|9|ERSTES KAPITEL

Es war am siebenundzwanzigsten Mai, traurig und so gut wie stumm saßen wir in unserem Haus in der Rue du Champ Fleuri beim Mittagessen, da trat Franz herein und fragte, ob unser Gesinde freihaben könne, um zur Hinrichtung zu gehen.

»Das ganze Gesinde?« fragte mein Vater mit erhobener Braue.

»Außer Margot und Greta, Herr Marquis, die sind zu schwachmütig und können kein Blut sehen, auch wenn es das Blut des abscheulichsten Verbrechers ist, den je die Erde trug.«

Dieser schöne Satz hätte mich im Munde unseres Majordomus verwundert, hätte ich nicht gewußt, daß er ihn der jüngsten Predigt des Pfarrers Courtil verdankte.

»Und Louison?« fragte ich.

»Herr Chevalier«, sagte Franz mit einem Blick zu mir, woraufhin er aber sofort die Lider senkte, »Louison hält um diese Zeit Siesta.«

»Und du, Franz, gehst du hin?« fragte La Surie.

»Oh, nein, Herr Chevalier, ich bleibe hier.«

Zurückhaltend, wie er war, sagte er nicht, warum, und keiner von uns fragte ihn. Wenn mein Vater es nicht ausdrücklich befahl, trennte sich Franz nicht von seiner Greta, der er seit fünfzehn Jahren in großer Liebe anhing. Diese Anhänglichkeit gefiel meinem Vater sehr, ohne daß er aber gedachte, sie ihm nachzutun. »Bei einem Haushofmeister«, sagte er, »dem so viele hübsche Kammerfrauen unterstehen, ist eheliche Treue eine wunderbare Eigenschaft. Stellt Euch den Hickhack in diesem Hause vor, wenn dem nicht so wäre!«

»Geht der arme Faujanet auch?« fragte La Surie noch, wobei dieses ›arm‹ mehr Zuneigung als Mitleid bezeugte.

»Oh, nein, Herr Chevalier«, sagte Franz, »sein Bein wird doch immer schlimmer, außerdem fürchtet er sich vor dem Pariser Gewühl. Ihr wißt doch, ohne seinen Brunnen und seinen Gemüsegarten fühlt er sich nicht wohl.«

|10|»Gut, Franz«, sagte mein Vater, »wenn du nicht mitgehst, soll Poussevent die kleine Truppe anführen. Schick ihn mir her, die anderen auch.«

So kamen sie ihrer sieben: unser riesiger Kutscher Lachaise mit seinem Pferdeknecht, unser Koch Caboche mit seinem Lehrjungen, Jeannot, unser kleiner Laufbursche, und zum Schluß des Aufzugs unsere zwei starken Soldaten Pissebœuf und Poussevent, beide mit Bauch und Vollbart.

»Meine guten Kinder«, sagte mein Vater, »ich denke, daß euch keine Bosheit treibt, wenn ihr zusehen wollt, wie der Elende unter Qualen den Tod erleidet, sondern daß ihr euch nur in dem tiefen Kummer stärken wollt, in den euch die Ermordung unseres guten Königs Henri gestürzt hat. Nur wird es um das Rad einen gewaltigen Volksauflauf geben, mit all den Übergriffen und Ausschreitungen, die eine erhitzte Menge mit sich bringt. Hütet euch also, euch in Händel einzulassen, nehmt euch in acht vor Beutelschneidern und Mantelschnäppern und schützt mir unsere Kammerfrauen vor unverschämten Kerlen.«

»Wir geben acht, Herr Marquis«, sagte Poussevent mit entschlossener Miene.

»Und bleibt mir dort auch selbst besonnen«, fuhr mein Vater fort. »Ich möchte nicht, daß sich morgen jemand bei mir über meine Leute beschwert. Und noch eines: sobald der Delinquent Wind und Atem gelassen hat, macht ihr kehrt, kein Schlendern, keine Schenkenbesuche. Greta wird euch hier mit einem guten Happen erwarten.«

Obwohl unsere Leute uns so ergeben und zugetan waren, konnte meine liebe Patin, die Herzogin von Guise, sich nie genug über deren geringe Anzahl aufhalten. »Ganze zwei Dutzend!« mäkelte sie eines Tages. – »Siebzehn, um genau zu sein«, sagte mein Vater. – »Siebzehn! Eine solche Knickerei ist Eures Ranges unwürdig.« – »Ich messe meinen Rang nicht nach solcher Elle«, gab mein Vater zurück. »Nicht die Anzahl der Leute gilt, sondern wie sie mir dienen. In Eurem Palais, wenn Ihr mir das Beispiel erlaubt, kann man keine zwei Schritte gehen, ohne auf einen langen Lümmel in Livree zu stoßen, der da mit müßigen Händen zur bloßen Schau herumsteht. Ihr könntet zwanzig dieser Nichtstuer entlassen und wäret nicht schlechter bedient.« – »Zwanzig meiner Lakaien entlassen!« entrüstete sich die Herzogin. »Was Ihr Euch denkt! |11|Soll es überall heißen, daß ich ruiniert bin?« – »Das seid Ihr doch!« – »I bewahre! Die Königin gibt mir, wenn meine Mittel erschöpft sind.« – »Eure Schulden sind Euch eben gleichgültig. Ich wette, Ihr wißt nicht einmal, wie hoch Ihr verschuldet seid!« – »Richtig, und da Ihr mich daran erinnert, will ich es Monsieur de Réchignevoisin gleich heute abend fragen.« – »Einen schönen Sachwalter habt Ihr an dem! Er bestiehlt Euch vorn und hinten, um seinem geliebten Zwerg die Taschen zu stopfen. Unter uns, Madame, wie könnt Ihr unter Eurem Dach eine solche Unzucht dulden?« – »Oh, Monsieur, was macht das? Der Zwerg ist so klein!«

Weil Louison sich zu meiner Siesta verspätete, beobachtete ich von meinem Kammerfenster, wie unsere Leute sich im Hof sammelten. Die Männer fanden sich als erste ein und witzelten, wenn auch gedämpft, daß unsere Kammerfrauen sich offenbar wie für einen Ball herausputzten, weil sie so lange auf sich warten ließen. Dabei entging mir nicht, daß sie sich alle Mühe gaben, in ihren Festkleidern so düster und entschlossen auszusehen, wie es loyalen Untertanen geziemt, die sich zur Urteilsvollstreckung an einem Königsmörder begeben. Gleichzeitig vermochten sie aber nicht ganz zu verhehlen, welche Lustbarkeit sie sich von diesem denkwürdigen Ereignis versprachen, natürlich auch davon, es gebührend ausgeschmückt ihren Kindern und Enkeln zu erzählen.

Die Genugtuung in ihren feierlichen Mienen erhöhte sich noch, als endlich unsere Kammerfrauen sich so schmuck in ihren frischen Kotillons, den ausgeschnittenen Miedern und kurzen Ärmeln über den hübschen bloßen Armen zu ihnen gesellten.

»Alsdann!« sagte Poussevent mit ernster Stimme, aber blitzenden Augen. »Bis zur Conciergerie ist es ein gutes Stück. Machen wir uns stracks auf die Beine.«

Wie bezeichnend, dachte ich, daß sie dorthin wollten! Denn natürlich hätten unsere Leute gleich zum Rathaus gehen können, wo ja das Blutgerüst errichtet war mit dem solide vertäuten Rad darauf, damit es dem Zug der vier starken Gäule standhalte, die dem Elenden seine vier Gliedmaßen vom Leibe reißen sollten. Aber nein! Nichts wollten sie auslassen, schon gar nicht die gräßliche Prozession versäumen, die Ravaillac von der Conciergerie (wo man ihn mit anderen Gefangenen |12|eingesperrt hatte, die ihn, auch wenn sie noch so schlimme Verbrecher und manche davon schon zum Galgen verurteilt waren, mit Schimpf und Schande überschüttet hatten), die gräßliche Prozession, sage ich, die Ravaillac im Henkerskarren nach Notre-Dame führen würde, wo er öffentliche Abbitte leisten sollte, und von dort zum Platz vor dem Hôtel de Ville, wo man alles daran setzen würde, ihn so lange wie möglich zu quälen.

»Wahrlich, Herr Marquis!« sagte Poussevent, als er drei Stunden später mit seiner kleinen Truppe wieder bei uns eintraf, »es ist ein Wunder, daß der Elende aus der Conciergerie überhaupt herausgekommen ist, ohne zerfleischt zu werden! So viele Wachen und Arkebusiere ihn auch schützten – die Masse hätte ihn ums Haar in Stücke gerissen; sowie er erschien, stürzte alles auf ihn los, manche entfesselten Weiber kratzten und bissen ihn sogar, und das bei einem Gebrüll der Menge, das Hunderte Löwen nicht reißender gekonnt hätten. Schließlich setzte sich der Karren in Gang, aber da wurde es noch schlimmer: aus den Fenstern beugten sich alte Weiblein und warfen unter greulichem Gekreisch wer weiß wie viele Thymian-, Majoran- und Basilikumtöpfe auf Ravaillac. Und diese alten Pariserinnen, Herr Marquis, müssen schon eine heiße Wut im Leibe haben, wenn sie ihre geliebten Kräutertöpfe opfern, den einzigen Garten, den sie haben, wie der gute Faujanet sagt. Jedenfalls wäre der Mörder auf der Stelle hingewesen, hätten die Henker ihn nicht mit großen Schilden geschützt.«

»Und sich schelber auch, Möschjöh le Marquis«, sagte Mariette, die ihre redselige Auvergnatenzunge nicht länger im Zaum halten konnte. »Wo die Kräutertöpfe doch keine Augen haben, ob sie einem Henkerschknecht oder diesem Höllenmonschter den Schädel einschlagen.«

»Kurz und gut!« sagte Poussevent, den Ton anhebend, »der Karren, so sehr er hin und her schaukelte unterm Ansturm des heulenden Volks, langte schließlich vor der Kirche an, wo der Elende mit einer Fackel in der Hand, im Hemd und auf nackten Sohlen Abbitte tun mußte.«

»Alscho, was mich angeht«, sagte Mariette, »fand ich den Ravaillac im Hemd ja nicht so grosch und gefährlich, wie’s geheischen hat, schon gar nicht so stark wie mein Mann.«

Bei diesem Lob lächelte Caboche, doch ohne ein Wort, denn |13|seine zwanzig Ehejahre hatten die Tugend des Schweigens zu seiner zweiten Natur gemacht.

