1994: BERNICE TREFFLER VERLIERT EINEN PATIENTEN

Dr. Treffler schritt langsam an der Statue von Nathan Hale vorbei, die vor dem CIA-Hauptquartier in Langley, Virginia, stand, und studierte das Gesicht des jungen Kolonistenspions aus verschiedenen Blickwinkeln. Sie überlegte, was wohl in seinem Kopf vorgegangen sein mochte, als er zur Hinrichtung geführt wurde. Wahrscheinlich gar nichts, dachte sie, vielleicht war er von dem Kloß in seinem Hals, den man Angst nennt, zu abgelenkt, um klar denken zu können. Sie hatte vergessen, ob Nathan Hale je den Elefanten gesehen hatte (obwohl dieser Ausdruck vermutlich erst im Bürgerkrieg Verbreitung fand), bevor er sich hinter die britischen Linien auf der Insel Manhattan schlich. Sie fragte sich, ob seine Henker ihm auch eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt hatten, bevor sie ihn auf der Post Road, der heutigen Third Avenue in Manhattan, aufhängten. Das ist Tradition, hatte der Offizier mit den Krücken zu Lincoln Dittmann gesagt. Der zum Tode Verurteilte hat Anspruch auf eine letzte Zigarette.

Ein käsebleicher junger Mann mit einem Plastikausweis an der Brusttasche seines Dreiteilers trat zu ihr. »Er war der Erste, der für unser Land spioniert hat«, sagte er, während er hinauf zu Nathans Händen blickte, die mit einem Strick auf dem Rücken gefesselt waren. »Sie müssen Bernice Treffler sein.« Als sie bejahte, bat er sie um ihren Klinikausweis und verglich das Foto darauf gründlich mit ihrem Gesicht. Sie nahm ihre Sonnenbrille ab, um ihm die Sache zu erleichtern. Offensichtlich zufrieden, gab er ihr den Ausweis zurück.

»Ich bin Karl Tripp, Mrs. Quests rechte Hand. Tut mir Leid, dass Sie warten mussten. Würden Sie bitte mitkommen …«

»Aber gern«, sagte Dr. Treffler und ging neben ihrem Begleiter her. Der Plastikausweis mit seinem Foto, dem Namen und der Ausweisnummer faszinierte sie. Wenn er jetzt vom Blitz getroffen würde, wäre sie dann so geistesgegenwärtig, den Ausweis abzureißen und ihn seinen Hinterbliebenen zu schicken?

»Sind Sie das erste Mal in Langley?«, fragte Tripp, während er dem uniformierten Wachmann am Haupteingang die unterzeichnete Bevollmächtigung zeigte, eine Frau namens Bernice Treffler ins Gebäude bringen zu dürfen.

»Leider, ja«, erwiderte sie.

Der Wachmann stellte einen Besucherausweis aus, der genau eine Stunde gültig war, und notierte Dr. Trefflers Namen und die Nummer des Ausweises in einem Registrierbuch. Karl Tripp heftete den Ausweis ans Revers ihrer Jacke, und dann gingen die beiden einen langen Korridor entlang zu den Aufzügen. Dr. Treffler wollte gleich in den ersten, der kam, einsteigen, aber Tripp zupfte sie am Ärmel und hielt sie zurück. »Wir nehmen den Expressaufzug in den sechsten Stock«, flüsterte er.

Einige junge Männer, die vor den anderen Aufzügen für Normalsterbliche warteten, schielten herüber und fragten sich, wer die schick gekleidete Frau wohl sein mochte, die offensichtlich in der Chefetage erwartet wurde. Als die Tür schließlich im sechsten Stock aufging, musste Dr. Treffler eine weitere Sicherheitskontrolle über sich ergehen lassen, bevor Tripp sie über einen uniformgrauen Korridor zu einer Tür führte, an der ein Schild mit der Aufschrift »Nur DDO-Personal« hing. Er schloss die Tür mit einem Schlüssel auf, den er an einer Kette an seinem Gürtel trug, und bedeutete ihr, vor einem halbmondförmigen Schreibtisch Platz zu nehmen. »Kaffee? Tee? Cola light?«

