|296|ELFTES KAPITEL

»Weiß der Teufel, wozu diese Generalstände gut sein sollen«, sagte mein Vater an dem Tag, als er – und durchaus nicht wider Willen – zum Abgeordneten des Adels von Montfort-l’Amaury gewählt worden war. »Die Großen haben sie doch nur lauthals gefordert, um ihrer Habgier das Mäntelchen des öffentlichen Wohls umzuhängen. Und weil sie sich mit der Regentin jetzt vertragen haben, würden sie am liebsten drauf verzichten. Schamlos hat Condé der Regentin vorgeschlagen, sie gar nicht abzuhalten, aber die Minister haben sofort abgelehnt, weil sie, nicht ohne Grund, meinen, wenn sie sie nicht einberufen, wird Condé es ihrer Regierung eines Tages unfehlbar zum Vorwurf machen.«

»Die Generalstände sollen doch die Mißbräuche abschaffen«, sagte La Surie.

»Glaubst du das wirklich, Miroul?« fragte mein Vater lächelnd. »Rechnest du darauf, daß der Adel dem König anbieten wird, er wolle künftig auch Steuern zahlen? Daß die Geistlichkeit sich weigert, weiterhin den Zehnten zu erheben? Und daß der Dritte Stand auf die Ämterkäuflichkeit verzichtet?«

»Mir scheint«, sagte La Surie, »wenigstens der Dritte Stand müßte einige Anstrengungen machen, das Volk aus seinem Elend zu erlösen.«

»Dazu, Miroul, müßte der Dritte Stand erst einmal das Volk repräsentieren! Aber die große Mehrheit seiner Abgeordneten sind Bürger, die mit königlichen Finanz- oder Justizämtern wohlversorgt sind und daraus soviel Gewinn wie möglich schlagen, um sich für den teuren Kaufpreis zu entschädigen. Du findest nicht einen Handwerker unter ihnen, nicht einen Bauern. Da sage einer, das Volk wird gut vertreten!«

»So, so, Herr Abgeordneter«, sagte La Surie. »Was wollen die drei Stände denn sonst?«

»Sich heftig miteinander streiten und den König zum Schiedsrichter ihrer Streiterein anrufen.«

|297|»Und was weiter?«

»Sie werden ihre Beschwerden niederlegen und dieses Kompendium zum Schluß dem König überreichen.«

»Und was macht der König damit?«

»Wahrscheinlich gar nichts.«

»Also ist es nur eine Farce!« sagte La Surie mehr bekümmert als verächtlich, weil er irgendwie den Glauben hegte, daß es mit der menschlichen Gesellschaft doch aufwärts gehen müsse. Woher er diesen Glauben nahm, kann ich mir nur damit erklären, daß er selbst im Lauf seines Lebens aus der äußersten Armut bis in den Schwertadel aufgestiegen war.

»Natürlich kann man das Ganze als eine Art Komödie ansehen«, sagte mein Vater. »Aber was unterhaltsam ist, wird auch lehrreich sein. Deshalb habe ich die Rolle angenommen.«

»Werdet Ihr auf den Sitzungen auch das Wort ergreifen, Herr Vater?« fragte ich.

»Ich werde mich hüten! Wer in solcherart Versammlungen nicht den Leidenschaften schmeichelt, kann nicht auf Zustimmung hoffen. Spricht man aber, wie ich es wünschte, zur Sache, hat man mit einem Schlag eine Menge Feinde auf dem Hals.«

»Wenn Ihr bei allen Sitzungen schweigen wollt, wozu geht Ihr dann hin?« fragte La Surie.

»Miroul, ist deine Frage nicht ein bißchen giftig?« fragte mein Vater süßsauer.

»Nein, mein Herr.«

»Gut, dann antworte ich dir: primo, ich werde die Ohren offenhalten und euch jeden Abend getreulich berichten, welche Torheiten dort gesagt worden sind, dann seid Ihr unterrichtet. Secundo, ich werde mich zu denen schlagen, welche die Beschwerdeschriften verfassen, und die Beschwerden meiner Wähler mit hineinschreiben.«

»Ihr sagtet doch, Herr Vater, diese Schriften würden nichts nützen?«

»Gewiß. Aber es wird meinen edlen Wählern die Genugtuung bereiten, daß ihre Beschwerden niedergelegt worden sind.«

»Da haben sie aber was von!« sagte La Surie.

»Wieso?« fragte mein Vater. »Die Genugtuung zu haben, |298|daß man sich beklagen kann – ist das nichts? Wollt Ihr die Lust der Franzosen, zu schimpfen, abschaffen?«

Mein Vater hielt Wort und gab uns allabendlich einen ›getreulichen Bericht‹, der in der Tat für mich so lehrreich war wie ergötzlich für Frau von Lichtenberg, wenn ich ihr die interessantesten Episoden weitererzählte.

Sie verwunderte sich nämlich jedesmal, wie die Franzosen so närrisch sein konnten, ihrem Fürsten Lehren erteilen zu wollen und auch noch zu hoffen, er werde darauf hören. In dem Punkt konnte ich sie aber ganz beruhigen, ebenso über die Häufigkeit der Generalstände, denn die letzten waren siebenundzwanzig Jahre her1 und hatten durch einen Doppelmord ein vorzeitiges Ende genommen.

»Pierre, wie steht es denn mit dem Palaver Eurer drei Stände?« fragte sie oft, wenn wir uns aneinander gesättigt hatten und ihr schöner Kopf auf meinem Arm ruhte.

»Immer übler steht es«, sagte ich. »Der Adel attackiert den Dritten Stand.«

»Warum?«

»Er fordert den Tod der Paulette.«

Frau von Lichtenberg sah mich erschrocken an.

»Wer ist die Frau? Und warum soll sie sterben?«

»Ach, es ist doch keine Frau!« rief ich lachend. »Es ist eine jährliche Steuer, die unter Henri Quatre erfunden wurde von einem Mann namens Paulet. Alle, die wie ich ein königliches Amt gekauft haben, müssen jedes Jahr eine Steuer an den Staatsschatz entrichten, die den sechzigsten Teil des Kaufpreises beträgt. Ich zahle jährlich tausendsechshundertsiebzig Livres.«

»Und, ich wette, das schmerzt Sie, mein armer Pierre?«

»Ganz im Gegenteil. Ich bin es sehr zufrieden, denn die Paulette enthebt mich, wenn ich eines Tages alt und grau bin, der finsteren Vierzig-Tage-Regel. Nehmen wir einmal an, ich bin stockalt und sehe dem Tod entgegen, dann kann ich mein Kammerherrenamt an meinen ältesten Sohn abtreten – einen Sohn, der noch nicht einmal geboren zu sein braucht. Aber laut besagter Regel muß ich diese Abtretung mindestens vierzig Tage überleben, sonst ist sie ungültig. Sie sehen also, meine |299|Liebste, wenn ich will, daß mein Ältester mein Amt erbt, muß ich mein Sterben exakt berechnen, was gar nicht so einfach sein soll, wie ich hörte.«

»Das ist ja eine schreckliche Regel! Ein Glück nur, daß die gute Paulette sie bricht!« rief Frau von Lichtenberg.

