|128|FÜNFTES KAPITEL

Als mein Vater erfuhr, daß Pierre de l’Estoile ziemlich krank gewesen war, schickte er ihm ein Billett und fragte, ob unser alter Freund, sobald er sich besser fühle, zum Diner kommen wolle. Um ihm jede Ermüdung zu ersparen, würde unsere Kutsche ihn abholen und auch wieder heimfahren.

Als wir ihn dann in unserem Hof aussteigen sahen, waren wir sehr betroffen, so verändert wirkte er, sein Gang war unsicher, das Gesicht hohl und fahl, und seine früher so lebhaften Augen waren von Traurigkeit verschleiert.

Er rührte das Essen kaum an und zählte bis ins einzelne die Leiden auf, die ihn befallen hatten.

»Ach, gute Freunde«, sagte er, »ich bin im vergangenen Monat durch die neunzig Qualen der Hölle gegangen. Zu dem wütenden Fieber, das mich zuerst niederwarf, kam ein großer Durchfall, und als ob das noch nicht reichte, befiel mich ein Feuer in den Hämorrhoiden und eine unerträgliche Urinverhaltung. Und als es mir nach Wochen endlich anfing besser zu gehen, ich aufstehen und in meiner Wohnung umherwandern konnte und glaubte, nun sei meine Leidenszeit zu Ende, bekam ich mitten am Rücken eine Blatter.«

»Eine Blatter? Das glaubt Ihr selber nicht!« rief mein Vater. »Wenn Ihr eine Blatter gehabt hättet, wäre das die Pest gewesen, und Ihr säßet nicht hier, es uns zu erzählen. Es kann höchstens ein Ausschlag oder ein Geschwür gewesen sein!«

»Mit welchem Namen Ihr das Ding auch schmückt«, sagte Pierre de l’Estoile, »es war dick und entzündet, und der Barbier kurierte drei Wochen an mir herum, bis es heilte.«

»Welcher Barbier?« fragte mein Vater argwöhnisch.

»Riolant.«

»Ein Glück! Der schneidet wenigstens nicht gleich drauflos.«

»Richtig«, sagte L’Estoile, »er hat nicht geschnitten, sosehr ich ihn wegen der Schmerzen auch darum bat. Aber schließlich |129|bin ich genesen, und ein guter Klosterbruder, der mich besuchte, tröstete mich und sagte, meine Leiden seien mir alle von Gott gesandt und nur verborgene Zeichen des Erbarmens, durch welche der Herr mich im voraus als einen der Seinen anerkennt.«

»Wenn der Gedanke Euch tröstet, mein Freund«, sagte mein Vater, indem er zweifelnd die Braue hob, »müßt Ihr dessen sehr bedürfen.«

Ungeduldig wartete ich, daß die Unterhaltung auf anderes käme, denn all diese Einzelheiten, noch dazu bei Tisch, fand ich nicht allzu appetitlich, obwohl L’Estoile sie natürlich aufgeführt hatte, weil er wußte, daß mein Vater Arzt war und ihm gegebenenfalls raten konnte. Aber mit achtzehn Jahren, wenn das Fleisch noch so jung und das Blut so stürmisch ist, fällt es schwer, mehr als christliches Mitgefühl für einen Körper aufzubringen, den das Alter vor unseren Augen zerstört.

»Monsieur«, sagte ich, sowohl aus Neugier wie um das Thema zu wechseln, »wie steht es mit jenem Finanzier, dem der Königliche Rat fünf Steuerpachten zugeschlagen hatte, die ihm aber weggenommen und einem Italiener gegeben wurden?«

»Allory? Der Unglückliche! Er hat sich um Gerechtigkeit an den Rechnungshof gewandt. Das braucht seine Zeit, aber da das Gesetz offensichtlich verletzt worden ist, wird der Rechnungshof wohl zu seinen Gunsten entscheiden.«

»Wie gut«, sagte ich.

»Das Ungute dabei ist nur«, sagte L’Estoile mit einem Achselzucken, »die Entscheidung ist für die Katz, denn die Königin wird, wie sie es schon getan hat, einen Kabinettsbefehl an den Rechnungshof erlassen, den Italiener unverzüglich als Pachtinhaber zu registrieren, und der Rechnungshof wird kuschen. Lieber junger Freund, es gibt kein Gesetz mehr in diesem Reich! Man kann kaum noch von einem Staat reden.«

»L’Estoile, Ihr übertreibt!« sagte mein Vater.

»Durchaus nicht!« sagte L’Estoile mit einem Anflug seiner einstigen Energie. »Soll ich Euch ein tausendmal skandalöseres Beispiel nennen? Aber vielleicht«, sagte er auf lateinisch, »warten wir, bis der Diener hinausgegangen ist?«

»Er ist verschwiegen wie ein Grab«, sagte mein Vater, während Franz die Speisen herumreichte. »Er ist seiner Herrschaft |130|treu, jede Indiskretion, die er zufällig hören sollte, würde er sofort aus seinem Gedächtnis löschen.«

»Gut denn, mein Freund«, sagte L’Estoile, »Ihr wißt sicher, daß der Erste Gerichtspräsident aus dem Amt scheiden will.«

»Ach, ja! Achille du Harlay will sich aufs Land zurückziehen«, sagte mein Vater. »Ein Mann seiner Statur und Kraft!«

»Er ist nicht mehr, was er war«, sagte L’Estoile, indem er traurig den Kopf schüttelte. »Die Augen lassen nach, das Gehör ist verhärtet, und die Gicht hat ihn im Griff. Kurz, die Königin genehmigt, daß er sein Amt verkauft, sofern der Käufer ihr zusagt.«

»Wieviel verlangt Präsident Du Harlay dafür?«

»Dreihunderttausend Ecus.«

»Teufel!« sagte mein Vater und machte große Augen. »Gewiß, es handelt sich um das Amt des Ersten Gerichtspräsidenten. Aber trotzdem! Dreihunderttausend Ecus! Eine gewaltige Summe! Gibt es denn dafür Kandidaten?«

»Mein Freund«, sagte L’Estoile mit einem Lächeln, das sein runzliges Gesicht für einen Augenblick verjüngte, »Ihr scheint zu vergessen, daß einige Angehörige des Dritten Standes im Gegensatz zum Geburtsadel über enorme Mittel verfügen.«

»Der gerechte Lohn ihrer Arbeit und ihres weisen Umgangs mit Geld!« sagte mein Vater, der sich hierin dem Amtsadel näher fühlte als dem Schwertadel.

»Und Kandidaten«, fuhr L’Estoile fort, »gibt es immerhin drei.«

»Drei? Gerechter Himmel! Und wer sind sie?«

»Der Präsident De Thou …«

»De Thou? Der Autor der Histoire Universelle?« fragte La Surie, der zeigen wollte, daß er dieses großartige Buch gelesen hatte, und nicht ohne Mühe, denn es war lateinisch geschrieben.

»Eben der«, sagte L’Estoile, »ein berühmter Mann, wie Ihr seht.«

»Aber in diesem Fall«, sagte ich, »ist es doch keine Empfehlung, das Buch geschrieben zu haben, weil der Papst es inzwischen auf den Index gesetzt hat.«

»Und warum?« fragte La Surie, wißbegierig wie immer.

»Wegen seiner gallikanischen Tendenzen«, sagte mein Vater, »und der zu geringen Antipathie des Autors gegenüber den Protestanten. Aber, fahrt fort, mein Freund.«

|131|»Der zweite Kandidat ist der Präsident Jambeville und der dritte Monsieur de Verdun.«

»Es wird der Königin nicht leichtfallen«, sagte mein Vater, »zwischen den drei Kandidaten zu wählen, jeder der drei wird mächtige Fürsprecher haben.«

»De Thou«, sagte L’Estoile, »empfiehlt sich durch sein Wissen, seine Tugenden, seine Selbstlosigkeit und seinen großen Ruf der Ausgewogenheit.«

»Dann ist er schon draußen«, sagte mein Vater.

