|39|ZWEITES KAPITEL

Eines Tages zu Anfang Oktober beendeten wir eben unser Mittagsmahl, als Franz meldete, daß Toinon, meine einstige Soubrette, uns zu sprechen wünsche.

»Ist sie immer noch so hübsch?« fragte mein Vater lächelnd.

Die Frage brachte Franz in Verlegenheit, der sich schwer tat, eine andere Frau als seine Greta zu loben. Und weil er nicht wußte, was er sagen sollte, lief der Mann, sechs Fuß hoch und breit wie ein Schrank, rot an wie eine Jungfrau.

»Darauf weiß ich Antwort«, sagte La Surie. »Gestern war ich in ihrer Bäckerei, ein Rosinenbrot kaufen, und ich kann Euch verraten: sie ist schön wie eine Madonna. Mérilhou, der wohl gerade nichts zu tun hatte, war im Laden und sah ihr beim Bedienen zu. Und ich dachte mir, wenn der Mann nicht gerade an seinem Knettrog oder seinem Ofen steht, verbringt er seine Zeit damit, seine Frau anzugaffen.«

»Soll er nur achtgeben, daß keiner sie ihm wegschnappt«, sagte mein Vater.

»Oh, das bestimmt nicht!« sagte La Surie. »Nicht alle Todsünden vertragen sich. Was Toinon betrifft, schützen Stolz und Geiz sie vor der Wollust.«

»Das ist die pure Bosheit, Chevalier!« rief ich. »Ist es Stolz, wenn ein Weib, das sich für schön, tapfer und gescheit hält, dies alles auch ist? Und ist es Geiz, wenn man zu Wohlstand kommen will, wenn man ohne eine blanken Sou geboren wurde? Toinon weiß, was sie ist und was sie will, aber deshalb ist sie nicht herzlos. Ganz im Gegenteil.«

»Wer wüßte dies besser als Ihr, schöner Neffe?« sagte La Surie mit einer kleinen, gezwungenen Grimasse. »Vergebt mir. Die Lust zu witzeln ist mit mir durchgegangen.«

»Franz«, sagte mein Vater, der an diesem Tag zum Scherzen aufgelegt war und seinem Majordomus die Gelegenheit geben wollte, zu glänzen, »da du für solche Dinge ein Auge hast, sag uns, wie ist sie angezogen.«

|40|»Beinah wie eine Standesperson, Herr Marquis.«

»Beinahe?«

»Sie hat eine Stielmaske in der Hand, mit der sie ihr Gesicht auf der Gasse verbirgt. Hat sie ihre Galoschen abgelegt, sieht man ihre feinen Schuhe. Ihr Mieder ist aus besticktem Samt, ihr Cotillon fast so weit wie ein Reifrock, und sie trägt ein goldenes Halsband, das nicht nach Armenhaus aussieht.«

Mein Vater beugte sich mir zu und sagte sotto voce: »He won’t say she’s pretty, but he did look at her.1 Und im ganzen, Franz?«

»Im ganzen, Herr Marquis, könnte man sie, wenn sie aus einer Kutsche stiege, nun ja, nicht für eine vornehme Dame, aber für eine Bürgersfrau halten.«

»Mein Gott!« sagte La Surie. »So hochmütig ist sie geworden?«

»Nein, hochmütig nicht, Herr Chevalier«, sagte Franz, »und großes Getue macht sie auch nicht. Als sie hereinkam, hat sie Greta und Mariette abgeküßt, hat unseren anderen Leuten nett zugelächelt, und mich hat sie respektvoller gegrüßt als früher, wo sie noch hier diente. Wenn Ihr erlaubt, Herr Marquis, würde ich sagen, ihr Betragen hat sehr gewonnen.«

»Schön, Franz, dann führe dieses Wunder herein und sage Mariette gleich, sie kann uns jetzt das Dessert bringen.«

Als Toinon eintrat, machte sie uns dreien eine schöne Reverenz, und mein Vater, der seine Höflichkeit nach der Besucherin richtete, erhob sich halb vom Stuhl, La Surie und ich ahmten ihn nach. Während ich mich wieder setzte, stellte ich fest, daß die Anwesenheit meiner einstigen Soubrette mich nicht gleichgültig ließ. Ich verübelte es mir ein wenig, denn ohne so steifleinen zu sein wie Franz in seiner ehelichen Treue, hätte ich doch gewünscht, daß mein Denken und Sinnen einzig von meiner Gräfin gefangen wäre. Doch alle Tage, die Gott werden ließ, teilte Louison meine Siesta, jetzt flößte Toinons Anblick mir ein schmerzliches Ziehen ein, und auch, wenn ich sie nicht heiraten wollte, dachte ich öfter, als ich wollte, an die Vollkommenheiten von Mademoiselle de Fonlebon.

Als ich meinem Vater diese meine Skrupel später bekannte, lachte er nur.

|41|»Papperlapapp, mein Sohn«, sagte er. »Warum solltet Ihr Euren Träumen entsagen, die Euch bezaubern, ohne jemand zu verletzen? Wolltet Ihr statt achtzehn einundachtzig sein? Außerdem, wenn ich an Euren Großvater denke, muß man sogar mit neunzig noch nicht ganz abgeklärt sein …«

Was Toinon angeht, so hatte sie die Erregung wohl bemerkt, die ihr Kommen in mir auslöste. Sie warf mir einen raschen Blick zu, einen einzigen, aber dabei blieb es. Dieses Mädchen, dachte ich, ist ihrer mehr Herr als ich.

»Nun, Toinon, wie geht es uns bei diesem grauen Oktoberhimmel?« fragte mein Vater.

»Sehr gut, Herr Marquis, habt Dank.«

»Franz«, sagte mein Vater zu unserem Majordomus, der die Tür weit öffnete, um Mariette hereinzulassen, die in beiden Händen eine Suppenschüssel mit duftendem, heißen Birnenkompott brachte, »gib unserer Toinon bitte einen Stuhl. Magst du Birnen, Toinon?«

»Nein, danke, Herr Marquis.«

Mein Vater wartete mit der Fortführung des Gesprächs, bis Mariette uns reihum aufgetan hatte. Doch als sie damit fertig war, postierte sie sich hinter dem väterlichen Stuhl und drückte die heiße Schüssel, anstatt sie auf den Tisch zu stellen, an ihren Bauch, die Neugierde ging ihr über ihr Wohlbefinden.

»Also, Toinon«, sagte mein Vater, »was hast du auf dem Herzen?«

»Auf dem Herzen, Herr Marquis, hab ich, daß ich Eure Kutsche vorgestern auf der Gasse hab vorbeifahren sehen und daß sie rundum erneuerungsbedürftig ist: die Farbe ist abgeblättert, die Vergoldungen sind blind und die Fenstervorhänge ausgeblichen.«

Das kam so überraschend, daß mein Vater nicht wußte, was er sagen sollte, denn seit Toinon uns verlassen und den Bäckermeister Mérilhou geheiratet hatte, war sie stets nur zu uns gekommen, um sich in eigenen Anliegen Hilfe zu erbitten, aber noch nie, um sich in unsere Angelegenheiten einzumischen.

»Da hat sie ganz recht. Wie die Kutsche aussieht, das ischt wahr und wahrhaftig eine Schande für einen Marquis!« sagte Mariette.

»Was machst du denn hier, Mariette?« fragte mein Vater, indem er den Kopf umwandte.

|42|»Ach, ich wart blosch, ob ich Euch nachfüllen soll, Möschjöh le Marquis. Weil, das Kompott von Caboche ist so gut, da wollt Ihr sicher noch mehr haben.«

»Dann warte, Gevatterin, aber halt deinen Schnabel. Sprich weiter, Toinon.«

»Die Vorhänge, Herr Marquis, die könnte Eure Margot übernehmen, wo sie ja eine geschickte Seidennäherin und Goldstickerin ist …«

Hier hielt Toinon inne, als sei sie selbst überrascht, daß sie Margots Lob sang, für die sie doch nur böse Worte übrig hatte, als sie noch bei uns war, weil sie fand, daß die Neue sie übertrumpft habe, indem sie sich im Handumdrehn einen Marquis angelte, während sie selbst mit einem Chevalier fürliebnahm.

»Kurzum«, sagte sie, »Margot könnt Euch hübsche, neue Vorhänge nähen, aber aus Seide diesmal, nicht aus Kattun wie die alten, die ja schon lumpig aussehen.«

»Aber Seidenvorhänge«, sagte La Surie, »passen doch nicht zu dem Kasten, wie er jetzt ist.«

»Deswegen mein ich ja«, sagte Toinon, »die Kutsche müßte von oben bis unten frisch gestrichen und vergoldet werden. So sieht sie zu schäbig aus. Wenn am Schlag nicht Euer Wappen wär, Herr Marquis, möcht man meinen, es wär eine Mietdroschke …«

»Ich verstehe nicht«, sagte mein Vater, »wieso diese Auffrischung so dringlich sein sollte.«

»Oh, Herr Marquis!« rief Toinon, »sie ist dringlich! Und wie dringlich sogar! Denkt doch, welche Ereignisse bevorstehen!«

»Was für Ereignisse?«

»Die Salbung unseres kleinen Königs! Zu Reims! Am fünfzehnten dieses Monats! Ihr werdet doch sicherlich eingeladen.«

»Und die Frau Herzogin«, sagte Mariette, »na, die wird doch nicht wieder, wenn sie Euch zu Reims in so einer armseligen Karosse vorfahren säh.«

»Still, Mariette!« sagte mein Vater. »Ich wette, Toinon«, fuhr er fort, »du hast auch gleich einen Maler und Vergolder bei der Hand, den du mir empfehlen willst?«

»Ganz recht, Herr Marquis!« sagte Toinon ohne die mindeste Scheu, »meinen Bruder Luc. Und einen besseren Gesellen als meinen Bruder Luc findet Ihr in ganz Paris nicht. Er hat nämlich bei Meister Tournier gearbeitet, und das will was heißen!«

|43|»Er hat gearbeitet, also arbeitet er nicht mehr dort?«

»Meister Tournier hat ihn entlassen.«

»War ihm dein Bruder nicht gut genug?«

»Mitnichten. Er war ihm zu gut.«

»Das ist ein Spaß. Erzähle.«

»Dazu müßt Ihr zuerst wissen, Herr Marquis, daß mein Bruder Luc schön ist, drüber geht es nicht.«

»Wer wollte das bezweifeln bei seiner glänzenden Schwester?« sagte La Surie.

Wer weiß warum, aber mir mißfiel dieses Kompliment.

»Und Tourniers Frau, die in die Jahre kommt, hat sich in Luc vernarrt bis über beide Ohren, hat ihm die Hand gedrückt und gestreichelt und lief ihm nach durchs ganze Haus. Und er ist immer ausgewichen.«

»Dabei«, sagte La Surie, »hat ein guter Pinsel noch keiner geschadet.«

»Pfui, Miroul!« sagte mein Vater.

»Kurz«, sagte Toinon, »er wies sie ab.«

»Und das Weib hat ihn bei ihrem Mann angeschwärzt?« fragte La Surie.

»Genau! Da war auf einmal er der Verführer.«

»È classico1«, sagte La Surie, »das Weib des Potiphar …«

»Verzeihung, Herr Chevalier«, sagte Toinon, »aber er heißt Tournier.«

Mein Vater nahm sein Kinn in die Hand und strich sich den Bart. Er trug ihn als Kranz um das Kinn, wie es Mode war, mit einer kleinen Fliege an der Unterlippe und dazu einen beidseitig gezwirbelten Schnurrbart. Obwohl er für seine Kleidung wenig ausgab, hatte er als einer der ersten den großen Stickereikragen angelegt, der den Hals freiließ, anstatt der Halskrause, die er aus zwei Gründen ablehnte: sie zwängte die Kehle ein, und sie kam aus Spanien. Im übrigen verwandte er größte Sorgfalt auf seine Person und war nahezu der einzige am Hof, der duftende Bäder nahm.