»Sie bricht sie nicht nur, meine Liebste! Sie hat auch, ob man will oder nicht, die Erblichkeit der Ämter zur Folge. Ihre Übertragung vom Vater auf den Sohn wird durch die Paulette derart erleichtert, daß sie fast mechanisch vonstatten geht. Und das ärgert den Geburtsadel gewaltig, der, verglichen mit dem Dritten Stand, tatsächlich nur wenige Ämter innehat.«

»Und warum?«

»Weder hat er das Geld, sie zu kaufen, noch die Fähigkeiten, sie auszufüllen, ungebildet, wie er ist.«

»Frankreichs Adel ungebildet! Ihr Vater und Sie ungebildet?«

»Mein Vater und ich gehören zu den glanzvollsten Ausnahmen des Jahrhunderts.«

»Monsieur«, sagte meine Gräfin und gab mir einen kleinen Kuß, »Sie sind ein großer Laffe.«

»Madame«, sagte ich, »wenn Sie mich so bestrafen, kann ich nicht mehr damit aufhören.«

»Zur Sache: der Adel bekämpft also die Paulette.«

»Aus dem genannten Grund. Er bekämpft aber auch ihre Folgen. Indem sie nämlich die Erblichkeit der Ämter erleichtert, erschafft die Paulette allgemach einen bürgerlichen Amtsadel, der viel reicher und im Staat einflußreicher ist als der Geburtsadel und der oft genug in diesen einheiratet. Daher die Erbitterung und Schärfe – Neid gepaart mit Verachtung – gegen den Dritten Stand.«

»Und wie hat der Dritte Stand diesen boshaften Schlag pariert?«

»Wer im Handel, in Bank- und Steuergeschäften erfolgreich war, Liebste, der ist auch listig und beschlagen. Der Dritte Stand akzeptierte, oder vielmehr tat er so, als akzeptiere er, die Abschaffung der Paulette, forderte aber im Gegenzug, die Steuern zu senken, um dem armen Volk das Leben zu erleichtern, das ihn sonst durchaus nicht kümmert. Und weil einerseits die geforderte Steuersenkung sich auf vier Millionen Livres beliefe und andererseits die Abschaffung der Paulette |300|einen Steuerverlust von eineinhalb Millionen Livres bedeuten würde, verlangte der Dritte Stand zur Behebung des Defizits gleichzeitig, daß die Pensionen, die dem Adel gezahlt werden, um eine Million sechshunderttausend Livres vermindert werden.«

»Eine gesalzene Gemeinheit, scheint mir!« sagte meine Gräfin.

»Und bestimmt hat sie die Liebe des Geburtsadels zum Dritten Stand nicht vermehrt. Beide Seiten wechselten die schärfsten Worte. Der Redner des Dritten Standes wandte sich an den König, als er darlegte, daß nicht die Paulette den Schwertadel von Ämtern fernhalte, sondern ›sein uralter Glaube, daß Wissen und Studium den Mut schwächen‹.«

»Glaubt der Adel das wirklich?«

»Und ob! Das ist eine so wahre Feststellung, daß man sie besser nicht ausgesprochen hätte! Der Adel schrie auf vor Kränkung. Die Geistlichkeit mischte sich ein. Und Richelieu, der quirlige, sprühende junge Bischof von Luçon, der in den Intrigen der Generalstände zu Hause ist wie ein Fisch im Wasser und jede Gelegenheit nutzt, sich ins rechte Licht zu setzen, forderte den Dritten Stand schließlich auf, ›dem Adel einige Genugtuung und Befriedigung zu geben‹. Beachten Sie, Liebste, daß der ungemein schlaue Prälat das Wort ›Entschuldigungen‹ nicht aussprach. Trotzdem brachte Henri de Mesmes im Namen seines Standes solche Entschuldigungen vor, aber mit einem solchen Stolz, daß sie noch tiefer verletzten. Mein Vater hat seine schneidenden Worte eilends notiert, und weil ich sie bewundernswert fand, habe ich sie mir eingeprägt. Ist Ihr reizendes Ohr dafür empfänglich?«

»Ich lausche Ihnen nur zu gern, Pierre. Sie sind jetzt mein Lehrer1

Diese zärtliche Erinnerung an die Anfänge unserer Liebe verschloß mir den Mund, in eine so starke Bewegung versetzte sie mich. Die wunderbare Existenz meiner Gräfin hatte mir das Deutsche, das sie mich monatelang gelehrt hatte, so kostbar gemacht, daß ich einen Satz in dieser Sprache nie hören konnte, ohne daß etwas in mir aussetzte und ich alles vergaß bis auf jene erste Stunde bei ihr.

|301|»Nun?« fragte sie mit jener besonderen Scham, die uns ungewollt heißt, solche Momente abzukürzen, da wir einander doch am nächsten sind, »was hat Monsieur de Mesmes so Wunderbares gesagt?«

»Sagte ich ›Wunderbares‹? Ich hätte besser ›Charakteristisches‹ sagen sollen. ›Messieurs‹, wandte sich Mesmes an den Geburtsadel, ›erkennt doch an, daß die drei Stände wie drei Brüder sind, Kinder ihrer gemeinsamen Mutter Frankreich. Die Geistlichkeit ist der älteste, der Geburtsadel der mittlere, der Dritte Stand der jüngste. Aus dieser Anerkenntnis hat der Dritte Stand die Herren des Geburtsadels stets als eine Stufe über ihm stehend geachtet‹. Hören Sie das, Liebste? ›Eine Stufe‹! Sie können sich vorstellen, wie gut dies ›eine Stufe‹ aufgenommen wurde! Aber das Stärkste kommt noch! ›Trotzdem‹, fuhr Mesmes fort, ›hat der Geburtsadel den Dritten Stand als seinen Bruder anzuerkennen und darf ihn nicht derart verachten, daß er ihn für nichtig hält, denn er besteht aus etlichen bemerkenswerten Männern, die Ämter und Würden bekleiden, … und wie es oft in Privatfamilien vorkommt, wird das Haus durch die älteren Brüder erniedrigt, aber die jüngsten erheben es und führen es zum Ruhm.‹ Weiter, meine Liebste, kam Mesmes nicht. Es brach ein Geschrei los, das ihm das Wort abschnitt! ›Donnerschlag!‹ brüllten die Adligen, ›Brüder! Wir wollen von Schuhmacher- und Strumpfwirkersöhnen nicht Brüder genannt werden! Ihre Brüder, Donnerschlag! Wo zwischen uns und ihnen ein genau so großer Abstand besteht wie zwischen Herr und Knecht!‹ Und verletzt, beleidigt, außer sich, liefen sie allesamt los – allesamt, sage ich, und das waren einhundertachtunddreißig! – und beklagten sich beim König über diese neue Unverfrorenheit.«

»Gott im Himmel! Was für ein Tanz!« rief Frau von Lichtenberg und lachte Tränen. »Wie kleine Jungen, die sich streiten und von denen einer sich an Papas Wams ausweinen geht, nur, daß der Papa erst vierzehn ist! Und daß meistens doch der jüngste sich über den größeren Bruder beklagt, während es hier umgekehrt ist!«

»Was für ein Glück, Liebste«, erwiderte ich lachend, »daß besagter ›größerer Bruder‹ Sie nicht hören kann! Er würde Sie dafür hassen, daß sie ihn so nennen.«

 

|302|Als ich abends in unser Haus im Champ Fleuri kam, fand ich meinen Vater und La Surie, wie sie die Hände vors flammende Feuer streckten – denn es war wieder beißend kalt in Paris – und sich dabei ebenfalls ausschütteten vor Lachen. Diese Heiterkeit auch hier vergnügte mich, und so fragte ich nach dem Grund.

»Wißt Ihr, mein Sohn«, sagte mein Vater, weiter lachend, »was ich nach dem Willen der Abgeordneten des Adels in die Beschwerdeliste, die zum Abschluß der Generalstände dem König überreicht werden soll, hineinschreiben sollte? Ihr werdet es nicht für möglich halten!«

»Was denn?«

»Es soll dem Dritten Stand, Männern, Frauen, Jünglingen und Fräuleins, verboten werden, die gleichen Kleider zu tragen wie Edelleute und Damen, damit man sie auf den ersten Blick unterscheiden kann.«

»Und habt Ihr das hineingeschrieben, Herr Vater?« fragte ich, nun selber lachend.

