1997: MARTIN ODUM IST MASSLOS FASZINIERT
Die Linienmaschine schob sich durch die dichten Wolken und gab einen Blick frei, der so freudlos war wie ein Himmel ohne Sonne. Dunkle, pockennarbige Felder, mit Bewässerungsgräben gerippt, erstreckten sich unter dem Bauch des Flugzeugs. Von seinem Fensterplatz aus sah Martin Odum, wie Prag in dem ovalen Rahmen hochkippte, als säße die Stadt auf dem hohen Ende einer Wippe. Vor seinem geistigen Auge gaben die Gebäude der Schwerkraft nach und rutschten in die Moldau, die sich breit und Schlammfarben mitten durch die Stadt schlängelte. Als die Tragfläche der Maschine sich senkte, glitt Prag wieder in die Horizontale. Die Hügel rings um die Stadt kamen am Horizont in Sicht, und die Plattenbauten aus der kommunistischen Ära ergossen sich über die Gipfel in die eintönige Landschaft hinein. Gleich darauf setzte die Maschine auf. »Willkommen in Prag«, verkündete eine Stimme vom Band über die Lautsprecher. »Wir hoffen, Sie hatten einen angenehmen Flug. Der Kapitän und seine Crew danken Ihnen, dass Sie mit Czech Airlines geflogen sind.«
»Ich habe zu danken«, hörte Martin sich erwidern. Die dralle Engländerin neben ihm hatte ihn wohl auch gehört, denn sie bedachte ihn mit einem Blick, der Passagieren vorbehalten war, die auf Durchsagen vom Band antworten. Martin sah sich genötigt, seine Bemerkung zu erklären. »Eine Fluggesellschaft, die mich heil an mein Ziel bringt, verdient meine uneingeschränkte Dankbarkeit«, sagte er zu ihr.
»Wenn Sie Flugangst haben«, entgegnete sie, »sollten Sie vielleicht lieber mit dem Zug fahren.«
»Ich hab auch Angst vor Zügen«, sagte Martin düster. Er musste an die Italienerin Paura denke, die Lincoln Dittmann in Foz do Iguaçú kennen gelernt hatte. Sie hatte Angst vor ihrem eigenen Schatten gehabt. Er fragte sich, was wohl aus ihr geworden war. Er war noch immer nicht hundertprozentig sicher, dass die Frau, die Lincoln auf dem Gianicolo-Hügel in Rom angesprochen hatte, und die Prostituierte in Brasilien ein und dieselbe Person waren. Er meinte zwar, eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit festgestellt zu haben, aber von ihrer ganzen Art her lagen Welten zwischen den beiden Frauen.
Als Martin sich eine dünne Beedie zwischen die Lippen gesteckt hatte und durch das Gedränge im Terminal den Schildern mit einem Bussymbol folgte, versperrte ihm plötzlich ein schmächtiger junger Mann mit einem ironischen Grinsen auf den fleischigen Lippen den Weg. Er trug eine beigefarbene Reithose, die an den Knöcheln geknöpft war, und eine grüne Tiroler Jacke mit angelaufenen Messingknöpfen. Einen Augenblick lang dachte Martin, die Prager Polizei hätte ihn identifiziert, doch der junge Mann klärte ihn rasch auf.
