verstohlen danach. »Trinkt, trinkt, Madame! Immer mutig! Ihr müßt nur den Mund weit aufmachen und alles hinuntergießen!« Und er hörte mit seinen mannhaften Reden nicht auf, bis die Königin getrunken und er sich die Taschen mit Süßem gestopft hatte.
Nie spielte Ludwig soviel mit seinen Soldaten wie in diesem ausgehenden August, und obwohl er sich hütete, seine Feinde je zu benennen, erriet ich unschwer, daß er heiß beschäftigt war, den Krieg seines Vaters gegen Spanien zu gewinnen, der durch Ravaillacs Messer abgebrochen worden war. Nie schlief er auch schlechter. Ich wußte es von Doktor Héroard, dem geduldigen Opfer der königlichen Schlaflosigkeiten, denn um seinen Schützling besorgt wie eine liebende Mutter, erwachte er instinktiv, sowie Ludwig des Nachts die Augen aufschlug.
Am sechsundzwanzigsten August herrschte im Louvre eine Hitze, daß ich mich am liebsten in Hemdsärmeln beim König eingestellt hätte. Leider konnte davon keine Rede sein. Und ein jeder schwitzte in seinem Wams vor sich hin, auch wenn er keine Zehe rührte, es troff einem vom Gesicht wie aus den Achseln, ohne daß man sich trocknen konnte, weil die Etikette dies in Gegenwart Seiner Majestät verbot. Und er, der nicht minder litt, mußte obendrein höchst widerwillig den kleinen Satz auswendig lernen, mit dem er dem Herzog von Pastrana, dem Außerordentlichen Gesandten des Königs von Spanien, antworten sollte, der mit dem französischen Hof die Eheverträge für den König und für Madame ausgehandelt und nun zu unterzeichnen hatte.
»Bitte, Sire!« sagte Monsieur de Souvré, »gebt Euch noch einmal Mühe! Eure Majestät kann nicht umhin, auf die Ansprache des Herzogs von Pastrana mit einem Dank an den König von Spanien zu antworten und auch ihm ein kleines Kompliment zuzuwenden.«
»Ich will ja, Monsieur de Souvré«, sagte Ludwig mit einem Gehorsam, der mir nicht allzu echt vorkam.
»Alsdann, wiederholen wir, Sire: ›Ich danke dem König von Spanien für seinen guten Willen. Versichert ihn, daß ich ihn |201|stets ehren werde wie einen Vater, daß ich ihn lieben werde wie einen Bruder und seinem guten Rat folgen werde.‹«
»Wer hat diesen Text verfaßt, Monsieur de Souvré?« fragte Ludwig.
»Die Königin Eure Mutter, Sire«, sagte Monsieur de Souvré, »sicherlich beraten von Euren Ministern. Wollt Ihr bitte wiederholen, Sire?«
»Gerne«, sagte Ludwig. »›Ich danke dem König von Spanien für seinen guten Willen. Versichert ihn, daß ich ihn stets ehren werde wie einen Vater.‹ Monsieur de Souvré, warum soll ich ihn ehren wie einen Vater?«
»Weil er es dem Alter nach sein könnte: er ist vierunddreißig. Bitte, noch einmal, Sire!«
»Und warum soll ich ihn lieben wie einen Bruder?«
»Weil Ihr als König seinesgleichen seid, Sire.«
»Dann wäre er mir Vater und Bruder in einem?«
»Sire, das sind Redeweisen zwischen den Herrschern zweier großer Reiche. Also, wiederholt, Sire!«
»›Ich danke dem König von Spanien für seinen guten Willen. Versichert ihn, daß ich ihn stets ehren werde wie einen Vater, daß ich ihn lieben werde wie einen Bruder und seinem guten Rat folgen werde.‹ Monsieur de Souvré«, fuhr Ludwig fort, »wie kann ich dem König von Spanien gleich sein, wenn ich von ihm Ratschläge erwarte? Mir scheint, ich würdige mich sehr herab, wenn ich das sage.«
»Mitnichten, Sire. Nicht, wenn sein Rat gut ist.«
»Woher, Monsieur de Souvré, kann ich im voraus wissen, ob es so ist?«
»Sire«, erwiderte Monsieur de Souvré mit einiger Ungeduld, »das sind einfach Höflichkeitsfloskeln. Bitte, wiederholt, Sire!«
Ludwig sagte den ganzen Satz, einschließlich des ›guten Rates‹, in einem Zug auf, ohne einmal auf den Text zu sehen.