»Ohne mit der Wimper zu zucken!«

»Man sollte mit diesen Leuten vom Dritten Stand ja noch ganz anders verfahren!« sagte La Surie, bei dem das Lachen auf Grund seiner Herkunft eine Spur rachsüchtiger klang als bei meinem Vater und mir. »Man sollte sie verurteilen, nur hanfene Wämser zu tragen, jeglicher Schmuck wird verboten, auch den Frauen, und überdies wird ihnen untersagt, in Karossen zu fahren und auch zu reiten, weil das Pferd an sich schon ein viel zu edles Wesen ist, um einen niederständigen Arsch zu tragen!«

»Warum«, sagte mein Vater, »steckt man sie nicht überhaupt gleich in eine graue Uniform mit den Buchstaben D. S. auf dem Rücken? Das würde das gesellschaftliche Leben doch ungemein auflockern!«

Wie man sieht, hegte mein Vater keine ungemischte Achtung vor dem Stand, dem er selbst angehörte. Obwohl er durch seine Mutter, eine Caumont aus dem Périgord, einer uralten Familie entstammte, fühlte er sich mehr als Siorac denn als Caumont und verleugnete in keiner Weise die Tugenden seines Großvaters Charles Siorac, Apotheker zu Rouen, der, nachdem er Seigneur de la Volpie geworden war, weil er die Mühle dieses Namens gekauft hatte, verstohlen ein ›de‹ zwischen Charles |303|und Siorac schob. Und obwohl dieses ›de‹ rechtmäßig geworden war, als unser König den Hauptmann Jean de Siorac, den Sohn, für seine Tapferkeit auf den Schlachtfeldern adelte, ließ mein Vater sich durch diesen jungen Glanz nicht blenden, ebensowenig, wie ihm der Kamm geschwollen war über die große Erhöhung, die er unter Heinrich III. und Henri Quatre erfahren hatte. Gewiß hielt er auf seinen Rang und schätzte ihn dafür, daß er ihn sich unter mancherlei Gefahren durch seine Missionen erworben hatte, aber in der Haut des Marquis’ lebte immer noch ein gelehrter und arbeitsamer Bürger, der größeren Wert auf die gute Führung seiner Landwirtschaft und seiner Finanzen legte als auf das gemalte Wappen an seiner Kutsche.

* * *

Der Streit zwischen dem Dritten Stand und dem Geburtsadel hatte sich kaum beruhigt, als ein neuer Streit die Generalstände erschütterte, zwischen der Geistlichkeit und dem Dritten Stand nämlich, und dieser ging weit über verletzte Eitelkeiten oder Interessen hinaus, wie die Paulette sie verursachte, und erwies sich als entschieden ernster, nicht allein, weil er an die Grundfesten der Monarchie rührte, sondern auch, weil er bei allen Zeitzeugen, wie meinem Vater, die Erinnerung an die abscheulichen Morde weckte, denen Heinrich III. und Henri Quatre zum Opfer fielen.

Für den Dritten Stand wie für das gallikanisch gesinnte Parlament von Paris1 hatten hinter den Fanatikern, die Frankreichs Thron zweimal mit Blut besudelt hatten, die ultramontanen Theorien der Jesuiten gestanden, nach denen es zulässig war, daß der Papst einen König exkommunizierte, ja ihn sogar absetzte und daß seine Untertanen ihn töteten, sobald sie ihn als Tyrannen empfanden.

Jene entsetzlichen Mordtaten und die gefährliche Doktrin im Sinn, die sie inspiriert hatte, wollte der Dritte Stand an die erste Stelle der Grundgesetze des Reiches den folgendermaßen lautenden Artikel setzen: »Der König ist anerkannter Souverän in seinem Staat, und da er seine Krone allein von Gott hat, gibt es |304|keine Macht auf Erden, sei sie geistlich oder zeitlich, die das Recht hätte, ihn seines Reiches zu berauben. Die gegenteilige Meinung, nämlich daß es zulässig sei, unsere Könige zu töten oder abzusetzen, ist unfromm, verabscheuenswürdig, gegen die Wahrheit und gegen die Einrichtung des französischen Staates, der einzig und unmittelbar von Gott abhängt.«

Sobald der Klerus von diesem Artikel Kenntnis erhielt, sah er die Suprematie des Papstes über die Fürsten der Christenheit in Gefahr und reagierte mit aller Härte. Er entsandte zu den Abgeordneten des Adels den Kardinal Du Perron, der um so weniger Mühe hatte, sie vom verderblichen Charakter dieses Artikels zu überzeugen, als der Dritte Stand dessen Urheber war. Und Du Perron, an der Spitze von rund dreißig Bischöfen und rund sechzig Abgeordneten des Adels, die ihn zur Verstärkung begleiteten, begab sich eilends zu der Kammer, wo der Dritte Stand versammelt war. Zu dieser glänzenden Delegation gesellte sich auch mein Vater, doch nicht aus Feindseligkeit gegen den ersten Artikel, sondern vielmehr aus Neugier.

Was nun geschah, erzählte uns mein Vater beim Abendessen im Champ Fleuri, und zwar bald auf französisch, bald, wenn Mariette erschien, auf lateinisch – die das in der Küche unser Kauderwelsch nannte –, und natürlich fragte ich meinen Vater, weshalb er so neugierig auf die Verlautbarungen des Kardinals Du Perron war, weil dieser doch als ultramontaner Parteigänger einer absoluten päpstlichen Macht bekannt war und seine Position auch bei dieser Gelegenheit niemanden überraschen konnte.

»Nicht seine Rede interessierte mich, sondern seine Person«, sagte mein Vater. »Wir kannten uns in unseren grünen Jahren, als er Vorleser Heinrichs III. war und ich einer der Ärzte des Königs. Damals hieß er noch Jacques Davy.«

»War er da auch schon so fromm?«

»I wo! Er trieb es genauso bunt wie ich damals.«

»Herr Marquis«, sagte La Surie, »ich wüßte nicht, daß Ihr das bunte Treiben jemals aufgegeben hättet.«

»Ruhe, Miroul! Bemerkenswert an dem Fall Jacques Davy ist nämlich, daß sein Vater kalvinistischer Pastor war und ihn strenggläubig erzogen hatte.«

»Da muß das Vaterherz ja geblutet haben!« sagte La Surie.

|305|»Und zwar viermal: als Jacques Davy die anmutigen erotischen Gedichte schrieb, die er seiner eigenen Erfahrung verdankte. Als er zum Katholizismus übertrat. Als er Priester wurde. Und als Henri Quatre, an den Jacques Davy nach dem Tod Heinrichs III. sein Glück gehängt hatte, ihn zum Bischof ernannte … Und mit der violetten Robe legte der neue Bischof sich auch einen neuen Namen zu und nannte sich fortan Du Perron.«

»Wie pikant!« sagte ich. »Ein ketzerischer König, exkommuniziert obendrein, ernennt einen Bischof!«

»Als Franz I. der französischen Krone dieses Recht erwarb«, sagte La Surie, »konnte er schwerlich vorhersehen, daß einer seiner Nachfolger Hugenotte sein würde … Und also schwor in der Basilika Saint-Denis ein Ketzerkönig vor einem ehemaligen Ketzer ab.«

»War er denn berechtigt, Henris Schwur anzunehmen?«

»Keineswegs«, sagte mein Vater. »Die Exkommunikation war päpstlich gewesen, und nur der Papst konnte sie aufheben. Kein Wunder, daß der Vatikan außer sich war, als Du Perron seine Rechte so dreist überschritt, und eine Zeitlang stand er in tiefer Ungnade. Was Du Perron schwer betrübte.«

»Warum das?« fragte ich.