Wir lachten.

»Jambeville«, fuhr L’Estoile fort, »wird stark unterstützt vom Marquis von Ancre, weil er einer seiner eifrigsten Speichellecker ist.«

»Also ist er drin!«

»Und Monsieur de Verdun genießt die Gunst des Paters Cotton und der Jesuiten.«

»Aha! Ein Cotton-Mann«, sagte mein Vater. »Dann ist er auch drin!«

»Aber, Monsieur de l’Estoile«, sagte La Surie, »wer ist dieser Verdun?«

»Er stammt aus Toulouse und soll eine wahre Wetterfahne sein, sich drehen und wenden, wie der Wind der Eitelkeit ins Segel seiner Ambitionen bläst.«

»Ha, Monsieur de l’Estoile«, sagte La Surie, und ich wußte nicht, spottete er, oder war er nur galant, »Ihr werdet geradezu poetisch!«

»Kurz«, sagte mein Vater, »was tat die Königin, als sie zwischen De Thou, Jambeville und Verdun wählen sollte?«

»Ich setze tausend zu eins: Ihr erratet es nicht«, sagte L’Estoile. »Was die Königin tat, übersteigt jede Vorstellung.«

»Nun was denn?« fragte mein Vater.

»Sie hat dem Papst geschrieben und um seinen Rat gefragt, wen sie nehmen soll: De Thou, Jambeville oder Verdun!«

Sprachlos blickten wir einander an.

»Herr im Himmel!« rief mein Vater endlich, »traue ich meinen Ohren? Die Königin von Frankreich fragt den Papst, wer Erster Präsident des Pariser Gerichtshofes werden soll? Und wie nimmt das Parlament das auf?«

»Mit großer Wut! Die um so heftiger ist, als es sie verschweigen muß! Man schäumt vor Zorn. Alles grollt hinter |132|vorgehaltener Hand: Hat man in Frankreich jemals von solcher Einmischung gehört, der Papst bestimmt unseren Ersten Präsidenten? Dann kann man ihm auch gleich das Szepter und die Hand der Gerechtigkeit übergeben, die man Ludwig bei seiner Salbung verliehen hat! Et cetera, et cetera.«

»Und wie hat der Papst geantwortet?«

»So knapp wie schlau: ›Il primo, haeretico; il secundo, cattivo; il terzo, non cognosco.‹1«

»Und worin liegt die Schläue?«

»Der Papst lehnt De Thou als Ketzer, Jambeville als boshaft ab. Bleibt also nur Verdun, doch hütet sich der Heilige Vater, ihn vorzuschlagen, sondern behauptet, er kenne ihn nicht.«

»Ist das falsch?«

»Wäre es wahr, müßte man annehmen, die Jesuiten hätten ihn über ihren Favoriten nicht unterrichtet.«

»Und welchen Vorteil bringt dem Papst die Behauptung, er wisse nichts über ihn?«

»Er braucht sich in keiner Weise zu kompromittieren, wenn er Verdun empfiehlt, indem er die beiden anderen ausschließt.«

»Und Verdun war im Besitz dieser dreihunderttausend Ecus für den Kaufpreis?«

»Bewahre, aber es gab viele, die sie ihm liehen: dafür haben die Jesuiten gesorgt.«

***

Wenige Wochen, nachdem Pierre de l’Estoile bei uns im Champ Fleuri zum Diner war, starb er, und obwohl uns dies nach dem Zustand, in dem wir ihn gesehen hatten, nicht verwunderte, wurden wir von seinem jähen Ende doch überrascht, und es schmerzte uns. Auch wenn er wie jeder andere gelehrte und wohlhabende Bürger sein Amt als Erster Richter gekauft und später verkauft hatte, war L’Estoile bei jeder Gelegenheit entschieden gegen den Ämterkauf zu Felde gezogen. Auch bei diesem letzten Diner mit uns hatte er den ›schändlichen Handel‹ angeprangert, der in Frankreich mit den Ämtern und vor allem mit Ämtern der Gerichtsbarkeit betrieben wurde. »Denn«, argumentierte er, »wenn die Gerechtigkeit käuflich ist, das heiligste Gut auf Erden, verkauft man die res publica, |133|verkauft man das Blut der Untertanen, verkauft man die Gesetze.«

Anläßlich des Todes von L’Estoile kam das Gespräch im Champ Fleuri abermals auf jene empörende Konsultation des Papstes, und mein Vater meinte, außer der Tatsache, daß die Königin überhaupt nicht französich fühlte, habe sie auch nicht eine Unze gesunden Menschenverstand.

»Es ist ganz klar«, sagte er, »die maßlosen Gunstbeweise, mit denen sie diese Concinis überhäuft, haben ihr das Volk entfremdet. Die Großen verübeln ihr, daß sie ihnen nie etwas gönnt. Und jetzt hat sie auch noch das Parlament gegen sich aufgebracht. Sie ist so dumm, daß sie nicht einmal zu wissen scheint, daß das Parlament niemals eine Einmischung des Papstes in französische Angelegenheiten geduldet hat.«

»Wenn das Parlament so gallikanisch ist«, fragte La Surie, »heißt das, es hat Sympathie für die Hugenotten?«

»Durchaus nicht. Ebensowenig wie für die Jesuiten.«

»Und Monsieur de l’Estoile?«

»Das ist etwas anderes! L’Estoile hat sich immer am Rande des Calvinismus gehalten. Von dieser Versuchung abgesehen, war er ein exemplarischer Staatsbürger, Amtsträger und Pariser.«

»Wieso Pariser?« fragte ich erstaunt.

»Als echter Pariser war er sein Leben lang äußerst kritisch gegen alle und alles und gleichzeitig äußerst klatschhörig und leichtgläubig. Es gab im Reich kein Kalb mit zehn Klauen, keinen Hexer, kein vom Teufel besessenes Weib, kein Pischewunder, woran er nicht ebenso felsenfest glaubte wie Mariette. Armer großer Freund! So reiches Wissen und so viel Torheit!

 

Am Tag danach, einem Sonntag, war ich zur Messe in Notre-Dame und hörte Monsieur de Luçon1 predigen, einen sehr eleganten jungen Prälaten, der mich ebensosehr durch seine Manieren, die den Edelmann aus gutem Hause verrieten, wie durch seine bestechende Eloquenz beeindruckte.

Nach der Messe fand ich vor dem Portal meine Stute und den kleinen Spanier wieder, die La Barge, mit großer Pistole im Gürtel zur Abschreckung der Pferdediebe, wacker gehütet |134|hatte. Es war ein warmer, sonniger Morgen, die müßigen Pariser schlenderten durch die Straßen, und während ich, hoch zu Roß, nach den Ausschnitten der hübschen Mädchen äugte, die aus der Messe kamen oder zur Messe gingen, gelangte ich über den Pont-Neuf in die Rue Dauphine, wo die schmucken neuen Häuser aus weißem Haustein und rotem Backstein mit ihren Scheiben und frisch gestrichenen Fensterläden glänzten und das Pflaster so wunderbar eben war.

Obwohl ich nirgendwohin wollte, führte ein Engel oder vielmehr eine Fee meine Stute geradewegs in die Rue des Bourbons, vor das Hôtel Frau von Lichtenbergs. Hohe Mauern schieden es von der Straße ab, doch als ich die Augen hob, sah ich voller Verblüffung, daß die Läden und Fenster offenstanden. Mein Herz hämmerte mir gegen die Rippen, halb freudig, halb bang. Ich konnte nicht glauben, daß sie schon da sein sollte, denn seit Bassompierre nach Heidelberg gereist war, hatte ich von ihm nichts mehr gehört. Wenn aber meine Gräfin nicht im Hause war, wer erkühnte sich dann, sich dort aufzuhalten und es allen Lüften zu öffnen?

Rasch stieg ich ab, warf La Barge meine Zügel zu und ergriff den Klopfer am Eingang (er stellte ein Lamm dar, das meine Hand gerührt umfing). Ich klopfte ans Tor, klopfte mehrmals, endlich hörte ich einen schweren Schritt sich nähern. Die Klappe ging auf, und hinter einem Gitter spähte ein wachsames Auge nach mir.