»Woher willst denn du wissen, Gevatterin«, sagte Poussevent, »daß es soviel Kraft braucht, eine spitze, scharfe Klinge ins Herz eines Mannes zu stoßen, wenn sein Herz so dicht unter der Haut liegt? Wir, zu unseren Kriegszeiten, sagten immer, um einen Stoß abzuhalten, taugt ein Büffelwams besser als ein Leinenhemd, und taugt ein Kettenhemd besser als ein Büffelwams, und noch besser als ein Kettenhemd taugt ein Küraß. Ist es nicht so, Herr Marquis?«

»Richtig, Poussevent, aber faß dich bitte kurz. Greta erwartet euch in der Küche mit dem gedeckten Tisch.«

»Gehorsamer Diener, Herr Marquis«, sagte Poussevent, indem er sich verneigte. Woraufhin Pissebœuf sich ebenfalls verneigte, denn obwohl er kein Wort gesagt hatte, meinte er, die Order, es kurz zu machen, richte sich an sie beide.

»Die Hauptsache«, fuhr Poussevent fort, »spielte sich aber vor dem Hôtel de Ville ab, auf dem Schafott. Die Henker zogen Ravaillac das Hemd aus, legten ihn nackt wie einen Wurm auf das Rad und fesselten seine Arme und seine gespreizten Beine an die Speichen. Und hierbei trat wie durch ein Wunder Stille ein im Volk und unter den Damen und Herren auf den ansteigenden Rängen vorm Hôtel de Ville, von wo sie gute Sicht auf den Leib des Elenden hatten.«

»Ohne unsere Scholdaten«, fuhr Mariette fort, »die uns durchs Gedränge ja quasi in die vorderschte Reihe schoben, hätten wir überhaupt nichts gesehen von dem Ganzen. Ein paar Spaßvögel kamen mit Stelzen und wollten sich über die anderen aufschwingen, aber die Nachbarn ließen sie nicht, sie haben absteigen gemußt. Am glücklichsten, Möschjöh le Marquis, waren noch die Kinder dran, welche die Väter sich auf die Schultern setzten, die holte keiner runter.«

»Wie gesagt«, nahm Poussevent wieder das Wort, »es machte sich große Stille breit, als Ravaillac aufs Rad geflochten wurde. Aber das änderte sich, als die Henker ihn an den Brustwarzen zwickten, an den Armen, Lenden, Weichen und ihm kochendes Öl in die offenen Wunden gossen und geschmolzenes Blei. Bei jeder neuen Pein schrie der Elende wie besessen! Und auf sein Geschrei antworteten die guten Leute mit Pfiffen und Hohngelächter.«

|14|»Offen gestanden«, sagte Mariette, »ich hatt denn doch genug. Wie der Monschter schrie, nein, mir ist ganz andersch geworden. Ich hab wahrhaftig blosch durchgehalten, weil ich mir gesagt hab, es ist ja wohl das wenigste, daß scho ein Elender ein, zwei Stunden auf dieser Welt schlimmste Pein erleidet, wo er uns allen scho großes Leid angetan hat und hat uns zu Waisen eines scho guten Königs gemacht.«

»Was mir aber in der Kehle steckengeblieben ist«, sagte plötzlich Lisette, das einzige blasse Pariser Kind unter unseren Kammerzofen, die sonst alle, rosig und gesund, französischen Landen entstammten (oder dem Elsaß wie Greta), »das war, als das Volk nicht wollte, daß sie dem Ravaillac das Salve Regina sangen, wie er danach verlangte, eh er von den vier Pferden zerrissen wurde, weil er wußte, daß das sein Tod war.«

»Wieso, das Volk hat es nicht gewollt?« fragte mein Vater. »Entscheiden darüber nicht die Beichtväter?«

»Die wollten ja, Herr Marquis!« sagte Poussevent. »Aber kaum hatten sie das Salve Regina angestimmt, schrie das Volk so laut wie noch nie, ihm soll das Salve Regina nicht gesungen werden, der Verbrecher soll geradewegs in die Hölle fahren wie Judas. Weil die Beichtväter den heiligen Gesang aber nicht abbrachen, ging ein wütendes Toben los, manche zogen sogar Messer und wollten die geistlichen Herren aufschlitzen, so große Doktores von der Sorbonne sie auch sind … Jedenfalls verstummten sie. Wußten sie denn, ob die Arkebusiere sie vor der aufgebrachten Menge schützen konnten?«

»Das war sehr wenig christlich, finde ich!« sagte Lisette leise. »Da hat man die Grenzen überschritten, und auch damit, wie lange sie ihn gefoltert haben.«

»Aber dadurch«, sagte Poussevent, »hat er doch gestehen sollen, ob er Komplizen hatte, die ihn zu seiner Mordtat angestiftet haben.«

»Und hat er gestanden?« fragte mein Vater.

»Nichts, rein nichts!« sagte Poussevent kopfschüttelnd. »Ich hab es, weil ich ja vornan stand, mit eigenen Ohren gehört: ›Ich habe es Euch bekannt‹, hat er gesagt, ›und bekenne es immer wieder: ich habe es allein getan.‹ Aber wer weiß, womöglich hat man ihn stufenweise zu dem Mord getrieben, ohne daß er es gemerkt hat. Und was die Sorte Leute angeht, die da |15|getrieben haben könnten, und keine von schlechten Eltern, weiß Gott, da hab ich wie jedermann so meine Idee im Hinterkopf.«

»Dann hüte dich«, sagte mein Vater in gestrengem Ton, »sie herauszulassen! Und ihr alle hier, weil die Gelegenheit sich gerade bietet, hört mir dies eine: Es gibt Zeiten, in denen man laut sagen darf, was man denkt, und es gibt andere, da darf man nicht einmal denken, was man denkt.«

* * *

Mein Kummer über die Ermordung des Königs war so groß, daß ich erst Wochen danach begriff, welche Folgen sein Tod auch für mein Leben hatte, und mochten diese angesichts der Trauer eines ganzen Volkes auch unbedeutend erscheinen, waren sie es für mich durchaus nicht. Seit der König hingeschieden war, hatte ich keine Aufgabe mehr. Bekanntlich vertraute Henri seinen Ministern, wenn man von Sully absieht, nicht allzusehr – wegen ihres hohen Alters wurden sie die Graubärte genannt –, und um geheime Briefe in fremden Sprachen zu verfassen, die er an Herrscher anderer Länder richtete, bevor er in seinen großen Krieg gegen die Habsburger ging, hatte er in den letzten Monaten seiner Herrschaft stets mich gerufen.

Das Gefühl, mit achtzehn Jahren der wenn auch geringste Helfer eines so großen Königs zu sein, und in Angelegenheiten von solcher Tragweite, hatte mich überglücklich gemacht. Ebenso die Tatsache, daß ich so oft in den Louvre gerufen wurde und mit Erlaubnis Seiner Majestät den Dauphin Ludwig besuchen durfte, zu dem ich drei Jahre zuvor eine große Zuneigung gefaßt hatte.

Dieses Glück, diese Freude, das Gefühl meiner Nützlichkeit waren mir geraubt worden, als Henri dem Messer dieses Besessenen zum Opfer fiel. In der Leere, die sich sozusagen in mir und um mich ausbreitete, wußte ich wahrhaftig nichts mit meinem Leben anzufangen.

Von der Regentin hatte ich bestimmt nichts zu erwarten. Jener Titel ›kleiner Cousin‹, mit welchem der König in seiner großen Güte mich anläßlich meiner Vorstellung bei Hofe ausgezeichnet hatte, hatte aus dem Munde Ihrer wenig Gnädigen |16|Majestät eine böswillige Beifügung erfahren1. Doch selbst wenn ich das Unwahrscheinliche annahm, nämlich daß sie einwilligte, mir irgendeinen Auftrag zu erteilen, hätten bei dem Gang, den die Dinge jetzt nahmen, wohl weder mein Vater noch ich es gutgeheißen, wenn ich eine Stellung akzeptiert hätte, in der ich eine Politik hätte vertreten müssen, die derjenigen unseres Königs höchst wahrscheinlich total entgegengesetzt war.