»Mister, egal, ob Sie geschäftlich oder zum Vergnügen nach Prag gekommen sind, in jedem Fall brauchen Sie jemanden, der Ihnen zur Seite steht, und zwar für ein wesentlich geringeres Honorar, als Sie für Hotels und öffentliche Verkehrsmittel und Mahlzeiten ausgeben würden, wenn Sie meine Dienste nicht in Anspruch nehmen.« Der junge Mann lüftete seine Sherlock-Holmes-Mütze und hielt sie sich vor den Solarplexus. »Radek, mein Name, für dreißig läppische Kronen die Stunde bin ich stets zu Diensten, das ist nicht mehr als ein lausiger US-Dollar.«
Martin ging es weniger darum, Geld zu sparen, als vielmehr Zeit. Sein Instinkt sagte ihm, dass er Prag wieder verlassen haben musste, ehe Crystal Quest, deren Agenten ihm bestimmt dicht auf den Fersen waren, den hiesigen Geheimdienst von seiner Anwesenheit informiert hatte, und auch, bevor die Tschetschenen, die Taletbek Rabbani ermordet hatten, ihn einholen würden. Er zog einen Zehndollarschein aus der Hemdtasche. »Einverstanden, Radek – hier sind zehn Dollar im Voraus. Ich möchte mit dem Bus in die Stadt fahren. Ich möchte ein Zimmer in einem preiswerten Hotel im Viertel Vyšehrad, aber eins mit Nottreppe, die zu einem Nebeneingang führt. Dann möchte ich von der Hauptpost aus telefonieren und anschließend in einem billigen Restaurant eine üppige vegetarische Mahlzeit essen.«
»Ich kenne da ein sehr preiswertes Hotel, ein ehemaliges Polizeiwohnheim, das nach dem Untergang des Kommunismus in eine Studentenpension umgewandelt wurde. Wenn Sie eingecheckt haben, bringe ich Sie zu einem kleinen jugoslawischen Restaurant. Alles vegetarisch bis auf das Fleisch.«
Martin musste lachen. »Genau das Richtige.«
»Und nach dem Essen? Wie wär’s mit einem Besuch in einer Bar? Ich kenne da eine, wo Studentinnen im Minirock kellnern, um sich was dazuzuverdienen.«
»Vielleicht wenn ich das nächste Mal in Prag bin, Radek.« Martin nahm einen letzten Zug von der Beedie und drückte das brennende Ende in den Sand eines Aschenbechers. »Nach dem Essen möchte ich –« Er holte den Briefumschlag hervor, den Taletbek Rabbani ihm in London gegeben hatte, und warf einen kurzen Blick auf die Rückseite, »– zum Bahnhof in Vyšehrad auf der Svobodova-Straße.«
»Der Bahnhof in Vyšehrad wurde von den Kommunisten geschlossen. Die Züge fahren da nur noch durch, ohne zu halten. Eine Zeitlang stand das Gebäude leer, und man konnte dort Drogen kaufen. Soweit ich weiß, wurde es von Tschechen gemietet, die eine Firma haben, An- und Verkauf.«
»An- und Verkauf von was?«
Radek zuckte die Achseln. »Weiß der Teufel – und der hat’s mir bisher noch nicht verraten.«
»Ich möchte es aber gern wissen. Ich möchte rausfinden, was sie kaufen und verkaufen.«
Radek setzte sich seine Mütze in einem kecken Winkel wieder auf.
»Dann folgen Sie mir bitte, Mister.«
Das Hotel in Vyšehrad entpuppte sich als blitzsauber und preiswert, wenn man auf eine offizielle Anmeldung verzichtete und für zwei Nächte im Voraus mit amerikanischen Dollars bezahlte, womit Martin gleich einverstanden war. Von seinem Zimmer im vierten Stock gelangten sie über eine schmale Nottreppe nach unten zur Küche und dann zu einer Hintertür, die auf einen Hof und von dort auf eine Seitenstraße führte. In der Hauptpost, die sie nach kurzer Fahrt mit der Straßenbahn erreichten, gab es einen Schalter für internationale Telefonate. Martin schrieb die Crown-Heights-Nummer auf einen Block, wartete, bis er an der Reihe war, und quetschte sich dann in die nach Kölnischwasser riechende Kabine.
»Hallo«, rief er, als er Stellas Stimme hörte.
»Wieso schreist du so?«, fragte sie.
