1997: MARTIN ODUM LERNT DIE KATOWSKI-ERÖFFNUNG KENNEN
Martin trat vor dem überfüllten Flughafen auf die Straße und hob die Hand, um eines der inoffiziellen Taxis heranzuwinken, die auf der Suche nach Kunden waren, welche sich nicht von den Fahrern der regulären Taxis ausnehmen lassen wollten. Im Nu hielt vor ihm ein verbeulter Sil, und das Beifahrerfenster senkte sich.
»Kuda«, fragte der Fahrer, ein älterer, bebrillter Herr, der eine schmale Krawatte und ein kariertes Sakko mit breitem Revers trug.
»Sprechen Sie meine Sprache?«, fragte Martin.
»Njet, njet«, beteuerte der Fahrer, um sich dann aber einwandfrei verständlich zu machen. »Wohin wollen Sie?«, fragte er.
»In ein Dorf nicht weit von Moskau, Prigorodnaja. Kennen Sie das?«
Der Fahrer nickte. »Jeder über fünfzig weiß, wo Prigorodnaja ist. Waren Sie schon mal dort?«
»Nein. Noch nie.«
»Na, ist nicht schwierig zu finden. Liegt an der Straße von Moskau nach St. Petersburg. Große Tiere hatten da früher eine Datscha, aber die sind längst unter der Erde. Jetzt leben in Prigorodnaja nur noch kleine Tiere.«
»So wie ich«, sagte Martin mit einem müden Grinsen. »Wie viel?«
»Hin und zurück hundert Dollar, die Hälfte jetzt, die andere Hälfte, wenn Sie nach Moskau zurückwollen.«
Martin nahm auf dem Beifahrersitz Platz und holte zwei Zwanziger und einen Zehner hervor – so wie Dante Pippen die alawitischen Prostituierte in Beirut einige Legenden früher bezahlt hatte. Dann warf er sich noch ein Aspirin gegen den dumpfen Schmerz im Brustkorb ein und sah zu, wie der Fahrer den Sil durch den dichten Verkehr Richtung Moskau steuerte.
Nach einer Weile sagte Martin: »Sind Sie nicht schon ein wenig alt für den Job?«
»Ich bekomme nur eine magere Rente«, erklärte der Fahrer. »Das Auto gehört dem jüngsten Sohn meiner ersten Frau, er war mein Stiefsohn vor der Scheidung. Einer dieser schlauen Kapitalisten, die Privatisierungscoupons, die an die Bevölkerung verteilt wurden, aufgekauft haben, um sie dann mit Gewinn an die neuen russischen Mafiosi weiterzuverkaufen. So konnte er sich einen Sil leisten. Er leiht ihn mir, wenn die sündhaft hohe Miete meiner inzwischen privatisierten Wohnung fällig ist.«
»Was haben Sie beruflich gemacht?«
Der Fahrer schielte kurz aus den Augenwinkeln zu seinem Passagier hinüber. »Ob Sie’s glauben oder nicht, ich war ein berühmter, sogar berüchtigter Schach-Großmeister – 1954 auf Platz dreiundzwanzig in der Sowjetunion, da war ich neunzehn und Komsomol-Champion, so hieß die kommunistische Jugendorganisation.«
»Wieso berüchtigt?«
»Mir wurde nachgesagt, Schach würde mich total verrückt machen. Die Kritiker, die das sagten, hatten keine Ahnung. Schach kann niemanden verrückt machen, wie ein Psychologe, der selbst Schach gespielt hat, einmal erklärt hat. Durch Schach bleiben verrückte Leute normal. Spielen Sie Schach?«
»Früher mal. Inzwischen komme ich nicht mehr dazu.«
»Dann haben Sie vielleicht mal von der Katowski-Eröffnung gehört?«
»Tatsächlich, ja, kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Das bin ich«, sagte der Fahrer begeistert. »Hippolit Katowski wie er leibt und lebt. Meine Eröffnung hat auf allen ausländischen Turnieren, bei denen ich dabei war, für Furore gesorgt – Belgrad, Paris, London, Mailand, einmal sogar in Miami, ein anderes Mal in Peking, als die chinesische Volksrepublik noch ein sozialistischer Verbündeter war und Mao Tse-tung ein Genosse.«
Martin sah die Wehmut in den Augen des alten Mannes. »Und wie ging die Katowski-Eröffnung?«, fragte er.
Katowski drückte wütend auf die Hupe, als sich ein Taxi vor ihn drängte. »Zu Sowjetzeiten wären solche Fahrer zur Baumwollernte nach Zentralasien geschickt worden. Russland ist nicht mehr Russland, seit die Kommunisten nicht mehr an der Macht sind. Ha! Wir haben die Freiheit gewonnen, um zu verhungern. Die Katowski-Eröffnung geht so: Man opfert einen vergifteten Bauern und positioniert beide Läufer auf der Damenseite, um die Diagonalen zu kontrollieren, während die Springer auf der Königsseite vorstoßen. Damit habe ich zwei Jahre lang jeden Gegner geschlagen, bis Bobby Fischer mich in Reykjavik besiegt hat. Er hat einfach den vergifteten Bauern ignoriert und auf der Damenseite rochiert, nachdem ich meine Läufer in Stellung gebracht hatte.«
Katowski verstummte und spielte die Eröffnung im Kopf noch einmal durch, wobei sich seine Lippen bewegten. Martin unterbrach die Partie nicht. Der Sil passierte eine große Reklametafel für Marlboro und eine Metrostation, aus der Scharen von Arbeitern strömten. Müdigkeit überkam Martin (die Reise von Hrodna nach Moskau hatte zwei Tage und zwei Nächte gedauert), und er schloss für eine Sekunde die Augen, woraus zwanzig Minuten wurden. Als er sie wieder aufschlug, war der Sil auf der Ringstraße. Riesige Kräne ragten empor, Hochhäuser mit Glasfassaden schossen auf beiden Seiten der breiten Schnellstraße in die Höhe. An einer Baustelle verlangsamte sich der Verkehr kurz, doch dann ging es wieder zügig weiter. Schließlich bogen sie auf die Landstraße nach St. Petersburg ab.
»Bis Prigorodnaja ist es nicht mehr weit«, sagte Katowski. »Ich war einer von Boris Spasskis Beratern, als er 1972 gegen Fischer verlor. Hätte er doch bloß auf mich gehört, er hätte haushoch gegen Fischer gewonnen, weil der sich einen Patzer nach dem anderen geleistet hat. Ha! Es heißt, eine Schachpartie gewinnt derjenige, der den vorletzten Fehler macht. So – da kommt schon die Abfahrt nach Prigorodnaja. Ach, wie einem doch die Zeit durch die Finger rinnt, wenn man nicht die Faust ballt – ich kann mich noch an die Straße erinnern, als sie nicht asphaltiert war. 1952 und zum Teil auch noch 1953 wurde ich jeden Sonntag von einem Chauffeur zur Datscha von Lawrenti Pawlowitsch Berija gebracht, um seiner Frau Schach beizubringen. Mit dem Unterricht war es zu Ende, als Genosse Stalin starb und Berija, der hinter Stalins Rücken die Gulags errichtet und die loyalsten Genossen liquidiert hatte, hingerichtet wurde.«
Als Katowski die kleine Straße hinunterfuhr, vorbei an einem Schild mit der Aufschrift »Prigorodnaja: 7 Kilometer«, fing Martins angebrochene Rippe wieder an zu schmerzen. Seltsamerweise fühlte sich der Schmerz irgendwie … vertraut an.
Aber wie in Gottes Namen konnten Schmerzen vertraut sein?
Martin spürte ein Pulsieren in den Schläfen, stets das Vorzeichen von rasenden Kopfschmerzen, und er massierte sich die Stirn. Er merkte, wie er in andere Rollen hineinglitt und wieder heraus. Er hörte Lincoln Dittmann träge murmelnd aus einem Gedicht rezitieren.
… die stillen Kanonen, glänzend wie Gold, rumpeln sacht über Steine. Stille Kanonen, bald ist das Schweigen vorbei, bald seid ihr bereit, das blut’ge Geschoß zu beginnen.
Und die Stimme des Dichters mit dem schmutzigen Hemd, das am Kragen offen stand.