»Aber, du weißt, Toinon«, sagte er schließlich, »ein Geselle, der auf eigene Rechnung arbeitet, ohne von seinesgleichen als Meister zugelassen zu sein, kann Ärger bekommen.«

»Aber nicht, wenn er als Gärtnergehilfe bei Euch eingestellt |44|würde, Herr Marquis«, sagte Toinon. »Und wie ich höre, hat der arme Faujanet derzeit große Mühe, die Eimer aus Eurem Brunnen hochzuziehen.«

»Also, das scheint mir ja das reinste Komplott!« sagte mein Vater, indem er sich umwandte und Mariette ins Auge faßte, die immer noch mit ihrer heißen Schüssel vor dem Bauch dastand. »Na, Mariette, du bleibst stumm?«

»Möschjöh le Marquis«, sagte Mariette voller Würde, »wie werd ich den Schnabel aufmachen, wo Möschjöh le Marquis mir verboten hat, ihn aufzumachen.«

»Und du, Toinon«, sagte mein Vater süßsauer, »bravo, bravissimo, daß du so tüchtig für deinen Bruder eintrittst! …«

»Oh, es geht doch nicht bloß um meinen Bruder!« sagte Toinon mit Nachdruck, »sondern auch darum, daß Ihr unserem kleinen König zu Reims Ehre macht! Ich hab ihn gesehen, wie ich Euch sehe, als er am dreizehnten August zu Vincennes den Grundstein zu seinem Wohnhaus gelegt hat, und es war allerliebst, wie der Kleine den Mörtel aus einem Silberbecken gelangt und mit seiner kleinen Kelle aufgestrichen hat, geschickt wie ein Maurergeselle! Dann ist er ohne Hilfe seines Stallknechts in den Sattel gesprungen, hat vor uns allen tief seinen Hut geschwenkt und ist losgaloppiert. Ha, Herr Marquis, das hättet Ihr hören sollen! Das Volk hat gejubelt und geklatscht, daß ein Tauber hörend werden konnte, halb lachend, halb weinend, mir sind auch die Tränen gekommen.«

»Und warum, Toinon?« fragte mein Vater, den die Erzählung gerührt zu haben schien.

»Weil alle an seinen Vater gedacht haben und daß es noch lange dauern wird, bis der Sohn groß genug ist, die italienischen Blutsauger aus Frankreich zu verjagen.«

Ich weiß nun nicht, ob Toinon zu diesen Blutsaugern auch die Königin rechnete. Gleich nach dem Tod des Königs hatte die Regentin einige Sympathie beim Volk gewonnen, weil sie die Steuern abschaffte, die Henri uns für seinen Krieg gegen die Habsburger auferlegt hatte. Aber da sie diese Steuern wenige Monate später wieder einführte, um ihrer irrwitzigen Verschwendung zugunsten der Concinis zu frönen, wurde die Regentin von den Parisern wohl kaum mehr geschont. Denn just zu dieser Zeit begann man auf Plätzen und Gassen zu flüstern, man sollte ›die Göttin ins Meer werfen mit ihrem Anker am Hals‹.

|45|Mein Vater scheute sich sehr vor der Ausgabe und erwog mit La Surie lange das Für und Wider, bevor er sich überwand, Luc als Gärtnergehilfe und Maler einzustellen. Weil diese Beratungen jedoch ergaben, daß außer unserer Kutsche auch die Türen, Fenster und Fensterläden sowohl unseres Pariser Anwesens wie auch unseres Landsitzes Le Chêne Rogneux und des Gutshauses von La Surie seit langem der Farbe bedurften, damit das Holz nicht faulte, schlug die Waage für Luc aus, und als wir, zwei Tage vor dem Hof, nach Reims aufbrachen, erstrahlte unsere Karosse in einem Glanz, daß sogar der Straßenkot ihn nicht zu trüben vermochte.

* * *

Die Etikette erforderte es, daß meine liebe Patin bei Hof »die verwitwete Herzogin von Guise« genannt wurde, um sie von ihrer Schwiegertochter zu unterscheiden, der regierenden Herzogin von Guise und Gemahlin ihres ältesten Sohnes Charles. Doch so sehr sie diese Benennung haßte, die, wie sie sagte, ›sie älter machte, als sie war‹, berief sie sich laut und vernehmlich darauf, als es darum ging, für die Reise von Paris nach Reims in der Karosse der Königin Platz zu nehmen, eine Ehre, die die anderen Prinzessinnen von Geblüt in Anspruch genommen hätten, wäre meine liebe Patin ihnen nicht mit aller Entschiedenheit und Autorität zuvorgekommen.

Dies war aber nur eine der kleinen Zwistigkeiten, zu denen Ludwigs Salbung den Anlaß gab, der größte Streit entspann sich zwischen dem Prinzen Condé und dem Kardinal de Joyeuse, welcher sich dagegen verwahrte, nach dem Prinzen Condé von dem kleinen König zum Ritter vom Heiligen Geist ernannt zu werden, weil Kardinäle protokollgemäß vor den Prinzen von Geblüt rangierten.

Dies war in der Tat die Regel. Aber die Königin verletzte sie ohne den mindesten Takt, denn sie hatte vor dem Kardinal de Joyeuse weniger Angst als vor Condé, der ihr drohte, den Hof zu verlassen und Truppen gegen sie aufzubieten. Und sie verletzte diese Regel zur großen Entrüstung des Hofes abermals, als der neue Marquis von Ancre sich anmaßte, während der Zeremonie vor Bellegarde gehen zu wollen, der immerhin Herzog war und Pair.

Wie ich hörte, setzte sich der Hof am zweiten Oktober nach |46|Reims in Fahrt, und zwar bei einer Hitze, die für die Jahreszeit ungewöhnlich war. Dementsprechend groß war das Gedränge von Kutschen und Karren in der Stadt, so daß man fünf Stunden brauchte, nur um aus Paris hinauszukommen. Wir selbst, mein Vater, La Surie und ich, waren bereits zwei Tage vorher abgereist, weil wir meinten, wenn wir gleichzeitig mit jener langen Karawane aufbrächen, würden wir an den Stationen kein Zimmer mehr finden, es sei denn schmutzig, verlaust, verwanzt und überteuert, noch auch das kleinste Stück Braten auf dem Teller und Streu und Hafer für unsere Pferde oder einen Hufschmied, sie zu beschlagen. Ganz zu schweigen von der Unbequemlichkeit, im Schrittempo in einem königlichen Zuge zu fahren, der sich über mindestens drei Meilen hinzog, wo die Tiere mit dem Maul quasi an den vorderen Wagen stießen. Ganz zu schweigen auch von der dichten Staubwolke auf den ausgedörrten Straßen, die unseren Kehlen und Lungen zugesetzt hätte.

In Reims nahmen wir weder im Gasthof noch im Kloster oder bei beliebigen Bürgersleuten Quartier – die kleinste Stube, Kammer, Zelle, ja jeder Abstellraum war seit langem vorbestellt, und was übrigblieb, hatte Preise, um einen Hugenotten das Zittern zu lehren. Nein, mein Vater fand Tisch und Bett für uns bei einem alten Freund, seinem Kommilitonen an der Medizinischen Fakultät zu Montpellier, dem ehrwürdigen Doktor der Medizin Carajac, welcher zugleich Chirurg war – ein seltener Fall, denn für gewöhnlich gilt die Chirurgie der Medizin ja als eine geringere, weil zu mechanische Kunst.

Carajac hatte seinen Sohn zum Apotheker gemacht, so daß in Reims kein Kind einer guten Mutter den Arzneien, Klistieren der beiden oder dem Skalpell des Alten entrinnen konnte. Ihr Wohlstand sprang übrigens jedermann ins Auge, denn ihr Haus war schön am Platz der Kathedrale gelegen und nicht etwa aus vergänglichem Holz erbaut, sondern aus solidem Stein mit glänzendem Ziegelwerk, und ein wunderhübscher Giebel, der in der Mitte einen offenen Vorsprung wie eine Loggia hatte, gab dem Gebäude ein elegantes, beinahe vornehmes Ansehen.

Das Äußere des Doktors war der Beweis, daß Karl Martell nach seinem Sieg bei Poitiers nicht alle Araber aus Frankreich vertrieben hatte, falls Carajac Haare, Haut und Augen nicht |47|einem türkischen Piraten verdankte, der sie einer Jungfer von Aigues-Mortes (dem Geburtsort unseres Freundes) anläßlich eines jener grausamen Überfälle, welche den unglücklichen Hafen so oft heimsuchten, zur Erinnerung hinterließ.

Mein Vater hatte Carajac in seinen jungen Jahren sehr geliebt und sich mit ihm in große Gefahr gewagt, als die beiden auf dem Friedhof von Saint-Denis zu Montpellier eine Hure ausgruben, weil sie begierig waren, den Leichnam zu sezieren, um die Geographie des menschlichen Körpers genauer zu erkunden: ein Verbrechen, auf das der Scheiterhaufen stand, wären sie erwischt worden. Mein Vater hat diese Geschichte im zweiten Band seiner Memoiren1 erzählt, und da ich sie gelesen habe, erinnere ich mich nicht ohne Schaudern, daß Carajac der Leiche das Herz herausschnitt, bevor er und mein Vater sie zunähten und wieder in die Erde legten, und daß er es in einem Schnupftuch nach Hause trug, um es in Muße zu studieren, so groß war sein Verlangen, die Kammern und Kanäle dieses Organs zu erforschen, über welches Galenus, wie er meinte, nur dummes Zeug gesagt hatte.

So beeindruckend Carajac durch sein fremdes Äußeres auch war, durch seine Schweigsamkeit war er es noch weit mehr. Man konnte glauben, daß er sich jeden Morgen beim Aufstehen gelobte, bis zum Abend nicht mehr als hundert Wörter zu sagen, und daß er den ganzen Tag achtgab, seinen kleinen Vorrat nicht unnötig anzutasten. Höflich war er auch nicht. Als mein Vater ihm warmherzig für seine Gastfreundschaft dankte, erwiderte er: »Hätt ich Euch nicht genommen, hätte der Vogt meine Zimmer für die Höflinge beschlagnahmt.« Trotzdem, behauptete mein Vater, behage ihm unsere Gesellschaft sehr. Beim Teufel, dachte ich, was hätte er wohl gesagt, wenn sie ihm nicht behagt hätte?

Carajac war wortkarg. Aber seine Frau war stumm. Oder wenigstens glaubte ich es, bis sie bei Tische mit sanfter, wohllautender Stimme zu meinem Vater sagte: »Bitte, Monsieur, nehmt Euch doch noch von dem Kapaun.«

Carajac hatte braune Haut, schwarze Augen, einen mageren und muskulösen Körper. Seine Frau war groß, blond, hatte blaue Augen, einen Rosenmund und volle Brüste. In ihrem |48|Schweigen, ihrem friedevollen Antlitz, ihren fülligen Formen lag für mich etwas wunderbar Entgegenkommendes und köstlich Passives, woraus ich schloß, der ehrwürdige Doktor Carajac müsse ein glücklicher Mann sein. Ich hielt ihn auch aus dem Grunde für einen guten Gemahl, weil er ihr, die er geheiratet hatte, als sie vierzehn war, in fünfundzwanzig Jahren nur zehn Kinder gemacht und also für weise Abstände zwischen den Schwangerschaften gesorgt hatte. Seine Kinder waren daher auch gesund und schön, und nicht eines hatte er verloren, wie er uns sagte, denn er hatte seine Frau selbst entbunden, weil er zu Hebammen kein Zutrauen hegte, die er, wie mein Vater, für schmutzig, unwissend und abergläubisch hielt.