Anfangs schienen ›die Dinge‹ ja noch nicht so übel zu stehen. Am siebenundzwanzigsten September überraschte uns die Herzogin von Guise schon früh am Morgen, um uns persönlich mitzuteilen, daß eine kleine französische Abteilung und unsere niederländischen Verbündeten die Festung Jülich eingenommen hatten, ohne daß die österreichischen oder spanischen Habsburger auch nur den kleinen Finger rührten, um unseren Waffenerfolg zu verhindern.

Mein Vater war aber weit entfernt, sich über diesen Sieg so zu begeistern wie Madame de Guise.

»Gewiß«, sagte er (und dieses ›gewiß‹ verriet wieder den bekehrten Hugenotten), »in der Hand unserer Freunde, der deutschen Lutheraner, sind Kleve und Jülich besser aufgehoben, als wenn die Habsburger sie hätten. Aber auch wenn diese Eroberung unsere Ehre stärkt, streut man sich damit doch Sand in die Augen. Die Graubärte, welche die Regentin beraten, sind schlaue Füchse. Während sie in diesem Fall scheinbar die antihabsburgische Politik unseres großen Königs fortsetzen, sind sie sich mit der Königinmutter längst in der Gegenrichtung einig. Es ist doch sonnenklar: wir haben jetzt eine Regentschaft, die der Liga, dem Papst und den Spaniern hörig ist. Und Ihr dürft mir glauben, das wissen die Habsburger. Hätten sie Jülich sonst preisgegeben, ohne mit der Wimper zu zucken?«

»Monsieur«, sagte Madame de Guise, »wollt Ihr gefälligst aufhören mit Euren aufrührerischen Reden. Sie verletzen mein Ohr. Außerdem sind sie aus der Mode. Seit Maria die Regentschaft innehat, ist keine Rede mehr davon, die Habsburger zu bekriegen, sondern sie zu heiraten. In Wien haben sie kleine |17|Erzherzoginnen und in Madrid Infanten und Infantinnen zuhauf, mit denen sie nichts anfangen können. Und bei uns im Louvre gibt es genug Kinder Frankreichs. Was kann man Besseres tun, als sie zu vermählen?«

»Was höre ich da?« rief mein Vater. »Unser armer Henri ist kaum im Grab erkaltet, da werden bereits Ehen mit den schlimmsten Feinden des Königreiches angebahnt, mit denen, die unter Heinrich III. und Henri Quatre nichts unversucht gelassen haben, in Frankreich den Bürgerkrieg zu säen in der einzigen Absicht, unser Land zu zerstückeln?«

»Monsieur, bitte«, sagte Madame de Guise betreten, »vergeßt meine Worte, meine Zunge war zu voreilig. Die spanischen Heiratspläne stecken noch in den Kinderschuhen. Vergeßt meine Worte, ich flehe Euch an. Im Augenblick will Madrid uns für den kleinen König nur eine jüngere Infantin genehmigen. Aber wir wollen die älteste. Sie oder keine! Anders verhandeln wir gar nicht!«

»Ob älter, ob jünger«, knurrte mein Vater, »was macht das schon! Nichts gegen kleine Infantinnen, aber solches Gemüse, jung oder weniger jung, widerstrebt französischen Mägen. Ob älter oder jünger, Herrgott! Wenn das den ganzen Unterschied zwischen Paris und Madrid ausmacht, den wird der Papst, der sich aufs Anrichten von Salaten versteht, im Handumdrehen bereinigen.«

»Nein, Monsieur! So sprecht Ihr nicht vom Heiligen Vater!« rief Madame de Guise. »Eure antipapistische Wut dreht mir das Herz im Leibe um! Aber man sagt ja auch: der Hund kehrt immer zu seinem Auswurf zurück! Denn woher, das frage ich Euch, kommt Ihr zu solchen Reden gegen den Papst, wenn nicht aus Eurer einstigen Religion?«

»Madame«, sagte mein Vater auffahrend, und seine Stimme klang wie ein Peitschenhieb, »ich warne Euch, wenn Ihr mir nach diesem Hund auch noch mit dem Faß und dem Hering1 kommt, verlasse ich den Raum.«

Madame de Guise errötete, sie wogte wie eine Welle im Wind, dann trat sie auf meinen Vater zu, daß sie ihn fast berührte, ergriff seine Hand und drückte sie.

»Mein Freund!« sagte sie mit bebender Stimme, indem sie |18|die erschrockenen Augen zu ihm hob, als frage sie sich, wie sie sich zu diesem Fels aufschwingen solle, der sie so hoch überragte, »ich wäre schön dumm …«

»Das seid Ihr in der Tat«, knurrte mein Vater zwischen den Zähnen.

»Schön dumm«, fuhr sie fort, als hätte sie nichts gehört, »und dazu höchst unvorsichtig, wenn ich Euch ausgerechnet heute erboste, da ich mir von Euch einen besonderen Beweis Eurer Zuneigung erwarte …«

Das wurde mit zugleich echter und gespielter Naivität und mit einem sehr eigenen, kleinen Funkeln in den himmelblauen Augen gesagt. Diese Mischung machte auf meinen Vater sichtlichen Eindruck, denn er gab seine steife Haltung auf und neigte sich Madame de Guise zu, die einen scheinbar so unterwürfigen Blick zu ihm emporrichtete.

»Madame«, sagte er mild, »ist es nicht widersinnig, daß Ihr an diesem Hund Geschmack findet, obwohl Ihr so verabscheut, was Ihr seinen Ketzergeruch nennt, was aber in Wahrheit nur Treue zu unserem toten König und den großen Interessen dieses Reiches ist? Aber ich fürchte, das werdet Ihr nie verstehen. Darum laßt uns besser einen Handel schließen, wenn Ihr wollt. Ihr sprecht nicht mehr von ›Hund‹ und ›Heringsfaß‹, und ich werde nicht mehr sagen, daß die lautstarken, öffentlichen Schluchzer, mit welchen der Papst zu Rom den Tod unseres Henri beklagte, mich anmuteten wie die Tränen, die man Krokodilen zuschreibt.«

»Wie könnt Ihr nur!« rief die Herzogin, indem sie seine Hand losließ und ihre molligen Arme zum Himmel streckte. »Mein Gott! Was für eine Bosheit, so etwas von Seiner Heiligkeit zu denken! Und, was noch schlimmer ist, es auch noch auszusprechen!«

Trotzdem protestierte sie nicht weiter, denn mein Vater, der behaglich in seinen Schnurrbart schmunzelte, weil er ihr diesen Stich versetzt hatte, nahm sie in die Arme. Woraufhin ich mich schleunigst zu meiner Studierstube aufmachte, wo mein Lateinlehrer, Monsieur Philiponneau, mich erwartete.

Gleichwohl sah ich unsere zärtliche Besucherin um Punkt elf Uhr an unserem Mittagstisch wieder, denn anders als im Hôtel Guise ging es in unserem Hause geregelt zu. Meine Patin wirkte höchst zufrieden mit ihrem Morgen und war vergnügt |19|und fröhlich wie zu ihren besten Zeiten, quirlig in ihrem Gebaren, unverblümt und drastisch in ihrer Sprache.

Als enge Freundin der Königin sah sie diese tagtäglich und erzählte uns aus dem Louvre allerhand Anekdoten, denen ich begierig lauschte, besonders, wenn es sich um den kleinen König handelte.

»Stellt Euch vor«, sagte sie, »neulich betrat unser kleiner Königssohn, nachdem er tags zuvor auf Befehl der Königin ausgepeitscht worden war, ihre Gemächer. Sofort erhob sich die Köngin, wie es die Etikette befiehlt, und machte ihm eine tiefe Reverenz. Da sagte Ludwig mit leiser, aber deutlich vernehmbarer Stimme: ›Nicht so viele Reverenzen und etwas weniger Prügel!«

Hierauf prustete Madame de Guise heraus vor Lachen.

»Ich weiß nicht«, sagte mein Vater, »ob man darüber lachen soll. Hierin liegt der Keim schwerster Konflikte. Im Prinzip ist er der König und sie seine Untertanin. Tatsächlich aber hat sie alle Macht über ihn, sowohl als Regentin wie als Mutter. Und die mißbraucht sie, das sei unter uns gesagt. Wie ich hörte, hatte sie ihn bestraft, weil er sie im Vorbeigehen angestoßen hatte. Zwar entschuldigte er sich umgehend, aber sie wollte nicht glauben, daß es ein Versehen war. Und er wurde gepeitscht. Aber nicht etwa gleich auf der Stelle, nein, sondern erst am nächsten Tag in der Frühe, wie dies seit den Anfängen in dem Hause, dessen König er ist, gehandhabt wird. Ich finde, eine solche hinausgezögerte Züchtigung übersteigt die Grenzen des Abscheulichen. Stellt Euch vor, liebe Freundin, wie der Ärmste den Rest des Tages – und die Nacht – zugebracht haben muß in Erwartung dieser Tracht, die er nicht einmal verdient hatte.«

Da Mariette mit einer Schüssel und mit ihrer gierig lauschenden Miene hereintrat, wurde das Gespräch unterbrochen, bis die Tratschliese die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Was wollt Ihr, mein Freund?« sagte Madame de Guise seufzend, »die Königin ist ihren Kindern eben nicht zugetan, außer vielleicht dem kleinen Gaston. Schwanger sein, ja, das findet sie schön, aber sobald die Frucht vom Baum fällt, löst sie sich als erste von ihr. Mein armer seliger Cousin (denn so nannte Madame de Guise unseren verstorbenen König) hat es ihr oft genug vorgeworfen. Was scherte es sie, wenn eines der Kinder krank war. ›Man soll es zur Ader lassen!‹ sagte sie mit |20|angewiderter Miene, ohne ihren erhabenen Arsch auch nur von der Stelle zu rühren, um nach ihm zu sehen.«

»Madame!« sagte mein Vater, »ein solches Wort, wenn Ihr von der Königin sprecht!«

»Was ist dabei?« sagte Madame de Guise und hob halb lachend, halb entrüstet das Gesicht vom Teller, »bin ich hier bei der Marquise von Rambouillet? Was hat die fürchterliche Betschwester immer zu kritteln? Soll ich dieses gute saftige Wort unserer Sprache von heut auf morgen nicht mehr aussprechen dürfen, ohne daß man auf ihr Geheiß rundum die Nase rümpft? Was soll die Tyrannei? Ein Wort ist ein Wort, und ein Arsch ein Arsch! Ist der ihre von so anderer Art, daß er nicht benannt werden darf? Gibt es etwa niemanden, der nicht von Zeit zu Zeit seiner vergnüglichen Zwecke gedenkt? Wie wäre dann ihr armer Charles zu bedauern! Allerdings«, setzte sie lachend hinzu, »interessiert sich Charles in erster Linie für Pferde. Kruppen liebt er noch mehr als Ärsche …«

»Ihr werdet rückfällig, Madame!« rief mein Vater.