»Nein, vielen Dank.«

Tripp verschwand und schloss die Tür hinter sich. Treffler sah sich um und überlegte, ob dieses winzige, fensterlose Kabuff wirklich das Büro von jemand so wichtigem sein konnte wie Crystal Quest, mit der sie schon mehrmals telefoniert hatte, seit Martin Odum bei ihr in Behandlung war. Kurz darauf öffnete sich eine schmale, versteckte Tür in der Wandvertäfelung hinter dem Schreibtisch, und Mrs. Quest erschien aus einem größeren, luftigeren Büro. Sie war offensichtlich ein gutes Stück älter, als sie am Telefon klang, und trug einen Hosenanzug mit breitem Revers, der ihre Weiblichkeit nicht gerade betonte. »Ich bin Crystal Quest«, verkündete sie sachlich, während sie sich über den Schreibtisch beugte und Dr. Treffler die Hand drückte, um sich dann rückwärts in den Korbdrehsessel sinken zu lassen. Sie griff in die unterste Schublade des Schreibtisches und zog eine Thermoskanne heraus.

»Frozen Daiquiris«, erklärte sie und stellte zwei gewöhnliche Wassergläser auf den Tisch, von denen sie aber nur eins füllte, als ihre Besucherin dankend abwinkte. »Sie sind also Bernice Treffler«, sagte sie. »Am Telefon klingen Sie älter.«

»Und Sie klingen jünger – tut mir Leid, ich wollte damit nicht …«

Sie lachte nervös. »Kein schöner Gesprächsauftakt.«

»Ich fasse das nicht als Beleidigung auf.«

»So war es auch nicht gemeint.«

»Kommen wir zu Martin Odum.«

»Ich habe Ihnen einen Zwischenbericht geschickt –«

»Papier ist geduldig«, unterbrach Quest sie mit einem verkniffenen Lächeln. »Das soll keine Beleidigung sein.«

»Martin Odum leidet an einer Multiplen Persönlichkeitsstörung, genannt MPS.« Dr. Treffler hörte, wie Crystal Quest Eisstückchen zwischen den Backenzähnen zermalmte. »Ursache solch einer Störung ist immer ein Trauma«, fuhr die Psychiaterin fort, »nicht selten ein Kindheitstrauma wie sexueller Missbrauch. Das Trauma verursacht einen Kurzschluss im narrativen Gedächtnis und führt zu der Ausbildung von multiplen Persönlichkeiten, von denen jede über eigene Erinnerungen, Fähigkeiten und Emotionen verfügt, sogar über eigene Fremdsprachenkenntnisse. Patienten mit MPS wechseln häufig von einer Persönlichkeit zu anderen, wenn sie in Stress geraten.«

Crystal Quest fischte ein Stück Eis aus ihrem Glas und steckte es sich in den Mund. »Hat er das Trauma bestimmen können?«

Dr. Treffler räusperte sich. »Das eigentliche Trauma, der Auslöser dieser multiplen Persönlichkeiten, liegt nach wie vor im Dunkeln, wie ich leider gestehen muss.« Sie hätte schwören können, dass Crystal Quest erleichtert wirkte. »Was nicht heißen soll, dass es nicht irgendwann im Laufe der weiteren Behandlung an die Oberfläche kommt. Ich möchte unbedingt an das Trauma herankommen, nicht nur im Interesse des Patienten, sondern auch, weil ich vorhabe, in einer Fachzeitschrift einen Aufsatz –«

»Über diesen Fall schreiben Sie keinen Aufsatz, Dr. Treffler. Weder jetzt noch sonst irgendwann. Und die Behandlung wird auch nicht fortgesetzt. Wie viele von diesen multiplen Persönlichkeiten haben Sie feststellen können?«

Dr. Treffler machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung. »Drei«, erwiderte sie knapp. »Der Patient nennt sie Legenden, ein Begriff, der Ihnen bekannt sein dürfte. Da ist zunächst Martin Odum, dann ein Ire namens Dante Pippen und schließlich ein gewisser Lincoln Dittmann, ein Historiker, der sich auf den amerikanischen Bürgerkrieg spezialisiert hat.«