Doch nur der Apotheker – die zweite Säule dieses Äskulaptempels – speiste mit uns am Tisch, wie es seinem Wissen und seinem Ältestenrecht entsprach. Die anderen neun Kinder nahmen ihr Mahl an einem runden Tisch ein, der unweit des unseren stand, damit der Vater von Zeit zu Zeit ein gestrenges Auge auf sie werfen und die Mutter ihnen ein zärtliches Lächeln zuwenden konnte. Machten es dieser Blick und dieses Lächeln im Verein, daß sie von Anfang bis Ende auffallend still aßen? Zu Anfang, als ich Madame Carajac für stumm hielt, hatte ich gedacht, deshalb hätten auch die Kinder ihre Muttersprache gar nicht gelernt.

Am Tisch der Großen, wie La Surie scherzeshalber sagte, glänzten die Mahlzeiten, wiewohl die Speisen gut und der Wein reichlich waren, auch nicht eben durch Lebendigkeit: mein Vater und La Surie mühten sich weidlich, heiter zu plaudern, ohne daß ihr Gastgeber auch nur das mindeste dazu beitrug. Und obwohl Carajac seine Ohren nicht dermaßen zu schonen schien wie seine Zunge, mußte der Sprecher sich doch immer fragen, ob der Hörer Interesse an seinen Reden fand, da er zur Antwort nichts wie hier und da ein Brummen hören ließ.

Auf diese tiefe Stille folgte bald gewaltiges Getöse. Am vierzehnten Oktober rollte der ganze Hof mit ratternden Rädern über das Pflaster von Reims, die Pferde wieherten, die Kutscher fluchten, die Haushofmeister schrien Anweisungen, denen keiner gehorchte.

Der gute Doktor Héroard, der im bischöflichen Palais bei der königlichen Familie und den Guises keinen Schlafplatz fand, bat Carajac um Gedeck und Lager. Zwar hatten sie nicht |49|gleichzeitig studiert, aber auch Héroard hatte die berühmte École de Médecine zu Montpellier absolviert: das genügte.

Héroards Ankunft war uns dreien eine besondere Freude, nicht weil er etwa bei Tisch den Gegenstand angesprochen hätte, der uns am Herzen lag – dazu war er viel zu vorsichtig – , aber am selben Abend, als wir mit dem Licht in der Hand zu unseren Zimmern hinaufstiegen, raunte er meinem Vater zu, er möge ihn in einer halben Stunde mit La Surie und mir in dem seinen aufsuchen.

Da er vor neun Jahren von Henri Quatre zum Leibarzt des Dauphins bestimmt worden war, ohne daß die Königin dies guthieß, und das aus dem einzigen Grund, daß er ein bekehrter Hugenotte war (ein Heringsfaß stinkt immer nach Hering), hatte Héroard nach dem Tod des Königs das Schlimmste befürchtet, aber nicht mehr so sehr auf Grund seiner einstigen Religion, sondern weil die Regentin ihn verdächtigen könnte, er hänge zu sehr an dem kleinen König und der kleine König an ihm.

Nichts verfeinert die Beobachtungsgabe mehr als Verfolgung. Da sie die Gefahr ahnten, pflegten beide, der Arzt wie sein kleiner Patient, in stillschweigender Übereinkunft eine scheinbare Kühle in ihren Beziehungen. Die Spione der Königin fielen darauf herein. Monsieur de Souvré, Ludwigs Erzieher, war schwerfällig an Körper und Geist. Dafür war Pater Cotton, der Jesuit, der Ludwig eine volle Stunde zur Beichte behielt, desto wendiger und schlauer. Gleichwohl befanden beide, Héroard, ein guter Arzt und nunmehr guter Katholik, sei unschädlich, weil meinungslos. Kurz, er beschränke sich ganz darauf, dem König den Puls zu fühlen, seinen Urin zu beschauen und seinen Kot zu untersuchen. Es gebe keinen Grund, seinen Einfluß zu fürchten. Und tatsächlich traf der Blitz nicht ihn, sondern den Hofmeister Yveteaux, der die Torheit beging, sich über Concinis Aufstieg zu verbreiten. Die Königin erfuhr es im Nu, eine Stunde später mußte Yveteaux sein Bündel schnüren.

Héroard war durchaus nicht ohne eigene Meinung, weit gefehlt, doch hüllte er sich in äußerste Wachsamkeit. Wenn er uns in jener Nacht ein paar Kleinigkeiten über Ludwig anvertraute, so nur, weil er wußte, daß wir dem kleinen König ganz ergeben waren. Und selbst vor uns sprach er bei weitem nicht freimütig. Seine Vorsicht war derart, daß er stets nur Tatsachen – die reinen |50|Tatsachen – berichtete, ohne darüber das kleinste Urteil zu fällen.

»Letzthin im August«, sagte er, »als wir von Gentilly zurückkehrten, Ludwig und ich, kam unsere Karosse auch durch den Faubourg Saint-Jacques, wo, wie Ihr wißt, eine Abteilung des Garderegiments stationiert ist. Und Ludwig sah auf den Wällen einen Trupp Soldaten, die sich um einen hohen Mast scharten, an dessen Spitze ein Gardesoldat angebunden war mit hinterm Rücken gefesselten Händen. ›Was ist das?‹ sagte Ludwig und ließ die Karosse halten. ›Sire‹, sagte Hauptmann Vitry, der sich bei uns befand, ›das ist eine Bestrafung, die man Estrapade, Wippgalgen, nennt. Der Strick, der den Sträfling hält, gleitet auf dem Mast über eine Rolle und wird am Boden von mehreren Soldaten gehalten, die ihn auf Befehl des Sergeanten plötzlich loslassen. Der gefesselte Sträfling stürzt von der Höhe des Mastes in die Tiefe und kommt erst, wenn der Strick wieder gespannt wird, zwei Fuß über dem Boden zum Halten. Der Sturz ist in allen Gliedern äußerst hart zu spüren, noch schlimmer ist die Angst, am Boden zu zerschmettern. Dieser Sturz wird so oft wiederholt, wie es die Strafe vorschreibt.‹ – ›Monsieur‹, fragte Ludwig, ›kommt es vor, daß der Sträfling dabei stirbt?‹ – ›Es ist vorgekommen, daß Ungeschick oder Bosheit der Soldaten, die den Strick führten, den Sturz nicht rechtzeitig aufgehalten hat.‹ – ›Monsieur de Vitry‹, sagte Ludwig nach einem Schweigen, ›beliebt, den Sergeanten zu rufen.‹ Und als der Sergeant atemlos gerannt kam und den König am Kutschenschlag grüßte, sagte dieser: ›Sergeant, wie viele Stürze hat der bestrafte Soldat zu erleiden?‹ – ›Sire, er hat zwei erlitten. Drei bleiben ihm noch.‹ – ›Das reicht‹, sagte Ludwig. ›Ich begnadige ihn für die übrigen.‹ Und da er weiß, daß ein Befehl nichts ist, wenn man die Ausführung nicht überwacht, verlangte er, daß die Karosse solange halte, bis man den Sträfling herabgeholt und losgebunden hatte.«

Mühelos stellte ich mir, während Héroard uns dies erzählte, Vitrys dicken roten Holzkopf in der Karosse neben Ludwigs langem, empfindsamen Gesicht vor, wie es erleuchtet war von seinen großen schwarzen, so sprechenden Augen, wenigstens, wenn er sie sprechen ließ, denn seine strenge Erziehung und das geringe Vertrauen, das er in die Liebe seiner Mutter setzen |51|konnte, hatten ihn seit langem gelehrt, sich in sich selbst zu verschließen.

»Aber woher kommt diese Strafe?« fragte La Surie. »Das Wort Estrapade scheint mir nicht französisch.«

»So ist es«, sagte Héroard. »Diese Strafe stammt aus Italien. Anfangs war sie rein militärisch, aber die Inquisition benutzte und verschärfte sie gegen die Ketzer. Man tauchte den Unglücklichen ins Feuer des Scheiterhaufens und zog ihn sogleich wieder hoch. Dies aber immer aufs neue, bis der Strick, der ihn am Mast hielt, Feuer fing und riß. Manche nannten das eine Verfeinerung.«

»Und diese Papisten wagen es, sich Christen zu nennen!« sagte mein Vater mit verhaltenem Zorn.

Héroard blieb stumm, tauschte jedoch einen Blick mit meinem Vater, aus dem der ganze heimliche Groll der bekehrten Hugenotten gegen die unerbittlichen Henker ihrer einstigen Religion sprach.

»Mein lieber Freund«, versetzte mein Vater, »wollt Ihr erlauben, Euch eine indiskrete Frage zu stellen?«

»Ich werde achthaben«, sagte Héroard, »daß meine Antwort diskret für zwei ist.«

»Ihr entsinnt Euch wahrscheinlich«, fuhr mein Vater fort, »daß Ludwig einmal, als ein spanischer Edelmann aus dem Gefolge des Herzogs von Feria ihm seine Aufwartung machte, sich eine Karte von Jülich bringen ließ und dem Herrn einen kleinen Vortrag über die Eroberung Jülichs durch die Franzosen und ihre Verbündeten hielt. War dies nach Eurer Ansicht von Ludwigs Seite her Einfalt oder politischer Schalk?«

Héroard hütete sich natürlich, eine Antwort zu geben, die ihn, wäre sie weitergesagt worden, bloßgestellt hätte. Er begnügte sich damit, einen Vorfall zu berichten, den nur er kannte und der den ersteren beleuchtete, ohne daß er noch einer Anmerkung oder Erklärung bedurfte.

»Ende September«, sagte Héroard, »jedenfalls kurz nach seinem neunten Geburtstag fand Ludwig auf seinem Studiertisch ein Buch von Horaz, das in Antwerpen gedruckt war. Sogleich schlug er es auf und las, welchem Privileg der Buchhändler die Druckgenehmigung für das besagte Buch verdankte. Es lautete: Mit der Erlaubnis des Papstes, des Königs von Spanien und des Königs von Frankreich. Louis nahm seine Feder, tauchte sie ins |52|Tintenfaß und strich des Königs von Spanien‹ aus. Er strich es nicht nur halb aus, sondern bedeckte es so mit Tinte, daß es völlig unleserlich wurde. Hierauf legte er die Feder aus der Hand und machte sich wortlos an seine Aufgaben.«

»Ich wette«, sagte La Surie, »daß die Wände und Türen um Ludwig Augen und Ohren haben. Angenommen, dieses Buch fällt in die Hände der Regentin …«

»Das ist kaum zu befürchten«, sagte Héroard, »die Regentin liest nicht.«

»Schön, aber angenommen: jemand stößt darauf und zeigt es der Königin.«

»Dort, wo es zur Stunde ist, wird kein Jemand es finden«, sagte Héroard mit leisem Lächeln. Und hiernach verschloß er sich wieder wie eine Auster.

»Mir scheint«, sagte mein Vater, als wir unser gemeinsames Zimmer aufgesucht hatten, »daß die Anekdote unseres Freundes nicht nur von Ludwigs antispanischem Denken und von seiner Treue zu seinem Vater zeugt, sondern auch, daß er durchaus nicht dem Bild des infantilen Kindes entspricht, das der Hof von ihm zu geben bemüht ist: er wartet, bis er mit Héroard allein ist, um ihm, ohne ein Wort, zu enthüllen, wie er denkt.«

In dem Augenblick wurde mein Vater durch eine Folge weiblicher Schreie unterbrochen, die aus dem Schlafgemach unseres Gastgebers zu dringen schienen. Sie steigerten sich bis zu einem starken, zerreißenden Höhepunkt, lösten sich, leiser und sparsamer werdend, in Seufzern auf, die weniger Schmerz als Behagen verrieten. Und Haus und Nacht waren wieder still.