Anblick am Morgen – im Lager vor dem Lazarettzelt auf Tragen (liegen drei Tote) über jeden eine Decke gebreitet …
Andere Stimmen, kaum hörbar, raunten in dem Hirnlappen, wo das Gedächtnis sitzt. Nach und nach verstand er Gesprächsfetzen.
Ladys and Gentlemen … Martin Odums ursprüngliche Biographie angesehen.
Seine Mutter war …
… sie war Polin … nach dem Zweiten … immigriert …
Das ist doch was …
… direkt vor unserer Nase …
Der Fahrer des Sil warf seinem Passagier einen Blick zu. »Sehen Sie die Schornsteine da hinten, die den schmutzigen weißen Rauch ausstoßen?«, sagte er.
»Mm-hm.«
»Das ist eine Papierfabrik. Die wurde natürlich erst nach Berijas Zeit gebaut, klar, der hätte das nie erlaubt. Jetzt wissen Sie, warum hier heutzutage nur noch kleine Tiere leben – es stinkt nämlich tagtäglich rund um die Uhr nach Schwefel. Die Bauern hier behaupten, man würde sich dran gewöhnen und es irgendwann sogar unangenehm finden, keine stinkige Luft einzuatmen.«
Sogar der Schwefelgeruch, der Martin in der Nase brannte, kam ihm vertraut vor.
»Genosse Berija hat Schach gespielt«, erinnerte sich der Fahrer. »Schlecht. So schlecht, dass ich mich ganz schön geschickt anstellen musste, um gegen ihn zu verlieren.«
… Lincoln Dittmann war im Dreiländer … hörte, wie ein alter Losverkäufer mit einer Prostituierten Polnisch sprach … sie einigermaßen verstehen konnte …
… seine Mutter ihm als Kind Gutenachtgeschichten auf Polnisch …
Martin fiel das Atmen schwer. Ihm war, als wären ihm Erinnerungen im Hals stecken geblieben und raubten ihm die Luft, als müsste er sie erst ausspeien, bevor er sein Leben fortsetzen konnte.
Sie kamen an einer verlassenen Zollstation vorbei, mit einem verblichenen roten Stern über der Tür. Gegenüber und unterhalb einer flachen Böschung schlängelte sich ein Fluss. Er führte offenbar Hochwasser, denn der Ufersaum auf beiden Seiten hatte sich in seichtes Sumpfland verwandelt, wo sich lange Grashalme in der Strömung wiegten.
Martin hörte, wie eine Stimme, die er als seine eigene erkannte, laut sagte: »Der Fluss heißt Lesnia, nach dem dichten Wald, durch den er sich auf seinem Weg vorbei an Prigorodnaja schlängelt.«
Katowski verlangsamte das Tempo. »Ich dachte, Sie waren noch nie in Prigorodnaja.«
»War ich auch nicht.«
»Und woher wissen Sie dann, wie der Fluss heißt?«
Martin konzentrierte sich auf die Stimmen in seinem Kopf und antwortete nicht.
Er hat Russisch auf dem College studiert … spricht es mit polnischem Akzent.
… wenn wir sein Polnisch aufpolieren lassen, könnten wir doch gleichzeitig was für sein Russisch tun.
»Anhalten«, befahl Martin.
Katowski brachte den Wagen zum Stehen, zwei Räder auf dem Asphalt, zwei auf dem sandigen Seitenstreifen. Martin sprang aus dem Wagen und ging mitten auf der asphaltierten Straße in Richtung Prigorodnaja. Zu seiner Linken, an einem Hang neben ein paar verkümmerten Apfelbäumen, sah er eine Reihe weiß getünchter Bienenstöcke. Sein lahmes Bein und die angeknackste Rippe schmerzten, die Migräne pochte hinter seiner Stirn, während er durch eine Landschaft ging, die ihm schmerzlich vertraut vorkam.
… Josef als Vorname?
Halb Polen heißt Josef
… deshalb ja gerade …
Ich lese gerade mal wieder Kafka …
… eine polnisch klingende Variante vorschlagen: Kafkor.
Martin spürte eine Unebenheit im Asphalt unter seinen Füßen. Als er nach unten sah, fiel ihm ein kleines Stück Straßendecke auf, etwa so groß wie ein Traktorrad, das man grob ausgebessert hatte. Es war zwar planiert worden, aber die Oberfläche war holprig und der Saum deutlich zu sehen. Er starrte auf die kreisrunde Stelle, und plötzlich wurde ihm schwindelig. Er sank auf die Knie und blickte über die Schulter zu dem Sil, der langsam auf ihn zukam. Seine Augen weiteten sich in Panik, als er spürte, wie er zurück durch die Zeit katapultiert wurde, durch einen senfdicken Schleier aus Erinnerungen. Er sah Dinge, die er kannte, doch sein Verstand, der durch die Angst wie benebelt war, fand nicht die Worte, um sie zu benennen: die Zwillingsschornsteine, die schmutzig weiße Rauchschwaden ausspien, die verlassene Zollstation mit einem über der Tür aufgemalten, verblichenen roten Stern, die Reihe weiß getünchter Bienenstöcke an einem Hang neben ein paar verkümmerten Apfelbäumen. Und dann bezwang er die Panik, nur um sich einem neuen Feind gegenüberzusehen, dem Wahnsinn, denn er hätte schwören können, dass er einen Elefanten über den Hügelkamm kommen sah.
Der alte Mann stand jetzt neben dem Sil, eine Hand an der offenen Tür, und rief seinem Fahrgast klagend zu: »Ich hätte Berija jederzeit vernichten können, aber ich dachte, ich lebe länger, wenn ich ihn gewinnen lasse.«
Die Stimmen in Martins Schädel wurden lauter.
… sich intensiv mit Kafka an der Uni in Krakau beschäftigt.
… im Sommer als Reiseführer in Auschwitz gejobbt.
… eine Stelle im polnischen Fremdenverkehrsbüro in Moskau … unauffällig Kontakt zur DDO-Zielperson.
Die Frage ist, wo treibt sich dieser Samat so rum …
Martins Gesichtsmuskulatur zuckte, als er sich selbst flüstern hörte: »Poschol ti na chuj«, flüsterte er, wobei er beide »o« in poschol bewusst betonte. »Verpiss dich!«
Als Martin sich mühsam aufrichtete und die Straße in Richtung Prigorodnaja hinunterstolperte, fühlte er sich wie in einem schrecklichen Traum gefangen. Konnte es sein, dass er Samat schon einmal begegnet war? Plötzlich sah er sich selbst an der Theke einer vornehmen Bar namens Commercial Club auf der Bolschaja Kommunistitscheskaja sitzen. Vor seinem geistigen Auge konnte er die dünne Gestalt eines Mannes ausmachen, der sich auf den Hocker neben ihm setzte. Er war mittelgroß, hatte ein verkniffenes, trauriges Gesicht, und er trug Hosenträger, die seine Hose hoch auf der Taille hielten. Ein mitternachtsblaues italienisches Designerjackett hing ihm wie ein Cape um die Schultern, darunter trug er ein gestärktes, weißes, bis zu dem ausgeprägten Adamsapfel zugeknöpftes Hemd ohne Krawatte. Die Initialen »S.« und »U.-S.« waren auf die Hemdtasche gestickt. Martin sah sich selbst, wie er die abgerissene Hälfte einer Eintrittskarte fürs Bolschoi-Theater auf die polierte Mahagonitheke legte. Der dünne Mann griff in die Tasche seines Jacketts und holte ebenfalls eine halbe Eintrittskarte hervor. Beide Hälften passten genau zusammen.