Aber diesmal lachte er aus vollem Halse, und ich auch.

»Um auf den kleinen König zurückzukommen«, sagte Madame de Guise vergnügt und ein bißchen stolz, daß sie uns belustigt hatte, »so mag er ja ein gutherziges Kerlchen sein, aber so schüchtern, und wie er stottert, er bringt ja keine zwei Worte nacheinander heraus, und vor allem vergeudet er seine Zeit mit Nichtigkeiten, spielt den Maurer oder den Gärtner, kurzum, ich gehöre zu denen, die ihn für ein infantiles Kind halten …«

»Oh, Madame!« rief ich lebhaft, »erlaubt, daß ich Euch widerspreche. Ludwig hört alles. Er beobachtet alles, ohne daß es den Anschein hat, und wenn er schweigt, so nur aus Furcht, daß seine Offenheit übel ausgelegt werde. Aber er vergißt nichts, und vor allem nicht, daß er der König ist. Im übrigen ist er in militärischen Dingen bereits sehr beschlagen.«

»Das ist wahr«, sagte Madame de Guise. »Als Jülich gefallen war, ließ sich Ludwig die Belagerung in allen Einzelheiten erklären. Und danach rief er aus: ›Diese Stadt habe ich genommen!‹ Ziemlich einfältig, findet Ihr nicht?«

»Ein königliches Wort!« sagte mein Vater. »Ludwig weiß sehr wohl, daß er im Louvre war, während Jülich erobert wurde. Trotzdem ist dies ein Sieg seiner Herrschaft, und er beansprucht ihn vernehmlich!«

|21|»Aber das Komischste an der Sache«, fuhr Madame de Guise fort (denn die »Spitzfindigkeiten« meines Vaters ließen sie kalt), »einige Tage darauf empfing Ludwig einen spanischen Herrn aus dem Gefolge des Herzogs von Feria. Da ließ er sich doch einen Plan von Jülich bringen und erläuterte dem Herrn des langen und breiten, wie die Franzosen und ihre Verbündeten die Festung erobert hätten. Ist das nicht unglaublich? Diese Rede einem Spanier zu halten! Kann man derart einfältig sein!«

»Madame«, sagte mein Vater ernst, »täuscht Euch nicht! Ihr dürft ziemlich sicher sein, daß Ludwig das aus Schalkheit tat. Und diese Schalkheit kommt ganz nach der Art unseres seligen Königs. Wie ja auch die Eigenheit, daß Ludwig mit allen Leuten redet, denen er auf seinen Wegen begegnet, wenn er jagt.«

»Ach, bewahre!« sagte Madame de Guise. »Das glaube ich nicht! Jülich einem Spanier zu erklären, und noch dazu einem Spanier aus dem Umkreis des Gesandten! Nein, das war kein Schalk, das war pure Einfalt. Außerdem, was soll man von einem Knaben halten, der bei Tisch die ganze Zeit den Trommler spielt, mit seinem Messer auf der Tischkante, auf dem Geschirr, an den Trinkbechern und an seinem Teller? Nein, nein, ich sage Euch, das Kind ist ein Schafskopf, ein Einfaltspinsel!«

»Madame«, sagte mein Vater mit einiger Ungeduld, diesen geringschätzigen Refrain über Ludwig immer wieder mit anhören zu müssen, den man nicht ohne Hintergedanken in der Umgebung der Regentin sang, »was das Trommeln auf seinem Gedeck anbelangt, so hat Pierre-Emmanuel das genauso gemacht, und da war er nicht mehr neun Jahre alt, sondern zwölf.«

Hierauf vergaß Madame de Guise im Nu ihr Thema und blickte mich schweigend an, indem sie das Licht ihrer Vergißmeinnichtaugen über mich ergoß.

»Ich will doch sehr hoffen«, sagte sie, »daß mein Pierre-Emmanuel, auch wenn er noch so ernsthaft und gelehrt ist, für sein ganzes Leben so jungenhaft bleibt. Trotzdem, Söhnchen«, fuhr sie nach einem Schweigen fort, »seid Ihr, wenn ich nicht irre, jetzt achtzehn Jahre alt. Man sollte daran denken, Euch zu verheiraten.«

|22|Die alte Leier! dachte ich, und jäh übermannte mich tiefe Traurigkeit. Nicht so sehr wegen der Heiratsidee selbst, sondern weil mir einfiel, daß Madame de Guise das Thema zum erstenmal während einer Kutschfahrt durch Paris aufgebracht hatte, keine drei Stunden, bevor unser Henri ermordet wurde.

»Ihr seht plötzlich so schwermütig aus«, sagte Madame de Guise. »Glaubt Ihr, ich würde Euch irgendeine Provinztrine ins Bett schleppen? Nein! Ich will doch einmal stolz sein auf meine …«

Auf meine Enkelkinder, wollte sie sagen, doch sie verbesserte sich.

»Auf Eure Söhne und Töchter, damit die Schönheit Eurer Familie, mein Pierre, sich durch Euch fortpflanzt.«

»Madame«, sagte ich mit einer leichten Verneigung, »ich bin Euch tief verbunden für die Empfindungen, die Ihr mir bezeigt. Aber ich fühle mich, offen gestanden, noch zu jung zum Heiraten.«

»Zu jung?« antwortete Madame de Guise. »Dabei verlustiert Ihr Euch nun schon bald sechs Jahre mit dieser unsäglichen Toinon.«

»Madame«, sagte mein Vater, »Ihr seid um eine Liebelei im Rückstand. Wir sind nicht mehr bei Toinon, sondern bei Louison.«

»Toinon oder Louison«, entgegnete Madame de Guise, »ist doch egal! Das sind so Liebchen niederen Standes, mit denen ein Edelmann sich begnügen mag, wie man nach einer Jagdpartie am Wegrain eine Brotrinde kaut. Aber in Eurem Alter, mein Pierre, und bei Eurer Geburt, wie ich zu behaupten wage«, fuhr sie mit einem Blick auf meinen Vater fort, »dürft Ihr nach Höherem streben.«

»Madame«, sagte mein Vater, der meine Verlegenheit sah und mir zu Hilfe eilte, »habt Ihr Kandidatinnen, die diesem Streben entsprechen würden?«

»Ich hatte zwei. Aber die erste, Mademoiselle d’Aumale, verkündet zur allgemeinen Entrüstung, sie wolle ins Kloster gehen.«

»Weshalb die Entrüstung?« fragte mein Vater.

»Weil sie außer einem großen Vermögen einen Herzogstitel im Körbchen hatte.«

»Wieso das?«

|23|»Ihr erinnert Euch sicher, daß Henri ihrem Vater, dem Herzog d’Aumale, seinen Titel abgesprochen hatte, weil dieser sich weigerte, sich nach der Einnahme von Paris ihm anzuschließen. Dafür hatte er Mademoiselle d’Aumale zugesichert, den Titel auf ihren zukünftigen Gemahl zu übertragen, sofern dieser nach seinem Gefallen wäre.«

»Also scheidet Mademoiselle d’Aumale aus!« sagte mein Vater. »Und wer, Madame, wäre Eure zweite Kandidatin?«

»Ja, Mademoiselle de Fonlebon natürlich.«

Mein Vater warf mir einen Blick zu und sagte: »Die Geschichte kenne ich.«

»Aber nicht die ganze!« erwiderte Madame de Guise feurig. »Hört zu! Der Prinz von Condé geht über die Grenze und sperrt seine Charlotte zu Brüssel ein. Und unser Henri vergießt im verödeten Louvre Sturzbäche von Tränen. Da stößt er, als er zur Königin geht, mit der Nase auf eine ihrer Ehrenjungfern, Mademoiselle de Fonlebon, und traut seinen Augen nicht: sie ist beinah das Ebenbild der Prinzessin. Ein kleines blondes Stutfohlen mit blauen Augen, vor dem alle Männer gleich anfangen zu wiehern.«

»Madame«, sagte ich entschieden, »Mademoiselle de Fonlebon verdient eine bessere Schilderung.«

»Richtig«, sagte Madame de Guise und wechselte einen Blick mit meinem Vater. »Die Folge beweist es. Denn unser alter Hengst macht dem Kinde die Cour auf Soldatenart und greift, wenn ich so sagen darf, freiweg nach ihre Rundungen …«

»Das wußte ich nicht«, sagte mein Vater. »Darin ging er wahrhaftig zu weit.«

»So ist es. Aber im Unterschied zu Charlotte von Condé ist die kleine Fonlebon keine Ehrgeizlüstriche, wie Eure Mariette sagt. Die Ehrenjungfer hat tatsächlich Ehre. Sie zittert für ihre Tugend, läuft in ihrer Angst davon, wirft sich der Königin zu Füßen und berichtet ihr alles. Maria drückt sie an ihren Riesenbalkon …«

»Madame!« sagte mein Vater.