»Deutet irgendwas auf eine vierte Legende hin?«

»Nein. Gibt es denn eine vierte Legende, Mrs. Quest?«

Quest überging die Frage. »Mit wie vielen dieser Legenden hatten Sie persönlich zu tun?«

»Mit Martin Odum natürlich. Und in der letzten Sitzung vorige Woche habe ich Lincoln Dittmann kennen gelernt.«

»Woher wissen Sie so genau, dass es Lincoln war?«

»Die Person, die in mein Büro kam, war ganz anders als der Martin Odum, den ich kannte. Als mir klar wurde, dass ich Lincoln Dittmann gegenüber saß und das dann auch gesagt habe, hat er es zugegeben.«

»Kommen Sie zum Punkt. Ist Martin Odum nicht ganz richtig im Kopf? Sollten wir ihn einweisen lassen?«

»Sowohl als auch, Mrs. Quest. Lincoln Dittmann ist zweifellos nicht ganz richtig im Kopf, wie Sie es ausdrücken. Er ist fest davon überzeugt, bei der Schlacht von Fredericksburg dabei gewesen zu sein. Ein Wort von Ihnen, und ich kann ein Dutzend Ärzte aufmarschieren lassen, die bescheinigen werden, dass er psychisch krank ist. Wenn Sie wollten, könnten Sie Lincoln Dittmann – oder sein Alter Ego, den Iren Dante Pippen – für alle Zeit einweisen lassen.«

»Was ist mit Martin Odum?«

»Martin leidet darunter, dass er nicht weiß, welche von den drei aktiven Identitäten sein wahres Ich ist. Aber er kommt einigermaßen gut zurecht, er ist in der Lage, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, für sich zu sorgen, vielleicht sogar eine Beziehung zu einer Frau zu haben, wenn sie mit seiner uneindeutigen Persönlichkeit klarkommt.«

»Kurz gesagt, keiner, der Martin in einer Kneipe oder auf einer Party kennen lernt, würde ihn für gestört halten?«

Dr. Treffler nickte nachdenklich. »Solange er nicht in der Lage ist, die Erinnerung an das ursächliche Kindheitstrauma auszugraben, bleibt er in diesem scheintoten Zustand – einigermaßen funktionsfähig, dabei aber diffus verängstigt.«

»Okay. Ich will, dass Sie die Behandlung beenden. Ich schicke Karl Tripp zu Ihnen in die Klinik, und er wird alle, restlos alle Notizen und Aufzeichnungen abholen, die Sie während Ihrer Sitzungen gemacht haben. Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass die Sache streng geheim ist und Sie mit keiner Menschenseele darüber sprechen dürfen.«

Dr. Treffler fiel etwas ein, was sie Martin in einer der ersten Sitzungen gesagt hatte. »Auch wenn ich die Namen ändere – zum Schutz der Schuldigen?«

»Die Sache ist nicht zum Lachen, Dr. Treffler.« Crystal Quest drückte einen Knopf am Schreibtisch. »Tripp bringt Sie in die Lobby. Danke, dass Sie sich herbemüht haben.«

»Das war alles?«

Mrs. Quest hievte sich aus dem Korbstuhl. »Das war definitiv alles«, bestätigte sie.

Dr. Treffler stand auf, und in ihren Augen glänzte plötzlich eine Erkenntnis. »Sie wollten gar nicht, dass ich das Trauma bestimme. Sie wollen nicht, dass Martin gesund wird.«

Quest roch das Parfüm in dem fensterlosen Raum. Sie war verblüfft, dass Bernice Trefflers professionelle Erscheinung Weiblichkeit verströmte, was sie von sich selbst nun wirklich nicht behaupten konnte. »Das sehen Sie falsch«, erwiderte DDO Crystal Quest gereizt. »Gesund zu werden könnte in Martins Fall tödlich sein.«