Er senkte die Stimme. »Weil ich weiter weg bin als bei meinem letzten Anruf.«
»Sag mir nicht, wo du bist – seit ein paar Tagen hab ich ein merkwürdiges Echo im Hörer.«
»Egal«, sagte Martin. »Die finden ohnehin in zwei, drei Minuten raus, dass das hier ein internationaler Anruf ist. In zwei, drei Tagen wissen sie dann, aus welcher Stadt ich angerufen habe, und eine Woche später verraten ihnen die hiesigen Agenten, dass ich von der Hauptpost in Prag angerufen hab.«
»Das hast du ja nun schon erledigt.«
»Die werden mir nicht glauben. Die denken, ich will sie auf eine falsche Fährte locken. Was hast du heute so gemacht?«
»Ich komme eben vom Zahnarzt – er macht mir einen neuen Schneidezahn.«
»Was für eine Geldverschwendung! Mir hat dein angeschlagener Zahn immer gefallen. Damit siehst du so …«
»So was, verdammt? Jedes Mal, wenn du was Persönliches sagen willst, brichst du mitten im Satz ab, und alles verpufft wie heiße Luft.«
»… zerbrechlich aus. Das Wort lag mir auf der Zunge.«
»Ich weiß nicht genau, wie ich das finden soll. Was ist so toll daran, zerbrechlich auszusehen?«
»Zunächst einmal bedeutet es, dass du nicht schon zerbrochen bist. Wer zerbrochen ist, hat mehrere Ichs. Estelle ist doch dein richtiger Name, nicht?«
»Der Nachname Kastner wurde uns verpasst, als wir in die USA gekommen sind. Sie wollten auch meinen Vornamen ändern, aber das hab ich nicht zugelassen. Estelle, das bin ich.« Als er nichts erwiderte, sagte sie: »Bist du noch dran?«
»Ich denke darüber nach, was du gesagt hast. Ich weiß, dass ich Leute gekannt haben muss, die nicht in Legenden leben. Ich kann mich bloß nicht dran erinnern.«
»Legenden im Sinne von verschiedene Namen haben?«
»Es ist wesentlich mehr als nur verschiedene Namen. Es sind verschiedene Biographien, verschiedene Einstellungen, verschiedene Sichtweisen der Welt, verschiedene Arten, Freude zu bereiten und zu empfinden. Es hat was damit zu tun, dass man so zerbrochen ist wie Humpty Dumpty, den keine Macht der Welt mehr zusammensetzen kann.«
»Hör mal, Martin –«
»Na toll! Jetzt wissen die, dass ich es bin.«
»Könnte doch sein, dass ich einen falschen Namen sage, um sie auf eine falsche Fährte zu locken.«
»Da ist was dran.«
»Ich habe dich angelogen bei unserem letzten Telefonat. Als ich gesagt habe, wenn ich mich in den nächsten Flieger setzen würde und zu dir käme, gäbe es keine Verpflichtungen. Wenn du willst, dass ich komme, gibt es doch welche. Verpflichtungen, meine ich.«
Martin wusste nicht, was er sagen sollte. Er unterdrückte ein Mm-hm und schwieg.
»Du weißt nicht, was du sagen sollst«, spekulierte Stella.
»Verpflichtungen«, sagte Martin. »Irgendwie ist das ein Wort, das nicht zu dir passt.«
»Ich meine auch nichts Weltbewegendes. Weißt du noch, bei unserer Einreise in Israel, als ich zu dem Polizisten gesagt habe, du wärst mein Liebhaber?«
Martin musste schmunzeln. »Und ich habe gesagt, du hättest einen sibirischen Nachtfalter unter der rechten Brust eintätowiert.«
»Hab ich auch«, verkündete Stella.
Er verstand nicht. »Was hast du?«
»Einen sibirischen Nachtfalter unter der rechten Brust. Hab ich mir in einem jamaikanischen Tattoo-Laden auf dem Empire Boulevard machen lassen. Das meine ich mit Verpflichtung. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, werde ich dir das Tattoo zeigen müssen, um zu beweisen, dass es da ist – schließlich neigst du nicht gerade dazu, mir so etwas Wichtiges aufs Wort zu glauben. Dann sehen wir, ob eins zum anderen führt.«
Martin dachte an die Hure, die Dante in Beirut kennen gelernt hatte. »Ich habe mal von einer Frau gehört, die tatsächlich unter der Brust einen Nachtfalter eintätowiert hatte. Sie hieß Djamillha. Hast du wirklich ein Tattoo?«
Er konnte das Lachen in ihrer Stimme hören. »Mm-hm.«
»Du stiehlst meine Mm-hms«, sagte Martin.
»Ich hab vor, noch mehr zu stehlen«, konterte sie.