»Der französische König hatte ihn zum Bischof gemacht, aber zum Kardinal machen konnte ihn nur der Papst.«

»Du Perron war geschmeidig genug, wette ich.«

»Geschmeidig ist gar kein Ausdruck. Er ist überhaupt ein Mann von großen Talenten.«

»War er es, der den Papst schließlich bewogen hat, die Exkommunizierung unseres Henri aufzuheben?«

»Nein, nein. Das war der Abbé d’Ossat in Rom, und in begrenztem Maße ich. Aber Du Perron erntete die Früchte unserer Mühen, als er an Stelle des Königs nach Rom kam und auf Knien vor Seiner Heiligkeit die symbolischen Schläge mit dem Hirtenstab empfing, anstatt der blutigen Peitschenhiebe für weniger hochstehende Büßer. Aber das steht alles in meinen Memoiren.«

»Die ich, Herr Vater, leider nur in Auszügen zu lesen bekomme.«

»Da verpaßt Ihr was!« sagte La Surie. »Der Bericht unseres Romaufenthalts ist ausnehmend erbaulich. Um ein Haar wären |306|wir vergiftet worden, und fast hätten wir uns noch durch Törtchen ruiniert.«1

Hierauf lachte er, und ohne zu fragen, was ihn so lustig mache, fuhr mein Vater fort: »Zurück zur Sache. Ich war dabei zu schildern, wie Kardinal Du Perron mit glänzendem Gefolge die Kammer des Dritten Standes betrat, um diesen Gallikanern zu sagen, was er von ihrem ersten Artikel halte, ›dem verderblichsten, den es je gab‹.«

»Und was sagte er diesen armen Abgeordneten des Dritten Standes, Herr Vater?«

»Nun! Es war lange her, daß das Heringsfaß nach Hering gestunken hatte. Vielmehr entströmte ihm der reinste Duft vatikanischer Orthodoxie! ›Die Könige‹, sagte er laut und vernehmlich, ›haben den Staub zu Füßen der Kirche zu küssen und sich derselben in Person des Papstes zu unterwerfen‹ … ›Das Verbot, ihr Leben anzutasten, wurde auf dem Konzil zu Konstanz verkündet. Aber an dem Recht, sie abzusetzen, lassen wir nicht rütteln. Und Laien haben in diesen Fragen nicht zu richten.‹«

»Das war ja klar! Die Päpste behaupteten doch seit je, sie dürften Könige absetzen!«

»Und der Dritte Stand bestritt es steif und fest. Am selben Tag faßte das Parlament, das den Streit aufnahm, einen Erlaß, der seine früheren Erlasse gegen die ultramontanen Doktrinen erneuerte. Auf diesen neuen Schlag reagierte der Klerus, indem er den Königlichen Rat anrief, der die Affäre am dritten Februar in Anwesenheit von Condé beriet, der sofort einschritt.«

»Für welche Seite?«

»Für den Dritten Stand und das Parlament, deren Sympathien er sich sichern will für den Fall, daß er an die Macht kommt.«

»Schmeichelt er sich tatsächlich mit dieser Hoffnung?«

»Wer weiß? Zwischen dem Thron und ihm stehen nur zwei Personen: Ludwig und Monsieur … Wie dem auch sei, der Rat faßte einen Erlaß, der dem Parlament und den Generalständen untersagt, den berühmten ersten Artikel zu diskutieren. Er behält sich dessen Abfassung selbst vor.«

|307|»Das behagte dem Klerus sicher nicht, weil er sich ausgeschlossen sah!«

»Tatsächlich, er schäumte. Als der Rat sich am achten Februar erneut versammelte, unter Vorsitz des Königs, sah Ludwig zu seiner Verblüffung vor sich den Kardinal Du Perron auftauchen, die Kardinäle de Sourdis und de La Rochefoucauld zur Seite, die wiederum mehrere Bischöfe im Gefolge hatten, darunter den wütenden Charles Miron, Bischof von Angers, und einige Adlige, unter die ich mich aus Neugier mischte, um dieser Sitzung beizuwohnen. Kaum eingetreten, spieen die Prälaten Feuer und Flammen und sprachen mit erschreckender Respektlosigkeit zum König: es stünde weder den Ständen noch dem Parlament, noch dem König zu, über diesen ersten Artikel zu entscheiden. Der einzige Richter hierüber sei die Kirche. Sie baten nicht, sie forderten, daß der am dritten Februar gefaßte Erlaß des Königlichen Rates für ungültig erklärt werde. ›Wenn man dieser Forderung nicht nachkommt‹, sagte Kardinal Du Perron, ›wird die Geistlichkeit die Generalstände verlassen und Exkommunikation und Bannfluch über jene verhängen, die sich ihrer Doktrin entgegenstellen, so daß sie auf ewig den Qualen der Hölle verfallen!‹ … Charles Miron setzte den furchtbaren Drohungen noch eins drauf und erklärte, gleichsam mit Schaum vor dem Mund, weder er noch seinesgleichen werde den Ratssaal verlassen, bevor der Erlaß nicht vor ihren Augen zerrissen würde.«

Bleich und stumm wohnte Ludwig dieser entfesselten Heftigkeit bei, die sich offen gegen seine Autorität richtete, ohne Achtung vor seiner Gegenwart, seiner Person.

Condé wollte sprechen, aber als er anhob, fuhr ihm der Kardinal de Sourdis gröblichst über den Mund.

»Monsieur«, sagte er, »bei Eurer Religion habt Ihr in dieser Sache gar nicht mitzureden.1 Im Namen der gesamten Geistlichkeit lehne ich Euch ab!«

»Ihr lehnt mich ab?« sagte Condé, baff, daß ein Priester, sei er auch Kardinal, es wagte, sich in solchen Begriffen an den Ersten Prinzen von Geblüt zu wenden. »Erlaubt, ich bitte doch, …«

Er kam zu keinem weiteren Wort. Ludwig erhob sich, trat |308|eilends zu Condé und sagte in dringlichem Ton: »Monsieur, bitte, sprecht nicht weiter!«

Dann wandte er sich an die anderen Räte, aber ohne Du Perron und seine Prälaten auch nur eines Blickes zu würdigen, und setzte hinzu: »Da sie den Herrn Prinzen ablehnen, möchten sie wohl auch mich ablehnen.«

Sprach’s, grüßte den Rat, bedeckte sich und ging Mittag essen.

* * *

Ich sah Ludwig am folgenden Tag wie gewöhnlich in seiner Waffenkammer unter dem Vorwand, unsere Geschwindigkeit im Auseinandernehmen und Zusammensetzen seiner ›dicken Vitry‹ zu messen. Das Ergebnis war keine Überraschung, obwohl ich bereits Fortschritte gemacht hatte. Ich wandte aber der Sache auch nicht die nötige Aufmerksamkeit zu, weil ich gespannt war, welche Fragen der König mir stellen wollte.

»Sioac«, sagte er endlich, »hatte mein Vater noch Ärger mit dem Vatikan, nachdem er vom Papst losgesprochen worden war?«

»Ja, Sire, zweimal. Einmal, nachdem der junge Châtel 1594 versucht hatte, ihn zu ermorden. Da Châtel von den Jesuiten erzogen worden war und deren Einfluß auf ihn nachgewiesen werden konnte, machte das Parlament ihnen den Prozeß, ein Pater wurde gehängt und die Gesellschaft aus dem Reich verbannt. Der Papst entrüstete sich und machte Eurem Vater deshalb heftige Vorwürfe.«

»Und das zweitemal?«

»Im Januar 1610, fünf Monate, bevor Euer königlicher Vater durch Ravaillacs Messer fiel. Der Papst verdammte wie so oft gewisse Bücher, die folglich bei Strafe der Todsünde nicht verkauft, nicht gekauft und nicht gelesen werden durften. Unter diesen verdammten Büchern war auch die Anklageschrift des Antoine Arnauld gegen die Jesuiten. Bemerkenswert dabei war aber, daß der Vatikan nicht nur diese Anklageschrift verdammte, was strenggenommen mit dem päpstlichen Wunsch erklärt werden konnte, die Jesuiten in Schutz zu nehmen, sondern ebenso ihre anhängigen Stücke. Und unter diesen, Sire, war das vom Pariser Parlament gegen Châtel verhängte Todesurteil.«

|309|»Wie?« fragte Ludwig erregt, »ist das wirklich wahr?«

»Ich war zugegen, Sire, als der König dem apostolischen Nuntius deshalb bittere Vorwürfe machte. Euer königlicher Vater war außer sich.«

»Warum?«

»Weil er genau wußte, daß der Papst mit allen Mitteln seinen Krieg gegen die Habsburger zu verhindern versuchte, und weil die Tatsache, daß ein Königsmörder am Vorabend dieses Krieges reingewaschen wurde, ihm als unheilvolle Warnung erschien, wenn nicht als Drohung.«

Hierauf gab Ludwig keine Antwort. In der ganzen Zeit – obwohl die Tür geschlossen war und ich meine Stimme zum Gemurmel dämpfte – hatte Ludwig seine ›dicke Vitry‹ zum zweitenmal auseinandergenommen, ohne Eile diesmal, wie mechanisch, aber mit der wunderbarsten Präzision, vielleicht, weil er ein Geräusch machen wollte, um meine Stimme zu überdecken, vielleicht aber auch, um die Erregung abzufangen, die meine Antworten ihm verursachten. Er hielt den Kopf geneigt, seine langen schwarzen Wimpern bildeten einen Schatten auf seinen runden Wangen, deren kindlichem Charakter sein langes österreichisches Kinn und die aufeinandergepreßten Lippen widersprachen, die dennoch rot und voll waren und viel Lebenslust verheißen hätten, wäre er anders erzogen worden.