»Hört diese Stille, mein Sohn«, sagte mein Vater, indem er lächelnd die Hand hob. »Welchen Wert hat sie nach dem, was wir soeben hörten. Wie zärtlich und entspannt sie ist! Wir hatten der Dame Unrecht getan, sie ist nicht stumm. Sie schont ihre Stimme für einen Ausdruck, höher als Worte. Und wenn man die Menschen liebt, mein Sohn, wie ermutigend ist es dann, sich zu sagen, daß die Zeugung ihrer zehn schönen Kinder durchaus keine Pein für sie war.«

* * *

Am nächsten Tag klopfte um Schlag neun Uhr ein langer Lakai in prächtiger Livree mit dem Lothringer Kreuz an die Tür des ehrwürdigen Doktors Carajac, um mir ein mit dem Wappen der |53|Guise gezeichnetes Billett auszuhändigen, nachdem ich ihn versichert hatte, daß ich in der Tat der Chevalier de Siorac sei. Obwohl er nur den Platz der Kathedrale überquert hatte, um mir das Briefchen zu überbringen, gab ich ihm für seine Mühe einen Viertel Ecu, ein Trinkgeld, für dessen Höhe mein Vater mich schalt. Doch wollte ich keinesfalls, daß unter dem Gesinde des Hauses Guise herumgetratscht würde, ich sei ein Knicker, da meine liebe Patin ohnehin sehr zu der Ansicht neigte, die Sioracs hielten zu wenig auf ihren Rang. Und wäre sie bei der Szene zugegen gewesen, in der Toinon mit Mariettes Beistand meinen Vater dazu gebracht hatte, seine Kutsche neu vergolden zu lassen, hätte sie dies zweifellos wiederholt.

Das Briefchen, am Vortag datiert, war von Madame de Guise, die Orthographie auch:

 

»Mein Sönhen,

Die reise hat mich zershlan. hab zenmal mein ende komen sehn. Besucht mi morgen zen ur, ich hab mei kinskof von Son da.«

 

»Herr im Himmel!« sagte ich zu meinem Vater, dem ich das Billett entgegenstreckte, kaum daß ich unser Zimmer betrat. »Neun Uhr! Und ich bin noch nicht einmal angekleidet.«

»Bleib ruhig«, sagte er lächelnd. »Madame de Guise ist auch um zehn noch nicht wach, so ›zerschlagen‹, wie sie von der Reise ist. Was diesen ›Kindskopf von Sohn‹ betrifft, hat sie den Erzbischof und Diakon von Reims allerdings treffend beschrieben.«

»Was bedeutet der Diakon in seinem Fall?« fragte ich, während ich in meine Kniehosen schlüpfte.

»Es ist die oberste Sprosse in der Hierarchie der Priesterschaft. Unser Kindskopf darf predigen – eine schöne Predigt wird der Schafskopf uns halten! –, er darf die Taufe vollziehen und notfalls die Kommunion, aber er darf keine Messen lesen. Man wird festgestellt haben, daß er zuwenig weiß.«

»Trotzdem«, sagte ich, »war er vor zwei Jahren, auf dem Ball der Herzogin von Guise, bereits Erzbischof, trug die violette Robe und kassierte die Einkünfte seines Erzbistums.«

»Aber in den zwei Jahren wird er seine Liturgie nicht besser studiert haben. Und seit der König tot ist, jagt er ohnehin andere Katzen.«

|54|»Andere Katzen?«

»Wenn Ihr im erzbischöflichen Palast seid, haltet die Augen und Ohren offen. Vielleicht begegnen Euch grüne Augen und ein kleines Mauzen.«

Mochte der junge Erzbischof (denn jung war er und sehr schön, blond und blauäugig wie seine Mutter) auch keine Leuchte in Liturgie sein, herzlos war er nicht, denn kaum daß er mich sah, fiel er mir um den Hals und drückte mir wer weiß wie viele Küsse auf die Wangen.

»Mein kleiner Cousin!« rief er mit seiner dummen, lieben Stimme. »Wie bin ich glücklich, Euch hier zu haben. Was habt Ihr all die Jahrhunderte getrieben, seit ich Euch aus dem Auge verlor? Wart Ihr in Klausur? Ich habe Euch seit der Hochzeit des Herzogs von Vendôme nicht mehr gesehen.«

Damit war der Begrüßungen aber noch kein Ende, denn kaum gaben seine Arme mich frei, fand ich mich auch schon in denen seines Bruders, des Prinzen Joinville. Wohingegen der Herzog von Guise – der kleine Herzog ohne Nase, wie er bei Hofe hieß –, meine tiefe Verneigung abwartete, bis er mir die Hand reichte. Da er seinen Rang so gern betonte, sogar Joinville und dem Erzbischof, seinen jüngeren Brüdern, gegenüber, wie hätte er ihn nicht erst recht vor seinem illegitimen Halbbruder herausstreichen sollen? Dennoch haßte er mich nicht, wenn er mich auch nicht ›kleiner Cousin‹ nannte wie seine Brüder, immerhin aber ›einen sehr amüsanten Tischgesellen‹, seit ich einmal seinem endlosen Geplapper bei einem Souper aufmerksam gelauscht hatte, während seine Mutter vor Gähnen verging.

Dem jungen Herzog mangelte es nicht an Geist, er hatte, kurz gesagt, sogar alle Eigenschaften, um am Hofe zu glänzen, nur jene nicht, die zu großen Dingen erforderlich sind. Meine schöne Leserin wird sich vielleicht erinnern, daß er in seinem Hause mit einer Löwin zu frühstücken pflegte. Die Narretei trug ihm einen gewissen Ruf ein in Paris, wo man ja auf alles Verrückte lüstern ist, bis die Löwin eines Tages mit einem Prankenhieb einem Lakaien das Gesicht zerfleischte. Der Herzog zog nicht etwa den Degen. Tapfer rief er seine Soldaten. Da die Löwin in ihrer Bedrängnis aber nach allen Seiten sprang, kostete es wer weiß wie viele Büchsenschüsse – das heißt, auch Löcher in den flandrischen Tapisserien und Blutflecken auf den Orienttepichen –, bis das Tier erlegt war.

|55|Das ungeduldige Schweigen, das der Herzog nach meinem liebenswürdigen Empfang bezeigte, lehrte mich, daß er bei meinem Eintritt das Wort geführt hatte und eiligst fortzufahren wünschte. Also trat ich ein wenig beiseite, neigte unterwürfig den Kopf und spielte, mit Blick auf den Herzog, die Rolle des begierigen Zuhörers, die einzige, die er an mir schätzte.

»Wißt Ihr«, sagte er blitzenden Auges, »daß dieser niedere Lump von Concini es sich am Tag vor unserer Reise nach Reims, als wir nebeneinander im Gemach der Königin standen, doch einfallen ließ, mich heftig zu umschmeicheln? ›Monseignor, sagte er mit vertraulicher Miene, ›liebt mich, und ich werde Euch eine favore1 erweisen.‹ – ›Marquis‹, erwiderte ich, ›ich wäre entzückt, würdet Ihr mir eine favore erweisen. Nur glaube ich es erst, wenn Ihr es mir schwarz auf weiß gebt.‹ – ›Nichts leichter als das‹, sagt er lächelnd. ›Mein Marquisat von Ancre hat rechtzeitig Verstärkung erhalten, denn in Italien bin ich ein Nachkomme der Grafen de la Penna.‹ – ›Und?‹ frage ich. – ›La penna‹, sagt er, ›heißt auf französisch die Feder.‹ Und er lacht. ›Marquis‹, sage ich, ›als Graf von der Feder und Marquis von der Tinte2 fehlt Euch nur noch der Herzog von Papier.‹«

Das Wortspiel war hübsch, und ebensowenig wie Joinville und der Erzbischof mußte ich mich zwingen, zu lachen. Nur leider verdarb der Herzog seinen Erfolg ein wenig, als er hinzufügte: »Wundervoll, nicht wahr? Und dieser Witz kam mir ganz von selbst, aus dem Stegreif, ohne groß nachzudenken …«

»Aber«, sagte ich, »stammt denn Concini wirklich von den Grafen de la Penna ab?«

»Wie ich hörte«, sagte Joinville, »ist er der Sohn eines Sekretärs vom Großherzog der Toskana.«

»Nein, nein«, sagte der Erzbischof, »er ist der Sohn eines Tischlers.«

»Du verwechselst auch alles, Erzbischof«, sagte der Herzog. »Kein Wunder, daß du erst Diakon bist. Seine Frau, Leonora Galigai, ist die Tochter eines Tischlers.«

Joinville prustete, und der Erzbischof rief: »Herr Bruder, Ihr seid wenig barmherzig!«

|56|»Wer ist wenig barmherzig?« fragte der Graf Bassompierre, der den Raum betrat. »Und wer von Euch, meine Herren, wettet mit mir, daß ich errate, wem dieser Vorwurf gilt? Einsatz: fünfzig Ecus.«

»Zum Wetten ist es zu früh am Morgen«, sagte der Herzog schmollend, weil Bassompierre pro Jahr um die fünfzigtausend Ecus zu gewinnen pflegte.

»Schade«, sagte Bassompierre, »ich hätte gewettet, daß Ihr gemeint wart.«

Auf diese Worte folgten die gleichen stürmischen Umarmungen, mit denen ich empfangen worden war. Als großer Spieler, großer Wettliebhaber, großer Eroberer von Reifröcken, aber auch als geschickter Diplomat, tüchtiger Soldat, hochgelehrt, ohne es zu zeigen, galt der Graf, auch wenn er Deutscher war, als Musterbild eines französischen Höflings. Im übrigen war er ein Ehrenmann, auch mit den Karten in der Hand, tapfer, höflich, treu gegen seine Freunde, unter anderen gegen Frau von Lichtenberg, und dies war kein geringes Verdienst, hatte sie doch als einzige auf dieser Welt, wie er sagte, seinem Werben widerstanden.

»Außerdem«, sagte der Herzog, »habe ich meiner Mutter und meiner Frau versprochen, nicht mehr zu spielen.«

»Hoho!« rief Bassompierre, »so jung entsagt Ihr Euren Lastern? Und das, nachdem die Regentin sich für zweihunderttausend Livres Eure Neutralität erkauft hat in ihrem Streit mit den Großen? Wißt Ihr, daß Ihr einer derjenigen seid, die durch den Tod des Königs am meisten gewonnen haben?«

»Irrtum!« sagte der Herzog. »Joinville hat mehr gewonnen, und der Erzbischof ebenso. Joinville langweilte sich zu Tode in der Verbannung, zu der Henri ihn verdammt hatte, weil er in seinem Revier wilderte und sich zu nah an den Busen der Comtesse de Moret heranwagte. Und jetzt ist er unter uns, frei wie der Wind. Und der Erzbischof …«

»Der Erzbischof kennt seinen Gewinn«, sagte Louis errötend.

»Wir kennen ihn alle«, versetzte der Herzog in jenem nörgelnden Ton, der seinen wahren Charakter enthüllte, »Charlotte des Essarts. Aus Angst, Joinvilles Los zu teilen, hätte er sie bei Lebzeiten des Königs nicht angerührt. Und offen gestanden wette ich, daß er sie jetzt irdendwo in diesem erzbischöflichen |57|Palast versteckt hält. Vielleicht in einem Beichtstuhl …«

»Ihr wettet, Charles?« sagte Bassompierre, der sah, in welche Verlegenheit der Erzbischof geraten war, und die Bosheit des älteren Bruders von ihm ablenken wollte. »Ihr sagtet doch, Ihr wolltet nicht mehr wetten!«

Aber wenn der Herzog einmal im Zuge war, führte er seine Brüder gern mit der Peitsche vor.