»Wer ist da?« fragte eine rauhe Stimme.

»Ich bin Peter von Siorac und möchte Herrn von Beck sprechen.«

»Einen Moment bitte, mein Herr.«

Dieser deutsche Dialog überzeugte mich, daß es in dem Hause mit rechten Dingen zuging, und weil die Logik mir flüsterte, wenn der Majordomus da sei, könnte seine Herrin es wohl auch sein, hoffte ich mit fliegender Ungeduld, daß er es mir bestätigte.

Mit seiner üblichen Höflichkeit öffnete mir von Beck die Tür, schloß aber die meines Herzens: »Nein, die Gräfin ist noch nicht angekommen.«1

Sie werde kommen, aber er wisse nicht, wann. Er sei mit |135|einigen Dienern da, um das Haus zu lüften und zu reinigen, bevor sie eintreffe.

Seltsam, noch nie empfand ich so große Freude beim Anblick des dicken, hängebackigen von Beck. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen. In seiner korrekten Verbindlichkeit muß er meine glückliche Reaktion als übertrieben, wenn nicht unziemlich empfunden haben. Und ohne seine Höflichkeit aufzugeben, wahrte er doch einigen Abstand. Woraufhin ich ihn mit wachsender Beklommenheit fragte, ob er denn sicher sei, daß die Gräfin kommen werde? Aber je dringlicher ich mir in diesem Punkt Gewißheit erbat, desto weniger gab er sie mir. Er sei hier, sagte er, um die Ankunft seiner Herrin vorzubereiten, aber natürlich könne er nicht beschwören, daß sie wirklich kommen werde.

Dieses ›natürlich‹ traf mich ins Herz, und ich begann zu bedauern, daß ich von Beck mit so vielen Fragen bestürmt hatte. Schließlich war ich so vernünftig, dieses Verhör zu beenden, ich dankte von Beck und sprang in den Sattel. Aber die ganze Zeit, während ich zum Louvre ritt, zermarterte ich mir das Hirn, taub für alles, was La Barge sagte, und völlig blind diesmal für das Schauspiel der Straßen.

Dabei war ich mir des Unsinns meiner Besorgnisse durchaus bewußt. Wenn Frau von Lichtenberg nur eine Freundin gewesen wäre, deren Rückkehr mich erfreut, aber nicht erschüttert hätte, wäre ich über die Tatsache, daß ihr Majordomus das Haus für ihre Ankunft vorbereitete, nicht in die allergeringste Unruhe geraten, ob ich sie auch bald wiedersehen würde. Also entsprang dieses ganze große Hämmern im Kopf und dieser Aufruhr im Bauch allein meinem maßlosen Verlangen, sie wiederzusehen. Ich begriff glasklar, was in mir vorging, aber das minderte durchaus nicht mein quälendes Bangen.

Wie ich in diesem innerlichen Drunter und Drüber nun in den Louvre und in die königlichen Gemächer gelangte, traf es mich voller Verwunderung, dort Schreien und Weinen zu hören. Zuerst verstand ich gar nicht, woher diese Klagen kamen, aber als ich die Hecke der anwesenden Edelleute durchschritt, sah ich den kleinen König stehen, der wie wild einen Knaben in seine Arme schloß, etwa so groß wie er, dessen Gesicht ich zuerst nicht erkannte, weil er es an Ludwigs Schulter preßte, um sein Schluchzen zu ersticken.

|136|Der König aber war so von Sinnen, daß er seinen Schmerz nicht unterdrücken konnte. Unaufhörlich strömten die Tränen über seine Wangen, dick wie Erbsen, und sein offener Mund, der schrie, wimmerte, klagte, hatte jene rechteckige Form, die man an den tragischen Masken des griechischen Theaters sieht und die mir schon immer allen Schmerz der Welt auszudrücken schien.

Um dieses Pärchen sah ich Souvré, Héroard, Despréaux, Bellegarde, d’Auzeray, Vitry, Praslin und noch manch anderen stehen. Sie waren wie Stein, und ihre Augen, das einzig Lebendige in den starren Gesichtern, richteten sich auf Ludwig und seinen kleinen Freund, als könnten sie einen so grenzenlosen Schmerz nicht fassen.

Einmal hob der Knabe, wohl Atem holend, das Gesicht von der Schulter des Königs. Da sah ich, daß er einen halben Kopf größer war als Ludwig, und erkannte seinen Halbbruder, den Chevalier de Vendôme.

Der Chevalier, derzeit dreizehn Jahre alt – drei Jahre älter als Ludwig –, war die Frucht der Liebe Henri Quatres und der schönen Gabrielle. Von seinem Vater legitimiert und zum Sohn Frankreichs erklärt, strafte er das Wort nicht Lügen, wonach Kinder der Liebe besonders gut gelingen. Er gewann aller Herzen durch sein äußerst liebreizendes Wesen. Und so hing der kleine König an diesem Halbbruder auch mit inniger Zuneigung, die vom Chevalier glühend erwidert wurde.

Achtundvierzig Stunden vor dieser herzzerreißenden Szene nun hatte ich von La Barge, dem großen Zuträger allen Klatsches im Louvre gehört, der Chevalier de Vendôme werde, nachdem er brauchgemäß mit seinem dreizehnten Geburtstag für volljährig erklärt worden sei, unverzüglich nach Malta geschickt. Und am selben Tag hatte Ludwig, als wir kurze Zeit in seinem Waffenkabinett allein waren, mich gefragt, wo Malta läge, was beweist, daß er von diesem Plan Wind bekommen hatte.

Ich hatte Seiner Majestät also erklärt, daß Malta eine Insel südlich von Sizilien sei, der Ort des berühmten, halb kriegerischen, halb religiösen Ritterordens, dessen Sendung darin bestand, die Meerenge zwischen Sizilien und Tunesien gegen die Ungläubigen abzuriegeln. Die Insel sei stark mit Festungswerken, Kanonen und Schiffen bewehrt, und die Malteser Ritter, die meistenteils ein gefährliches Seefahrerleben führten, |137|hätten unentwegt unter oft großen Verlusten die Überfälle der Tartaren und Türken abzuschlagen und diese zu hindern, die Küsten der christlichen Länder zu erreichen.

»Kurzum, Sire, die Malteser Ritter versuchen, den Ungläubigen den Zugang zum westlichen Mittelmeer zu verwehren.«

»Und wie lange«, fragte Ludwig, indem er mehr stotterte als gewöhnlich, »dauert die Reise von Paris nach Malta?«

»Ich würde meinen, volle zweieinhalb Monate, Sire, wenn nicht länger.«

»Aber das ist ja das Ende der Welt!« sagte Ludwig erschrocken.

Inzwischen war also das Beil gefallen, und es zerschnitt zwei Leben, trennte auf immer zwei unzertrennliche Freunde. Sicher war es üblich, einem Sohn Frankreichs bei seiner Volljährigkeit einen neuen Lebensstand zuzuweisen, aber daß er, den Annehmlichkeiten des Hofes und des Louvre so fern, einem strengen religiösen Orden überantwortet wurde, den er ebensowenig mehr verlassen konnte wie ein Kloster, und dazu der harten Disziplin und den Gefahren eines Kriegerlebens, bedeutete tatsächlich, daß man ihn in die unerbittlichste, lebenslange Verbannung schickte, wenn nicht in den Tod, dem der Malteser Orden unaufhörlich Tribut zollte.

»Sire, oh, Sire!« schrie Vendôme, den der König heiß schluchzend an sich drückte, »habt Erbarmen mit mir! Die Königin will mich von Euch reißen. Aber wie soll ich in Malta leben ohne Euch!«

»Was habt Ihr der Königin meiner Mutter nur getan?« sagte Ludwig unter Tränen.

»Nichts, Sire, nichts!« rief Vendôme mit zitternder Stimme.