Er wechselte das Thema. »Ich hatte heute Angst.«
»Wovor?«
»Ich bin in einer Situation, in der ich noch nie war. Das macht mir Angst.«
»Okay, jetzt hör mal. Du gewöhnst dich besser dran, in Situationen zu kommen, in denen du noch nie warst. Ich werd dir dabei die Hand halten. Einverstanden?«
»Na gut.«
»Wenn das Begeisterung sein soll, möchte ich dich nicht erleben, wenn du widerwillig bist.«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
»Kennst du die Geschichte von dem russischen Bauern, der gefragt wurde, ob er Geige spielen kann? Ich weiß es nicht, erwiderte er. Ich hab’s noch nie versucht.« Sie lachte leise über ihren eigenen Witz. »Du musst es versuchen, Martin, wenn du wissen willst, ob du es kannst oder nicht.«
»Mein Verstand sagt mir, dass du Recht hast. Aber mein Gefühl nicht.«
Sie dachte darüber nach. »Warum rufst du an?«
»Ich wollte deine Stimme hören. Mich vergewissern, dass du noch du bist.«
»Na, du hast sie gehört, und ich habe deine gehört. Und was machen wir jetzt, Martin?«
»Ich weiß es nicht.« Sie mussten beide lachen. »Ich meine, ich muss schließlich immer noch deinen Schwager finden.«
»Lass es gut sein. Vergiss Samat. Komm nach Hause, Martin.«
»Wenn ich es gut sein ließe, dann wäre der Mensch, der nach Hause käme, nicht ich. Außerdem warten so viele Fragen auf eine Antwort.«
»Wenn die Antworten nicht zu finden sind, musst du lernen, mit den Fragen zu leben.«
»Ich muss Schluss machen. Stella?«
»Okay, okay, leg auf. Ich lass mir das Gespräch dann noch mal durch den Kopf gehen und überlege, ob mir der eine oder andere tiefere Sinn entgangen ist.«
»Don’t Worry, Be Happy.«
»Was?«
»Daran musste ich heute denken – das haben die in Paraguay immer in der Jukebox gespielt, als ein Bekannter von mir dort war.«
»Wer waren die? Eine Frau?«
»Ein paar Frauen. Prostituierte, die in einer Kneipe anschaffen gingen und bei einem Polen Lotterielose kauften.«
»Du deprimierst mich, Martin. Ich weiß so vieles nicht über dich.«
»Ich deprimiere mich auch. Aus dem gleichen Grund.«
Das Tagesgericht in dem kleinen jugoslawischen Restaurant bestand aus scharf gewürzten Fleischbällchen, die zusammen mit zerkochtem und schwer zu identifizierendem Gemüse in Suppenschüsseln serviert wurden. Martin tauschte seine Klöße gegen Radeks Gemüse und nahm sich die Hälfte der Salzkartoffeln. Der Wein schmeckte nach Anis, erinnerte stark an griechischen Ouzo und ließ sich einigermaßen trinken, nachdem die ersten Schlucke die Kehle betäubt hatten. Radek saß Martin gegenüber, wischte mit vertrockneten Brotstücken seine Schüssel aus und spülte mit Wein nach. »Mein Traum ist es, irgendwann in den USA zu leben«, gestand er und angelte mit der Zunge nach Speiseresten zwischen den Zähnen. »Stimmt es, dass man die Straßen da mit Sony Walkmen pflastert, wenn ihnen die Steine ausgehen?«
Martin lehnte sich zurück und gönnte sich eine Beedie. »Wo haben Sie den Quatsch denn her?«
»Stand in der Satirezeitschrift bei uns an der Uni.«
»Man darf nicht alles glauben, was in Satirezeitschriften steht. Lassen Sie bitte die Rechnung bringen.«
Als die Rechnung kam, nahm Radek sie gründlich in Augenschein und legte sich mit dem Restaurantbesitzer an, der schließlich zwei Posten strich und den Preis für den Wein senkte. »Durch mich haben Sie jetzt sechzig Kronen gespart, zwei lausige Dollar«, sagte Radek. »Das ist mein Honorar für zwei Stunden, Mister. Also, wohin jetzt?«