»Wenn dieser Narr so weitermacht«, sagte er, »wird er niemals Priester. Und wenn er kein Priester wird, wie soll der Papst ihn dann zum Kardinal ernennen? Er wird sein Lebtag Diakon bleiben und mit seiner Charlotte die Einkünfte des Erzbistums aufzehren müssen.«

»Herr Bruder«, sagte Joinville, »seid Ihr gegen Louis nicht ein wenig hart?«

»Ihr habt recht«, sagte der kleine Herzog, »ich hätte meine Härte für Euch aufheben sollen. Denn der größere Narr von Euch beiden seid Ihr. Erinnert Euch gefälligst, daß ich Euch den Titel Prinz Joinville aus purer Herzensgüte überlassen habe.«

»Und auf Bitten unserer Mutter«, sagte Joinville, der bei aller Schlichtheit nicht auf den Mund gefallen war.

»Mit diesem Titel, Prinz von Joinville«, fuhr der Herzog fort, »könnt Ihr in der Welt Figur machen. Nur vergeßt bitte nicht, daß er reine Fassade ist und daß Schloß und Ländereien mir gehören.«

»Ja, Eure Herzensgüte hat Euch nichts gekostet«, sagte Joinville.

»Und wie«, sagte der Herzog, als hätte er nichts gehört, »habt Ihr es mir gedankt? Indem Ihr Euch der Moret an die Schleppe gehängt und ihr obendrein ein Eheversprechen gegeben habt.«

»Es ging nicht anders«, sagte Joinville naiv. »Sonst hätte sie doch nicht nachgegeben.«

»Da sieht man Eure Kurzsichtigkeit! Und was ist jetzt? Sie macht Euch den Prozeß, weil Ihr Euer Versprechen gebrochen habt. Das Resultat steht fest: entweder Ihr heiratet sie, oder sie ruiniert Euch. Sicher langweilt Ihr Euch heute nicht mehr in der Verbannung. Sicher seid Ihr heute frei, aber mit was für einer großen Schelle am Schwanz!«

|58|Dieses ›am Schwanz‹ sprach der Herzog scherzend, doch ohne bei Bassompierre noch bei mir ein Lächeln zu erwecken, was ihn kindisch zu verdrießen schien. Sein Gesicht lief rot an, und ich fürchtete schon, als Halbbruder nun meinerseits seine Zielscheibe zu werden. Zum Glück rettete Bassompierre alles.

»Ihr habt tausendmal recht, Charles!« sagte er munter. »Joinville ist ein Narr, und ich ebenso. Auch ich hatte ja ein Eheversprechen ausgestellt, und ausgerechnet der Schwester der Marquise de Verneuil! Auch mir wurde der Prozeß gemacht, und diesen Prozeß – faßt Mut, Joinville! – diesen Prozeß habe ich gewonnen. Und wie? Ich habe mich einfach der Königin zu Füßen geworfen. Sie hat den Richtern ein Sendschreiben geschickt, das meine Schuldlosigkeit bestätigte, und sie haben es geglaubt. Warum sollte die Regentin dasselbe nicht auch für Euch tun, Joinville, sofern Euer ältester Bruder, bei seinem Gewicht in den Belangen des Reiches, nicht für Euch eintreten wollte?«

Dieses ›Gewicht in den Belangen des Reiches‹ richtete das Rad unseres Pfaus wieder auf. Er gewann seine gewohnte Farbe zurück, und da er sogar in seiner Bosheit nicht hartnäckig war, setzte er seinen Sarkasmen ein Ende.

So herrschte denn wenn auch nicht völlige Eintracht, so doch wieder Frieden im Haus Guise. Und es wurde auch gleich ein heiterer Frieden, als ein Lakai die Saaltür aufsperrte: die Prinzessin Conti trat ein.

Genauer gesagt, sie trat nicht ein, sie hatte ihren Auftritt. Und dieser Auftritt wurde von den Anwesenden um so mehr bemerkt, als sie, da die Tür für ihren Reifrock nicht breit genug war, diesen mit beiden Händen bis zum Busen raffte. Hierbei, war es Versehen, war es übermütige Laune, ergriff sie mit dem Reifrock auch den darunterliegenden Cotillon. Dies hatte zur Wirkung, daß die Unterkleider ihrer Unterkleider entblößt wurden, ein Anblick, bei dem ihre drei Brüder, Bassompierre und ich wie erstarrt standen.

Die Tür war durchquert, der Reifrock fiel wie ein Theatervorhang, und die Prinzessin neigte den Kopf auf ihrem Schwanenhals und senkte verwirrt die Augen, in denen tausend Dämonen tanzten. Sie war zwiefache Bourbonin – durch ihre Mutter, die Herzogin von Guise, und durch ihren Gemahl, Prinz Conti. Und sie meinte, nicht ohne Grund, es gäbe bei |59|Hofe nichts Adligeres, Hochstehenderes und Schöneres als sie. Ein Anspruch, den sie mit allem notwendigen Geist gegen jedermann behauptete und im besonderen gegen ihren ältesten Bruder, den Herzog von Guise, der es niemals gewagt hätte, sie herunterzuputzen wie seine Brüder, denn die Entgegnungen der Dame kamen schnell und vernichtend wie ein Blitz.

Trotz alledem hatte der funkelnde Küraß der Prinzessin Conti eine Schwachstelle: sie liebte Bassompierre. Und das Grausame daran war – der ganze Hof wußte es –, daß sie, um Bassompierre heiraten zu können, auf den Tod des Prinzen Conti wartete, der, wenn auch alt, blöde, taub und schwer leidend, dennoch begriff, mit welcher Ungeduld sein Hinscheiden erwartet wurde.

Später erriet ich, daß sie, da sie mit Madame de Guise im erzbischöflichen Palast logierte, nur gekommen war, um Bassompierre zu sehen (dem sie gleichwohl keinen einzigen Blick schenkte, während er sie mit seinen Augen verschlang), denn kaum eingetreten, rechtfertigte sie ihren Besuch mit dem Vorwand, sie habe mir etwas von ihrer Mutter auszurichten.

»Ah, mein kleiner Cousin!« rief sie und tat, als interessiere sie sich einzig für mich. »Seht in mir den Herold, durch den meine Frau Mutter Euch ihren Willen verkündet. Sie hat mich beauftragt, Euch von ihr so viele poutounes zu geben, wie ich kann: was mich allerdings in Verwirrung setzt, denn ich weiß gar nicht, was ein poutoune ist.«

»Das ist Okzitanisch, Madame, und heißt Kuß«, sagte ich.

»Aha! Was für ein hübsches Wort«, sagte sie, indem sie die Vokale dehnte. »Wer von Euch, meine Herren«, sagte sie und ließ ihren Blick über die Anwesenden, außer Bassompierre, schweifen, »wer von Euch möchte mir einen poutoune geben?«

»Ja, ich!« rief der Erzbischof beschwingt.

»Verflixter Diakon«, sagte der Herzog, »hat nichts wie Schmusen im Sinn, und sei es inzestuös.«

»Laßt nur, Louis«, sagte die Prinzessin zum Erzbischof, »meine Frage war rein rhetorisch. Außerdem habe ich meine Pflicht als Herold zu erfüllen. Nun, kleiner Cousin, kommt näher, daß ich Euch küsse.«

Ich gehorchte, wiewohl ich mir sagte, daß ich hiermit dem kokettesten Wesen der Schöpfung zu Diensten war. Die Prinzessin hob mit Anmut die Arme, legte mir ihre feinen Hände |60|auf die Schultern, und indem sie mich zu sich heranzog, hauchte sie nacheinander auf meine Wangen, und das unter neckischen Mienen, die nicht mir galten.

»So, kleiner Cousin! Ihr habt gelacht, nun werdet Ihr weinen. Denn Eure liebe Patin kann Euch heute morgen und auch den ganzen Tag nicht empfangen, denn als sie beim Aufwachen in den Spiegel sah, fand sie sich so ›zerzaust, bleich, mit gelben Augen, runzligem Kinn, kurz, nichts als Falten, zum Fürchten häßlich, vollkommen unansehnlich … Und infolge (ich zitiere noch immer) ›dieses Verfalls‹ will sie weder angekleidet werden noch jemand sehen, Euch nicht, ihre Söhne nicht, ja nicht einmal die Regentin. Sie hat ihre Kammer verriegelt, ein Körnchen Opium genommen und hofft, den ganzen Tag zu schlafen.«

Ich hatte mich so sehr gefreut, Madame de Guise wiederzusehen, daß mir vor Enttäuschung fast die Tränen kamen, die ich aber desto heftiger unterdrückte, je mehr die Guises über die Bravour der Prinzessin Conti lachten, mit der sie Tonfall und Stimme und die übertriebenen Gebärden ihrer Mutter nachahmte, wenn ihr Spiegel sie ärgerte. Ach, wie gut kannte auch ich diese Grillen meiner lieben Patin, die von früh bis spät eine unerhörte Energie entfaltete, um ihr Alter zu verleugnen, und wenn sie seiner plötzlich durch eine Erschöpfung inne wurde, sank sie in sich zusammen, doch nur, um tags darauf wieder zu springen wie ein Ball im Jeu de Paume.

Nachdem ich noch ein Weilchen geblieben war, damit es nicht aussähe, als liefe ich davon, verabschiedete ich mich von den Herrschaften. Zu meiner großen Überraschung und vielleicht auch zu der der Guises erbot sich Bassompierre, mich bis zur Treppe zu begleiten: eine sehr hohe Aufmerksamkeit angesichts meines Alters und Ranges.

Als die Saaltür sich hinter uns schloß, sagte er leise, indem er meinen Arm nahm: »Nur auf ein Wort, schöner Neffe, denn wie Ihr verstehen werdet, will ich schnell zurück in den Saal. Ich stehe in ständiger Verbindung mit Frau von Lichtenberg wie auch mit der Königin. Eure Angelegenheit scheint in Gang zu kommen. Sucht mich nach der Salbung auf, dann kann ich Euch mehr sagen.«

Ich fühlte, wie ich blaß wurde. Ich fiel ihm um den Hals und umarmte ihn wortlos, mein Herz schlug wie toll. Bassompierre war von soviel Erregung auch ergriffen.

|61|»Ist es nicht reine Narretei«, sagte er mit einem melancholischen Blick und sichtlicher Besinnung auf sich selbst, »eine Frau in dem Maße zu lieben, die einem, wenigstens im Augenblick, unerreichbar ist? Wieviel erhoffte Freuden! Wieviel gegenwärtiger Kummer! Und wie teuer wird Glück bezahlt! Gut, mein Freund, Ihr wißt also, wir sprechen uns nach der Salbung.«

* * *

Der Chevalier de La Surie schlief wenig in der Nacht vor der Salbung. Er war trunken vor Freude, mit uns zu dieser denkwürdigen Feierlichkeit eingeladen zu sein: eine Einladung, die ihn ermessen ließ, welchen Weg er zurückgelegt hatte seit der Zeit, als er, ein kleiner verwaister Bauernjunge, der nach der Ermordung seiner Eltern am Verhungern und auf kleine Diebereien angewiesen war, nur durch die inständigen, nicht nachlassenden Bitten meines Vaters vor dem Strang gerettet worden war. Gemeinsam mit ihm erzogen, hatte er sich in seinem Schatten selbst herangebildet, da die Lebendigkeit seines Verstandes mit einer ans Wunderbare grenzenden Beweglichkeit seiner Gliedmaßen einherging, und hatte sich von dieser Selbstunterrichtung her eine Neigung bewahrt, mit französischen Wörtern zu spielen (so glücklich hatte es ihn wahrscheinlich gemacht, sie zu erlernen, denn ursprünglich sprach er nur das heimische Périgordinisch), und ebenso einen unbezwinglichen Hang, Fragen zu stellen. Seine giochi di parole1 erbauten meinen Vater bald, bald verdrossen sie ihn. Aber seine Fragen beantwortete er stets mit Engelsgeduld.