Und keiner unter den Anwesenden hätte dieser Unschuldsbehauptung widersprechen können, so gut kannte jedermann das freundliche Wesen des Chevalier de Vendôme und seinen angenehmen Charakter. Aber so hatte der König die Frage auch nicht gemeint, er wußte gut, daß ein so hartes Exil durch kein Vergehen gerechtfertigt war. Und er wußte andererseits, weil er die unüberwindliche Sturheit seiner Mutter und ihre mangelnde Liebe zu ihren Kindern kannte – vor allem ihm selbst gegenüber, den sie weniger als Sohn denn als Rivalen betrachtete, der ihr eines Tages die Macht entreißen würde –, daß er sich ihr zu Füßen werfen, weinen, sie stundenlang anflehen |138|könnte, ohne daß ihr Beschluß auch nur daumenbreit ins Wanken geriete.

»Zagaye«, sagte der König (denn bei diesem Namen, dessen Ursprung niemand kannte, nannte er Vendôme), »wenn Ihr in Malta seid, geht Ihr dann immer zur See?«

»Ja, Sire.«

»Gebt gut auf Euch acht!«

»Ja, Sire.«

»Seid der Stärkste, wenn Ihr in den Kampf geht!«

»Ja, Sire.«

»Schreibt mir oft!«

»Ja, Sire.«

Beide Kinder hielten sich an den Händen und weinten zusammen. Sie ließen sich nicht aus den Augen, das Gesicht tränenüberströmt, und wechselten Frage und Antwort mit schmerzlicher, matter Stimme. Auf einmal nahm der König die Uhr von seinem Hals und hängte sie Vendôme um.

»Zagaye«, sagte er, »sie gehört Euch, bewahrt sie gut, und immer, wenn Ihr nach der Stunde seht, denkt an mich, der Euch so liebhat.«

Schließlich wurde der Chevalier abgeholt zur Kutsche. Das Schluchzen auf beiden Seiten verstärkte sich. Man mußte sie voneinander reißen, und der kleine König blieb allein zurück. Er irrte durch den Raum, den Mund schmerzverzerrt. Und wie er zögernden Schrittes hin und her lief, ohne jemand anzusehen, schien er sich auf der Seite zu halten, wo Héroard und ich standen, doch ohne daß er den Kopf hob oder uns ansprach – so groß war offenbar seine Furcht, uns, wenn er sich jetzt an uns wandte, bloßzustellen und auch noch zu verlieren. Und er sagte wie für sich mit leiser, kaum hörbarer Stimme, die mir ins Herz schnitt, so verzweifelt klang sie: »Man nimmt ihn mir weg, weil ich ihn liebe.«

So viele Jahre, nachdem Ludwig diesen schrecklichen Satz gesprochen hatte, hallt er mir nach im Gedächtnis als die wohl bitterste Äußerung, die je ein Sohn über diejenige gemacht hat, die ihm das Leben gab. Und dabei verhüllte Ludwig sie noch hinter diesem ›man‹ – aus Vorsicht oder aus Scham, wer weiß? Und er täuschte sich im Grunde nicht, denn als ungeliebtes Kind spürte er mit frühreifer Empfindsamkeit, welche Gefühle man für ihn hegte.

|139|Gewiß beabsichtigte die Regentin nicht aus purer Bosheit, ihm die Freude seines Lebens zu rauben, aber sie fürchtete, diese übergroße Liebe zu Vendôme könnte auf die Dauer einen Einfluß auf ihn gewinnen, der ihrer Macht gefährlich werden könnte. So setzte sie denn gleich das Messer an, völlig unempfindlich für das Leiden, das sie hervorrief, damit ihr Sohn ohne Freund, ohne Verbündeten, ohne Wehr vor ihr sei. Das andere Kind, das sie ans ›Ende der Welt‹ zu einem außergewöhnlich harten Leben verbannte, kümmerte sie ohnehin nicht, denn leichten Herzens halste sie ihm die Sünden des Vaters und der puttana1 auf, die er geliebt hatte.

***

»Monsieur, ich kann nicht umhin, mir ein paar kleine Fragen über Sie zu stellen.«

»Über mich, bellissima lettrice?«2

»Sie sind doch jetzt Erster Kammerherr des Königshauses, nicht wahr?«

»Um dies gleich klarzustellen, Madame: es gibt vier Erste Kammerherren. Einer der vier bin ich, während der bekannteste und einflußreichste am Hof der Marquis von Ancre ist.«

»Ich verstehe, aber was haben Sie zu tun? Kleiden Sie den König an?«

»Nein, Madame, ihn anzukleiden ist Aufgabe seiner Kammerdiener Monsieur d’Auzeray, Monsieur de Berlinghen …«

»Es sind Adlige?«

»Gewiß! Den König anzukleiden ist eine große Ehre.«

»Ich dachte, ›gewiß‹ sagen nur die Hugenotten?«

»Bei mir hat das nichts zu sagen, Madame, ich bin katholisch getauft.«

»Also, Sie kleiden den König nicht an?«

»Nein, Madame.«

»Was machen Sie dann bei ihm?«

»Ich bin da.«

»Wie, Sie sind da? Haben Sie keine Aufgabe? Sind Sie eine Art Möbel, Monsieur, daß Sie nur da sind?«

»Madame, bitte, ziehen Sie ihre Krallen ein! Dasein heißt, |140|dem König zu dienen. Und ihm dienen heißt, auf seine Befehle zu warten.«

»Zum Beispiel?«

»Wenn Ludwig mich vertraulich fragt, wo Malta liegt, sage ich ihm alles, was ich darüber weiß. Und über die Frage, die er mir gestellt hat, hüte ich Stillschweigen.«

»Aber andere in seiner Umgebung singen?«

»Andere, Madame, singen, und zwar anscheinend nach der Weise, daß Ludwig nur sehr unvollständige Kenntnis der Dinge, die ihn betreffen, zu erhalten habe und daß die Fragen, die er gestellt hat, sofort der Regentin zu hinterbringen sind.«

»Und wer sind diese Leute?«

»Ich kenne die Spitzel noch nicht. Bisher kenne ich nur die Getreuen.«

»Und wer sind die?«

»Héroard, Praslin, Vitry, Berlinghen.«

»Berlinghen, der Kammerdiener? Ist er so wichtig?«

»Alle, die um den König sind, sind wichtig, Madame, einschließlich der Amme Doundoun.«

»Ist auf sie Verlaß?«

»Das frage ich mich noch. Wie ich bemerkt habe, mißtraut ihr Héroard.«

»Ach! Héroard beobachten Sie auch?«

»Madame, in den Gemächern des Königs späht unablässig jeder nach jedem.«

»Warum denn?«

»Um sich zu vergewissern, ob alle, die dort sind, dieselbe Gesinnung gegenüber dem König, der Regentin und den beiden Marquis von Ancre hegen.«

»Den beiden Marquis von Ancre?«

»Concini und seine Frau, so nennt sie der Volksmund. Mein Vater nennt sie auch manchmal Conchine und Conchinasse.«

»Wie nimmt es der kleine König auf, das beständige Ziel aller Augen und Ohren zu sein?«

»Auch der Beobachtete ist gleichzeitig Beobachter, und in der Beobachtung zeigt er sich scharfsinnig, weit über sein Alter hinaus.«

»Und wie steht es mit seinen Studien?«

»Nun, das ist der schwache Punkt!«

|141|»Was heißt das? Haben Sie nicht eben gesagt, es fehle Ludwig nicht an Scharfsinn und Verstand?«

»Der Mangel, Madame, liegt weniger bei dem Lernenden als bei den Lehrenden. D’Yveteaux – sein erster Hofmeister, noch vom seligen König ernannt – war keine gute Wahl. Er lehrte das bißchen Latein, das er konnte. Außerdem war er nicht gewissenhaft. Oft kam er nicht und ließ sich auch nicht vertreten. Was die Hofmeister angeht, die nach seiner Entlassung von der Königin berufen wurden, so sind es gebrechliche alte Herren.«