»… dankt ihr für ihren Freimut, versichert sie ihrer Dankbarkeit, ihres Schutzes und einer Mitgift, wenn sie heiratet, und schickt sie auf der Stelle in die Provinz, auf den Sitz ihres Großvaters im Périgord. Was für eine traurige Reise das gewesen sein muß! Paris, der Hof, der Louvre, die Bälle, die Feste |24|und wer weiß wie viele Kandidaten an ihrem hübschen Handgelenk, all das muß die Ärmste verlassen! Und dabei erspare ich Euch unbefahrbare Landstraßen, schüttende Regengüsse, Brückenzölle und verlauste Herbergen. Als sie endlich auf dem zinnenbewehrten alten Nest ihrer Ahnen anlangt, findet sie ihren Großvater quasi auf dem Sterbebett. Die kleine Fonlebon hat ein gutes Herz. Sie umarmt und küßt und pflegt ihn. Einen Monat darauf stirbt der Greis in Frieden und vermacht ihr alles. Und das war nicht wenig! Der alte Knauser hatte sein Leben lang gerafft. Währenddessen wird in Paris mein armer Cousin ermordet. Die Königin vergißt ihre Ehrenjungfer nicht. Sie läßt ihr schreiben, und die kleine Fonlebon eilt ebenso brav wie schön herbei und, was ihre Reize erhöht, sehr reich. Was braucht Ihr mehr, mein schönes Söhnchen?«

»Daß ich sie liebe.«

»Wie bitte?« rief Madame de Guise und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, ihre blauen Augen wurden schwarz vor Zorn. »Ihr habt die Stirn, mir zu sagen, Ihr liebt sie nicht, Ihr habt ihr in Paris doch den eifrigsten Hof gemacht!«

»Madame«, sagte ich, »ich habe in meinem Leben zweimal mit Mademoiselle de Fonlebon gesprochen und beidemal zehn Minuten. Einmal bei Gelegenheit eines Ringelspiels unter den scharfen Augen von Madame de Guercheville, nachdem wir entdeckt hatten, daß wir Cousin und Cousine sind, und das zweite Mal im Louvre, kurz bevor sie ihn verlassen mußte und im voraus über die Wüstenei im Périgord weinte. Da habe ich, ergriffen von ihrer Schönheit und ihrem Kummer, gesagt, wenn ich im kommenden Sommer Gelegenheit fände, zu meinem Großvater, dem Baron von Mespech, im Sarladais zu reisen, würde ich sie zu Pferde besuchen kommen. Darauf, Madame, beschränkte sich mein eifrigstes Hofmachen.«

»Na, wenn das stimmt …«

»Es ist die Wahrheit, Madame!«

»Also, wenn das stimmt«, sagte Madame de Guise, die sich langsam beruhigte, »kennt Ihr sie wirklich nicht gut. Aber heiratet sie doch, und Ihr lernt sie besser kennen! Ha, mein Gott!« rief sie nach einem kurzsichtigen blauen Blick auf ihren Chronometer. »Zwei Uhr! Zwei Uhr schon! Gott im Himmel! Und die Regentin erwartet mich in einer halben Stunde im Louvre. Auf denn! Mein schönes Söhnchen, lauft und sagt |25|meinem Kutscher, daß wir zur Stunde fahren! Was sage ich, augenblicklich!«

Als meine liebe Patin mit rauschendem Reifrock davongestoben war, ließ sich mein Vater in seinen Lehnstuhl nieder und verharrte stumm, anscheinend genoß er wie ich die wiedergekehrte Stille. Erst nach einer ganzen Weile fragte er, aber sehr gedämpft, so als scheue er nach soviel Lärm laute Worte: »Beschäftigt Madame von Lichtenberg noch immer Eure Gedanken?«

»Ja, Monsieur«, sagte ich im selben Ton. »Und neuerdings sogar in der Hoffnung, sie wiederzusehen. Nach ihrem letzten Brief zu urteilen, sieht sie dem Ende ihrer Erbfolgeprobleme in Heidelberg entgegen und gedenkt nach Paris zurückzukehren.«

»Ist das der Grund, weshalb Euch die Erwähnung Mademoiselle de Fonlebons kalt gelassen hat?«

»Nicht gerade kalt, Herr Vater«, erwiderte ich. »Und erlaubt mir, Euch zu sagen, was ich meiner lieben Patin nicht um ein Königreich hätte bekennen mögen: ich finde Mademoiselle de Fonlebon in jeder Hinsicht sehr nach meinem Gefallen. Und was Madame de Guise soeben von ihrer Güte gegenüber ihrem Großvater erzählte, hat die Achtung, die ich für sie hege, noch erhöht.«

Bei diesen Worten sah mein Vater mich aufmerksam an, ließ eine Pause verstreichen und fragte nach einigem Zögern: »Und woran seid Ihr jetzt?«

»Nun«, erwiderte ich, »abgesehen davon, daß ich Mademoiselle de Fonlebon nicht ein Herz darbringen möchte, das nicht ganz von ihr erfüllt ist, dünkt mich, daß Heiraten derzeit nicht zu meinen vordringlichsten Zielen gehört.«

»Und die wären?«

»Herr Vater, Ihr habt Henri in den größten Gefahren gedient. Ich würde seinem Sohn gerne in gleicher Weise nützlich sein.«

»Euren Wunsch billige ich selbstverständlich, nur läßt sich das nicht so einfach machen. Zuerst einmal müßte man zu ihm gelangen! Und das ist der springende Punkt! Die Regentin hält strenge Wacht um den kleinen König. Ergebenheit und Treue, die nicht ihr gelten, schätzt sie wenig. Vielmehr sieht sie für sich und ihre Herrschaft, die sie womöglich ewig wünscht, darin eine Art Bedrohung.«

* * *

|26|Da es erstaunlich anmuten könnte, daß ich den Vollkommenheiten Mademoiselle de Fonlebons eine Frau wie die Gräfin von Lichtenberg vorzog, die doppelt so alt war wie ich, möchte ich auf das Porträt zurückkommen, das ich im ersten Band dieser Memoiren von ihr entworfen habe, um den skeptischsten Leserinnen vielleicht doch verständlich zu machen, welche Faszination diese Frau für mich hatte.

Frau von Lichtenberg war groß und majestätisch, rund, aber nicht dick. Ihr Gesicht wäre von unseren kleinen Höflingen nicht für schön befunden worden, weil ihre Züge nicht ebenmäßig waren. Aber in meinen Augen wurde diese Unebenmäßigkeit, wenn sie dessen bedurft hätte, durch einen empfindsamen Mund, nachdenkliche schwarze Augen und eine hohe Stirn wettgemacht, die nicht durch eine schüttere Franse alberner Löckchen verdorben wurde wie bei unseren Damen, sondern dadurch, daß die reichen, schwarzen Haare hochgeschlagen waren, erst recht zur Geltung kam.

Ich habe am französischen Hof nur eine Frau mit der gleichen Haartracht gesehen: die Königin. Und es ist unstreitig, daß diese Haartracht Würde verleiht, eben weil sie die Stirn frei läßt. Aber für mein Empfinden gilt die Stirn nur, was die Augen gelten, und diese waren bei der Königin leider fahl, hervorquellend und hatten farblose, fast unsichtbare Brauen. Also vermochte die Breite des Stirnbogens dieser zugleich weichlichen und harten Physiognomie keinen Esprit zu verleihen. Sie war breit, ja, aber wie die eines Ochsen. Sie verriet lediglich Sturheit.

Bei der Gräfin wurde die Stirn durch wohlgezeichnete schwarze Brauen betont und verschönte sich noch durch das Feuer der Augäpfel, welches, ob still leuchtend oder in jähen Flammen sprühend, die Intensität ihres inneren Lebens bezeugte, wie es ebenso ihr Mund tat, der auch in der Ruhe stets ausdrucksvoll war. Ihr Blick konnte scharf sein, ihr Wort knapp, ihr Mund verschlossen, sobald die Gräfin sich aber in Vertrauen geborgen, sich geliebt und respektiert fühlte, konnten ihre Augen, ihre Lippen gleichsam ohne ihr Wissen grenzenlose Versprechen bekunden, mochten diese auch noch so verschleiert und verhalten sein.