»So war es gut, Sire!« sagte Monsieur de Souvré befriedigt. »Trotzdem wäre es besser, wenn Ihr das Kompliment langsamer sprechen würdet. Langsamkeit gibt Würde. Herr Großkämmerer, was meint Ihr?« wandte sich Monsieur de Souvré an den Herzog von Aiguillon.
»Gewiß, Sire«, sprach der Herzog sogleich mit einer Stimme, als erklängen Orgelbässe in einer Kathedrale, »gewiß, Sire, schafft getragenes Sprechen bei solchen Anlässen Würde.«
|202|»So, Herr Großkämmerer?« fragte Ludwig und wiederholte den Satz, indem er die Baßstimme des Würdenträgers so drollig nachahmte, daß einige wie ich ihr Lächeln hinter vorgehaltener Hand verbergen mußten.
»Sehr gut, Sire«, sagte Monsieur de Souvré, der den Spaß dahinter nicht bemerkte. »Nur, drückt nicht so auf Eure Stimme.«
Nachdem der diplomatische Satz im königlichen Gehirn gespeichert war, wurden Ludwig die zeremoniellen Gewänder angelegt, die so schwer waren, daß er noch einmal so schwitzte. Und ein goldener Stuhl wurde herbeigebracht, auf dem er Platz nahm.
Er brauchte nicht lange zu warten. Mit prächtigstem Gefolge erschien der Herzog von Pastrana, sehr lang, sehr hager, sehr steif. Nach seiner dreifachen Verneigung vor dem König von Frankreich blickte dieser ihm mit regungslosem Gesicht entgegen, der Herzog hielt in etwas sehr hartem Französisch eine kleine Ansprache, die an Getragenheit der Eloquenz unseres Großkämmerers nicht nachstand, obendrein aber von ganz kastilischem ardor1 geprägt war. Als er geendet hatte, kniete er neuerdings nieder, und Monsieur de Souvré machte Ludwig ein Zeichen. Dieser sprach nun nicht ohne Würde und ohne jedes Stottern die mühsam erlernten Worte.
»›Ich danke dem König von Spanien für seinen guten Willen. Versichert ihn, daß ich ihn stets ehren werde wie einen Vater und lieben werde wie einen Bruder.‹«
Hierauf neigte er den Kopf vor dem Herzog von Pastrana, der ihm für seine Worte dankte, ihm abermals drei tiefe Kniefälle machte und mit seiner glänzenden Eskorte verschwand.
»Oh, Monsieur de Souvré«, sagte Ludwig, kaum daß der spanische Grande fort war, »bitte, ruft meine Diener, damit sie mich auskleiden. Ich ersticke in diesen Sachen.«
»Sire«, sagte Monsieur de Souvré so ärgerlich wie bekümmert, »Ihr habt in Eurem Kompliment den ›guten Rat‹ ausgelassen.«
»Habe ich den ausgelassen?« fragte Ludwig wie erstaunt.
»Jawohl, Sire.«
»Ach! Das tut mir leid«, sagte Ludwig. »Monsieur de Souvré, vergebt mir, es war ein Versehen.«
|203|Daß es durchaus keines war, sah ich, als Ludwig sich von Monsieur de Souvré zu den Dienern umwandte, die ihn seines Prachtgewandes entledigten, und ein kleines Funkeln in seinen Augen glomm, das mir zu denken gab.