Samat hielt die Lippen so ruhig wie ein Bauchredner und murmelte: »Wieso kommen Sie jetzt erst? Der Kontaktmann wurde mir schon für letzte Woche angekündigt.«
»Es dauert seine Zeit, eine Tarnung aufzubauen, eine Wohnung zu mieten, das Treffen wie zufällig aussehen zu lassen.«
»Mein Onkel Tsvetan will Sie so schnell wie möglich sehen. Er hatte dringende Nachrichten für Langley. Er will Garantien, dass er exfiltriert wird, wenn die Sache schief geht. Er will sichergehen, dass die Leute, für die Sie arbeiten, alles Notwendige für den Fall der Exfiltration vorbereiten.«
»Wo kann ich ihn treffen?«
»Er wohnt in einem Dorf nicht weit von Moskau. Es heißt Prigorodnaja. Ich lade Sie übers Wochenende in seine Datscha ein. Wir erzählen allen, wir hätten zusammen ein Zimmer im Wohnheim am Forstinstitut gehabt. Wir haben Informatik studiert, wenn jemand fragen sollte.«
»Ich verstehe nichts von Computern.«
»Genau wie außer mir alle anderen in Prigorodnaja.«
Martin erblickte die ersten Holzhäuser am Rande des Dorfes, jedes mit einem kleinen, umzäunten Garten. Hier und da war eine Kuh oder ein Schwein an einen Baum gebunden. Ein stämmiger Bauer, der auf einem Baumstumpf Holz hackte, blickte auf und erstarrte in der Bewegung. Die große Axt rutschte ihm aus den Fingern, während er den Besucher anstarrte. Er wich zurück wie vor einem Geist, drehte sich dann um und verschwand über den Pfad, der an der kleinen Kirche mit den Zwiebelkuppeln endete, von denen die Farbe abblätterte. Als er sich der Kirche näherte, sah er hinter dem Friedhof einen zementierten Platz mit einem aufgemalten weißen Kreis in der Mitte, der von Motorabgasen schwarz verrußt war. Ein orthodoxer Priester mit einer verwaschenen schwarzen Robe, unter der seine nackten, dünnen Knöchel hervorschauten, die in Nike-Turnschuhen steckten, stand vor dem Kirchentor. Er hielt ein winziges Holzkreuz hoch über dem Kopf, während Männer und Frauen aus dem Dorf, die den Holzsplitter sehen wollten, zur Kirche strömten.
Als Martin näher kam, tuschelten die Frauen untereinander und viele bekreuzigten sich ängstlich.
»Bist du das wirklich, Josef?«, fragte der Priester.
Martin ging auf den Priester zu. »Ist Samat wieder in Prigorodnaja?«, fragte er.
»Er ist mit seinem Hubschrauber gekommen und gleich wieder abgeflogen. Er hat dieses Kreuz, das aus dem Holz des Wahren Kreuzes in Susowka gefertigt wurde, unserer Kirche hier gestiftet, wo seine fromme Mutter täglich für seine Seele betet. Auch für deine.«
»Ist er in Gefahr?«
»Nicht mehr und nicht weniger als wir es waren, nachdem entdeckt wurde, dass die Planken über dem Loch in der Straße entfernt worden waren und der Mann, den man dort lebendig begraben hatte, verschwunden war.«
Der Priester ging offenbar davon aus, dass Martin wusste, wovon die Rede war. »Wer hat Samat beschützt?«, fragte er.
»Sein Onkel, Tsvetan Ugor-Shilow, den wir den Oligarchen nennen.«
»Und wer hat seinen Onkel beschützt?«
Der Priester schüttelte den Kopf. »Mächtige Organisationen, deren Namen besser ungenannt bleiben.«
»Und wer hat euch beschützt, als ihr die Planken entfernt und den Mann aus dem Loch befreit habt?«
»Der allmächtige Gott«, sagte der Priester und schlug mit der freien Hand das orthodoxe Kreuzzeichen.
Martin blickte hinauf zu den Zwiebelkuppeln, dann sah er wieder den Priester an. »Ich möchte mit Samats Mutter sprechen«, verkündete er und rechnete fast damit, dass sie eine der Frauen war, die aus einiger Entfernung zuschauten.
»Sie lebt allein in der Datscha des Oligarchen«, sagte der Priester.
»Kristyna ist eine Verrückte«, sagte der Bauer, der das Holz gehackt hatte. Die anderen Bauern bekreuzigten sich erneut und nickten zustimmend.
»Und wo ist der Oligarch?«, fragte Martin.
»Er hat Prigorodnaja verlassen, aber wohin, weiß keiner von uns.«
»Wann hat er Prigorodnaja verlassen?«
»Das weiß niemand genau. An einem Tag ist er noch wie immer am Fluss entlanggehumpelt, auf seinen Krücken, hinter sich die Leibwächter, vor sich die spielenden Barsois, und am nächsten war die Datscha fast völlig leer geräumt, und nur eine einzelne Kerze brannte noch an langen Winterabenden unten in einem Fenster.«
Martin ging auf das weitläufige Anwesen mit dem hölzernen Ausguck zu, der die Birken ringsum überragte. Die Bauern machten ihm Platz, einige berührten ihn am Arm, und eine zahnlose Frau sagte mit gackerndem Lachen: »Wieder zurück von den Toten und Begrabenen, was?« Magere Hühner und ein Hahn mit prächtigem Gefieder stoben vor Martins Füßen davon, wirbelten den feinen Staub vom Weg auf. Von Neugier getrieben, folgten ihm die Dorfbewohner und der Priester, der das winzige Kreuz weiter hochhielt, in gebührendem Abstand.
Als Martin den Holzzaun der Datscha des Oligarchen erreichte, meinte er, eine Frau leise singen zu hören. Er öffnete das Tor und ging um das Haus herum, wo er vorsichtig durch einen gepflegten Garten mit Gemüse- und Sonnenblumenbeeten ging, bis er entdeckte, woher der Gesang kam. Eine alte, gebrechliche Frau in einem schäbigen Unterhemd und mit nackten Füßen füllte eine Plastikkanne mit Wasser aus einem Regenfass. Langes, dünnes, weißes Haar fiel ihr in das blasse Gesicht, dessen Haut sich straff über den Wangenknochen spannte, und als sie Martin erblickte, strich sie die Strähnen beiseite, um ihn besser sehen zu können. »Tsvetan hatte wie immer Recht«, sagte sie. »Du hast den Winter besser überleben können, nachdem das Loch mit Schnee bedeckt war, obwohl ich strikt dagegen war, dass sie dich mit leerem Magen begraben haben.«
»Sie wissen, wer ich bin?«, fragte Martin.
»Früher hast du nicht so dumme Fragen gestellt, Josef. Ich kenne dich so gut, wie ich meinen eigenen Sohn Samat kenne, so gut, wie ich seinen Vater kannte, der zu Stalins Zeit in Sibirien überwinterte und nie zurückkam. Seltsam, findest du nicht, wie stark unser aller Leben von Stalins launischer Brutalität bestimmt worden ist. Ich wusste, du würdest wiederkommen, lieber Josef. Aber warum erst nach so langer Zeit? Ich war sicher, du würdest gleich nach der ersten Schneeschmelze nach Prigorodnaja zurückkommen.« Die alte Frau stellte ihre Gießkanne ab, nahm Martins Hand und führte ihn durch den Garten zur hinteren Tür der Datscha. »Um diese Uhrzeit hast du immer gern Tee mit Honig getrunken. Du brauchst eine schöne heiße Tasse, um den Vormittag durchzustehen.«
Kristyna drückte eine Fliegengittertür auf, die schief in den Angeln hing, schlüpfte mit ihren schmutzigen Füßen in ein Paar Filzpantoffeln und schlurfte durch eine Reihe verlassener Räume in die Küche. Immer wieder schaute sie dabei über die Schulter, ob Martin ihr auch wirklich folgte. Mit beiden dünnen Armen bearbeitete sie eine Handpumpe, bis Wasser aus dem Zapfen strömte. Sie füllte einen Kessel und stellte ihn auf eine der verrosteten Platten eines Elektrokochers, der auf einem kaputten Gasherd stand. »Ich hol schnell deinen Lieblingshonig aus dem Keller«, sagte sie. »Lieber Josef, nicht wieder verschwinden. Versprichst du mir das?« Fast, als fürchtete sie, ein Nein zu hören, zog sie eine Luke im Boden hoch, sicherte sie mit einer Hundeleine und verschwand eine Stiege hinunter.