»Monsieur«, sagte er zu meinem Vater, als er an diesem Morgen in unser Zimmer trat, »erlaubt mir eine Frage. Wozu die Salbung, da Ludwig schon König ist?«

»Die Salbung ist ein Sakrament«, sagte mein Vater.

»Hab ich mir’s doch gedacht! Aber ich kenne nur zwei Sakramente, die auf Christus zurückgehen: Taufe und Abendmahl.«

»Das behaupten die bösen Hugenotten«, sagte mein Vater lächelnd. »Wir Katholiken haben aber noch ein paar Sakramente hinzuerfunden, und nun gibt es ihrer sieben.«

|62|»Sieben?«

»Taufe, Firmung, Eucharistie, Buße, letzte Ölung, Priesterweihe und Eheschließung. Darf ich darauf hinweisen, Herr Chevalier, daß Ihr diese Liste eigentlich auswendig können müßtet? Schließlich habt Ihr sie wie ich gelernt, als wir zum Katholizismus übertraten.«

»Stimmt«, sagte La Surie mit einem gezwungenen Lächeln. »Das hatte ich vergessen. Ich werde mich dessen in der Beichte verklagen, nächstes Jahr zu Ostern. Erlaubt, Monsieur, Euch in Euer Wams zu helfen. Seid Ihr nicht ein bißchen dicker geworden?«

»Überhaupt nicht! Es ist reine Bosheit von dir, Miroul, mir das zu unterstellen.«

»Aber«, fragte La Surie weiter, »zu welchem der sieben Sakramente gehört die Salbung?«

»Zu keinem. Sie ist nur für Könige. Durch sie beglaubigt die Kirche ihr göttliches Recht. Und bei dieser feierlichen Gelegenheit leisten die Pairs, geistliche wie weltliche, dem König den Huldigungs- und Treueeid.«

»Wäre ich Bassompierre, würde ich wetten, daß nicht wenige der weltlichen Pairs diesen Eid in ihrem Herzen bereits gebrochen haben.«

»Bei der Wette würde ich nicht dagegenhalten«, sagte mein Vater. »Worauf es also ankommt, ist das Religiöse, weil damit vorm Volk die Herrschergewalt begründet wird.«

»Und wie lange dauert die Salbung?«

»Wenn ich nach der von Henri Quatre urteile, volle fünf Stunden.«

»Volle fünf Stunden!« sagte La Surie, dem die Zeit in Kirchen immer zu lang wurde. »Ist das nicht ein bißchen viel für ein neunjähriges Bürschchen? Hätte die Regentin damit nicht warten können, bis er größer ist?«

»Die Regentin hat durch ihre Gunstbeweise für die Concinis und ihre nicht enden wollende Verschwendung den Thron ins Wanken gebracht und will sich hinter der Popularität ihres Sohnes verschanzen. Trotzdem hört sie nicht auf, zu sagen und sagen zu lassen, er sei zur Regierung unfähig.«

»Wie kann man dermaßen in den Thron vernarrt sein?« fragte La Surie.

Da mein Vater hierauf schwieg, ergriff ich das Wort.

|63|»Für meine Begriffe ist sie zwar nicht in die Pflichten vernarrt, die der Thron mit sich bringt, wohl aber in die große Macht, die er verleiht: mit vollen Händen aus dem Staatsschatz zu schöpfen und das strikt gegen die von Henri aufgestellten Gebote; bei den Richtern zu intervenieren, um einen Schuldigen reinzuwaschen; und überhaupt Bräuche, Regeln und die Gesetze des Reiches zu verletzen.«

»Spielt Ihr auf einen bestimmten Schuldigen an?« fragte mein Vater mit gehobener Braue.

»Auf Bassompierre und sein Mademoiselle d’Entraigues gegebenes Eheversprechen.«

Mein Vater nickte: »Ja, davon hörte ich. Sosehr ich Bassompierre liebe, sosehr widerstrebt mir sein Betragen gegenüber Damen, noch mehr allerdings dieser Rechtsbruch, zu dem die Regentin die Richter gezwungen hat.«

 

Von Héroard hörten wir später, wie Ludwig an diesem Morgen aufgestanden war. Das Unbefriedigende bei Héroard war freilich, daß er aus steter Furcht, zuviel zu sagen, nie genug sagte. Ludwig, berichtete er also, erwachte an diesem siebzehnten Oktober um fünf Uhr in der Frühe, war beim Lever vergnügt und machte einen guten Eindruck. Für uns, die ihn lieben, war dies erfreulich zu hören, und es zeigt, daß das Königskind weniger an die ermüdende Zeremonie dachte als an die große Würde, welche die Salbung ihm verleihen sollte.

Gerne hätten wir gewußt, da Héroard darüber nichts sagte, ob er bei seinem Lever auch gefrühstückt habe. Ein wichtiger Punkt immerhin, denn hätte er nichts gegessen (was in Hinsicht der bevorstehenden Kommunion wahrscheinlich ist), bedeutete dies: Er ließ nüchtern fünf volle Stunden lang diese endlose Zeremonie über sich ergehen, ohne einmal zu wanken oder zu erbleichen. Denn das sahen wir mit eigenen Augen! Wodurch die bösen Gerüchte, welche die Königin über seine ›schwächliche Konstitution‹ ausstreuen ließ, gänzlich widerlegt waren.

Kaum war Ludwig aufgestanden und hatte seine natürlichen Pflichten gegen die Natur erfüllt (unter sorglicher Beobachtung Héroards), als sein Erzieher, Monsieur de Souvré, vortrat und sagte: »Sire, ist Euch gegenwärtig, daß heute Eure Salbung stattfindet?« – »Es ist mir gegenwärtig«, sagte Ludwig vergnügt. Und man begann ihn anzukleiden. Es waren aber nicht seine gewöhnlichen |64|Kleider, sondern ein durch eine jahrhundertealte Zeremonie befohlenes Gewand: ein feines Hemd, ein Kamisol aus purpurrotem Satin und darüber eine lange silbrige Robe.

Währenddessen wurde in dem angrenzenden Kabinett das Paradebett hergerichtet. Als es bereitstand, legte sich Ludwig mit seinen vor Neugier brennenden, großen schwarzen Augen darauf, ohne ein Wort zu sagen.

Nun erschien der Herzog von Aiguillon, der Großkämmerer von Frankreich. Und groß war er in der Tat, nicht allein kraft seines Titels, sondern auch an Wuchs und Umfang. Nachdem er sich vor dem König so tief verneigt hatte, wie es ihm geziemte, legte er letzte Hand an dessen Gewand und an das Paradebett. Hierauf richtete er sich zu seiner vollen Größe empor, kreuzte die Hände über seinem Schmerbauch und wartete mit zugleich wichtiger und demütiger Miene.

Das Warten dauerte so lange, daß Ludwig, der sich erinnerte, daß er der König war und das Recht hatte, Fragen zu stellen, sich erkundigte: »Was kommt jetzt, Herr Großkämmerer?«

»Sire, wir warten, bis die Pairs des Reiches Euch holen und Euch in die Kathedrale führen.«

»Und was mache ich solange?« fragte Ludwig.

»Ihr schlaft, Sire.«

»Herr Großkämmerer«, sagte Ludwig, »wie soll ich schlafen, wenn ich nicht müde bin?«

»Sire, Ihr sollt nur so tun.«

Diese Antwort belustigte Ludwig. Nie hätte er gedacht, daß seine Salbung mit einem Spiel beginnen würde. Und vergnügt schickte er sich darein und schloß sogleich die Augen.

»Sire«, sagte der Großkämmerer ein wenig betreten, denn die Freude des Jungen an dem Spiel war ihm nicht entgangen, »es ist nicht nötig, daß Ihr jetzt schon schlaft, sondern erst, wenn die Bischöfe in dieses Kabinett treten, weil sie Euch wecken, Euch aufheben und auf die Füße stellen müssen.«

»Aber, Herr Großkämmerer«, meinte Ludwig, »ich kann doch allein aufstehen.«

»Nein, Sire, bei diesem großen Anlaß will es der Brauch anders. Trotzdem dürft Ihr Euch, wenn die Bischöfe Euch aufheben, nicht zu schwer machen, weil die Bischöfe nicht mehr soviel Kraft haben, sie sind alt und leidend.«

»Ich vergesse es nicht«, sagte Ludwig.

|65|Nach einer Weile zog der Herzog von Aiguillon mit pompöser Gebärde aus dem Ärmelaufschlag seines prächtigen Wamses eine Uhr, warf einen langen, würdevollen Blick darauf und sagte, als spräche er zu sich selbst: »Es ist Zeit.«

Und in gewichtigem Schritt ging er zur Tür des Kabinetts und verschloß sie.

»Herr Großkämmerer«, sagte Ludwig, »warum verriegelt Ihr die Tür?«

»Damit die Bischöfe von mir Einlaß fordern können.«

»Und den gewährt Ihr ihnen?«

»Ja, aber nicht gleich«, sagte der Herzog mit stolzgeschwellter Brust. »Erst wenn sie ihn zum drittenmal fordern.«

»Und warum beim drittenmal?«

»So ist es seit undenklichen Zeiten der Brauch.«

Der Großkämmerer gab diesen ›undenklichen Zeiten‹ einen Klang, als rolle er einen riesigen Felsblock vor eine Höhle, um sie ein für allemal zu verschließen. Weil aber Ludwigs blitzende Augen ihn doch noch beunruhigten, schwankte er, ob er ihn nicht noch einmal ermahnen sollte. Schließlich siegte sein Pflichtgefühl, er machte Ludwig eine tiefe Reverenz und sagte: »Sire, geruht Euch zu erinnern, daß Ihr, wenn die Bischöfe hereintreten, schlafen sollt und keine Fragen stellen, weder mir noch ihnen, noch sonst jemandem.«

»Ich weiß«, sagte Ludwig.

In dem Moment hörte man in dem benachbarten Raum Schritte und Stimmen. Hierauf wurde zart an die Tür geklopft, und Ludwig schloß sofort die Augen.

»Was wollt Ihr?« fragte mit herausfordernder, kriegerischer Stimme der Großkämmerer, als stünde er bereit, den König vor einem letzten Angriff mit dem eigenen Leibe zu schützen.

Ein feine, meckernde Stimme, die des Bischofs von Laon, antwortete ihm durch die Tür: »Ludwig den Dreizehnten, Sohn des großen Henri.«

Als Ludwig seinen Vater mit so erhabenen Worten nennen hörte, schlug er die Augen auf. Rasch beugte der Großkämmerer seinen mächtigen Leib über das große Paradebett und flüsterte eindringlich: »Um Himmels willen, Sire, macht die Augen zu!«

Dann, wieder aufgerichtet und zur Tür gewandt, rief der Großkämmerer mit einer Stimme, deren Umfang und Stärke |66|der des Bischofs von Laon völlig unangemessen war: »Der König schläft.«

Dann wartete er. Und er wartete nicht lange, denn es wurde aufs neue, ebenso schwach wie das erstemal, an die Tür geklopft.

»Was wollt Ihr?« rief der Großkämmerer im selben Ton.

»Ludwig den Dreizehnten, Sohn des großen Henri«, sagte der Bischof mit derselben zittrigen Stimme, die ihn so gar nicht furchtbar machte.

»Der König schläft!« rief der Großkämmerer, ohne seine Stimmgewalt zu mildern.