»Zur Svobodova-Straße, mit der Bahn.«
»Wie kommt es, dass ein reicher Amerikaner wie Sie nicht mit dem Taxi fährt?«
»Ich glaube, eine Stadt lernt man am besten kennen, wenn man öffentliche Verkehrsmittel benutzt.«
Radek schüttelte fassungslos den Kopf. »Und hier träumen alle Leute davon, mal Taxi zu fahren. Wollen Sie zum Bahnhof von Vyšehrad?«
»Ich würde gern hundert Meter früher aussteigen und den Rest zu Fuß gehen, als Verdauungsspaziergang.«
Radek legte einen Zeigefinger an die Nase. »Sie wollen den Laden vorher auskundschaften.«
»Mm-hm. Gehen wir.«
Während er hinten in der Straßenbahn saß und dem Funkengeknister der Oberleitung lauschte, musterte Martin die Leute um sich herum auf der Suche nach einem Gesicht, das auffällig wenig Interesse an ihm zeigte. Normalerweise rühmte er sich, mit einer Menschenmenge verschmelzen zu können, selbst wenn gar keine da war. Jetzt jedoch fehlte ihm einfach die Zeit für die üblichen Vorsichtsmaßnahen. Mit seiner amerikanischen Kleidung, vor allem den Schuhen, fiel er hier unweigerlich auf, und die Leute beäugten ihn zum Teil mit unverhohlener Neugier. Jemand, der ihn verfolgte, so wusste er, würde ihn tunlichst gar nicht ansehen. Auf der langen Fahrt mit einmal Umsteigen im Viertel Malá Strana hatte Martin, noch immer ein Spezialist in derlei Dingen, nicht das Gefühl, verfolgt zu werden. Was, wie er aus Erfahrung wusste, auch bedeuten konnte, dass seine Verfolger sehr gut waren. Radek fiel auf, wie er die anderen Leute in Augenschein nahm. »Ich glaube, ich weiß, was Sie wollen«, sagte er und beugte sich näher, damit die hagere Frau, die auf der anderen Seite des Ganges saß und den Amerikaner unverfroren anstarrte, ihn nicht verstehen konnte. »Cannabis, Ganja, Hanf, Haschisch, Bhang, Sinsemilla, Kokain, Crack, Engelsstaub, Horse, Methadon, LSD, PCP, Uppers, Downers … Egal, was Sie wollen, Radek besorgt es für weniger lausige Dollar, als Sie mir am Tag bezahlen.«
»Die Hälfte davon sagt mir überhaupt nichts«, entgegnete Martin.
»Ich will mir bloß ein bisschen die Beine vertreten, wenn wir kurz vor dem Bahnhof in Vyšehrad sind.«
»Nächste Haltestelle«, sagte Radek, sichtlich enttäuscht, dass seine Beschaffungstalente nicht auf die Probe gestellt wurden. Er zog an der Kordel, die oberhalb der Fenster über die gesamte Länge der Bahn gespannt war, und ganz vorn ertönte eine Glocke. Sobald die Bahn quietschend zum Stillstand gekommen war, öffneten sich ächzend die Türen. Martin und sein Begleiter stiegen aus, und Radek deutete mit der Nase in eine Richtung. In der Ferne, auf der anderen Seite der breiten Straße, sah Martin ein heruntergekommenes, geschmackloses Gebäude, auf dessen marodes, mit Tauben übersätes Dach die letzten, schrägen Strahlen der über der Moldau hängenden Sonne fielen. Er wandte sich zu Radek um und hielt ihm die Hand hin. »Ab jetzt komme ich ohne Sie zurecht«, sagte er.
Radek blickte bedrückt. »Sie haben für zehn Stunden bezahlt, Mister. Ich schulde Ihnen noch siebeneinhalb.«
»Der Rest ist Trinkgeld.« Als Radek die ihm dargebotene Hand nicht ergriff, hob Martin sie an die Schläfe und salutierte freundlich.
»Viel Glück mit Ihren Amerika-Plänen, Radek.«
»Ich könnte mich dafür ohrfeigen, dass ich nur dreißig Kronen die Stunde verlangt habe«, knurrte Radek, als er sich umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung verschwand.