Martin wanderte durch die leeren Räume im Erdgeschoss, in denen seine Schritte von den nackten Wänden hallten. Durch die schwefelverschmierten Fensterscheiben hindurch konnte er den Priester und seine Schar von Gläubigen sehen, die am Zaun standen und sich unterhielten. Das große Wohnzimmer mit einem Natursteinkamin führte in ein Arbeitszimmer voller leerer Bücherregale. Daran schloss sich ein kleiner Raum an, in dem eine Feldlazarettpritsche neben einem Kamin stand, wo schon Papierfetzen und trockene Zweige darauf warteten, entzündet zu werden. Ein halbes Dutzend leere Parfümfläschchen standen auf dem Sims. Auf einer Holzkiste, die auf mehreren Seiten mit »Ugor-Shilow« und »Prigorodnaja« beschriftet war, lag ein kleiner Stoß säuberlich gefaltete Frauenkleidung. Etliche Ansichtskarten waren an die Tür geheftet, die zur Toilette führte. Martin ging zu der Tür und sah sich die Karten genauer an. Sie waren aus aller Welt geschickt worden. Eine zeigte den Dutyfreeshop am Pariser Flughafen Charles de Gaulle, eine andere die Klagemauer in Jerusalem, eine dritte eine Moldaubrücke in Prag, wieder eine den Buckingham Palace in London. Auf der obersten Postkarte an der Tür war eine Familie zu sehen, die eine asphaltierte Landstraße hinunterging, vorbei an zwei genau gleich aussehenden, dicht nebeneinander stehenden Farmhäusern. Auf der anderen Seite der Straße stand auf einer kleinen Anhöhe eine verwitterte Scheune; ein amerikanischer Adler aus Metall breitete auf der verzierten Wetterfahne auf dem Mansardendach seine Schwingen aus. Die Menschen auf der Karte trugen Kleidung, wie sie Farmer vor zweihundert Jahren vielleicht zur Kirche angezogen hatten – die Männer und Jungen schwarze Hose, schwarzes Jackett und Strohhut, die Frauen und Mädchen knöchellange Baumwollkleider, hohe Schnürschuhe und Hauben, die unter dem Kinn zugebunden waren.
Martin hebelte mit den Fingernägeln die Heftzwecke heraus und drehte die Postkarte um. Sie war nicht datiert, der vorgedruckte Text zu dem Foto war mit einem Messer abgekratzt worden und der Poststempel war zum Teil unleserlich. Er lautete »… fast, New York«.
»Liebste Mama«, hatte jemand auf Russisch geschrieben, »mir geht es gut im wunderschönen Amerika, mach dir um mich keine Sorgen, sing einfach weiter deine Lieder, wenn du im Garten das Unkraut jätest, denn so sehe ich dich vor meinem inneren Auge.« Darunter stand: »In Liebe S.«
Die alte Frau rief aus der Küche: »Josef, mein Kind, wo bist du denn? Komm, trink deinen Tee.«
Martin steckte die Postkarte in die Tasche und ging zurück in die Küche, wo die alte Frau eine zerrissene Schürze als Topflappen benutzte, um kochendes Wasser in zwei Tassen zu füllen. Es war ein Aufguss aus Möhrenschalen, wie sich herausstellte, weil Tee für sie zu teuer geworden war. Sie setzte sich auf einen dreibeinigen Melkschemel und überließ den einzigen Stuhl im Raum ihrem Besucher. Martin rückte ihn an den Resopaltisch und setzte sich ihr gegenüber. Die Frau hielt beide Hände fest um den gesprungenen Becher gelegt, während sie Erinnerungen aus dem Gedächtnis hervorkramte und dabei sachte den Kopf hin und her wiegte. Ihre Augen huschten von einem Gegenstand zum anderen, wie ein Schmetterling auf der Suche nach einem Blatt, auf dem er sich niederlassen kann. »Ich erinnere mich an den Tag, als Samat dich aus Moskau mitgebracht hat, Josef. Es war ein Dienstag. Ah, da staunst du. Ich weiß das deshalb so genau, weil dienstags immer die Frau aus dem Dorf zum Wäschewaschen kam – sie hatte eine Heidenangst vor der elektrischen Waschmaschine, die Samat im GUM in Moskau gekauft hatte, und hat lieber alles an einer flachen Stelle am Flussufer gewaschen. Du und Samat, ihr habt zusammen studiert, ihr wart Zimmergenossen irgendwo in einem Studentenwohnheim, das hat er gesagt, als er dich hier vorgestellt hat. Später hat Tsvetan dich beiseite genommen und dir alle möglichen Fragen gestellt, die ich nicht verstanden habe – was in aller Welt ist eine Exfiltration? Erinnerst du dich an den Oligarchen, Josef? Er war ein sehr zorniger Mann.«
Martin meinte, die wütende Stimme eines älteren Mannes hören zu können, der gegen das Regime wetterte, während er auf Aluminiumkrücken vor eingeschüchterten Leuten hin und her wankte, die sich nicht trauten, ihn zu unterbrechen. Mein Großvater wurde 1929 während der Kollektivierung hingerichtet, mein Vater 1933 erschossen, beim Unkrautjäten auf einem Feld, beide wurden von einem Wandergericht als Kulaken schuldig befunden. Wissen Sie, was Kulaken waren, Josef? Für den sowjetischen Abschaum waren das die so genannten reichen Bauern, die Stalins Programm sabotieren wollten, die Landwirtschaft zu kollektivieren und die Bauern auf Kolchosen zu treiben. Von wegen reich! Kulaken waren Bauern, die ein einziges Paar Lederschuhe besaßen, und die hielten ein Leben lang, weil sie nur in der Kirche getragen wurden. Mein Großvater und auch mein Vater trugen auf dem Weg zur Kirche und wieder nach Hause Schuhe aus geflochtenem Birkenreisig, genannt Lapti, und sie zogen die Lederschuhe erst an, wenn sie die Schwelle überschritten. Weil sie ein Paar Lederschuhe besaßen, wurden mein Großvater und mein Vater als Feinde des Volkes gebrandmarkt und erschossen. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich einen Ein-Mann-Krieg gegen Mütterchen Russland führe. Ich werde den Sowjets oder ihren Erben niemals verzeihen …
Martin blickte über den Tisch auf die alte Frau, die ihren Aufguss trank. »Ich erinnere mich, dass er etwas über Lederschuhe gesagt hat«, sagte er.
Das Gesicht der Frau leuchtete auf. »Die Geschichte hat er jedem erzählt, der das erste Mal in der Datscha war – wie sein Großvater und Vater von den Sowjets hingerichtet wurden, weil sie Lederschuhe besaßen. Sie könnte stimmen, keine Frage. Aber vielleicht war sie auch erfunden. Wer die Stalinzeit mitgemacht hat, wird sie nicht mehr los. Wer danach geboren wurde, kann sich kein richtiges Bild von ihr machen. Du bist zu jung, um das größte Geheimnis des sowjetischen Staates zu kennen – warum alle Stalin unentwegt beklatscht haben. Ich werde es dir verraten: Die Wände in den neuen Mietshäusern waren mit Filz isoliert, deshalb waren die Zimmer zwar mollig warm, aber es wimmelte nur so von Kleidermotten. Deshalb waren wir ständig damit beschäftigt, in die Hände zu klatschen, um sie im Flug zu erwischen. Wir haben einen richtigen Wettbewerb daraus gemacht – wer am Abend die meisten Motten erledigt hatte, war Sieger. Ah«, fügte die Frau mit einem langen Seufzer hinzu, »das alles ist Schnee von gestern. Samat und Tsvetan sind inzwischen beide von hier weggegangen.«
»Und wohin?«, fragte Martin leise.