Nach dem dritten Klopfen – denn dreimal mußte es sein, wegen der magischen Zahl – änderte sich die Antwort des Bischofs auf das lautstarke »Was wollt Ihr?« des Großkämmerers: Sie sprach nicht mehr vom großen Henri, sondern vom Himmel; die irdische Abstammung von Henri Quatre wurde nun fallengelassen zugunsten der göttlichen Sendung des Sohnes.

»Ludwig den Dreizehnten«, sagte der Bischof, »den Gott uns zum König gegeben hat.«

Und was die Berufung auf König Henri nicht vermocht hatte, bewirkte die auf den Herrn, denn die Tür tat sich auf. Der Bischof von Laon kam hereingetrippelt, hinter ihm der Bischof von Beauvais. Und der Großkämmerer verwandelte sich aus dem stolzen fränkischen Recken, der er bislang gewesen, sogleich in ein gehorsames Kirchenlamm und überließ den beiden Prälaten gesenkten Hauptes den Platz.

Ludwig also mußte schlafen, ja, doch einen sehr wachen Schlaf, denn sowie der Bischof von Laon mit seiner zarten Stimme zu ihm gesagt hatte: »Mein Sohn, erwache!« (wobei er den König zum ersten und letzten Mal in seinem Leben duzte), schlug er die Augen auf und ließ sich aufheben, ohne sich zu schwer zu machen noch auch zu leicht, denn er wollte die ihm vorgeschriebene Rolle wohl auch wahrhaftig geben. Wenige Minuten darauf schritt er über den Platz der Kathedrale, die weltlichen und die geistlichen Pairs des Reiches im Gefolge, und zog in die Kirche ein. Sehr viel später sagte er mir einmal, als er den Fuß auf die durch so viele Jahrhunderte ausgetretenen Stufen setzte, habe ihm sein Herz zum Zerspringen geklopft.

* * *

|67|Dank der zwiefachen Protektion der Herzogin von Guise und des Erzbischofs von Reims bekamen wir, mein Vater, La Surie und ich, gute Plätze auf der Galerie des Chors, von denen wir die ganze Zeremonie überschauen konnten – falls man Stehplätze als gut bezeichnen will, wo wir dicht an dicht in einer drangvollen Menge von Geladenen standen und schwitzten, obwohl uns die Kirche nach der drückenden Hitze draußen zuerst kalt vorkam.

Die einzige Person, die ich auf dem Chor an der durchbrochenen Balustrade in einem Lehnstuhl sitzen sah, war eine sehr vornehm gekleidete Dame. Ich konnte sie zwar nur von hinten betrachten, doch erschien sie nach ihrer Nackenansicht jung und begehrenswert. Ihre Gegenwart beschäftigte mich sehr, denn die großen Damen des Hofes – die Prinzessinnen und Herzoginnen – saßen im Chor, und wenn die Unbekannte sich offenbar keiner so hohen Verwandtschaft rühmen konnte, um unter ihnen zu sitzen, weshalb hatte man ihr dann diesen diskreten Platz auf der Galerie gewährt und ihr obendrein einen kräftigen Geistlichen zur Seite gestellt, der nur dazusein schien, um ihr Belästigungen vom Leibe zu halten? Wie ich beobachtete, stand ihr Lehnstuhl hinter einer Säule, was aber, wenn sie sich vorbeugte, ihr volle Sicht auf den Chor erlaubte und anderseits, wenn sie wollte, die Sicht vom Chor auf ihre Person verhinderte.

Es war ja der gesamte Hof von Paris nach Reims gekommen, die Kathedrale war brechend voll, und obwohl die heilige Stätte den Anwesenden mehr Andacht hätte einflößen müssen, brauste sie von tausenderlei Unterhaltungen, die vermutlich nichts Frommes hatten. Trotzdem trat große Stille ein, als hinter dem Bischof von Laon und dem Bischof von Beauvais und mit dem Gefolge der geistlichen und weltlichen Pairs des Reiches der kleine König hereingeschritten kam in seinem langen Silbergewand, das ihm bis auf die Füße fiel, was den Eindruck erwecken sollte, als sei er soeben zur Welt gekommen, ohne die Gewänder und Insignien der Macht, die ihm der Schöpfer nun erst durch seine obligate Mittlerin, die Kirche, verleihen werde.

Wie Ludwig da sehr gerade und erhobenen Hauptes durch den Mittelgang des großen Schiffes schritt, wirkte er vor den Würdenträgern seines Reiches wahrhaftig sehr klein und anfällig und sehr ungewiß sein Geschick inmitten all dieser |68|großen Raubvögel und angesichts einer leichtfertigen und hartherzigen Mutter, die ihn für ihren Rivalen hielt. Er schritt, wie es ihn Monsieur de Souvré und der Großkämmerer gelehrt hatten, sehr gemessen, die Augen fest auf den Chor gerichtet, und spielte seine Rolle bei dieser Salbung mit seiner ganzen üblichen Gewissenhaftigkeit.

Für uns lag in dieser Salbung eine bittere Ironie. Himmel und Erde verbündeten sich, Ludwig allen Anschein der Macht zu verleihen, und er war nicht einmal Herr in den paar Quadratmetern seines Zimmers. Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen war er von Hutschwenken, Verneigungen oder Kniefällen umschwirrt, alles wurde ihm mit höchstem Respekt gegeben, sogar die Rute.

Nicht daß ihm Liebe, außer der seiner Mutter, gänzlich gefehlt hätte. Wenn ich meine Blicke in der Kathedrale umherschweifen ließ, bemerkte ich so manche Damen, die ihn, Tränen in den Augen, in seiner rührenden Kindlichkeit einherschreiten sahen. Auch waren da etliche Edelmänner, deren Gesichter sich röteten, weil sie, den Sohn sehend, des großen Vaters gedachten, dem sie in Liebe angehangen hatten. Diese waren aus Herzensgrund bestrebt, Ludwig zu dienen, und würden sich, ebensowenig wie mein Vater, La Surie und ich, niemals bereitfinden, wie eine ganze Anzahl Höflinge es bereits taten, sich an die Fersen dieses niederen Schuftes Concini zu heften, ihm die Hände zu lecken und sich ihm zu Füßen zu werfen. Wir hatten nur einen Herrn, und da schritt er durch das Kirchenschiff, so klein und schwach er auch war.

Von allen Ritualen, die bei dieser Festlichkeit an Ludwig vollzogen wurden, war das bedeutsamste gewiß die Ölung, weil sie ihm die Weihe gab und ihm die Gnade erteilte. Hierzu wurden zwei Öle gemischt: zum einen das heilige Chrisam, das Salböl, zum anderen Öl aus dem heiligen Salbgefäß. Das Salböl, das auch bei der Taufe verwendet wird, ist wiederum eine Mischung aus Oliven- und Balsamöl. Das Salbgefäß enthält ebenfalls ein Öl, aber eines sehr viel ehrwürdigeren Ursprungs, denn ein Engel brachte es vom Himmel herab, als Chlodwig zu Saint Rémy getauft ward. Und weil es seit dieser Zeit zur Salbung aller Könige von Frankreich dient, wird jedermann verstehen, daß man damit sparsam umging und es nicht mit der Kelle schöpfte. Tatsächlich tauchte der Kardinal de Joyeuse eine goldene Nadel |69|in das Salbgefäß und entnahm ihm derweise eine winzige Menge, die er in der Hand mit dem heiligen Salböl verrieb.

Nun wurde Ludwig entkleidet. Man zog ihm die lange Robe aus, dann löste man die Bänder, die sein Kamisol und sein Hemd auf den Schultern hielten, so daß er nackt war bis zum Gürtel. In diesem Zustand mußte er sich bäuchlings auf den Boden legen – eine demütige, aber vor allem sehr unbehagliche Haltung, denn die Fliesen der Kathedrale waren nicht gerade warm. Schlimmer aber war, daß diese Niederwerfung ihre Zeit dauerte, denn der Prälat sprach eine endlose Reihe von Gebeten, für deren Abkürzung ich viel gegeben hätte, deren übermäßige Länge aber wahrscheinlich die Überlegenheit der geistigen Macht über die zeitliche vergegenwärtigen sollte. Mein Vater neben mir knirschte mit den Zähnen, weil er darin eine ultramontane Haltung argwöhnte. Doch weiß ich in diesem Fall nicht zu sagen, ob er ganz recht hatte, denn die Gebete waren uralt, und die Tradition hatte mit den Jahrhunderten manches hinzugefügt.

Endlich hob der Kardinal Ludwig auf und salbte seinen Scheitel, seine Brust, seinen Rücken, die rechte Schulter, die linke Schulter und schließlich seine Armgelenke. Damit war die Salbung vollbracht, und als La Surie sich mir mit schalkblitzenden Augen zuneigte, fürchtete ich, er werde jetzt einen seiner schrecklichen Scherze loslassen, und weil ich schon ahnte, welchen, schloß ich ihm mit der Hand den Mund. Und da mein Vater ihn von der anderen Seite mit dem Ellbogen anstieß, blieb er tatsächlich still.

Nachdem Ludwig gesalbt war, trat der Großkämmerer vor und bekleidete ihn mit einer Art Hemd und einer Dalmatika.

* * *

»Bitte, was ist eine Dalmatika?«

»Mit diesem Wort, schöne Leserin, wird eine Art Tunika aus blauem Satin bezeichnet, die mit goldenen Lilien bestickt ist und die, wenn ich das sagen darf, Ihnen zum Entzücken stehen müßte, wenn Sie sind, wie ich Sie mir vorstelle.«

»Monsieur, wenn ich mich recht erinnere, teilen Sie Komplimente an Damen mit der Schöpfkelle aus. Trotzdem schönen Dank. Aber ich möchte Ihnen eine Frage stellen.«

|70|»Madame, ich höre.«

»Entschuldigen Sie meine frivole Neugier, aber wie ich weiß, haben alle wichtigen Engel einen Namen. Wie hieß der Engel, der das Salbgefäß nach Saint Rémy brachte?«

»Zuerst einmal, Madame, war dies ein weiblicher Engel. Natürlich weiß ich, daß die Theologen behaupten, Engel hätten keinen Körper, kein Geschlecht. Aber, wenn die Doktoren der Angelologie erlauben, halte ich mich nun mal an die Engel des Alten Testaments und besonders an jene, die Sodom besuchten und die sicher nicht körperlos waren, bedenkt man die besondere Gefahr, in die sie gerieten. Was die Botin von Saint Rémy anbelangt, kenne ich zwar ihren Namen nicht, dafür aber wenigstens ihre Physiognomie. Ich habe sie gesehen, in Stein gehauen für die Ewigkeit. Und die kennen auch Sie, Madame, sofern Sie – da wir ja in Reims sind – eine wunderbare Gruppe am Portal der Kathedrale betrachtet haben, die Heiligen der Diözese nämlich. Da sehen Sie gleich rechter Hand, neben dem heiligen Nikasius, der traurig, mager und mürrisch wirkt, einen unleugbar weiblichen Engel in anmutiger Haltung, die Taille geschmeidig, die Miene süß, liebenswürdig und schelmisch. Er hält den Kopf seitlich geneigt und lächelt. Ja, Madame, er ist der einzige Engel der Christenheit, der lächelt. Und, glauben Sie mir, dieses Lächeln ist ermutigend, vor allem wenn man vorher in der rechten Schräge des Portals die Heiligen und Propheten des Jüngsten Gerichts betrachtet hat. Oh, Madame, wenn jene es sind, die uns richten werden, setze ich angesichts der düsteren Strenge ihrer Gesichter nicht viel auf mein Paradies.«