Sie war in ihrem Land eine sehr hohe Dame, mit dem Kurfürsten der Pfalz nahe verwandt, dennoch liebte sie Paris, wo |27|sie ein schönes Hôtel in der Rue des Bourbons besaß. Dort lebte sie die meiste Zeit still, ohne bei Hofe zu erscheinen, denn als Witwe scheute sie die Eitelkeiten der Welt und fühlte sich als Protestantin in der unseren auch nicht besonders wohl. Henri, der sie protegierte und zweifellos auch in seiner Geheimdiplomatie (für seine sehr engen Verbindungen mit den lutherischen deutschen Fürsten) einsetzte, hatte sie mir als Deutschlehrerin gegeben – ein Amt, das mit ihrem Rang und Vermögen wenig vereinbar war. Sowie ich sie erblickte, und ich sah sie zu meinen Unterrichtsstunden zwei- bis dreimal in der Woche, verliebte ich mich in sie. Doch wozu sage ich, was meine schöne Leserin nicht schon längst verstanden hat? Es war die Reife der Gräfin – dieser bei Frauen so anziehende Nachsommer –, die sie in meinen Augen so ausnehmend reizvoll machte.

Weil ich hier aber sowohl von meinen Träumen wie von meinem Alltag berichte, muß ich, entgegen den abschätzigen Reden Madame de Guises, sagen, daß ich Toinon und nach ihr Louison nie als »Brotrinde, die man am Wegrain kaut,« betrachtet habe.

Dies war das Wort der Eifersucht auf die unverschämte Jugend von Frauen niederer Herkunft. Meine Kammerzofen oder, wie Toinon sagte, meine Soubretten waren in der Tat nicht wohlgeboren, doch hinderte ihre ›Nichtgeburt‹ sie keineswegs, in meinen Armen warm und zärtlich zu sein. Und für Toinon, die erste, die mich die Liebeskunst lehrte, empfand ich eine Anhänglichkeit, die mir erst bewußt wurde durch meinen Kummer, als sie mich verließ. Letztendlich entging es mir aber nicht, daß die eine wie die andere mir nur gehörten, weil sie arm waren und keine wirkliche Wahl hatten. Was nicht heißen soll, sie hätten es widerwillig getan. Toinon mit ihrem guten gesunden Menschenverstand hatte ihre Dienste vortrefflich resümiert: »Ich fühl mich wohl hier, Monsieur. Wenig zu tun und nichts wie Spaß.«

Meine Gräfin – wenn ich es wagen darf, ›meine‹ zu sagen – hatte Geist, Bildung, große Weltläufigkeit, eine hohe Moral, eine aufgeklärte Kenntnis der Lebensprobleme und eine, wenn auch verhaltene, beeindruckende Großmut.

Die glanzvolle Aura, die sie umgab, hatte mich derart geblendet, daß ich Grünschnabel sie unerreichbar wähnte, so tief |28|unter ihr fühlte ich mich, und wie hätte ich auch verstehen sollen, daß sie auf Grund ihres Alters und des meinen sich mir unterlegen fühlte? Gleichwohl waren wir, als sie nach Heidelberg abreiste, um die Erbfolge ihres Vaters zu regeln, gerade im Begriff gewesen, auf eine langsame und köstliche Art Schritt für Schritt zu begreifen, daß die Abstände, die uns trennten, nicht so unüberwindlich waren, wie wir beide geglaubt hatten.

So ist es wohl begreiflich, daß ich ihren Vorsatz, nach Paris zurückzukehren, begeistert begrüßt hatte; aber nach dem, was Madame de Guise über die Wende unserer Politik gegenüber den Habsburgern gesagt hatte, begann ich nun ebensosehr zu fürchten, daß eine Ausländerin lutherischen Glaubens in den Augen unserer neuen Herren persona non grata sein könnte. Tatsächlich wurden meine Befürchtungen, daß unser Land ihr verboten werden könnte, im Verlauf eines Gesprächs bestärkt, das wir in unserem Hause mit Pierre de l’Estoile führten, denn was er uns, wie stets aus besten Quellen, berichtete, warf auf die Lage des Reiches ein Licht, das mich sowohl als Franzosen wie auch als Liebhaber beunruhigen mußte.

Dabei hatte jener Tag, der so betrüblich für mich endete, sich durchaus vergnüglich angelassen. Denn während Mariette uns das Mittagsmahl auftrug, erheiterte sie uns mit einer jener Wundergeschichten, die sie emsig aus dem Munde der Gevatterinnen des Viertels zusammentrug, wenn sie mit ihren beiden großen Körben, die rechts und links ihre Hüften zusätzlich rundeten, zu Markte ging, natürlich immer von Poussevent und Pissebœuf in unseren gefährlichen Gassen bewacht und beschützt.

»Möschjöh le Marquis«, sagte sie also bei ihrer Heimkehr, »wenn Ihr geruhen wollt, mich anzuhören, kann ich Euch ein grosches Wunder erzählen, welches ich für sicher halte, denn meine Gevatterin hat es vom Pfarrer ihres Sprengels.«

»Sprich nur, Mariette, sprich«, sagte mein Vater mit seiner üblichen Leutseligkeit.

»Im Viertel Hulepoix wohnte eine Jungfer namens Pérrischou, welche Jungfrau und unschuldig ist.«

»Ist es nicht schon erstaunlich, daß sie beides ist?« sagte La Surie.

»Und diese Jungfer«, sagte Mariette, »hatte siebenundzwanzig Tage nicht pischen gekonnt.«

|29|»Siebenundzwanzig Tage«, sagte mein Vater, »und daran ist sie nicht gestorben?«

»Ist sie nicht.«

»Das ist allerdings ein Wunder«, sagte mein Vater.

»Weiter, Mariette«, sagte La Surie.

»Sie hat einen Bauch gehabt, hart wie Stein, und litt die neunschig Qualen der Hölle.«

»Neunzig?« fragte La Surie. »Ich wußte gar nicht, daß es so viele sind: das gibt zu denken.«

»Weiter, Mariette«, sagte mein Vater.

»Zum Glück, Möschjöh le Marquis, kam ein guter Jesuitenpater durch ihre Gasse, der hört das Wehgeschrei, und als er das Wie und Warum erfährt, legt er der Jungfer eine Reliquie des heiligen Ignazius von Loyola an den Busen und verspricht der Ärmsten, daß sie von ihrem Leiden geheilt wird, wenn sie gelobt, vor den Kirchenfeschten zu faschten, zu beichten und die Kommunion zu empfangen. Dieses gelobte die Jungfer auch, und das zu ihrem Beschten, denn auf einmal hat sie pischen gekonnt, Möschjöh le Marquis, hat gepischt und gepischt, einen ganzen Wasserfall!«

»Das war wohl auch nötig nach siebenundzwanzig Tagen Verhaltung«, sagte mein Vater. »Großen Dank, Mariette, daß du uns dieses schöne Wunder erzählt hast.«

»Es heißt das Pischewunder«, sagte Mariette, »und ist im ganzen Viertel Hulepoix berühmt. Sogar gedruckt ist esch worden.«

»Trotzdem, Mariette«, sagte La Surie, »solltest du dir merken, daß der Pater Ignazius von Loyola noch nicht heilig gesprochen ist. Er ist nur erst selig gesprochen.«

»Ich will’sch mir merken, Möschjöh le Chevalier«, sagte Mariette.

Pierre de l’Estoile, der an jenem Abend bei uns speiste, gehörte zum Richterstand, war trotz seines Adelstitels ein ehrenwerter Pariser Bürger, sehr wohlhabend (was er aber verhehlte) und seinem toten König und der Nation bestimmt treuer ergeben als so manche Fürsten, die ich beim Namen zu nennen wüßte. Er hatte sein richterliches Amt vor Jahren verkauft, hatte aber am Gerichtshof und im Louvre noch immer eine große Zahl Freunde, so daß im Parlament oder bei Hofe nichts vorfiel, wovon er nicht erfuhr. Mein Vater hegte große Freundschaft |30|für ihn und fand seinen Umgang nach wie vor überaus lehrreich, wenn L’Estoile sein persönliches Los und die Zukunft des Reiches auch in den schwärzesten Farben malte. Denn seine Geisteshaltung, die allezeit melancholisch gewesen war (so wollte er nicht in der Kirche seines Sprengels begraben werden, weil er sie zu düster fand), war seit dem Tod des Königs in bodenlose Verzweiflung umgeschlagen, obgleich er als guter Gallier es bei aller Liebe nie unterlassen hatte, über Seine Majestät herzuziehen, als der König noch unter uns weilte.

Gleich beim ersten Bissen unseres Mahls, dem er übrigens mit gutem Appetit zusprach, eröffnete uns L’Estoile mit bekümmerter Miene, diesmal sei es nun mit ihm vorbei, er sei ruiniert (was nicht stimmte) und gehe mit großen Schritten auf das Grab zu (was sich leider wenige Monate später bestätigte).

Was unser armes, tief betrübtes Frankreich angehe, so sei es an keinem besseren Punkt, da es der schamlosesten Verschwendung ausgeliefert sei und daumesbreit davor stehe, von seinen Feinden zerrissen und zerstückelt zu werden. Doch blieb er bei dieser seiner Diatribe höchst vorsichtig und wechselte vom Französischen zum Latein über, sowie Mariette mit einer neuen Schüssel hereinkam.

Was sein Äußeres betraf, um auch dies zu erwähnen, so hätte unser Freund wenig Grund gehabt, sich seiner zu rühmen, er war krumm, eingesunken und sein Gesicht von tiefen Falten gefurcht; doch seine Augen blickten lebhaft und scharf und blitzten zuweilen lüstern, wenn er jene unverfrorenen Verse und Lieder zitierte, die bei den Parisern die Runde machten. L’Estoile stellte jedoch klar, daß er sie lediglich als Zeugnis der Sitten unserer Zeit betrachtete.