»Sie sagten, daß zu den Ersten Kammerherren auch der Marquis von Ancre gehört: also ist auch er oft da?«

»Ganz im Gegenteil. In den Gemächern des Königs zeigt er sich selten. Und wenn er kommt, stößt er den König, der überaus schamhaft ist, durch seine Schamlosigkeit vor den Kopf.«

»Wie das?«

»Nun, als man Ludwig neulich abends zu Bett brachte, erlaubte sich der Marquis von Ancre, der Amme die Hand an den Busen zu legen und zu sagen: ›Sire, ich halte dafür, daß die Frauen, die Euch zu Bette bringen, mit Monsieur d’Aiguillon, Eurem Großkämmerer, und mir, Eurem Ersten Kammerherrn, schlafen.‹«

»Ein unappetitlicher Mensch! Und was sagte der kleine König?«

»Er blickte den Marquis von Ancre zornig an, kehrte ihm den Rücken und murmelte zwischen den Zähnen: ›Die Schändlichen!‹ Beachten Sie, daß er sich noch im Zorn beherrschte, denn er sagte nicht: ›Der Schändliche!‹, sondern: ›Die Schändlichen!‹, so als läge die Geilheit bei den Kammerfrauen und nicht bei Concini.«

»Das scheint in der Tat von Finesse zu zeugen. Er schont den Marquis.«

»Obwohl der ihn, Madame, wenig schont, sondern ihm höchst ungezwungen begegnet und ihn im stillen für einen Idioten hält.«

»Ist das nicht sehr töricht von diesem Vermessenen?«

»Das wird sich zeigen.«

»Wenn ich Ihre Erzählung recht verstehe, Monsieur, sind Sie auf dem besten Weg, der Favorit des Königs zu werden.«

»Nein, Madame, ich bin ein Freund des Königs, sein Favorit ist Luynes, sein Vogelsteller.«

|142|»Und was für ein Mensch ist der?«

»Vergebung, Madame, soweit bin ich noch nicht. Im Augenblick muß ich unser Zwiegespräch beenden und von Ihnen Urlaub nehmen, so reizend Sie immer sind.«

»Noch ein Schlag aus der Schöpfkelle.«

»Noch ein Kratzerchen Ihrer Krallen! Madame, sagen Sie mir offen: Mögen Sie meinen kleinen König?«

»Ich bin vernarrt in ihn. Wie gern hätte ich ihn in die Arme genommen und ihn über seinen großen Kummer getröstet.«

»Leider wird dieser große Kummer, schöne Leserin, nicht sein einziger bleiben in jenem Jahr 1611.«

* * *

Was mich angeht, so lebte ich monatelang in der unerträglichen Bangnis des Wartens, die kaum gelindert wurde, als Bassompierre von Heidelberg mit Nachrichten wiederkehrte, die nicht gut, aber auch nicht schlecht waren.

»Oh, schöner Neffe!« rief er, indem er mir seinen Arm um die Schulter schlang, »in so einem kleinen, protestantischen deutschen Fürstentum zu leben heißt tausend Tode sterben! Grau und Kälte verbünden sich mit gelahrter deutscher Ernsthaftigkeit und Sittenstrenge, mit dem Mangel jeglicher höflichen Konversation, mit der Gleichgültigkeit gegen die Künste und der Angst vor der Sünde, so daß das Leben aus einer trübseligen Folge verordneter Pflichten besteht. Karten, Würfel, Bälle, Ballette, Opern, Komödien, selbst ein schlichtes Kokettieren – alles ist verboten. Und wenn Ihr wagt, einer Dame etwas Artiges zu sagen, schaut sie Euch mit einem Schrecken an, als wäre Beelzebub persönlich der Hölle entstiegen, um sie in sein Flammenreich zu entführen.«

»Und Frau von Lichtenberg?«

»Darauf komme ich noch, schöner Neffe, nicht so ungeduldig! Wißt Ihr, was bei Pfälzer Edelleuten das Hauptvergnügen ist? Sie setzen sich um einen Kachelofen, strecken die gestiefelten Beine von sich, paffen lange weiße Tabakspfeifen, trinken eine Maß nach der anderen und erzählen sich Jagdgeschichten. Die Damen warten derweil in einem Salon nebenan, bis die Herren Gemahle von dieser köstlichen Lustbarkeit genug haben; und weil besagte Gemahle nicht sehen, wozu es |143|sonst noch nützlich wäre, richten sie wahr und wahrhaftig nur einmal im Jahr das Wort an sie: ›Legt Euch hin, meine Teure! Ich will Euch ein Kind machen!‹«

»Und Frau von Lichtenberg?«

»Darauf komme ich … Sie ist endlich nun im Besitz ihres Erbteils, und die Minister Friedrichs V. haben ihre Abreise nach Frankreich auch genehmigt, aber Friedrich selbst, der vierzehn Jahre alt ist und seine Autorität beweisen will, hat ihr die Abreise verboten. Nun denke ich aber, sobald er seine Minister mores gelehrt und seine Herrschaft durchgesetzt hat, wird er dieses Verbot aufheben, einmal, weil es grundlos ist, und zum anderen, weil Ulrike als seine Cousine von ihrer mächtigen Familie starke Unterstützung erfährt.«

Langsam und schwer gingen der Frühling, der Sommer dahin, ohne Frau von Lichtenberg zurückzubringen. Und sogar unser Briefwechsel wurde sehr gezwungen, weil die Gräfin, Bassompierre zufolge, argwöhnte, daß ihre und meine Briefe geöffnet wurden. Tatsächlich erfuhr ich später, daß sie sich nicht täuschte, denn Friedrich V. hatte in seinem Land eine Postzensur eingeführt, womit er bereits in jungen Jahren den despotischen Charakter bewies, der ihm später zum Verhängnis werden sollte.

Wie oft ritt ich in die Rue des Bourbons vor das Haus Frau von Lichtenbergs, um nachzuschauen, ob die Fenster der ersten Etage offenstanden oder geschlossen waren: was überhaupt nichts besagte, denn von Beck und das Gesinde wohnten vermutlich im Erdgeschoß und lüfteten oder lüfteten nicht, je nach dem Wetter. Aber weil der Anblick des Hauses mir jedesmal das Herz zusammenschnürte und ich um nichts auf der Welt ein zweites Mal meine Würde aufs Spiel setzen und an die Tür klopfen wollte, um von Beck auszufragen, beschloß ich, ein für allemal aufzuhören mit diesen schwermütigen Pilgerfahrten, schließlich würde meine Gräfin mich bestimmt zu sich rufen, sobald sie in Paris eingetroffen wäre. Aber selbst daran zweifelte ich manchmal, weil ihre Briefe wegen der Zensur so kurz waren. Meine waren allerdings nicht besser, denn auf Bassompierres Empfehlung hin schrieb ich ihr mit der größten Zurückhaltung, wenn auch unter Seufzern und Tränen, die sie aber den kühlen, korrekten Floskeln schwerlich ansehen konnte.

|144|Manchmal kam es mir so vor, als ob die Trennung und diese nichtssagenden Briefe den Saft meiner Liebe nach und nach stocken ließen und mir am Ende sogar jedes Interesse am gentil sesso1 nehmen würden.

Als ich eines Tages bei einer Siesta mit Louison vor Lustlosigkeit versagte, fühlte ich mich so gedemütigt, daß ich es meinem Vater gestand. Er drückte mich an sich und sagte lächelnd: »Macht Euch nichts daraus. In diesen Dingen regiert der Kopf. Eure Liebe ist anderswo, das ist alles.«

Jedenfalls ermutigte mich mein Vater gegen diese Trübseligkeiten und Melancholien, weil, wenn ich auch den Glauben an die Rückkehr Frau von Lichtenbergs verlor, er unerschütterlich auf sie baute. »Man sieht«, sagte er, »daß Ihr noch nicht wißt, was eine liebende Frau ist. Für ihre Liebe würde sie durch Eisen und Feuer gehen.«

Gott sei Dank, mußte die Gräfin nicht durch Eisen und Feuer, sondern nur durch zwei Grenzen gehen, eine auf Pfälzer und eine auf französischer Seite, und das vermittels der Zaubermacht zweier dummer Papiere, deren erstes sie ebensoviele Gesuche gekostet hatte wie das zweite Geld. Aber dieses Wunder ereignete sich erst Anfang November, als in Paris wieder Winter und Kälte einzogen, im Verein mit ihrem Freund, dem Tod, dem immer die Ärmsten den größten Tribut entrichten.