»Aber wie kommen Sie darauf, Monsieur, daß dieser schöne Engel lächelt?«

»Noch einmal denn, was ich über ihn zu wissen glaube: Als er aus seinem eisigen Himmel herabgeschwebt kam auf unseren freundlichen Planeten, um das Salbgefäß nach Saint Rémy zu bringen, nahm ihn die Süße des Lebens auf der Menschenerde gefangen, er verliebte sich in einen Bildhauer und heiratete ihn, seine Flügel verschwanden, er wurde ein Weib: und dieses Lächeln war das erste, das auf ihre Lippen trat, als sie sah, daß sie wiedergeliebt wurde. Nach ihrem Tod aber, denn sie starb jung, gab ihr unglücklicher Mann dem Stein, den er nach ihrem Bilde schlug, jenen Ausdruck, der ihn bei ihrer ersten Begegnung überwältigt hatte.«

|71|»Se non è vero è ben trovato.1 Monsieur, noch ein Wort, und ich denke, das letzte. Zu meinem Glück habe ich einen Sohn in Ludwigs Alter. Er ist wunderschön und liebt mich sehr, aber er ist auch äußerst lebhaft, und ich bezweifle, daß er eine so lange, so ernste Zeremonie ohne irgendwelche Dummheiten ertragen hätte. Wollen Sie mir weismachen, Ihr Ludwig sei brav gewesen wie ein steinerner Heiliger?«

»Mitnichten, Madame. Er wahrte von Anfang bis Ende das würdige, ernsthafte Gesicht, aber zwei-, dreimal kam hinter dem kleinen König der Schalk zum Vorschein. Ich möchte es Ihnen, wenn Sie erlauben, nachher erzählen, denn im Augenblick, wie Sie sich erinnern mögen, wird der König eingekleidet.«

* * *

Hatte man Ludwig nahezu bis zur Nacktheit entblößt, bevor er gesalbt wurde, so überhäufte man ihn nach der Salbung nicht allein mit Kleidern, sondern auch mit verschiedenen symbolträchtigen Gegenständen.

Zum ersten gab man ihm ein Schwert. Er zog es aus der Scheide, wie man es ihn gelehrt hatte, küßte es und legte es, wie es der Ritus erheischte, auf den Altar.

»Was hat das zu bedeuten?« flüsterte mir La Surie ins Ohr.

»Daß er die Kirche verteidigen wird«, antwortete ich ebenso leise.

»Falls er«, sagte La Surie, »sich nicht, wie sein Vater, gegen sie verteidigen muß …«

Diesmal sprach er okzitanisch, damit ich ihm nicht wieder den Mund verbieten mußte.

Nach dem Schwert segnete der Kardinal de Joyeuse einen goldenen Ring, den er dem König auf den Ringfinger der rechten Hand schob, damit wurde Ludwig mit seinem Reich vermählt, während sein linker Ringfinger für seine künftige Eheschließung bestimmt war. Hierauf empfing Ludwig vom Kardinal die Hand der Gerechtigkeit, die seine richterliche Macht verkündete und die er in die linke Hand nahm, und mit der rechten Hand gleichzeitig das königliche Szepter, das Zeichen seiner unumschränkten Macht.

|72|Ließ nun die elfenbeinerne Hand der Gerechtigkeit sich leicht an ihrem Holzstiel tragen, so war das Szepter dagegen sehr schwer für einen neunjährigen Jungen. Und vor Anstrengung, es aufrecht zu halten, fing sein Arm an zu zittern. Als dies der erste der weltlichen Pairs, der Prinz Condé, sah, wollte er rasch zugreifen, aber Ludwig wandte sich um und sagte knapp und entschlossen: »Ich halte es lieber allein!«

Weder die Geste des Prinzen Condé, die eingedenk seiner Ambitionen vielleicht nicht ohne Hintergedanken war (denn das königliche Szepter war ja ein machtvolles Symbol), noch Ludwigs prompte Abfuhr entgingen dem Hofe, denn Condé war schließlich derjenige unter den Großen, dessen Reizbarkeit und Aufsässigkeit der Monarchie am meisten zu schaffen machten.

Nach dem Szepter kam die Krone, und diese, die seit Anfang der Zeremonie weithin sichtbar auf dem Hochaltar gelegen hatte, war angeblich die Krone Karls des Großen. Doch behaupten auch die Österreicher, diese zu besitzen und in Wien aufzubewahren, um ihre Kaiser zu krönen. Ich kann wahrhaftig nicht sagen, welche die echte ist und welche die nachgemachte, jedenfalls trägt die unsere zusätzlich zu ihren zweihundertdreiundsiebzig Perlen acht Lilienblüten, die sie fränkisch machen. Wie dem auch sei, sie wirkte sehr groß und schwer für den Kopf eines Kindes, und ich wette, man hat irgendeinen Kunstgriff angewandt, ihren inneren Umfang zu verringern, damit sie dem kleinen König nicht auf die Nase rutschte.

Während Ludwig also saß und tapfer die Hand der Gerechtigkeit und das Szepter hielt (das Zittern seines rechten Arms hatte er gemeistert, indem er ihn an seinen Körper preßte), ging der Kardinal de Joyeuse mit großer Gebärde, nahm die Krone vom Altar und hob sie mit beiden Händen über das Haupt des kleinen Königs, ohne sie ihm aber schon aufzusetzen.

Nun rief der Kanzler mit starker Stimme die geistlichen und die weltlichen Pairs beim Namen, diese scharten sich um Ludwig und legten die Hand an die Krone, wie um sie mit zu tragen: ein deutliches Symbol, aber wie schwer verleugnet im Verlauf unserer Geschichte! …

Darauf faßte der Kardinal die Krone mit der linken Hand, segnete sie und setzte sie dem kindlichen König auf, und die |73|Pairs streckten die Hand hin, diesmal aber nicht, um die Krone mit zu tragen, sondern um an sie zu rühren.

Dann folgten die Kniefälle und Beifallsbekundungen, dann zwei Küsse auf die königlichen Wangen von seiten des Kardinals und der zwölf Pairs. In diesem Moment ereigneten sich zwei kleine Zwischenfälle, die allerseits bemerkt wurden und deren erster einem aufmerksamen Zuschauer sehr zu denken gab, während der zweite ihm Lächeln oder Rührung abnötigte, je nach dem Grad der Liebe, die er für Ludwig empfand.

Als die Reihe an den Herzog von Épernon kam, Ludwig auf die Wangen zu küssen – jener Herzog, von dem es hinter vorgehaltener Hand hieß, er könnte durchaus die Fäden gezogen haben, die Ravaillac zum Königsmord trieben –, griff Ludwig bei jedem Kuß, den der Herzog ihm gab, nach der Krone, als wollte er sie auf seinem Kopf festhalten. Dies veranlaßte den ganzen Hof zu halblautem Geraune, ohne daß man weiterzugehen wagte, denn die Anklägerin des Herzogs von Épernon, Mademoiselle d’Écoman, war in einen klaftertiefen Kerker geworfen worden und blieb dort auf Befehl der Regentin bis ans Ende ihrer Tage, denn man scheute sich, ihr den Prozeß zu machen, der so gefährlich hätte werden können für viele Hochgestellte – nicht nur für Épernon.

Der letzte weltliche Pair, der Ludwig auf beide Wangen küßte, war der jüngste – der liebenswürdige Herzog d’Elbeuf. Er war ein Guise aus dem Zweig der Herzöge von Aumale. Er war Marquis d’Elbeuf von Geburt an und war mit fünf Jahren zum Herzog und Pair ernannt worden.

Am Tag der Salbung war er gerade vierzehn Jahre alt und sah unter allen anderen sehr hübsch und anmutig aus in seinem Prunkgewand. Ludwig kannte ihn gut, sie hatten oft miteinander gespielt in Saint-Germain, in Vincennes und im Louvre. Und nachdem d’Elbeuf ihn auf beide Wangen geküßt hatte, gab ihm Ludwig einen kleinen Streich auf die seine. Danach tat er, als wische er sich die Wangen ab.

* * *

»Nun, schöne Leserin, sind Sie zufrieden?«

»Zählen Sie mich zu den Gerührten, Monsieur. War es damit getan?«

|74|»Aber nein! Auf die Krönung folgte die Messe, und sie war sehr lang, immer wieder von Gesängen unterbrochen, und Ludwig mußte sich erheben, um seine Opfergaben darzubringen. Von seinen königlichen Gedanken nun aber ein wenig abgelenkt, weil sein Alter die Oberhand gewann, versuchte er mit dem Fuß die Mantelschleppe des Marschalls de la Châtre, der vor ihm schritt, zu erwischen. Da der Marschall bei dieser Salbung das Amt des Konnetabels innehatte, mögen Sie sich vorstellen, was für ein Gesicht er gemacht hätte, wenn ihm sein prächtiger Mantel von den Schultern gerutscht wäre. Für mein Gefühl tat aber Ludwig nur so, als trete er ihm drauf. Allein die Vorstellung, den Marschall seines schönsten Schmuckes zu entblößen, mußte ihn belustigen, so satt war er all des Pomps, den man ihm fünf volle Stunden zumutete.«

»Sie müssen ihn nicht so verteidigen, Monsieur! Aber bestimmt verschweigen Sie mir noch mehr solcher kleinen Späße. Denken Sie bitte noch mal nach.«

»Ich bin mir nur nicht sicher, Madame, ob der letzte davon tatsächlich einer war oder ob dahinter nicht ein Sinn steckte. Als Ludwig am Tag darauf zum Ritter vom Heiligen Geist ernannt wurde und er nun die Ritter seines Ordens empfing – darunter auch meinen Vater –, küßten ihn alle nacheinander auf die Wangen. Als aber der Herzog von Bellegarde an die Reihe kam, faßte Ludwig ihn mit beiden Händen beim Bart und sagte lachend: ›Seht, der ist ein Ehrenmann!‹«

»Und welche Absicht konnte hinter diesem kleinen Spaß stecken, Monsieur?«

»Nun, erinnern Sie sich doch bitte, daß der Herzog auf Anweisung der Königin diesem läppischen Marquis von Ancre den Vortritt hatte lassen müssen. Ich meine, Ludwig wollte ihn für diese Demütigung rächen, indem er ihm, hinter einem Scherz verborgen, seine Wertschätzung bezeigte.«

»Kommen wir auf die endlose Salbung zurück, Monsieur. Wann war sie nun zu Ende?«

»Um Viertel nach zwei Uhr! Und nach der Müdigkeit zu urteilen, die ich in Füßen, Beinen und im Kreuz verspürte, stellte ich mir vor, wie erschöpft Ludwig sein mußte. Um halb drei endlich brachte man den kleinen König zurück in seine Gemächer im erzbischöflichen Palast.«

»Und nun verraten Sie mir, Monsieur: was waren seine ersten |75|Worte, nachdem er gesalbt und gekrönt war? Sie lachen, Monsieur? Haben Sie die Stirn, sich über mich lustig zu machen?«

»Oh, Madame! Nicht im Traum würde ich daran denken! Ich hoffe nur, daß Ihr Humor mehr der Seite von Madame de Guise zuneigt als der von Madame de Rambouillet.«

»Sie reizen meine Neugier. Nun sprechen Sie schon.«

»Also, Madame, sowie Ludwig in seinen Gemächern im erzbischöflichen Palast eintraf, eilte ihm Monsieur de Souvré trotz seiner Leibesfülle entgegen und sagte: ›Sire! Ihr müßt unendlich müde sein. Was wünscht Ihr? Essen?‹ – ›Nein, Monsieur de Souvré.‹ – ›Schlafen, Sire?‹ – ›Nein, Monsieur de Souvré.‹ – ›Aber, Sire, wollt Ihr denn gar nichts?‹ – ›Nur pinkeln‹, sagte Ludwig.«