»Es geht höchst merkwürdig zu in der Regierung (Mariette kam herein) istius mulieris1. Da gibt es den Regentschaftsrat, den unser verstorbener König noch eingesetzt hatte. Und der umfaßt die Prinzen von Geblüt, die Herzöge und Pairs, die Marschälle und den Kardinal de Joyeuse. Dort wird viel und mit Glanz und Gloria geredet, aber ist man einmal zu einem Beschluß gelangt, wird er nicht ausgeführt. Handlungstüchtiger ist nämlich der geheime Rat, den ich den Kleinen Kanzleirat |31|zu nennen beliebe. Er besteht aus einer Handvoll Leuten: den Graubärten, dem Prokurator Dolé, Advokat der Regentin, dem Pater Cotton, der süßlicher und scheinheiliger ist denn je …«

»Ihr liebt die Jesuiten wohl nicht, Monsieur?« fragte La Surie mit Unschuldsmiene.

»Ich hätte nichts gegen die französischen Jesuiten«, sagte Pierre de L’Estoile, nachdem er abgewartet hatte, bis Mariette den Raum verließ, »wenn sie loyale Untertanen der französischen Krone wären. Doch leider sind sie gänzlich dem Papst und dem König von Spanien ergeben und zu Diensten. Im übrigen gefällt es mir wenig, daß der Pater Cotton unseren kleinen König über eine Stunde zur Beichte nötigt … Bei Henri dauerte das keine fünf Minuten. Ich schließe daraus, daß dieser Cotton Ludwigs Kindlichkeit ausnutzt, um ihn einzuwickeln und ihm die Würmer aus der Nase zu ziehen.«

»Gott sei Dank vergeudet er seine Zeit«, sagte mein Vater. »Gutes Blut verleugnet sich nicht. Für mein Empfinden ist Ludwig bereits so antispanisch wie nur möglich. Und wo er nicht vertraut, verschließt er sich ohnehin wie eine Auster. Doch fahrt bitte fort, mein Freund.«

»Wo war ich stehengeblieben?«

»Bei der Zusammensetzung des Kleinen Kanzleirats.«

»Ich wiederhole: die Graubärte, Dolé, Pater Cotton, dazu kommen der päpstliche Nuntius, der spanische Gesandte …«

»Wie!« rief mein Vater außer sich, »der päpstliche Nuntius! Der spanische Gesandte! Ausländer sitzen in dem Rat, der Frankreich regiert! Oh, armes, unglückliches, schon unterworfenes Land! Und armer Henri, dem die Reichsinteressen so sehr am Herzen lagen! Ach, daß er nicht aus seinem Grab steigen und diesem Verrat ein Ende setzen kann!«

»Ich habe noch nicht geendet«, sagte L’Estoile. »Das Schlimmste kommt noch. In diesem Kleinen Kanzleirat sitzen außerdem Leonora Galigai und Concino Concini …«

»Leonora und Concini!« rief mein Vater. »Wahrhaftig, ich ersticke! Mir fehlen die Worte! Eine hergelaufene Bettlerin! Ein schiefäugiger Glücksritter! Und die Beschlüsse dieses Schandrates haben Gesetzeskraft!«

»Nicht immer. Denn nach jeder Sitzung berät sich die Königin noch mit Dolé, Leonora und Concini und ändert die |32|soeben gefaßten Beschlüsse manchmal nach deren Ansichten. Was die Graubärte wütend macht, aber sie getrauen sich nicht, sich laut zu beklagen.«

»Warum treten sie dann nicht zurück?« rief La Surie, »anstatt klein beizugeben! Sie müssen doch einsehen, daß sie keine Minister mehr sind, sondern Knechte … Und daß letzten Endes jene drei Favoriten regieren.«

»Drei sind es gar nicht«, sagte L’Estoile, indem er die Hand erhob. »Der Advokat Dolé zählt nicht. Er dient nur dazu, der Ungesetzlichkeit einen gesetzlichen Anschein zu geben. Concini allerdings zählt, aber mehr als Schild und Gatte Leonoras. Die wahre, die einzige Favoritin ist sie, weil sie eine grenzenlose Macht hat über den Geist der …«

Da Mariette hereinkam, unterbrach sich L’Estoile und sagte: »… istius mulieris, der man sie, als sie noch in den Windeln lag, als Spielgefährtin gegeben hat. Sie war die Tochter ihrer Amme. Weshalb manche meinen, sie genieße so große Glaubwürdigkeit bei, bei …«

»Besagter Person«, soufflierte mein Vater.

»Weil beide an denselben Zitzen gesogen und dieselbe Milch getrunken haben.«

»Unsinn, Aberglauben!« sagte mein Vater.

»Ja ja, mein Freund«, sagte L’Estoile, »ganz recht, es ist ein Witz! Der wahre Grund ist, daß diese Person niederen Ursprungs, zum Fürchten häßlich, krumm, ein Nervenbündel mit einem bizarren Antlitz wie ein Mann und mit glutspeienden Augen – daß diese Hexe, kurzum, sehr viel Verstand hat, und besagte Person nicht.«

Er legte eine Pause ein, bis Mariette die Tür hinter sich schloß.

»Als man den immensen Einfluß bemerkte, den sie auf das fünf Jahre jüngere Mädchen nahm, hätte man sie schon in Florenz sofort von ihr trennen müssen. Aber in Anbetracht des Starrsinns der Maria von Medici meinte der Großherzog der Toskana, seine Nichte vermittels der Leonora leichter lenken zu können. Leider hat das beide noch mehr aneinander gebunden. Unser Henri beging am Anfang den gleichen Irrtum. Auch er benutzte diesen an sich so verderblichen Einfluß, um den Frieden in seiner Ehe wieder herzustellen, als seine Liebschaft mit der Verneuil die Königin so erboste. Aber schließlich erkannte |33|er denn doch, daß diese Leonora ihm genauso schadete, wie sie ihm diente.«

»Woran leidet sie?« fragte mein Vater, bei dem der Arzt immer wieder durchbrach.

»An allem, Kopf, Magen, Bauch, Beine. Vor allem sind es aber die Nerven. Manchmal finden ihre Kammerfrauen sie starr in einen Lehnstuhl gestreckt, außerstande zu sprechen oder sich zu rühren und an allen Gliedern zitternd. Sie schläft wenig, ißt kaum und sieht außer der Königin niemand.«

»Wie ich hörte«, sagte La Surie, »wohnt sie im Louvre.«

»So ist es«, sagte L’Estoile, »in einer kleinen Wohnung über den Gemächern der Königin, mit welchen sie eine Wendeltreppe verbindet. Und jeden Abend nach dem Nachtmahl steigt das schwarze Weib wie eine große Spinne zu Maria hinab und webt ihre Netze um die Königin, bis die Unglückliche ganz eingesponnen ist und tut, was jene beschließt und will.«

»Und was will sie?«

»Gold. Kann sein, daß Concino Concini nach Macht strebt und daß sein Ehrgeiz unbegrenzt ist. Aber bei Leonora ist die Sache klar. Ihre Leidenschaft ist allein das Gold! Sie ist von einer krankhaften Habsucht besessen, die geradezu ungeheuerlich ist.«

»Und erreicht sie ihr Ziel?«

»Schon zu Lebzeiten des Königs lockte sie der Königin beträchtliche Summen ab. Doch nun, nach Henris Tod, fühlt Maria sich nicht mehr von einer straffen Hand gezügelt und greift mit vollen Händen in den königlichen Schatz, um ihre Favoritin mit Reichtümern zu überhäufen. Wollt Ihr ein Beispiel? Die Königin hat Leonora soeben dreihunderttausend Livres geschenkt, damit sie sich die Markgrafschaft von Ancre kaufen konnte, und diesen Titel hat sie nun inne.«

»Eine Person aus dem Nichts und Marquise von Ancre!« rief der Chevalier de La Surie, der auf seinen Adelstitel um so mehr hielt, als er ihn sich durch Tapferkeit im Dienst des Königs erworben hatte.

»Damit ist auch Concini Marquis!« sagte L’Estoile. »Aber ich fürchte, dabei bleibt es nicht, denn das Marquisat gehört ja Leonora. Und sie haben unter Maßgabe der Gütertrennung geheiratet. Dafür hat Concini aber von der Königin hundertzwanzigtausend Livres erhalten, um Monsieur de Créqui die |34|Generalleutnantschaft von Péronne, Montdidier und Roye abzukaufen, und zweihunderttausend Livres für das Amt des Ersten Kammerherrn von Monsieur de Bouillon. Knapp vier Monate nach dem Tod des Königs hat dieses unheilvolle Pärchen den Staatsschatz bereits sechshundertfünfzigtausend Livres gekostet!«

Seit Henri ermordet war, hatten mein Vater und ich sehr zurückgezogen gelebt, weil wir in unserem tiefen Schmerz wie versunken waren, und obwohl wir das eine oder andere über die Dinge bei Hofe gehört hatten, war uns die Wahrheit noch nie mit solcher Kraßheit und mit exakten Zahlen dargestellt worden. Was Concini anlangt, so hatte ich ihn zweimal im Leben gesehen: das erstemal auf dem Ball von Madame de Guise, wo der freche Schönling sich mit äußerster Schamlosigkeit selbst eingeladen hatte, indem er sich zum Gefolge der Königin gehörig erklärte, während diese noch gar nicht eingetroffen war. Das zweitemal sah ich ihn während eines Ringelspiels. Ich unterhielt mich mit Mademoiselle de Fonlebon inmitten des summenden Schwarms der Ehrenjungfern, wurde aber von ihrem reizenden Geplauder abgelenkt durch die unerhörte Verwegenheit dieses Abenteurers, der es wagte, zur Rechten Ihrer Majestät Platz zu nehmen und, was das Tollste war, vor den Augen des ganzen Hofes lange in ihr Ohr zu sprechen. Und dieser Gauner, der in Florenz so oft gefangensaß oder von dort verbannt worden war wegen seiner Missetaten und seiner Schulden, war nun in Frankreich Marquis von Ancre! Er trug den Namen und Titel eines altehrwürdigen Adelsgeschlechtes und schmückte sich mit dessen Wappen, er, den nie ein Mensch mit einem Degen in der Hand sah! Schlimmer noch, als Marquis von Ancre würde er sogar zur Salbung des kleinen Königs eingeladen werden.