Ludwig war, wie er selbst sagte, ›kein großer Redner‹, weil er stotterte und sich dafür schämte, aber auch, weil er sich von allen Seiten durch seine Umgebung bespitzelt fühlte und seine Seele obendrein mehrmals im Monat bis auf den Grund von Pater Cotton erforscht wurde, der eine volle Stunde durch Fangfragen bis in jeden letzten Winkel der Sünde nachspürte, besonders der Sünde des Fleisches.

Man schlug Ludwig nicht mehr, seit er für großjährig erklärt war, doch überwachte man ihn noch mehr, man unterrichtete ihn so wenig wie möglich über Staatsangelegenheiten, hielt ihn bewußt in Unwissenheit, und obwohl er von einer Fülle von Menschen umgeben war – zwei Kammerdiener wachten des Nachts über seinen Schlaf –, vermutete ich, daß er sich seltsam allein fühlte in diesem großen Schloß, rings um sich nur eifersüchtige oder feindliche Mächte: seine Mutter, die Marschälle von Ancre, die Minister, die Großen, Condé, Vendôme und |310|zuzeiten sogar ein Klerus, der kleinlichst auf den Rechten der Kirche bestand, ohne die seinen zu respektieren.

Nachdem Ludwig seine ›dicke Vitry‹ wieder zusammengesetzt hatte, putzte er sich die Hände lange mit einem Lappen, hob den Kopf und sagte: »Sioac, habt Ihr gehört, was sich gestern im Rat abgespielt hat?«

»Ja, Sire. Bellegarde hat es mir erzählt.«

»Oh, Sioac!« sagte er in einem jähen Ausbruch von Kummer, der aber untergründig, wie verhalten blieb, »sie haben sich so arrogant benommen! Sie haben es gewagt, Uns ewige Höllenqualen anzudrohen! Und dieser Condé, der die Stirn hatte, meinen Thron zu verteidigen! Er!«

Mehr sagte er nicht, da er die Gewohnheit angenommen hatte, sich zu zügeln, sobald eine Erregung ihn davontragen wollte. Aber er hatte genug gesagt, so daß dieses ›sie‹ und ›er‹ für mich Bände sprach. Wie ich beobachten konnte, bekundete Ludwig von diesem Zeitpunkt an eine Art Aversion, wenigstens zog sein ganzes Sein sich gleichsam zusammen, wenn sich ihm ein Bischof oder ein Kardinal nahte, ein Grund, scheint mir, weshalb er viel später so lange brauchte, bis er zu Richelieu Vertrauen faßte.

Was Condé betrifft, so empfand Ludwig gegen diesen immerfort Aufsässigen einen noch weit heftigeren Groll: Bellegarde, der Mitglied des königlichen Rates war, bestätigte mir dies zwei Tage darauf, indem er mir einen Vorfall erzählte, dem er beigewohnt hatte.

Den Anlaß dazu bot eine jener Barbareien, deren die Großen dieses Landes sich unter schwacher Herrschaft leicht schuldig machen. Weil ein Vertrauter der Königin, Herr Marsillac, Condés Zorn erregt hatte, weshalb, wußte Bellegarde nicht zu sagen, jagte dieser ihm seinen Favoriten Rochefort auf den Hals. Marsillac wurde gefaßt, erbarmungslos ausgepeitscht und auf offener Straße liegengelassen.

Die Königin war schwer erzürnt, und nach Ratsschluß machte sie in Gegenwart des Königs Condé heftige Vorwürfe. Dieser erwiderte dreist und scheute sich nicht, zu sagen, da der König großjährig sei, stehe er in seinem Dienst und nicht in dem seiner Mutter. Ludwig empörte sich über die Unverschämtheit, die darauf abzielte, einen Keil zwischen die Königinmutter und ihn zu treiben.

|311|»Monsieur«, sagte er, »Ihr habt die Königin zu respektieren, da ich ihr die Geschäftsführung überlassen habe.«

Weit entfernt aber, ihm für diese Loyalität Dank zu wissen, entrüstete sich Maria über sein Einschreiten wie über einen Angriff auf ihre Macht, wandte sich zu ihrem Sohn und sagte dürr: »Seid doch still!«

Ludwig erblaßte und schwieg, weil er Condé nicht das Vergnügen eines Familienstreits bieten wollte. Und Condé, der die Zurechtweisung ausnutzte, ging kurzerhand, ohne sich zu entschuldigen. Sowie er fort war, sagte Ludwig mit äußerstem Ungestüm zu seiner Mutter: »Madame, Ihr habt mir größtes Unrecht getan, daß Ihr mich gehindert habt, zu sprechen!«

Und, an seine Seite blickend, setzte er hinzu: »Hätte ich meinen Degen bei mir, ich hätte ihn ihm in den Leib gerannt!«

Als ich meinem Vater am Abend diesen verblüffenden Satz wiederholte, nickte er versonnen und blieb eine Zeitlang stumm.

»Für mein Gefühl«, sagte er schließlich, »zielte dieser große Zorn nicht einzig auf Condé. Er richtete sich ebensosehr gegen seine Mutter, die ihn gedemütigt hatte, indem sie ihn schweigen hieß, obwohl er für sie Partei genommen hatte. Aber wer hätte gedacht, daß in Ludwig soviel Heftigkeit steckte? Und ein solcher Groll? Ich wette, wenn er eines Tages regieren sollte, wird er nicht so leicht zur Vergebung geneigt sein wie Henri Quatre.«

»Herr Vater«, fragte ich beklommen, »meint Ihr, daß er eines Tages nicht regieren könnte?«

»Nein, nein«, sagte mein Vater, »das will ich damit nicht gesagt haben.«

Doch hinter dieser Verneinung schien mir eine Sorge zu lauern, die sich nicht beim Namen nennen mochte.

* * *

Frau von Lichtenberg war so natürlich zugewandt, wo sie vertraute, so treu in der Freundschaft, so glühend in der Liebe und brachte anderen Menschen ohne Unterscheidung des Ranges, Alters oder Landes so wohlwollende Neigungen entgegen, daß sie einen so undankbaren Charakter wie den der Königinmutter einfach nicht fassen konnte. Wie oft verwunderten sie die |312|strengen Urteile, die ich in der warmen, dämmerigen Höhle ihres Betthimmels über Maria von Medici äußerte.