Am neunten November, als ich im Champ Fleuri allein mit La Surie zu Mittag aß (mein Vater weilte auf seinem Gut Le Chêne Rogneux zu Montfort-l’Amaury), brachte mir ein Bote ein kleines, so knappes wie mich überwältigendes Billett:

 

Mein Freund,

ich wäre überglücklich, wenn Sie mich heute um drei Uhr nachmittags in der Rue des Bourbons besuchen könnten.

Ihre Dienerin

Ulrike.

 

Ich wäre ohnmächtig geworden, hätte La Surie, der mich erbleichen sah, mir nicht einen tüchtigen Schluck Wein eingeflößt, der mein Gehirn einigermaßen wieder ins Lot brachte. Immerhin dauerte es noch eine Weile, bis ich gänzlich bei Sinnen war. La Surie redete, ich hörte nichts. Als der kleine |145|Laufbursche mich erinnerte, daß er auf eine Antwort warte, war ich außerstande zu sprechen. Schließlich legte sich diese Tollheit, und ich schrie dem Boten zu: »Sie lautet: ja! Millionenmal ja!« Und ich umarmte ihn und gab ihm für seinen Heimweg ein Goldstück. Weshalb La Surie schimpfte, kaum daß der Bursche uns den Rücken kehrte. Ich pfiff drauf, küßte und umarmte auch ihn wie verrückt. Dann lief ich davon, hinauf in meine Kammer und warf mich auf’s Bett.

Die Minuten wurden mir zu Jahrhunderten, die mich von diesem ›drei Uhr nachmittags‹ trennten. Ich starrte auf meine Uhr, als hätte mein wilder Blick die Macht, die Zeiger vorwärtszujagen. Dieser Chronometer war ein prunkvolles Geschenk, das Madame de Guise mir kürzlich gemacht hatte und das meinem Vater denn doch ›ein bißchen zuviel des Luxus‹ war, denn das Gehäuse war auch noch mit Edelsteinen besetzt. Aber ich liebte diese Uhr um der Liebe der Spenderin willen und auch, weil die Kapsel, wenn man sie öffnete, innen eine bukolische Szene zeigte, in welcher der Schäfer Céladon die schöne Astrée umarmte, nachdem er durch böse Listen so lange und grausam von ihr getrennt war. Dennoch trug ich diese Kostbarkeit, vielleicht von meines Vaters Hugenotterei beeinflußt, nicht am Halsband zur Schau, wie es damals Mode war, sondern im Ärmelaufschlag meines Wamses. Endlich, als der Augenblick mir gekommen schien, sprang ich vom Bett, machte Toilette, legte mein schönstes Gewand an und rief aus dem Fenster zum Hof, man möge mein Pferd satteln und La Barge aufstöbern, weil der Bengel sicherlich bei unseren Kammerfrauen steckte; dann trat ich vor den Spiegel und kämmte mich sorgsamst. Dabei fiel mir ein, wie ich vor meinem ersten Besuch bei Frau von Lichtenberg meine Siesta mit Toinon abgebrochen und von ihr verlangt hatte, mir die Haare zu kräuseln. Was sie aus Eifersucht nur sehr widerwillig tat und mir dabei allerhand Bosheiten an den Kopf warf.

Leider hatte ich mich in der Zeit verrechnet und war eine Viertelstunde zu früh vorm Hôtel der Gräfin. Ich war verzweifelt, als wäre dies ein böses Omen, und weil ich wußte, wie ungehalten Damen sein konnten, wenn man vor der befohlenen Stunde eintraf, wendete ich, ritt die Rue Saint-André-des-Arts entlang, dann gemächlich über die Brücke Saint-Michel, saß sogar ab, um im Fenster eines Goldschmieds eine goldene |146|Kette zu bewundern, stieg wieder in den Sattel und ritt an der Sainte-Chapelle vorbei zum Königlichen Garten.

»La Barge«, sagte ich, »bei der hohen Dame, die wir besuchen, wirst du schön deinen Mund halten und nichts hören, nichts sehen.«

»Warum denn, Herr Chevalier?«

»Weil die Leute des Hauses nicht dieselbe Religion haben wie wir.«

»Herr Chevalier!« sagte La Barge, »sind es etwa auch Juden?«

»Nein, es sind Hugenotten.«

»Das ist auch nicht besser«, sagte La Barge.

Ich verschob die Aufklärung meines Pagen über die Ketzer, ob Juden, ob Calvinisten, auf später und beschränkte mich auf das Augenblickliche.

»Kurzum, La Barge«, sagte ich streng, »kein Geschwätz mit dem Gesinde des Hauses und keines nachher im Beichtstuhl! Bin ich dir ein guter Herr, La Barge?«

»Ich wüßte mir keinen besseren, Monsieur!«

»Dann erhalte ihn dir!«

»Könnte ich ihn verlieren, Monsieur?« fragte La Barge erschrocken.

»Nicht, wenn du dir die Regel hinter die Ohren schreibst: du schuldest mir ebenso Treue wie ich meinen Freunden, und unter diesen steht Frau von Lichtenberg mir am nächsten.«

»Herr Chevalier«, sagte er, »ich werde es nicht vergessen.«

Ob fertig oder nicht, eine hohe Pariser Dame hätte mich eine halbe Stunde schmachten lassen, bevor sie mich vorließ. Aber Frau von Lichtenberg, obwohl sie sonst über all die Feinheiten gebot, die den weiblichen Umgang so angenehm machen, war über solch kleinliche Koketterien erhaben, mit denen unsere Damen vom Hofe zugleich auf ihren Rang und auf die Macht pochen, die sie sich über unsere so schwachen Herzen zuschreiben. Sie empfing mich, sowie ich den Fuß in ihr Haus setzte, und das Schönste war, daß sie nach den ersten gewechselten Höflichkeiten rundheraus sagte: »Habe ich Sie vom Fenster nicht schon vor einer Viertelstunde durch meine Straße reiten sehen? Sie hätten ruhig anklopfen können. Ich war längst fertig und habe auf Sie gewartet.«

Dieses so bar aller Künstelei gemachte Geständnis bezauberte |147|mich. Und um so mehr, als es mit einer Zurückhaltung geäußert wurde, die mich nicht ermutigte, es auszunutzen.

Indessen betrachtete ich die Gräfin, ohne ein Wort zu sagen. Die Begrüßung hatte all meinen Mut aufgebraucht, mir zitterten die Beine. Und weil sie mir Blick für Blick zurückgab, auch ohne ein Wörtchen, wurde das Schweigen, so köstlich es anfangs war, schließlich doch unerträglich. Aber aus jenem Naturell, das ich über alles auf der Welt an ihr bewunderte, brach sie es.

»Monsieur«, sagte sie, »sicher erinnern Sie sich, daß ich um drei Uhr eine Kleinigkeit zu mir zu nehmen pflege, wir haben diesen Imbiß oft geteilt, als Sie mein Schüler waren. Wollen wir an diese hübsche Gewohnheit anknüpfen?«

Es gelang mir, zu sagen, daß ich entzückt wäre. Sie läutete, ein Diener kam und trug ein niedriges Tischchen herein mit einer kleinen Karaffe Wein, kleinen runden Waffeln und einem Meißener Porzellantöpfchen voll Konfitüre. Frau von Lichtenberg setzte sich in einen Lehnstuhl, und auf einen Wink von ihr brachte der Diener einen Schemel für mich, dann zog er sich unter Verbeugungen zurück, auf welche die Hausherrin mit höflichem Nicken antwortete, was die Herzogin von Guise niemals getan hätte, weil sie von Kind auf gelernt hatte, daß Diener, Lakaien und Kammerzofen zu luftige Wesen seien, als daß man sie kennen oder wiedererkennen müßte.