Die alte Frau lächelte traurig. »Sie sind in die Erde gegangen – sie haben in Löchern im gefrorenen Boden überwintert.«
»Und in welchem Land sind diese Löcher im Boden?«
Sie blickte zum Fenster hinaus. »Ich habe am Konservatorium Klavier studiert, als mein Mann, Samats Vater, zu Unrecht angeklagt wurde, ein Volksfeind zu sein, und nach Sibirien geschickt wurde.«
Sie hielt die Finger hoch und betrachtete sie. Martin sah, dass die Handflächen vor Trockenheit rissig waren und die Nägel abgebrochen und schmutzig. »Mein Mann – im Moment weiß ich nicht mehr, wie er hieß, aber es fällt mir bestimmt wieder ein – mein Mann war Arzt. Er ist nie aus Sibirien zurückgekehrt, aber Tsvetan hat nach dem Tod von Koba, den du als Stalin kennst, nachgeforscht und von Gefangenen, die zurückgekehrt sind, erfahren, dass sein Bruder in einem Lager für Schwerverbrecher die Gefangenen behandelt hat, die ihn mit trockenen Brotresten bezahlt haben.«
»Sind Sie und Samat schikaniert worden, als Ihr Mann verhaftet wurde?«
»Ich wurde aus der Partei ausgeschlossen. Dann haben sie mir das Stipendium gestrichen und mich vom Konservatorium geworfen, aber nicht, weil mein Mann verhaftet worden war – er und Tsvetan waren Armenier, weißt du, und die Armenier trugen ihre Verhaftungen, wie andere Orden an der Brust tragen.«
»Warum durften Sie denn dann nicht weiter studieren?«
»Mein lieber Junge, natürlich weil sie herausgefunden hatten, dass ich Israelitin war. Meine Eltern hatten mir extra einen christlichen Vornamen gegeben, Kristyna, damit die Partei keinen Verdacht schöpfen würde, dass ich jüdischer Abstammung war, aber am Ende hat der Trick nicht funktioniert.«
»Wussten Sie, dass Samat nach Israel gegangen ist?«
»Das war meine Idee – er musste auswandern, weil auf den Straßen von Moskau der Bandenkrieg tobte. Ich habe gesagt, es könnte gut sein, dass Israel ihn aufnimmt, wenn er beweisen kann, dass seine Mutter Jüdin ist.«
»Wovon haben Sie gelebt, nachdem Ihnen das Stipendium gestrichen worden war?«
»Während Tsvetan im Gulag war, hat er dafür gesorgt, dass seine Geschäftspartner sich um uns kümmerten. Sobald er wieder da war, hat er uns persönlich unter seine Fittiche genommen. Er hat Samat überredet, sich im Forstinstitut einzuschreiben, obwohl mir schleierhaft war, warum mein Sohn Forstwirtschaft studieren sollte. Und dann hat er ihn auf die Wirtschaftsakademie der Staatlichen Planungsbehörde geschickt. Samat hat mir nie erzählt, was er danach gemacht hat, aber es muss irgendwas Wichtiges gewesen sein, denn er kam immer in einer glänzenden Limousine mit Chauffeur. Wer hätte das gedacht – dass mein Sohn mal von einem Chauffeur kutschiert wird?«
Instinktiv sagte Martin: »Sie kommen mir gar nicht verrückt vor.«
Kristyna blickte verblüfft. »Wer hat dir denn gesagt, ich wäre es?«
»Ein Bauer aus dem Dorf hat gesagt, Sie seien eine Verrückte.«
Kristynas Miene verfinsterte sich. »Ich bin verrückt, wenn es nötig ist«, murmelte sie. »Damit schütze ich mich vor dem Leben und vor dem Schicksal. Ich wickele mich in den Wahnsinn ein, wie ein Bauer sich im Winter den Schaffellmantel um die Schultern legt. Wenn man für verrückt gehalten wird, kann man sagen, was man will, und niemand, nicht mal die Partei, nimmt es einem übel.«
»Sie sind nicht die, die Sie zu sein scheinen.«
»Und du, mein lieber, lieber Josef, bist du der, der du zu sein scheinst?«
»Ich verstehe nicht ganz, wie Sie das meinen?«
»Samat hat dich mit hergebracht – er hat gesagt, ihr wärt Studienfreunde. Ich habe dich an Stelle des Sohnes aufgenommen, den ich bei der Geburt verloren habe. Der Oligarch hat dich wie einen seiner Leute begrüßt, und nach einigen Monaten gehörtest du für ihn zu seiner Familie. Und du hast uns alle verraten. Du hast Samat verraten, mich, Tsvetan. Warum?«
»Ich kann mich … an nichts davon erinnern.«
Kristyna blickte Martin forschend an. »Schützt dich deine Gedächtnislücke vor dem Leben und dem Schicksal, Josef?«
»Schön wär’s … ich laufe so schnell ich kann, aber das Leben und das Schicksal sind immer direkt hinter mir und holen mich allmählich ein.«
Tränen quollen unter Kristynas fest geschlossenen Lidern hervor.
»Lieber Josef, genauso geht es mir auch.«
Martin verabschiedete sich von ihr und trat aus dem Haus. Die Bauern waren dem Priester längst wieder zurück zur Kirche gefolgt, um für die Seele von Josef Kafkor zu beten. Martin entriegelte gerade das Gartentor, als er Samats Mutter von einem Fenster aus rufen hörte.
»Er hieß Surab«, rief sie.
Martin drehte sich um. »Wer hieß Surab?«
»Samats Vater, mein Mann, sein Vorname war Surab. Surab Ugor-Shilow.«
Martin lächelte und nickte. Kristyna lächelte ebenfalls und winkte zum Abschied.
Als er zurück zu der asphaltierten Straße kam, sah Martin, dass der Sil ein Stück abseits im Schatten eines Birkenwäldchens stand. Katowksi hatte sich die Schuhe ausgezogen und die Hosenbeine hochgerollt und saß unten am Ufer der Lesnia. Seine Füße baumelten im kühlen Wasser. »Sie kennen nicht zufällig die vierte Partie Aljechin gegen Capablanca, 1927?«, rief der Fahrer, während er die Böschung hochgeklettert kam. »Ich habe sie eben noch mal im Kopf durchgespielt – da gab es ein Damenopfer, das noch faszinierender war als das berühmte Damenopfer, mit dem der dreizehnjährige Bobby Fischer im siebzehnten Zug seiner Grünfeld-Verteidigung gegen Großmeister Byrne die Schachwelt verblüfft hat.«
»Nein«, sagte Martin, als Katowksi sich auf die Erde setzte, um seine Schuhe anzuziehen. »Die Partie hab ich nie gespielt.«
»Rate ich Ihnen auch dringend von ab, Genosse Besucher. Damenopfer sind nichts für Leute mit schwachem Herzen. Ich habe sie ein einziges Mal ausprobiert. Da war ich fünfzehn und spielte gegen Umanski, den Schachgroßmeister des Staates. Nach seinem sechzehnten Zug studierte ich zwanzig Minuten lang das Brett und gab dann auf. Ich hätte die Niederlage nicht mehr abwenden können. Großmeister Umanski akzeptierte den Sieg taktvoll. Später erfuhr ich, dass er die Partie noch monatelang nachgespielt hatte. Er konnte sich einfach nicht erklären, warum ich aufgegeben hatte. Für mich war es so deutlich sichtbar gewesen wie die Nase in Ihrem Gesicht. Ich hätte in vier Zügen einen Bauern weniger gehabt. Mein Läufer wäre nach sieben Zügen gefesselt gewesen, und nach neun wäre die Turmreihe offen gewesen, mit seiner Dame und zwei Türmen in Angriffsposition. Ich hatte erkannt, dass ich den Staat nicht schlagen konnte. Wenn ich es noch mal zu tun hätte«, fügte der Fahrer mit einem Seufzer hinzu, »würde ich gar nicht erst gegen den Staat antreten.«
Hundert Meter vor der Stelle, wo die Straße von Prigorodnaja in die vierspurige Straße von Moskau nach St. Petersburg mündete, hatten Soldaten in Tarnuniformen eine Verkehrssperre errichtet. Lederstreifen mit Metallspitzen waren so auf der Fahrbahn ausgelegt worden, dass die Autos sich im Schritttempo und im Slalom zwischen ihnen hindurchmanövrieren mussten. Als Katowskis Sil auf Höhe des geparkten Lieferwagens mit dem DHL-Logo an der Seite war, winkten ihn milchgesichtige Soldaten mit Maschinenpistolen von der Straße. Ein kräftiger Mann in einem zerknautschten Anzug riss die Beifahrertür auf, packte Martin an den Handgelenken und zog ihn so unsanft aus dem Wagen, dass seine angeknackste Rippe ihm einen Stromstoß durch die Brust jagte. Ein zweiter Mann in Zivil drohte dem Fahrer, der hinter dem Lenkrad hockte, mit einem Finger. »Sie kennen die Regeln, Lifschitz – Sie könnten sechs Monate aufgebrummt kriegen, wenn Sie ohne Lizenz ein Taxi betreiben. Ich vergesse vielleicht, Sie festzunehmen, wenn Sie mich davon überzeugen können, dass Sie heute niemanden nach Prigorodnaja gebracht haben.«
»Wie käme ich dazu, jemanden nach Prigorodnaja zu bringen? Ich weiß ja nicht mal, wo das ist.«
Martin blickte nach links über die Schulter und fragte: »Wieso nennen Sie ihn Lifschitz?«
Der kräftige Mann in Zivil packte Martin mit einer großen Hand hinten im Nacken, mit der anderen am Oberarm und bugsierte ihn zum Laderaum des DHL-Wagens. »Wir nennen ihn Lifschitz, weil er so heißt.«
»Mir hat er gesagt, er heißt Katowski.«
Der Mann schnaubte. »Katowski, der Schachgroßmeister! Der ist vor zehn Jahren gestorben. Lifschitz, der Taxifahrer ohne Lizenz, war im Finale des Moskauer Halmaturniers vor sechs Jahren. Schachgroßmeister – das ist neu in Lifschitz’ Repertoire.«
Kurze Zeit später hockte Martin hinten im DHL-Wagen auf dem dreckigen Boden, die Beine vor sich ausgestreckt, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Die zwei Männer in Zivil saßen ihm auf einer Klappsitzbank gegenüber, rauchten und blickten ihn teilnahmslos durch den Qualm hindurch an. »Wohin bringen Sie mich?«, fragte Martin, aber keiner seiner Entführer zeigte irgendeine Reaktion.