»Liebste«, sagte ich eines Tages, »wie könnte eine Frau wie Sie Maria begreifen? Sie ist ein so steriles Geschöpf, daß man es nur durch lauter ›ohne‹ beschreiben kann.«

»Wieso?«

»Ohne Geist, ohne Charme, ohne Güte, ohne Taktgefühl, ohne Gewissen, ohne Liebe und selbstredend ohne den leisesten Anflug von Empfindsamkeit.«

»Hat sie in Ihren Augen denn keine Tugend?«

»Doch: Tugend.«

»Ist das nichts?«

»Es ist nichts, wenn man die Liebe so wenig liebt.«

Meine Gräfin lachte, und es war wie Musik, dann fuhr sie nach kurzer Überlegung fort: »Sie liebt die Macht.«

»Aber sie liebt sie nicht, meine Liebste, um Frankreich zu regieren – das Land ist ihr völlig fremd und kümmert sie nicht die Bohne –, sondern einzig und allein, um mit vollen Händen aus den öffentlichen Finanzen zu schöpfen und das Geld maßlos zu vergeuden, die Concinis mit Pfründen zu stopfen, sich für schwindelhafte Summen mit Diamanten zu behängen, prunkvolle Feste zu geben, die Adelspensionen zu verdoppeln und die Treue der Großen durch riesige Summen zu erkaufen. Was ist von den zweieinhalb Millionen Livres aus dem Schatz der Bastille geblieben, die angeblich zum Krieg gegen die Großen dienen sollten? Nichts! Und wie ich höre, hat Maria den Rechnungshof schon wieder ersucht, eine Million zweihunderttausend Livres aus demselben Schatz für die bevorstehende Reise des Königs und Madames an die spanische Grenze zu bewilligen, um die Prinzessinnen zu tauschen.«

»Tauschen, sagen Sie?« fragte die Gräfin stirnrunzelnd. »Das Wort hört sich befremdlich an.«

»Ich hätte ›verschachern‹ sagen sollen, meine Liebste, so langwierig, hart und bar jeder Menschlichkeit verlief das Gefeilsche zwischen zwei Nationen, die hinreichende Gründe haben, sich nicht zu lieben. Aber schließlich kam der Handel zustande, und also wird im künftigen Sommer Ludwig an der spanischen Grenze die kleine Anna von Österreich in Empfang nehmen und nach Paris führen, und Madame wird die Pyrenäen |313|überschreiten und mit dem Prinzen von Asturien den Weg nach Madrid nehmen.«

»Arme kleine Madame!« sagte Frau von Lichtenberg seufzend. »Verheiratet! Dabei ist sie noch keine dreizehn! Ihrer Familie entrissen, entwurzelt, ihrer Sprache beraubt! Kann sie wenigstens Spanisch?«

»Man bemüht sich seit zwei Jahren, es ihr beizubringen … Aber sie nimmt die Stunden wie Abführtränke … Wie Sie wissen, wird sie von ihrer Mutter nicht geliebt und wie eine Sache behandelt, und so ist sie ganz ihrem Bruder zugetan, und er ihr.«

»Mein Gott«, sagte meine Gräfin, »was für ein Schmerz das für die beiden sein wird! Keine rührenden kleinen Geschenke mehr! Keine königlichen Omelettes! Keine kindlichen Verse mehr über einen hinkenden Frosch!«

Sie lächelte, und gleichzeitig sah ich Tränen in ihren Augen. Ihre Rührung ging mir nahe. Ich liebte sie über alles für ihr zärtliches Herz. Ich nahm sie in die Arme, um sie zu trösten, und das, was sie ›unser Geplauder hinter den Gardinen‹ nannte, wurde unterbrochen. Doch konnten unsere sonst so vergnügten Umarmungen sie an diesem Tag nicht von der Melancholie heilen, die sich auf ihrem schönen Gesicht malte. Und als die Stunde meines Aufbruchs schlug, sagte sie tieftraurig: »Schon? Sie wollen schon gehen! Ach, wie ich diese Trennungen hasse!«

Und ich begriff, daß ihre Tränen um Madame sich mit ihren eigenen gemischt hatten. Als sie mich von jener Reise an die spanische Grenze sprechen hörte, war ihr plötzlich klar geworden, daß ich den König dorthin begleiten mußte und daß uns abermals Wochen, vielleicht Monate trennen würden.

* * *

Diese Szene lag zwei Tage vor dem fünfzehnten Juli 1615, für den in meinem Tagebuch eine entrüstete, aber vorsichtig verschlüsselte Eintragung steht: S. der B. eingesackt (die Buchstaben bedeuten Schatz der Bastille), fünf Uhr nachmittags.

Beachten Sie, Leser, daß diese schändliche Unternehmung nicht nachts und klammheimlich vonstatten ging, sondern am hellichten Tag und mit Pomp, unter Beteiligung aller illustren |314|Herrschaften des Reiches, als ob so edle und feierliche Anstalten in den Augen der Geschichte über Einbruch und Raub hinwegtäuschen könnten. Und seltsam, es war an jenem Tag – ich betone: an jenem Tag, nicht tags zuvor oder tags danach – eine so unmäßige, so erstickende Hitze in Paris wie seit Menschengedenken nicht.

Vom Louvre bis zur Bastille mußten wir fast durch die ganze Stadt fahren. Nun hatte es am Tag vorher aber geregnet, so daß die Kruste des Pariser Pflasters sich in dicken, stinkenden Schlamm verwandelt hatte. Und obwohl die Sonne um fünf Uhr nicht mehr aus dem Zenit herniederbrannte, hatte sie die Hausmauern und die ekelhafte Kloake in den Straßen dermaßen erhitzt, daß wir beim Verlassen des Louvre glaubten, in einen pestilenzialisch dampfenden Schmelzofen zu rollen. Und einmal wäre Ludwig, der mich in seine Karosse eingeladen hatte, tatsächlich ohnmächtig geworden, glaube ich, wenn Héroard ihm nicht rasch ein essiggetränktes Tuch vor Nase und Mund gehalten hätte.

Die Garden Seiner Majestät marschierten voraus, hintennach folgten an vierzig Karren, deren Bestimmung nur leider allzu offenkundig war, dazwischen bewegte sich das lange Band der wappengezierten Karossen, fuhr ohne weiteres durch die beiden Vorhöfe und gelangte, als die Zugbrücke der Bastille sich mit majestätischer Langsamkeit senkte, in den Haupthof.

Es war das erste Mal, daß ich den Fuß in die gefürchtete Festung setzte, und ich tat es nicht ohne heimliches Schaudern, so schwer war es, saß man einmal darin, wieder hinauszukommen. Beweis: der Comte d’Auvergne, der seit 1604 hier eingesperrt war.

Die Königin entstieg als erste ihrer Karosse, prächtig geschmückt und perlenübersät, das Gesicht rot, hoffährtig und entschlossen. Sie ließ sich von Monsieur de Vaussay, dem Gouverneur der Bastille, die Tür zum Schatzturm öffnen, und erklomm allein und ohne auf den König zu warten die Wendeltreppe. Es waren zweihundertzweiunddreißig Stufen, und als Madame von ihrem Sohn und seinem Gefolge – darunter ich – oben eingeholt wurde, schien sie mir mächtig zu schnaufen in ihrem Satingewand und ihrem schweren Schmuck.

|315|Wie vermutet, war das dunkle Gemäuer, das man betrat, der Vorraum zur Schatzkammer. Monsieur de Vaussay, der vor der Königin mit zwei Garden hinaufgestiegen war, befahl diesen, die Fackeln an den Mauern zu entzünden, die alsbald recht kläglich einen kreisförmigen Saal erleuchteten. Ihre knisternden Flammen und die stetig wachsende Zahl der Würdenträger, die sich bald dort zusammendrängten, machten die feuchte, modrige Luft noch schwerer und vermehrten wohl auch das Unbehagen, das diese der königlichen Würde so unangemessene Szene bei den Anwesenden hervorrief. Gewiß sah man oben unter der Decke eine viereckige, vergitterte Luke, doch ließ sie zu wenig Luft herein, um den Atem so vieler Menschen zu nähren.

Noch immer japsend vom Aufstieg, schien auch die Königin auf Eile zu drängen. Ohne Worte, nur durch eine gebieterische Geste bedeutete sie dem Kanzler Sillery, der ihr mit tiefer Reverenz zu Füßen fiel, ihr ein gerolltes Pergament auszuhändigen. Sie ergriff es hastig, schwang es wie einen Kommandostab über ihrem Kopf, um es den Anwesenden zu zeigen, und verkündete mit geradezu erschlagender Majestät: »Hier ist der Erlaß des Königlichen Rates.«

Dann wandte sie sich zu Ludwig, reichte ihm das Pergament und sagte mit lautstarker Stimme: »Lest, Sire.«

Ludwig nahm das Pergament nicht entgegen. Bleich, dem Umsinken nahe, lehnte er mit dem Rücken an der Mauer, so daß Souvré zu ihm eilte und seinen Arm stützte, während Doktor Héroard ihm, wie schon in der Karosse, das essiggetränkte Tuch unter die Nase hielt.