Unser Schmaus machte uns nicht gesprächiger, aber er machte das Schweigen behaglich, denn Frau von Lichtenberg verwandte auf das Bestreichen einer Waffel, die für mich bestimmt war, eine so gewissenhafte Sorgfalt, daß sie dadurch der Worte enthoben wurde. Es war ein Gefühl, als ob dieser Imbiß mich in der Zeit wundersam zurückversetzte, als ob unsere lange Trennung vergessen war und wir nur die Gesten, Haltungen und Beschäftigungen von gestern oder vorgestern wiederaufnahmen. Aber während ich meine Augen auf der guten Samariterin ruhen ließ, wohl wissend, daß sie mich, auch ohne aufzublicken, bei sich fühlte, entging mir nicht, daß die verflossene Zeit sie verändert hatte.

Nun beobachtete ich Einzelnes, das mir in der übermäßigen Wirrnis des ersten Wiedersehens nicht aufgefallen war. Sie war viel eleganter gekleidet als früher, statt Köper trug sie jetzt ein Mieder aus Satinseide und einen ebensolchen Reifrock mit |148|kleiner Blumenstickerei. An ihren Fingern blinkte nicht mehr nur ein Ring wie sonst. Sie hatte ihre hohe, die Stirn freilassende Haartracht nicht verändert, aber ihre glänzenden schwarzen Haare waren mit einem Netz aus feinen Goldfäden überfangen, an denen hier und dort Perlen schimmerten. Aus Perlen war auch ihr Halsband, was mich noch mehr erstaunte, denn früher hatte ich immer nur eine feine Goldkette an ihr gesehen, mit einem Herzen und einem zerbrochenen Schlüssel daran, das trauervolle Zeichen ihrer Witwenschaft. Außerdem war sie parfümiert – wohl nicht wie die Damen des französischen Hofes, die einen, wenn man in ihre Nähe kam, durch ihre Düfte betäubten –, aber doch so, daß ich es wahrnahm. Und schließlich trug sie goldene Ohrgehänge, die ich vorher schon rechts und links hatte irrlichtern sehen, ohne aber zu erkennen, woher die tanzenden Lichter kamen. Ich betrachtete meine Gräfin noch begieriger. Ihr Gesicht war ruhig, ihre Bewegungen gemessen, und ihre Hände blieben fest und geschickt, als sie meine Waffel bestrich. Allein diese Ohrgehänge verrieten ihre Erregung. Sie zitterten unmerklich, obwohl kein Lufthauch in dem warmen Kabinett ging, wo wir so nah beisammen saßen.

Ich hatte meinerseits den Grünschnabel hinter mir gelassen, der sich vor zwei Jahren bei der Gräfin niedersetzte, um von ihr Deutsch zu lernen, und war nun, was ich dank der Gunst Madame de Guises und der unerhörten Freigebigkeit meines Vaters geworden war: ein Offizier des Königshauses. Nicht daß ich mich damit brüstete, weil ich wohl wußte, daß die Ehre dem Verdienst vorausgeeilt war und daß es nun an dem Verdienst war, die Ehre einzuholen. Doch gab mir dieses Amt, das mir zugleich eine hochgeachtete Stellung, eine beträchtliche Pension und eine Wohnung im Louvre einbrachte, auch eine Unabhängigkeit und eine Würde, durch die ich meinem Status des ewigen Schülers und nachgeborenen Bastards eines großen Hauses auf immer entronnen war. Noch einmal, ich trug die Nase wegen meiner jüngsten Ernennung nicht höher, aber ich war ihrer bewußt, und dieses neue Gefühl war mir, denke ich, auch anzumerken. Daß Frau von Lichtenberg bei unserem Wiedersehen einiges davon spürte und ihm auf den Grund gehen wollte, zeigte sich in den ersten Fragen, mit denen sie unsere Unterhaltung einleitete.

»Mein Freund«, sagte sie, indem sie mir das Tellerchen mit |149|der so sorglich bestrichenen Waffel in die Hände gab, »wie alt sind Sie jetzt?«

»Neunzehn Jahre.«

»Sie sind größer geworden, scheint mir, mindestens zwei Daumen, denn ich kann mich nicht erinnern, daß Sie mich vor zwei Jahren bereits überragten.«

»Sie irren sich nicht, Madame, ich bin gewachsen.«

»Und Sie wirken auch viel reifer und sicherer. Bassompierre hat mir von ihrem fabelhaften Aufstieg am Hof erzählt.«

»Ich verdanke ihn ganz meinem Vater.«

Madame de Guise erwähnte ich nicht, weil die Gräfin, wie ich mich entsann, ein oder zweimal eine gewisse Eifersucht auf meine Patin gezeigt hatte.

»Aber Sie werden sich seiner bestimmt würdig erweisen«, sagte sie, »bei Ihren Talenten.«

»Ich hatte gute Lehrer, Madame«, sagte ich mit einem Lächeln.

Auch sie lächelte.

»Und, wie ich hörte, haben Sie eine Wohnung im Louvre: das ist eine hohe Ehre!«

»Machen Sie mir die große Freude, mich dort zu besuchen?«

»Bedaure«, sagte sie. »Ich habe seit meiner Witwenschaft sehr eingezogen gelebt und gedenke, mein Leben in diesem Punkt nicht zu ändern.«

Das ›in diesem Punkt‹ war ihr herausgerutscht. Mich überlief ein Schauer, was sie bemerkte und woraufhin ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg, die sich langsam über ihre Wangen ausbreitete und, was ich einzig bei ihr je gesehen habe, ihren Hals und einen Teil ihres Dekolletés überzog. Schnell senkte ich die Augen auf meine Waffel, als hätte ich ihre Verwirrung nicht bemerkt, und bald fuhr sie mit leicht belegter Stimme fort zu fragen.

»Wie haben Sie Ihre Wohnung möbliert?«

»Madame de Guise hat mir überlassen, was sie ihren ›ausgemusterten Kram‹ nennt.«

»Wie geht es ihr?« fragte sie höflich.

»Sehr gut, auch wenn sie sich von Zeit zu Zeit für todkrank hält.«

»Und Ihre Halbschwester, die Prinzessin Conti, die Sie so sehr bewundern?«

|150|»Oh, inzwischen bin ich mit meiner Bewunderung sparsamer geworden«, sagte ich, weil ich spürte, daß ihr die Prinzessin ebenso grundlos ein kleiner Dorn im Auge war.

»Und hatten Sie unter den Ehrenjungfern der Königin nicht eine Cousine, eine geborene Caumont?«

»Ja, Mademoiselle de Fonlebon. Wie ich hörte, heiratet sie dieser Tage einen älteren Edelmann, ebenso reich wie sie.«

»Hatte der selige König Ihnen nicht versprochen, Ihnen den Titel Herzog von Aumale zu verleihen, wenn Sie die Tochter des ehemaligen Herzogs heiraten?«

»Das hatte er auch Bassompierre versprochen«, sagte ich lächelnd, »und Bassompierre hat dieses Angebot auch ausgeschlagen. Ich habe nicht vor, mich in einer Ehe zu begraben, bevor ich alt und grau bin.«

»Und warum?«

»Weil ich mich einer dringlicheren Pflicht widmen will.«

»Und die wäre?«

»Dem König zu dienen.«

Obwohl ich keinerlei Ungeduld über dieses Verhör hatte erkennen lassen, mußte Frau von Lichtenberg bemerkt haben, daß sie es ein bißchen weit getrieben hatte, und zur Ablenkung stellte sie, nun in mehr unbeteiligtem Ton, mehrere Fragen, deren Antworten sie zweifellos viel weniger interessierten.