Irgendwann mussten sie von der Ringstraße auf eine dicht befahrene Straße abgebogen sein, denn Martin spürte, dass sie in zäh fließendem Verkehr steckten. Hupen gellten um sie herum. Die beiden Männer, die Augen starr auf ihren Gefangenen gerichtet, schien das nicht zu stören. Nach gut zwanzig Minuten ging es eine Rampe hinunter – Martin merkte am Klang des Motors, dass sie in einem Gebäude waren –, dann setzte der Wagen ein Stück zurück und hielt an. Die beiden Männer stießen die hinteren Türen auf, packten Martin unter den Achseln und schleiften ihn eine Laderampe hinauf und dann durch Schwingtüren über einen langen Korridor zu einem wartenden Lastenaufzug. Die beiden Gittertüren schlossen sich, und der Aufzug fuhr mit lautem Knirschen und Quietschen aufwärts. Die Türen in den ersten vier Stockwerken waren mit Eisenstangen zugeschweißt. Im fünften Stock blieb der Aufzug mit einem Ruck stehen. Weitere Männer in Zivil zogen die Doppeltür auf, und Martin wurde von jetzt sechs Männern in Zivil in einen Raum geführt, der glänzend weiß gestrichen und in grelles Licht getaucht war. Man nahm ihm die Handschellen ab und zog ihn nackt aus, woraufhin zwei Männer, die weiße Overalls und Latexhandschuhe trugen, seine Kleidung und seinen Körper genauestens inspizierten. Eine füllige Ärztin in einem fleckigen weißen Kittel kam herein. Sie hatte eine Zigarette zwischen den Lippen baumeln und ein Stethoskop um den Hals. Sie untersuchte Martins Augen und Ohren und Rachen, hörte ihm dann Herz und Lunge ab und nahm seinen Blutdruck. Als sie mit den Fingerspitzen die angebrochene Rippe abtastete, verzog er das Gesicht. Während der ganzen Untersuchung war Martin seine Nacktheit unangenehmer als seine missliche Lage, Er konzentrierte sich auf ihre Fingernägel, die mit einem grellen, phosphoreszierenden Grün lackiert waren. Als sie ihm auf Polnisch eine Frage stellte, verstand er sie so einigermaßen. Sie wollte wissen, ob er schon mal im Krankenhaus gewesen war. Einmal, erwiderte er, wegen einer Schrapnellwunde im Kreuz und eines eingeklemmten Nervs im linken Bein, das mir noch immer wehtut, wenn ich zu viel herumlaufe. Die Ärztin hatte seine Antwort anscheinend verstanden, denn sie fuhr mit den Fingern über die Narbe im Rücken. Dann wollte sie wissen, ob er irgendwelche Medikamente nahm. Hin und wieder ein Aspirin, sagte er. Und zwischendurch?, fragte sie. Da lebe ich mit den Schmerzen, erwiderte er. Die Ärztin nickte, hakte irgendwelche Punkte auf einem Klemmbrett ab, dann unterschrieb und datierte sie das Formular und reichte es einem der Männer in Zivil. Als sie den Raum verlassen wollte, fragte Martin, ob sie Allgemeinmedizinerin oder Fachärztin sei. Die Frau schmunzelte leicht. Wenn der Sicherheitsdienst mich nicht braucht, arbeite ich als Gynäkologin, sagte sie.
Martin durfte sich wieder anziehen. Einer der Männer in Zivil führte den Gefangenen zu einer Tür am anderen Ende des Raumes, öffnete sie und trat beiseite. Martin schlurfte in einen größeren Raum (wieder einmal hatte man die Schnürsenkel aus seinen Schuhen entfernt, so dass er nicht normal gehen konnte), der mit rustikalen Möbeln eingerichtet war, die wohl noch aus der Zeit stammten, als Stalins KGB hier Herr im Hause war. Ein kleiner, stämmiger Mann mittleren Alters, der eine getönte Sonnenbrille trug, saß hinter einem wahren Ungetüm von Schreibtisch. Der Mann deutete mit einem Nicken auf den Holzstuhl davor.
Martin ließ sich behutsam auf dem Stuhl nieder. »Durstig«, sagte er auf Russisch.
Der Mann schnippte mit den Fingern. Gleich darauf wurde in Reichweite des Gefangenen ein Glas Wasser auf den Schreibtisch gestellt, Martin nahm es mit beiden Händen und leerte es in einem Zug.
»Ich bin kanadischer Staatsbürger«, sagte Martin. »Ich bestehe darauf, mit jemandem von der kanadischen Botschaft zu sprechen.«
Der Mann hinter dem Schreibtisch drehte eine grelle Lampe so, dass Martin die Augen zusammenkneifen musste. Eine heisere Stimme drang aus dem blendenden Licht hervor. »Ihr kanadischer Pass ist auf den Namen Kafkor, Josef ausgestellt. Es handelt sich aber, wie Ihnen sicherlich bekannt ist, um eine Fälschung. Kafkor ist ein polnischer Name. Wir vom Föderalen Sicherheitsdienst Russlands suchen nach Ihnen, seit wir das erste Mal auf Ihren Namen aufmerksam wurden. Sie sind der Kafkor, Josef, der mit Samat Ugor-Shilow und seinem Onkel Tsvetan Ugor-Shilow, besser bekannt als der Oligarch, in Verbindung stand.«
»Ist das eine Frage?«, fragte Martin.
»Eine sachliche Feststellung«, erwiderte der Mann ruhig. »Unseren Unterlagen nach haben Sie Samat Ugor-Shilow kennen gelernt, kurz nachdem Sie in Moskau im polnischen Fremdenverkehrsbüro angefangen hatten. Samat Ugor-Shilow hat Sie mit seinem Onkel in Prigorodnaja bekannt gemacht, der dort die ehemalige Datscha von Berija bewohnte. In den vier Monaten seit Ihrem ersten Besuch in Prigorodnaja waren Sie ein häufiger Gast in der Datscha, manchmal blieben sie eine ganze Woche, manchmal nur ein verlängertes Wochenende. Der angebliche Grund für Ihre Besuche war der, dass Sie Samats Mutter Polnischunterricht erteilten. Ihre Vorgesetzten im polnischen Fremdenverkehrsbüro haben Ihre wiederholte Abwesenheit nicht moniert, woraus wir schlossen, dass Ihre Arbeit dort eine Tarnung war. Sie waren offenbar polnischer Staatsangehöriger, aber wir hatten die Vermutung, dass Sie längere Zeit im Ausland gelebt hatten, weil unsere polnischen Muttersprachler, die sich Bandaufnahmen von Ihren Gesprächen mit Kollegen in Moskau anhörten, leichte Grammatikfehler und ein veraltetes Vokabular feststellten. Damals, und ich nehme an, das ist heute noch so, sprachen Sie Russisch mit einem deutlichen polnischen Akzent, was darauf hindeutete, dass Sie Russisch von polnischen Lehrern in Polen oder im Ausland gelernt hatten. Also, gospodin Kafkor, haben Sie für den polnischen Geheimdienst gearbeitet oder, mit oder ohne Kollaboration der Polen, für einen westlichen?«
Martin sagte: »Sie verwechseln mich. Ich schwöre, ich kann mich an nichts von dem erinnern, was Sie da sagen.«
Der Mann öffnete eine Akte mit einem roten Querstreifen auf dem Deckel und blätterte einen dicken Stoß Papiere durch. Nach einem Moment hob er die Augen. »Irgendwann hat sich Ihr Verhältnis zu Samat und seinem Onkel verschlechtert. Sie sind für sechs Wochen in der Versenkung verschwunden. Als Sie wieder auftauchten, waren Sie nicht wiederzuerkennen. Sie waren ausgehungert und offenbar gefoltert worden. Eines Morgens brachten zwei Leibwächter des Oligarchen Sie mit einem Ruderboot über die Lesnia und stießen Sie die Böschung hoch auf eine Straße, die gerade asphaltiert wurde. Sie mussten sich vor ein Loch in der Straße knien, das am Tag zuvor von einem Bagger ausgehoben worden war. Sie waren splitternackt. Man hatte Ihnen eine große Sicherheitsnadel durch die Haut zwischen den Schulterblättern gestochen und daran ein Stück Pappe befestigt, auf dem die Worte Spion Kafkor standen. Und dann wurden Sie vor den Augen von rund vierzig Straßenarbeitern in dem Loch lebendig begraben. Dicke Bohlenbretter wurden über Ihnen in die Straßendecke eingefügt und dann mit einer Teerschicht abgedeckt.«
Martin hatte das verstörende Gefühl, dass ihm ein Film erzählt wurde, den er gesehen und vergessen hatte. »Noch etwas Wasser«, murmelte er.