»Was ist los?« fragte die Königin hochfahrend mit einem Blick auf ihren Sohn. »Wird er ohnmächtig?«

»Ich fürchte es, Madame«, sagte Héroard.

Eine Weile beobachtete sie den König mit barscher, ungnädiger Miene. So beschränkt war Maria nicht, daß sie nicht argwöhnte, daß die langjährige Unterwerfung ihres Sohnes mehr vorgetäuscht als echt war. Doch unfähig zu begreifen, daß allein ihre Tyrannei Ludwig dahin gebracht hatte, sich ständig zu verstellen, klagte sie ihn einer schwarzen Seele an. Er sei heimtückisch, pflegte sie zu verkünden.

»Wird er wirklich ohnmächtig?« fragte sie, als wittere sie ›eine seiner Touren‹.

|316|»Ich fürchte, ja, Madame«, sagte Héroard, der sich in dem Moment wohl dieselbe Frage stellte.

»Monsieur de Souvré«, sagte die Königin, die ihren Zorn kaum zügeln konnte, »wird der König ohnmächtig?«

»Er ist nicht weit davon, Madame«, sagte Souvré.

»Na schön, es geht auch ohne ihn!« sagte die Königin mit verhaltener Wut.

Und indem sie dem Kanzler die Pergamentrolle zurückgab, sagte sie barsch: »Lest, Herr Kanzler.«

Monsieur de Sillery las. Es war der Erlaß des Königlichen Rates, kraft dessen man die wiederholten Weigerungen der Rechnungskammer überging, das Gesuch ›des Königs‹ anzunehmen, nach welchem besagte Kammer die Herausgabe von einer Million zweihunderttausend Livres aus dem Schatz der Bastille genehmigen sollte, um die spanischen Hochzeiten zu bezahlen.

Damit hätte Monsieur de Sillery enden sollen. Doch konnte er sich nicht enthalten, der Königin seinen besonderen Hof zu machen, indem er fast bissig hinzusetzte, er wüßte doch gerne, wie der Präsident der Rechnungskammer die Tatsache rechtfertige, daß besagte Kammer sich fünfmal geweigert habe, das königliche Gesuch zu registrieren.

Bei dem Wort ›Gesuch des Königs‹ hoffe ich, nicht der einzige in dieser edlen Runde gewesen zu sein, der dachte, daß es besser ›Gesuch der Königin‹ geheißen hätte, denn Maria hatte den Sohn zur Beratung nicht hinzugezogen.

Der Präsident der Rechnungskammer, den Monsieur de Sillery soeben zur Rede gestellt hatte, schickte sich also zur Rechtfertigung an. Es war ein alter, winzig kleiner Mann, hohlwangig, die schwarzen Augen tief in den Höhlen. Er sprach ohne die kleinste Geste, aber gleich bei seinen ersten Worten spürte ich darin eine Festigkeit, wie wenn er sich auf einen unerschütterlichen Glauben an den heiligen Wert der Gesetze stützte.

»Der selige König in seiner großen Weitsicht«, sprach er, »hat seit 1602 Jahr für Jahr diesen Schatz in der Bastille angesammelt. Er verwandte darauf große Sorgfalt, Sparsamkeit und Fleiß. Der Wert dieses Schatzes war bedeutend nicht nur an sich, sondern auch, weil der selige König ihn der ganzen Welt bekanntgegeben hat, um das Ausland von Unternehmungen |317|gegen ein Königreich abzuschrecken, das so große Mittel besaß. Ich erinnere mich, daß der selige König öffentlich zum Herzog von Mantua sagte, indem er auf das Arsenal wies: ›Dort habe ich alles, um fünfzigtausend Mann zu bewaffnen‹, und, auf die Bastille weisend, hinzufügte: ›Und dort, sie wenigstens sechs Jahre zu bezahlen.‹«

Während dieser Rede beobachtete ich unausgesetzt Ludwigs scheinbar leblose Physiognomie und bemerkte, daß seine Augen plötzlich aufleuchteten, als der Präsident zum Lob seines Vaters sprach. Doch senkte er sie so schnell und verfiel wieder in seine Reglosigkeit, daß ich zweifelte, diesen Wechsel seines Ausdrucks wahrgenommen zu haben.

»Kürzer!« sagte die Königin, die sehr wohl merkte, daß soviel Lobrede auf die Sparsamkeit des seligen Königs einige Spitzen gegen ihre Verschwendung enthielt.

»Kürzer!« wiederholte sie, die Nase sehr hoch.

»Ich bin gleich fertig, Madame«, sagte der Präsident der Rechnungskammer mit tiefer Verneigung. »Jeder weiß, daß der selige König durch zwei von der Rechnungskammer bestätigte Befehle ausdrücklich verboten hatte, seinem Schatz der Bastille auch nur einen Heller zu entheben, der nicht für dringliche Kriegszwecke bestimmt wäre, und keinesfalls ohne Bestätigung besagter Kammer. Immerhin, als im vergangenen Februar Seine Majestät der hier anwesende König verlangte, vom Schatz zwei Millionen fünfhunderttausend Livres zu beheben, hat die Kammer eingedenk der Notwendigkeit, die Rebellion der Großen zu bekämpfen, das königliche Ersuchen genehmigt, und sie tat es um so lieber, als der König versprach, die Summe bis Jahresende zurückzuerstatten. Gleichwohl wurde dieses Versprechen nicht gehalten!«

Abermals konnte Ludwig nicht umhin, hier einige Erregung zu verraten. Ihm wurden so viele Dinge von seiner Mutter verheimlicht, daß er höchstwahrscheinlich weder von diesem Versprechen wußte, das doch in seinem Namen gegeben worden war, noch vom Bruch dieses Versprechens, den man ihm heute vorwarf.

»Deshalb«, fuhr der Präsident der Rechnungskammer fort, »prüften wir genauer, als der König im Juni 1615 aufs neue um eine Behebung für die Kosten der spanischen Hochzeiten und der dazu erforderlichen Reisen ersuchte. Da es sich nicht um |318|Kriegsgründe handelte, meinte die Kammer, richtig zu entscheiden, indem sie ihre Zustimmung verweigerte und dies zu fünf Malen, entgegen allen Kanzleibefehlen, die sie erhielt. Die Rechnungskammer ist der Auffassung, daß die königlichen Finanzräte für solche Ausgaben von langer Hand hätten vorsorgen müssen und daß überhaupt ein jeglicher in seinem Haus sich aller überflüssigen Ausgaben enthalten sollte, die nur dem Luxus dienen, anstatt den Schatz der Bastille zu schmälern. Die Kammer bedauert es tief, daß man an diesen Schatz rührt, erklärt sich an dieser Unordnung unschuldig und versichert Ihre Majestäten ihrer respektvollen und liebreichen Ergebenheit.«

Diese ›liebreiche Ergebenheit‹ sollte die bittere Pille der ›überflüssigen Ausgaben‹ vergolden, die nichts wie ›Luxus‹ und ›Unordnung‹ brachten. Aber die Königin schluckte alles ungerührt und hatte während der ganzen Rede nur Augen für die schwere, eisenverstärkte Tür, die den Zutritt zur Schatzkammer versperrte.

»Monsieur de Vaussay«, sagte sie zum Gouverneur der Bastille, sowie der Präsident mit einer tiefen Reverenz verstummte, »der Erlaß des Königlichen Rates befiehlt, die Tür zu öffnen und unser Teil zu entnehmen.«

»Madame«, sagte Monsieur de Vaussay, »wie Eurer Majestät bekannt ist, sind drei Schlüssel vonnöten, um die Tür aufzuschließen: der Eure, der von Herrn Präsident Jeannin, oberster Finanzrat, und der von Monsieur Phélippeaux, Schatzmeister der Krone.«

Hierauf nun lief eine kleine Komödie ab, die mir sehr gut geprobt erschien und in der alle Repliken bestens einstudiert waren.

»Hier ist der meine«, sagte die Königin, zog aus einer verborgenen Tasche ihres Reifrocks einen Schlüssel und hielt ihn Monsieur de Tresmes, ihrem Gardehauptmann, hin.

»Ich weigere mich, den meinen herauszugeben«, sagte Präsident Jeannin.