»Nötigt Sie Ihr Amt als Erster Kammerherr, jeden Tag beim König zu sein?«

»Ich sehe den König täglich, aber nicht den ganzen Tag. Ich begleite ihn weder zur Messe noch zur Jagd, und da er diesen Beschäftigungen, freiwillig oder gezwungen, viele Stunden widmet, bleibt mir viel freie Zeit.«

»Schlafen Sie immer in Ihrer Wohnung im Louvre?«

»Ich bin dazu nicht gehalten, aber ich tue es.«

»Sie haben sicher auch Bedienstete?«

»Ich habe zwei.«

Da diese lakonische Antwort sie kaum befriedigte, fragte Frau von Lichtenberg weiter: »Und als was dienen sie Ihnen?«

»Mein Page dient mir zugleich als Bote, Reitknecht und Lakai, und für meine Haushaltung und meine Küche habe ich eine Kammerfrau.«

Weil sie diesmal Zeit zur Überlegung brauchte, nahm die |151|Gräfin die Weinkaraffe von dem kniehohen Tischchen und füllte mein Glas. Als sie aber sah, daß meine Hände von dem Teller mit der nicht angebissenen Waffel besetzt waren, begriff sie, daß ihre Fragen mir noch keine Muße zum Essen gegönnt hatten, und mit sichtlicher Reue stellte sie den Kelch wieder auf den Tisch und schwieg. Aber da ich die Waffel auch jetzt nicht zum Mund führte, weil ich wußte, daß wir soeben an einen sehr heiklen Punkt geraten waren, der ausgeräumt werden mußte, wurde unser beiderseitiges Schweigen auf einmal viel drückender, als ihr lieb sein konnte. Ihr Atem ging schwerer, und ihre Ohrgehänge bebten. Sie mußte dieses leichte Zittern bemerkt haben, denn sie hob die Hand und legte sie auf den Schmuck, wie um dadurch selbst zur Ruhe zu finden. Diese Geste rührte mich unendlich, und aus einem jähen und leidenschaftlichen Antrieb eilte ich ihr zu Hilfe dabei, das Skalpell zu führen, das in mein eigenes Leben schneiden sollte.

»Madame«, sagte ich leise und ernst, »wenn Sie mir Fragen über diese Kammerfrau stellen wollen, bitte, tun Sie es. Ich fühle mich Ihrer Freundschaft viel zu sehr verpflichtet, um Ihnen nicht freimütig zu antworten.«

»Mein Freund, ich danke Ihnen«, sagte sie gefaßt.

Und nach einem erneuten Schweigen fuhr sie ein wenig überstürzt fort: »Wie alt ist diese Kammerfrau?«

»Gut zwanzig Jahre.«

»Wann haben Sie sie eingestellt?«

»Nach Ihrer Abreise nach Heidelberg.«

»Wo schlafen Ihre Leute?«

»Mein Page auf einer Matratze in einem Kabinett neben meinem Schlafzimmer und meine Kammerfrau auf einer Matratze im Empfangssalon. Für den Tag werden die Matratzen in das Kabinett geräumt.«

»Wie heißt Ihr Page?«

»La Barge.«

»Und Ihre Kammerfrau?«

»Louison.«

»Ihre erste Zofe hieß, wenn ich mich recht erinnere, Toinon. Und wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, entsprang sie Bassompierres Serail der ›Nichten‹. Gehört Louison auch zu der Sorte?«

|152|»Nein.«

»Sind Sie es immer noch gewohnt, nach dem Mittagsmahl Siesta zu halten?«

»Ja, Madame.«

Ein langes Schweigen trat ein, so als hätte die Gräfin Mühe, die Frage auszusprechen, die ihr seit Beginn dieser Unterhaltung auf den Lippen brannte.

»Monsieur«, sagte sie endlich in eisigem Ton, »macht Louison Ihr Bett, oder steigt sie mit Ihnen ins Bett?«

»Sie steigt mit mir ins Bett.«

»Mein Freund«, sagte Frau von Lichtenberg nach einem neuerlichen Schweigen, »Sie haben mir gegenüber vor meiner Abreise nach Heidelberg so verbindliche Empfindungen bekundet und Sie mir auch in Ihren Briefen so viele Male zu verstehen gegeben – und die bewundernswerte Regelmäßigkeit Ihrer Post versicherte mich Ihrer Aufrichtigkeit –, daß ich, wenn Sie erlauben würden, Ihnen gerne einen Rat geben möchte, einen einzigen, aber einen sehr dringlichen.«

»Madame, ich bin begierig, ihn zu hören.«

»Ich denke, Monsieur, es wäre in Anbetracht unserer Beziehungen und dessen, was daraus werden könnte, wünschenswert, daß Sie diese Kammerfrau in das Haus Ihres Vaters zurückschickten und dafür einen Diener einstellten.«

»Es wird morgen geschehen.«

»Gleich morgen?«

»Gleich morgen, Madame.«

Frau von Lichtenberg sank mit Rücken und Kopf an die Lehne ihres Armstuhls zurück, stieß einen Seufzer aus und wirkte so erschöpft, daß ich eine Ohnmacht befürchtete. Wie La Surie es auf Mittag mit mir gemacht hatte, ergriff ich den für mich eingeschenkten Weinkelch und reichte ihn ihr. Sie trank ihn in einem Zuge leer, und in ihre Wangen kehrte ein wenig Farbe zurück.

»Mein Freund«, sagte sie schließlich, »ich werde nie genug Worte haben, Ihnen für Ihre Geduld, Ihre Höflichkeit, Ihre Offenheit zu danken. Dieses Gespräch von Herz zu Herzen hat plötzlich alle Zweifel behoben, die ich während meiner langen Abwesenheit nährte. Und es erscheint mir sogar gegen mich selbst beinahe grausam, dieses Zwiegespräch gerade jetzt zu unterbrechen, da es mir soviel gebracht hat. Aber, Monsieur, |153|vergeben Sie mir, ich bin sehr, sehr müde und fühle mich noch nicht allzu erholt von meiner langen Reise.«

Sie stand auf, während sie dies sagte, und da sie wankte, wagte ich es, sie in meine Arme zu nehmen. Sie überließ sich mir und bot mir, ihren reizenden Kopf hebend, die Lippen zum Kuß. Und obwohl ihr Reifrock mich hinderte, sie so an mich zu ziehen, wie ich gewollt hätte, wurde nie ein Kuß glühender gegeben noch erwidert.

Gleichwohl fühlte ich, daß es bei der starken Bewegung, die in ihr arbeitete und die aus ihren großen, tränenglänzenden Augen sprach, sehr töricht von mir gewesen wäre, hätte ich die Dinge überstürzt, daß es vielmehr hieß, behutsam vorzugehen, um ihre Gefühle nicht zu überrumpeln. Und wirklich faßte sie sich, löste sich ein wenig von mir, während sie aber meine Hände hielt, als erwarte sie, daß ich fest entschlossen an ihrer Seite Anker werfen werde, auf daß wir von nun an wie zwei Schiffe Bord an Bord segelten.

»Lieben Sie mich auf immer«, sagte sie in einem Ton, der gebieterisch und flehentlich in einem war.

Sie ließ meine Hände los, dafür aber hakte sie sich in meinen Arm ein und nahm Besitz von meinem Handgelenk, das sie wie ein Steuermann das Ruder einem leisen, anhaltenden Druck unterzog und dadurch mich leitete. Den Weg, den sie mich führte, kannte ich gut, ich war ihn vor unserer Trennung an die hundertmal gegangen. Sie lenkte unsere Schritte dem großen Empfangssalon zu, wo sie mich wie früher der Dienstfertigkeit ihres maggiordomo überließ.

»Müssen wir uns schon trennen?« fragte ich seufzend.

»Bis morgen um drei«, sagte sie leise. »Außerdem verlasse ich Sie nicht. Ich brauche eine Nacht und einen Tag, um allein zu sein mit meinem Fieber, meinen Gedanken. Bitte, lassen Sie sie mir.«