Ein weiteres Glas Wasser wurde vor ihn hingestellt, und er trank es aus. Mit heiserer Flüsterstimme fragte er: »Woher wissen Sie das alles?«
Der Mann drehte die Lampe so, dass das Licht auf die Schreibtischplatte fiel. Während er fünf Fotos nebeneinander hinlegte, sah Martin auch Kafkors kanadischen Pass dort liegen, einen Packen Geldscheine – amerikanische Dollars und britische Pfund –, die Ansichtskarte, die er von der Tür in der Datscha in Prigorodnaja mitgenommen hatte, und seine Schnürsenkel. Er zog seinen Stuhl näher an den Schreibtisch und beugte sich über die Fotos. Sie waren alle aus einiger Entfernung aufgenommen und stark vergrößert worden, weshalb sie grobkörnig und leicht unscharf waren. Auf dem ersten Bild war ein nackter ausgemergelter Mann mit verfilztem Bart zu sehen, der vorsichtig aus einem Fluss ans Ufer stieg und so etwas wie eine Dornenkrone auf dem Kopf trug. Hinter ihm kamen zwei Aufpasser in gestreiften Hemden. Auf dem nächsten Foto kniete der Mann am Rand eines Lochs und blickte über die Schulter, die Augen hohl vor Entsetzen. Die dritte Aufnahme zeigte einen dünnen Mann mit einem langen, verkniffenen Gesicht, der ein Jackett wie ein Cape über die Schultern trug und dem knienden Mann eine Zigarette anbot. Auf dem vierten Foto war zu sehen, wie ein untersetzter Mann mit silbernem Haar und einer dunklen Brille im Fond einer Limousine über die getönte Scheibe hinwegblickte, die eine Faust breit geöffnet war. Auf dem letzten Bild rollte eine Dampfwalze über den glänzenden Teer, von dem ein leichter Rauch aufstieg. Arbeiter standen auf Harken und Schaufeln gelehnt dabei und schauten entsetzt auf die Hinrichtungsstätte.
»Einer der Arbeiter in dem Bautrupp, genauer gesagt, der Schweißer, hat für unsere Sicherheitsdienste gearbeitet«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. »Er hatte eine Kamera im Boden seiner Thermosflasche eingebaut. Erkennen Sie sich auf diesen Fotos wieder, gospodin Kafkor?«
Ein einzelnes Wort bahnte sich seinen Weg aus Martins ausgetrockneter Kehle. »Njet.«
Der Mann schaltete das Licht aus. Martin spürte, wie sich die Welt schwindelerregend unter seinen Füßen drehte. Seine Lider schlossen sich, und seine Stirn sank auf eins der Fotos. Der Mann auf der anderen Schreibtischseite brach das Schweigen nicht, bis der Gefangene sich wieder aufrichtete.
Martin hörte sich selbst fragen: »Wann ist das alles passiert?«
»Es ist lange her.«
Martin fiel gegen die Rückenlehne des Stuhls. »Für mich«, stellte er müde fest, »ist gestern lange her, und vorgestern ist eine frühere Inkarnation.«
»Die Fotos wurden 1994 aufgenommen«, sagte sein Gegenüber.
Martin hauchte: »Vor drei Jahren!« Er massierte sich die Stirn und versuchte, die Teilchen dieses merkwürdigen Puzzles zusammenzusetzen, doch wie er sie auch drehte und wendete, es ergab sich kein erkennbares Bild. »Was ist passiert, nachdem der Mann da lebendig begraben wurde?«, fragte er.
»Nachdem wir die Fotos gesehen hatten, beschlossen wir, eine Operation durchzuführen, um ihn zu befreien – um Sie zu befreien –, in der Hoffnung, dass Sie noch am Leben waren. Als wir zum Hinrichtungsort kamen, mitten in der Nacht, hatten die Bauern unter Führung des Dorfpriesters den Asphalt bereits aufgebrochen, die Bohlen entfernt und den Mann aus dem Loch geholt. Wir haben ihnen nur noch geholfen, alles wieder schön zuzumachen, bevor es hell wurde.«
»Und was ist aus … dem Mann geworden?«
»Der Besitzer der Traktorwerkstatt in dem Dorf hat Sie in einem Abschleppwagen nach Moskau gebracht. Er wollte Sie in ein Krankenhaus bringen. An einer roten Ampel auf der Ringstraße, nicht weit von der amerikanischen Botschaft, sind Sie aus dem Wagen gesprungen und in der Dunkelheit verschwunden. Weder die Polizei noch wir haben danach irgendeine Spur von Ihnen entdecken können. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt – bis heute, bis die Passkontrolle am Flughafen uns verständigt hat, dass ein Kanadier namens Josef Kafkor eingereist sei. Wir vermuteten, dass Sie nach Prigorodnaja wollten, deshalb haben wir auch die Straßensperre errichten lassen – um Sie auf dem Rückweg abzufangen.«
Ein Sekretär kam herein und flüsterte dem Mann etwas ins Ohr. Sichtlich verärgert fragte der: »Wann war das?« Dann: »Wie hat er das bloß erfahren?« Kopfschüttelnd wandte sich der Mann wieder an Martin. »Der CIA-Stationschef in Moskau weiß, dass Sie hier bei uns sind. Er verlangt offiziell, dass wir Sie an seine Behörde ausliefern, wenn wir mit Ihnen fertig sind. Zur Befragung.«
»Wieso will die CIA Josef Kafkor befragen?«
»Um herauszufinden, ob Sie uns verraten konnten, was wir wissen wollen.«
»Und was wollen Sie wissen?«
»Auf wessen Seite standen Samat Ugor-Shilow und der Oligarch Tsvetan Ugor-Shilow? Und wo sind sie jetzt?«
»Samat hat Zuflucht in einer jüdischen Siedlung im Westjordanland gefunden.«
Der Mann nahm vorsichtig seine Brille ab und putzte die Gläser mit der Spitze seiner Seidenkrawatte. »Bringen Sie uns Tee«, wies er seinen Sekretär an. »Und diese Brioches mit der Feigenmarmelade.« Er setzte die Brille wieder auf, sammelte die fünf Fotos ein und schob sie zurück in die Akte. »Gospodin Kafkor, der russische Sicherheitsdienst hat einen viel zu kleinen Etat. Wir sind unterbesetzt, und wir werden unterschätzt, aber wir sind keine Dummköpfe. Dass Samat in Israel Zuflucht gesucht hat, wissen wir schon lange. Wir waren mit dem israelischen Mossad in Verhandlungen, um Zugriff auf ihn zu bekommen, als er erfuhr, dass tschetschenische Auftragskiller ihn in Israel aufgespürt hatten. Deshalb ist er aus dem Land geflohen. Aber wohin?«
Wieder blätterte er irgendwelche Berichte durch. »Er wurde im Londoner Stadtteil Golders Green gesichtet. Dann in der Umgebung des Prager Vyšehrad-Bahnhofs. Angeblich soll er in der Stadt Kantubek auf der Insel Wosroschdenije im Aralsee gewesen sein. Es liegen uns auch Meldungen vor, dass er möglicherweise in Litauen war, in Susowka, nahe der weißrussischen Grenze. Es wird sogar gemunkelt, dass er die geheimnisvolle Person war, die mit dem Hubschrauber hinter dem Friedhof in Prigorodnaja gelandet und nach einer halben Stunde wieder gestartet ist.«
Der Sekretär erschien mit einem Tablett im Türrahmen. Der Mann hinter dem Schreibtisch winkte ihm, es auf den kleinen runden Tisch zwischen zwei Stühlen zu stellen und sich zurückzuziehen. Als er mit dem Gefangenen allein war, winkte er ihn zu einem der Stühle. Er setzte sich auf den anderen und füllte zwei Tassen mit dampfendem Tee. »Sie müssen unbedingt eine Brioche probieren«, sagte er und schob den Korb zu Martin hinüber. »Die sind so köstlich, dass es bestimmt eine Sünde ist. sie zu essen. Also, gospodin Kafkor, lassen Sie uns gemeinsam sündigen«, fügte er hinzu und biss genüsslich in eine Brioche, wobei er eine Hand als Krümelfänger darunter hielt.