* * *
Ludwig wußte sehr wohl, mit welch finsterer Regelmäßigkeit die Dornen und Prüfungen, mit denen sein Vater sich sein Leben lang herumschlagen mußte, allesamt aus Spanien über ihn gekommen waren, und ich bin mir sicher, daß er es als Verrat an seinem Andenken empfunden hätte, wenn er nicht allem, was von jenseits der Berge kam oder kommen würde, mit Mißtrauen und Ablehnung begegnete. Die Bestätigung dafür erhielt ich am selben Abend, als ich um fünf Uhr seine Gemächer betrat. Musik empfing mich, und als ich auf Zehenspitzen weiterging, fand ich das ganze Königshaus in andächtiges Lauschen versunken, jedenfalls tat man so. Ludwig saß und stützte den Kopf in die Hand. Ein Sänger und zwei Gitarrespieler boten kastilische Lieder dar. Alle drei gehörten selbstverständlich zum Gefolge des Herzogs von Pastrana. Mir gefielen die Melodien und Rhythmen sehr, aber Ludwig schien mein Empfinden nicht zu teilen. Denn obwohl er Musik liebte, trug sein Gesicht jene schmollende Miene, die ich nur zu gut kannte. Und weil an den mitreißenden Weisen wahrlich nichts auszusetzen war, konnten sie ihn nur auf Grund ihrer Herkunft und der Nationalität des huldvollen Spenders dieses Konzertes so verstimmen. Trotzdem dankte Ludwig am Ende den Musikern und ließ ihnen durch Monsieur de Souvré Geld austeilen.
Kaum waren die Musiker gegangen, als ein aufgeputzter spanischer Edelmann mit einem Diener erschien, der ein sehr umfängliches Paket brachte, ein Geschenk Seiner Exzellenz des Herzogs von Pastrana für Seine Majestät. Monsieur de Souvré nahm das Paket in Empfang, nicht ohne wortreiche Komplimente beiderseits wie auch tiefe Kniefälle, als der Überbringer sich zurückzog.
Da man von außen fühlen konnte, daß das Paket etwas wie Stoffe enthielt, ließ Monsieur de Souvré den königlichen Großkämmerer rufen, den jungen Comte de La Rochefoucauld, der fast im Laufschritt anlangte, lange blonde Locken um sein |204|schönes frisches Gesicht. Sein Großvater, ein Protestant, war als einer der ersten der Bartholomäusnacht zum Opfer gefallen; der junge Comte aber, der wenig für Religion und viel für gutes Leben übrig hatte, bekehrte sich unter Henri Quatre zum Katholizismus und folgte Roquelaure in einem Amt, das seinem Inhaber nicht nur eine gute Pension eintrug, sondern auch beneidenswerte ›Nadelgelder‹ von seiten der Lieferanten, auch wenn Ludwig nie großen Wert auf Schmuck und Prunk legte.
La Rochefoucauld hieß einen Diener das Paket öffnen, zum Vorschein kamen vierundzwanzig parfümierte Häute – eine spanische Spezialität – und vierundfünfzig Paar Handschuhe, vermutlich unterschiedlicher Größen, weil es mehr als eines Menschenlebens bedurft hätte, sie zu verbrauchen. La Rochefoucauld mußte denselben Gedanken haben, denn er sagte: »Sire, diese Leder und diese Handschuhe könntet Ihr gut Euren ausländischen Besuchern zum Geschenk machen.«
»Oh, nein!« sagte Ludwig, ohne den Dingen auch nur einen Blick zu gönnen. »Das gibt Halsbänder für meine Hunde und Zaumzeug für die Pferde.«
La Rochefoucauld war ein zu vollendeter Höfling, um sich seine Überraschung anmerken zu lassen, als er die verächtliche Bemerkung hörte, doch sagte er mir später, so schön die Häute auch seien, hätte der Herzog von Pastrana dem kleinen König doch besser eine Hakenbüchse schenken sollen. Ich widersprach ihm nicht, doch ich wußte, in der Verfassung, in der Ludwig war, hätte nichts ihn erfreut, was von dort kam, nicht einmal eine Büchse.