»Der Regen von Gunst und Reichtümern auf diesen niedrigen Strolch«, fuhr L’Estoile fort, »hat zwei gleichermaßen böse Folgen gezeitigt. Er hat die wütende Eifersucht der Prinzen und Herzöge erweckt – jener Herren, die man die Großen nennt, zweifellos weil ihr Ehrgeiz so gering und ihr Appetit so maßlos ist. Sie drohen der Königin nunmehr, sich vom Hof zurückzuziehen und Truppen gegen sie zu führen, wenn sie nicht ebenso beschenkt werden wie die Florentiner … Und die Regentin wird nachgeben! Die ewig feigen Graubärte drängen |35|sie dazu, und das Loch im Schatz wird noch größer werden.«

»Und die zweite Folge?« fragte mein Vater, da L’Estoile schwieg.

»Ich wage sie kaum zu nennen, mein Freund. Das Volk, das schnell mit Unterstellungen zur Hand ist, besonders, wenn sie unverschämt sind, ist überzeugt, daß Concini der Liebhaber der Königin ist.«

»Was er sicher nicht ist«, sagte mein Vater.

»Ich glaube es auch nicht, aber um sich Kredit am Hofe zu schaffen, tut Concini selbst alles, es glauben zu machen. Ein Edelmann bestätigte mir, er habe gesehen, wie er das Gemach der Königin verließ, wo er mit ihr allein gewesen war, und ostentativ an seinem Hosenbund nestelte.«

»Ist das die Möglichkeit!« rief La Surie zornentbrannt. »Findet sich denn niemand, der diesem Lumpen seinen Degen in den Leib rennt?«

»Dazu käme derjenige gar nicht«, sagte mein Vater, indem er seine Hand auf die Hand La Suries legte. »Wie ich höre, bewegt sich Concini nur noch unter scharfer Bewachung.«

* * *

In der Nacht nach diesem Gespräch schlief ich wenig, so gering schienen mir die Aussichten, daß meine Gräfin nach Paris zurückkehren könnte. Wie sollte eine Regentin, die in ihrem engsten Rat einen Jesuitenpater, einen päpstlichen Nuntius und den spanischen Gesandten sitzen hatte, zulassen, daß eine Kalvinistin, die dem Kurfürsten so nahe stand, auf ihrem Gebiet lebte?

Als mein Vater mich morgens beim Frühstück mit niedergeschlagener Miene sah und mich nach dem Grund fragte, indem er mir den Arm um die Schultern legte und mich an sich zog, schmolz ich vor soviel Güte und gestand ihm, weshalb ich so mutlos war.

»Ach, denkt nicht so!« sagte er. »Das ist noch nicht ausgemacht! So einfach liegen die Dinge nicht. Die Regentin hat den Protestanten in Frankreich soeben erst zugesichert, daß sie das Edikt von Nantes nicht widerrufen wird.«

»Wie das?« fragte ich staunend. »Ist sie plötzlich tolerant geworden?«

|36|»Nicht im mindesten. Aber die Hugenotten sind eine Macht in diesem Land. Mit all den Städten, die sie beherrschen, bilden sie einen Staat im Staate. Und würde die Regentin ihre Privilegien antasten, liefe sie Gefahr, daß jene sich mit den Großen verbünden, die ihr ohnehin schon genug Kopfschmerzen bereiten. Allerdings«, fuhr er nach einer Weile fort, »folgt in der Politik der Regentin nichts einer bestimmten Logik. Sie kann die französischen Protestanten schonen und gleichzeitig die deutschen Lutheraner vor den Kopf stoßen. Man müßte den Fall unserer Freundin bei ihr vertreten können. Aber wie?«

Leuchtete mir nach diesem Gespräch auch noch keine Hoffnung, war ich doch nicht mehr so verzweifelt. Und von einem Extrem zum anderen wechselnd, wie es meinem Alter entsprach, fühlte ich mich auf einmal so lustig und vergnügt wie die Spatzen, die ich durchs Fenster auf dem Hofpflaster hüpfen sah. Wie sorglos sie waren! Und wie sicher Spatzen und Spätzinnen schienen, daß sie sich schon finden würden!

Da ging die Hoftür, und ich sah unsere Mariette vom Markt kommen, wie immer von unseren Soldaten und zwei hochvollen Körben an ihren drallen Hüften flankiert.

»Möschjöh le Chevalier!« rief sie. »Ist Möschjöh le Marquis bei Euch in der Bibliothek?«

»Er ist hier, Mariette! Was willst du?«

»Ihn sprechen, Möschjöh le Chevalier. Ich hab die Backen voll von einer großen Neuigkeit, die er wissen muß.«

»Sicher ein neues Wunder«, sagte mein Vater. »Soll sie heraufkommen. Anlässe zur Erheiterung sind selten geworden in diesen Zeiten.«

Ich hatte das Fenster kaum geschlossen, als Mariettes mächtiger Busen ihr voran auch schon in die Bibliothek stürmte, wo mein Vater sich am Kamin wärmte, denn es war kalt für Ende September.

»Möschjöh le Marquis, Möschjöh le Marquis«, sagte Mariette mit dramatischem Gebaren, »wißt Ihr schon, daß die Regentin den Concini zum Marquis von Ancre gemacht hat?«

»Ich weiß es«, sagte mein Vater.

»Für über eine Million Livres!«

»Oh«, sagte mein Vater mit einem Blick zu mir, »die Summe ist seit gestern aber gewachsen!«

»Und wißt Ihr auch, Möschjöh le Marquis«, fuhr Mariette |37|mit einem Glitzern in den schwarzen Augen fort, »was man deswegen für ein Spottlied auf die Königin und ihren Marquis von Anker singt?«

»So! Und wie geht das Lied?« fragte mein Vater mit kühler Miene.

»Hört nur«, sagte Mariette mit wollüstigen Lippen und geschwelltem Busen:

Hat die Königin

’nen Furz im Bauch,

sitzt er feste drin

wie’n Anker auch.

Mein Vater hütete sich, zu lächeln, was auch mich zu Marmor erstarren ließ, so gerne ich auch gelacht hätte.

»Mariette«, sagte mein Vater ernst, »dieses Lied ist schmutzig, aufwieglerisch und an sich schon eine Majestätsbeleidigung. Sollte ich hören, daß du es in diesem Hause oder auf unserer Gasse verbreitest, um deine Gevatterinnen zu erbauen, würde ich dich den Richtern überliefern müssen, damit sie dich hängen.«

»Möschjöh le Marquis! Möschjöh le Marquis! Aber dasch war doch nicht als Beleidigung gemeint«, wimmerte Mariette. »Ich hab’s Euch blosch gesungen, damit Ihr esch kennt.«

Und unter Reverenzen verließ sie rückwärts den Raum, weniger erschrocken über die Drohung meines Vaters als höchlich vergrätzt, daß sie die saftigen Verse vor unserem übrigen Gesinde nicht zum besten geben durfte.

»Ja, so sind die Franzosen!« sagte mein Vater, als sie fort war. »Mit allem treiben sie ihren Spott, sogar mit ihrer Drangsal.«

Da mein Vater hierauf nachdenklich verharrte, fragte ich ihn: »Könnte an dieser angeblichen Liebschaft nicht doch etwas Wahres sein?«

»Aber nein«, sagte er mit einer leichten Handbewegung. »Eure Patin, die ja die Regentin sehr gut kennt, ist sich ihrer Tugend sicher. Wobei, sagt sie, Tugend und Empfindungslosigkeit oft auf das gleiche herauslaufen. Ihr seht, mein Sohn, eine Frau wird von niemand treffender beurteilt als von ihren Freundinnen.«

Nach einer Weile setzte er hinzu: »Im übrigen wäre die Entrüstung nicht so groß, wenn die Regentin einen der Großen |38|zu ihrem Günstling gemacht hätte, beispielsweise den Herzog von Épernon.«

»Wäre er dazu nicht zu alt?«

»Oh! Seit dem Tod des Königs hat er sich um zehn Jahre verjüngt, er trägt den Kopf genauso hoch wie sein Roß! Nein, mein Sohn, der Skandal ist die Wahl dieses Favoriten. So große Begünstigungen für einen niedriggeborenen Schuft, der obendrein noch Ausländer ist, das entrüstet das Volk und fordert seinen Spott heraus. Das heißt ihm denn doch zu tief unter die königliche Würde herabsinken.«