Doch wie sich dann zeigen sollte, hatte er ihn trotzdem dabei, was nicht gerade auf felsenfeste Entschlossenheit deutete.

»Ich weigere mich auch«, sagte Monsieur Phélippeaux.

»Warum?« fragte die Königin, die diese zwiefache Ablehnung |319|nicht im geringsten zu beunruhigen schien, obwohl sie die Brauen runzelte und voll Hoheit sprach.

»Beliebe es Eurer Majestät«, sagte Monsieur Phélippeaux, »mir zu erlauben, daß ich für zwei antworte. Das Gesuch des Königs ist, entgegen fünf Kanzleibefehlen, durch die Rechnungskammer nicht bestätigt worden, so daß diese künftighin uns beide persönlich zur Verantwortung ziehen kann für unrechtmäßig entwendete Summen.«

»Um Euch davor zu bewahren«, sagte die Königin, »werde ich Euch eine …«

In dem Augenblick ließ ihr Gedächtnis sie im Stich, und sie wandte die Augen hilfeheischend zum Kanzler Sillery, der ihr sogleich halblaut soufflierte: »Entlastung.«

»Werde ich Euch eine Entlastung von Eurer Verantwortung ausstellen, unterzeichnet von mir und meinen Ministern.«

»Ist es also der ausdrückliche Befehl Eurer Majestät, daß wir jeder unseren Schlüssel aushändigen?« fragte Phélippeaux.

»Es ist mein Befehl«, sagte die Königin.

»Meine Herren, Ihr seid meine Zeugen«, sagte Präsident Jeannin, indem er seine falschen Augen über die Zeugen dieser Szene schweifen ließ, »daß ich einem ausdrücklichen Befehl der Königin gehorche.«

Hiermit trat er mit einer gewissen pompösen Miene vor Ihre Majestät, beugte ein Knie zu Boden, küßte den Saum ihres Kleides und überreichte ihr den Schlüssel. Und sogleich wurde er von Monsieur Phélippeaux nachgeahmt.

»Nehmt, Tresmes«, sagte die Königin würdevoll.

Monsieur de Tresmes, ungeduldig über all das Gerede, ging mit militärischer Energie ans Werk, indem er den beiden Knienden die Schlüssel fast aus den Händen riß, wie er es mit dem Vogt einer besiegten Stadt gemacht hätte, zu der eisenbeschlagenen Tür zurückkehrte und sie aufzuschließen begann. Das war keine so einfache Sache, denn erst mußte er durch Tasten den richtigen Schlüssel für jedes der drei Schlösser herausfinden.

Diese Eisenrasselei (die über eine Minute dauerte, weil Tresmes mehr Kraft als Methode aufwandte) tauchte die gut dreißig Großen und Würdenträger, die dicht bei dicht, dem Ersticken nahe, standen und schwitzten, in tiefes Schweigen. Ich kann nicht sagen, man konnte eine Fliege fliegen hören, |320|denn gerade Fliegen gab es dort in Hülle und Fülle, weil die Luke nicht durch Glas verschlossen war, und ihr Gekrabbel, ihr unermüdliches Gesumme trug nicht wenig zum Unbehagen der Anwesenden bei.

Endlich war die Tür offen, lautlos schwenkte sie, und zuerst war da nur tiefe Finsternis, bis zwei von Monsieur de Vaussay beauftragte Gardisten drei Fackeln entzündeten, die an der Mauer mit Ringen befestigt waren. Nun zeigte sich ein Saal, der wenigstens doppelt so groß war wie jener, wo wir uns befanden, und der, wenngleich er hoch oben in einem Turm lag, eher an einen Keller gemahnte durch sein Tonnengewölbe, sein Halbdunkel und an die hundert nußbraune Fässer, die man für riesengroße Weinfässer gehalten hätte, wenn sie, anstatt auf dem Bauch zu liegen, nicht aufrecht gestanden und schwere Deckel getragen hätten.

Die Königin trat bis an die Schwelle und blickte mit funkelnden Augen auf die Fässer. »Wie viele …?« fragte sie Präsident Jeannin, der sich an ihrer Seite wichtig machte.

Obwohl die Frage elliptisch war, verstand Jeannin sehr wohl. »Diese Fässer, Eure Majestät, enthalten Säcke, und die Säcke enthalten Goldstücke, jedes drei Livres1 wert. Eure Majestät wird also vierhunderttausend goldene Ecus in Empfang nehmen.«

»Ich will nur, was man mir schuldet«, sagte die Königin würdevoll.

»Eure Majestät«, sagte Phélippeaux, »wer soll die Säcke zu den Karren tragen?«

»La guardia di Tresmes sotto la sua responsabilità«,2 sagte die Königin, die in ihrer Erregung offenbar außerstande war, die Sprache ihrer Untertanen zu sprechen.

»Eure Majestät«, fragte wieder Phélippeaux, »wohin gehen die Karren?«

»Alla casa vostra«3, sagte die Königin hochfahrend, als machte sie es sich zum ausgesprochenen Verdienst, dieses Manna nicht geradewegs in ihre Wohnung im Louvre zu schleppen zu lassen. (Allerdings waren die Gemächer des Schatzmeisters der Krone von den ihren nicht weit entfernt.)

|321|In dem Moment sprach Ludwig Monsieur de Souvré etwas ins Ohr, der daraufhin zur Königin ging und nach tiefer Verbeugung sagte: »Madame, während die Karren beladen werden, würde der König gern die Bastille besichtigen, die er bis heute noch nie gesehen hat.«

»Einverstanden«, sagte die Königin unwirsch, vermutlich, weil sie ihn immer noch verdächtigte, er habe sein Übelsein nur vorgetäuscht, um nicht einen Erlaß verlesen zu müssen, der dem seines Vaters über die Nutzung des in der Bastille lagernden Vermögens widersprach.

Als Ludwig an der Königin vorüberging, verneigte er sich mit gesenkten Augen tief und respektvoll, doch als er sich aufrichtete, begegnete sein Blick ungewollt dem ihren, aber ganz kurz, denn einer wie der andere wandte wie in stillschweigender Übereinkunft sofort die Augen ab.

Dem König folgten, wie es sich geziemte, Monsieur de Souvré, Doktor Héroard und drei der vier Ersten Kammerherren, Monsieur de Courtenvaux, Monsieur de Thermes und ich – der vierte, der Marschall von Ancre, hatte es vorgezogen, bei der Behebung der Gelder nicht zugegen zu sein, wahrscheinlich damit sich der Hof nicht frage, wie viele Nadelgelder seine Frau und er davon wohl kassieren werden.

Als wir die Wendeltreppe im Turm hinabstiegen, schickte uns Monsieur de Vaussay einen Gardisten, der Ludwig bei der Besichtigung der Bastille zum Führer dienen sollte. Der Mann erfüllte seine Aufgabe bemerkenswert, als Gascogner war er nicht auf den Mund gefallen und in der Festung wie zu Hause. Und wäre es Ludwig wohl gewesen in seiner Haut, hätte er bei seiner Begeisterung für alles Militärische dem Cicerone gewiß eine Menge Fragen gestellt, doch er hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, sagte kein Sterbenswort, und sein Gesicht blieb bedrückt und verschlossen.

Mit gutem Grund, denn dieser Tag war von einer Ironie der Geschichte geprägt, deren Grausamkeit ihm nicht entgehen konnte: Jahr um Jahr hatte sein Vater diesen Schatz in der Bastille angesammelt, um eines Tages mit Waffengewalt die vielarmige Umklammerung des Hauses Österreich rings um Frankreichs Grenzen zu sprengen. Und dieser Schatz – Schild und Lanze seines Königtums – wurde kaum sechs Jahre nach seinem Tod Stück für Stück angegriffen, angegriffen durch die |322|Großnichte Karls V. und verschleudert. Die Habsburger, die es nie geschafft hatten, unseren Henri zu seinen Lebzeiten zu besiegen, triumphierten schließlich doch über ihn nach seinem Tod. Und vollbracht wurde das Heldenstück von der Hand einer Frau.