»Mein Name ist Tscheklachwili«, sagte er dann, ehe er wieder einen Bissen nahm. »Archip Tscheklachwili.«
»Das ist ein georgischer Name«, bemerkte Martin.
»Ich habe georgische Wurzeln, obwohl ich mich seit langem Mütterchen Russland verbunden fühle. Ich war der Straßenbauarbeiter«, fügte er mit einem unübersehbaren Funkeln in den Augen hinzu, »der Schweißer, der von unserem Sicherheitsdienst engagiert worden war. Ich habe die Fotos von Ihnen mit der Kamera gemacht, die in meiner Thermosflasche versteckt war.«
»Da haben Sie’s jetzt ja weit gebracht«, bemerkte Martin.
»Die Fotos von Ihrer Hinrichtung waren mein erster großer Erfolg. Meine Vorgesetzten wurden auf mich aufmerksam und förderten ab da meine Karriere. Nachdem Sie in Moskau aus dem Abschleppwagen gesprungen und verschwunden waren, haben wir Gerüchte gehört, Sie wären zur amerikanischen Botschaft gegangen, die ja ganz in der Nähe lag. Der CIA-Stationschef soll sich persönlich um Sie gekümmert haben. Achtundvierzig Stunden lang herrschte ein hektischer verschlüsselter Funkverkehr, und danach wurden Sie mit einem Botschaftswagen aus Moskau rausgebracht, Richtung Finnland. In dem Wagen saßen fünf Männer – alle hatten einen Diplomatenpass und konnten die Grenze unkontrolliert passieren. Was danach mit Ihnen geschehen ist, wissen wir einfach nicht. Ehrlich gesagt, ich hab den Verdacht, dass es Ihnen genauso geht.«
Martin starrte Tscheklachwili an. »Wie kommen Sie darauf?«
Tscheklachwili sammelte seine Gedanken. »Mein Vater wurde 1953 vom KGB verhaftet, weil man ihn für einen amerikanischen Agenten hielt. Ein Schnellgericht verurteilte ihn zum Tode. Die Wachen holten ihn eines Abends im März aus seiner Zelle im riesigen KGB-Hauptquartier Lubjanka und führten ihn zu dem Aufzug, mit dem Gefangene hinunter in die Kellergewölbe zur Exekution gebracht wurden. Als sie feststellten, dass der Aufzug nicht funktionierte, brachten sie ihn zurück in seine Zelle. Techniker arbeiteten die ganze Nacht, um den Aufzug zu reparieren. Am nächsten Morgen holten die Wachen meinen Vater wieder aus der Zelle. Sie warteten auf den Aufzug, als sie plötzlich erfuhren, dass Stalin tot war. Alle Hinrichtungen wurden aufgehoben. Einige Tage später ließ die neue Führung Berija hinrichten, und mein Vater kam im Zuge einer Generalamnestie frei.«
»Was hat die Geschichte mit mir zu tun?«
»Ich weiß noch, wie mein Vater nach Hause kam – ich war damals sechs Jahre alt. Es hatte geregnet, und er war nass bis auf die Haut. Meine Mutter fragte, wo er gewesen sei. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Er hatte einen leeren Ausdruck in den Augen, als hätte er etwas Entsetzliches gesehen, ein Ungeheuer oder ein Gespenst. Er konnte sich weder an seine Verhaftung noch an das Schnellgericht erinnern, auch nicht, dass die Wachen ihn zum Aufzug geführt hatten, um ihn zur Hinrichtung zu bringen. Es war alles aus seinem Gedächtnis gelöscht. Erst als ich beim Geheimdienst anfing, habe ich aus seiner Akte erfahren, was damals passiert war. Mein Vater war inzwischen Rentner. Jahre später hab ich all meinen Mut zusammengenommen und ihm erzählt, was ich herausgefunden hatte. Er hörte sich die Geschichte an, als wäre sie jemand anderem passiert, lächelte höflich, als hätte das alles nichts mit ihm zu tun, und lebte weiter mit den Erinnerungen, die er hatte. Und mit diesen Erinnerungen ist er auch gestorben.«
Nachdem er seinen Tee ausgetrunken hatte, holte Tscheklachwili einen kleinen Schlüssel hervor und hielt ihn Martin hin. »Wenn Sie durch die Tür da gehen, kommen Sie in ein schmales Treppenhaus. Der Schlüssel ist unten für die Hintertür, die auf eine Seitenstraße führt. Schließen Sie die Tür hinter sich ab und werfen Sie den Schlüssel in einen Gully.«
»Wieso machen Sie das?«
»Ich glaube Ihnen, dass Sie sich nicht daran erinnern können, wie Sie über den Fluss gebracht und anschließend lebendig begraben wurden. Ich glaube Ihnen auch, dass Sie Samat Ugor-Shilow oder seinen Onkel, den Oligarchen, nicht kennen. Ich bin einfach davon überzeugt, dass Sie uns bei unseren Ermittlungen nicht helfen können. Wenn Sie schlau sind, verlassen Sie Russland so schnell Sie können. Aber gehen Sie auf keinen Fall zur amerikanischen Botschaft – der hiesige Stationschef hat in den vergangenen Wochen diskret Erkundungen über einen gewissen Martin Odum eingeholt. Seiner Beschreibung nach vermuten wir, dass Martin Odum und Josef Kafkor ein und dieselbe Person sind.«
Martin wollte sich stammelnd bedanken, doch Tscheklachwili fiel ihm ins Wort. »Der hagere Mann auf dem dritten Foto, der dem Verurteilten eine letzte Zigarette reicht, das ist Samat Ugor-Shilow. Der Mann mit dem silbernen Haar, der die Hinrichtung aus einem Auto beobachtet, das ist der Oligarch, Tsvetan Ugor-Shilow. Vergessen Sie nicht, die wollten Sie schon einmal exekutieren. Und sie werden es bestimmt wieder versuchen, wenn Sie wissen, wo Sie zu finden sind. Ach ja, ich muss Ihnen noch Ihre Sachen zurückgeben.«
Er nahm den kanadischen Pass, das Geld, die Ansichtskarte mit dem Motiv einer Familie, die irgendwo in Nordamerika über eine Landstraße spaziert, und die Schnürsenkel, und händigte dem Gefangenen alles aus.
Tscheklachwili sah zu, wie der Gefangene die Schnürsenkel durch die Ösen fädelte. Als Martin aufblickte, hob er nur kurz die breiten Schultern an, um zum Ausdruck zu bringen, dass es nichts mehr zu sagen gab.
Martin nickte. »Wie kann ich das wieder gutmachen?«, fragte er.
»Gar nicht.« Die Fältchen um Tscheklachwilis Augen wurden länger, als er ein Lächeln unterdrückte. »Übrigens, Archip Tscheklachwili ist eine Legende. Ich nehme an, genau wie Josef Kafkor und Martin Odum. Der Kalte Krieg ist vorbei, und dennoch leben wir weiter in unseren Legenden. Gut möglich, dass Sie das letzte Opfer des Kalten Krieges sind, verirrt in einem Legendenlabyrinth. Vielleicht gelingt es Ihnen ja, mit Hilfe der Postkarte hinauszufinden.«