Fünf Tage darauf sah ich Ludwig erst um neun Uhr abends, weil ich mich bei Frau von Lichtenberg verspätet hatte, und man wusch ihm gerade die Füße in Rosenwasser. Das gefiel ihm, überhaupt badete er lieber als sein Vater, dessen Leibesgeruch feine Nüstern bekanntlich zu beleidigen pflegte. Dann setzte sich Ludwig, wie der schamhafte Héroard sagte, zu ›seinem Geschäft‹, das heißt auf den einzigen Thron, den König, Priester und Bettler gemeinsam haben. Und weil er sogar dabei beschäftigt sein wollte, ließ er sich eine brennende Kerze aufs Fensterbrett stellen und eine kleine Armbrust bringen, zielte und löschte mit dem ersten Pfeil die Flamme, ohne die Kerze umzuwerfen. Wohl weiß ich, daß gewisse Leute am Hof in ihrem Eifer, den König herabzusetzen, um der Regentin und |205|den Marquis von Ancre zu gefallen, ihm auch diesen Meisterschuß abstritten, aber ich kann ihn bezeugen, weil ich ihn mit eigenen Augen sah.
Nachdem er sein ›Geschäft‹ erledigt hatte, wurde Ludwig zu Bett gebracht. Er ließ sich seine Soldaten kommen, die nicht wie die meinen aus Blei waren, sondern aus Silber, und spielte noch eine Weile. Dabei verfolgte er wie stets aufmerksam, was ihn betreffend um ihn gesprochen wurde, und besonders, welche Anweisungen Monsieur d’Auzeray von Monsieur de Souvré für den kommenden Tag erhielt, an dem in seinen Räumlichkeiten unter den Augen des Herzogs von Pastrana die spanischen Heiratsverträge unterzeichnet werden sollten.
Plötzlich hob Ludwig den Kopf und sagte: »Aber da unterschreibt Ihr, Monsieur de Souvré.«
Es war eine seiner Bemerkungen, die scheinbar keine Logik hatten und die Monsieur de Souvré kindisch nannte, weil er die Empfindungen nicht begriff, denen sie entsprangen.
»Aber nein, Sire«, sagte er lebhaft, »Ihr unterschreibt! Ihr werdet doch morgen verheiratet.«
Woraufhin Ludwig den Kopf abwandte und auf einmal in schroffem Ton sagte: »Reden wir nicht davon!«
Ein kleiner, aber erhellender Zwischenfall trug sich am folgenden Tag in dem Moment zu, als es im Zimmer des Königs unter großem Zeremoniell und in Gegenwart der Königinmutter, des Königs, Madames, ihres Bruders Gaston (der seit Nicolas’ Tod Monsieur hieß), des Nuntius Bentivoglio, des Herzogs von Monteleone, des Herzogs von Pastrana, der Prinzen von Geblüt und der hohen Amtsträger der Krone zur Unterzeichnung kam.
Als Madame, den Gänsekiel in der Hand, sich anschickte, ihren Ehevertrag zu unterschreiben, wobei sie Blut und Wasser schwitzte und die Zunge hervorstreckte (immerhin war sie erst zehn Jahre alt), stellte sich Ludwig hinter sie und stieß sie leise am Ellbogen, damit sie sich verschreibe. Der Regentin entging die Geste nicht, sie runzelte die Brauen über das, was sie sicher für eine bambinata hielt, aber wenn ihr getrübter Sinn im Herzen ihres Sohnes hätte lesen können, hätte sie begriffen, daß er, wäre er Herr der Dinge gewesen, sich nicht damit begnügt hätte, seine Schwester anzuschubsen: er hätte ihre Feder zerbrochen.