Martin zündete sich eine Beedie an und schlenderte an einer Reihe von Mietshäusern vorbei die Svobodova-Straße hinunter Richtung Fluss. Auf der anderen Straßenseite ragte der Vyšehrad-Bahnhof in all seinem kommunistischen Elend auf: ein Gerippe in der Mitte und rechts und links kaputte Flügel, schmutziger, weißer Putz, der von der Fassade abblätterte wie sonnenverbrannte Haut. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, doch in einzelnen Ritzen im Erdgeschoss war Licht zu sehen. Die Tauben auf dem Dach flogen zu zweit oder dritt auf, als Martin wieder zurückging, aber diesmal auf der Seite des Bahnhofs. Eine Straßenbahn ratterte vorbei und ließ die Erde erzittern. Hinter dem Bahnhof sauste ein Regionalzug in Richtung Zentrum. Die Bretter der unteren Fenster waren mit eselsohrigen Plakaten tapeziert, die ungarische Staubsauger und generalüberholte ostdeutsche Trabis anpriesen. Hinter einem Tor führte ein gepflasterter Weg um die linke Seite des Gebäudes herum. Martin schob das quietschende Tor vorsichtig auf, stieg ein paar gemauerte Stufen hoch und folgte dem Weg auf die Rückseite des Gebäudes. Offenbar wurde dieser Weg regelmäßig benutzt, denn Pflanzen und Unkraut auf beiden Seiten waren zurückgeschnitten worden. Auf dem ehemaligen Bahnsteig angekommen, spähte er durch ein schmutziges Fenster mit verrosteten Eisenstangen davor. Er sah zwei junge Männer, die große Kartons auspackten und Päckchen mit offenbar medizinischem Inhalt auf einen langen Tisch stapelten. Zwei junge Frauen packten alles in kleinere Kartons und verschlossen diese mit Klebeband. Einer der jungen Männer erblickte Martin und zeigte mit dem Daumen zu einer großen Doppeltür in der Mitte des Gebäudes. Martin nickte, und gleich darauf betrat er die einst prächtig verzierte, jetzt aber verfallene Bahnhofshalle, die nach frischem Gips roch. Anscheinend hatte jemand versucht, die schlimmsten Schäden des Gebäudes zu beheben. Über der Tür hing ein kaputtes Schild mit der Aufschrift »Vychod« – Ausgang. Die Fliesen auf dem Boden waren größtenteils gesprungen und bewegten sich unter seinen Füßen. Eine breite Treppe wand sich nach oben in den ersten Stock. An der Wand über der Treppe waren die Wörter »Soft« und »Shoulder« aufgemalt. Oben am Geländer im ersten Stock stand ein bulliger Hund mit platter Schnauze, der den Eindringling heiser ankläffte. Eine attraktive, elegant gekleidete Frau in den Fünfzigern erschien. »Keine Angst«, rief sie. »Der tut nichts, markiert nur den großen Hund, aber ich bring ihn weg.« Die Frau griff nach der Leine des Hundes, sperrte ihn in einen Raum und schloss die Tür, hinter der das Gebell augenblicklich wieder einsetzte. Dann drehte sie sich zu Martin um, der jetzt die Treppe hoch auf sie zukam, wobei er eine Hand auf das Geländer stützte, um sein lahmes Bein zu entlasten. Als sie ihm eine schlanke Hand entgegenstreckte, klimperte das halbe Dutzend Armreife, das sie am Handgelenk trug. »Mein Name ist Susanna Slánská«, sagte sie, als Martin ihre Hand ergriff.
Er bemerkte, dass ihre Finger knochig waren, die Nägel abgebrochen, die Augen entzündet. Er vermutete, dass das verkniffene Lächeln auf ihren blassen Lippen dringend einer Auffrischung bedurfte. »Ich heiße Odum«, sagte er. »Martin Odum.«
»Für welches Land kaufen Sie?«
Da er nichts zu verlieren hatte, nannte Martin das erste Land, das ihm in den Sinn kam. »Elfenbeinküste.«
»Unsere Kunden kommen nicht oft hierher, Mr. Odum. Das meiste läuft per Post. Wer hat Sie zu uns geschickt, wenn ich fragen darf?«
»Ein Geschäftspartner von Samat, Taletbek Rabbani.« Er holte den Umschlag mit Rabbanis kaum leserlicher Schrift auf der Rückseite und zeigte ihn der Frau.
Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Wir haben Anfang der Woche von Mr. Rabbanis Tod erfahren. Wann und wo haben Sie sich mit ihm getroffen?«
»Genau da, wo Sie sich mit ihm getroffen haben – im Lagerhaus hinter der U-Bahn-Station in Golders Green. Ich war wahrscheinlich der Letzte, der ihn lebend gesehen hat – abgesehen von den Tschetschenen, die ihn ermordet haben.«
»In dem kurzen Artikel in der britischen Zeitung war von Tschetschenen keine Rede.«
»Kann gut sein, dass Scotland Yard dieses Detail noch nicht herausgefunden hat. Kann aber auch sein, dass sie es wissen, aber aus ermittlungstechnischen Gründen nicht öffentlich machen wollen.«
Mit einem nervösen Lächeln führte die Frau Martin in ein großes ovales Büro, das von mehreren Neonlampen an der Decke erhellt wurde. Die drei Fenster waren mit Brettern vernagelt, was Martin daran erinnerte, wie Dante Pippen damals Djamillha in das ehemalige Büro der Handelsfirma über der Kneipe in Beirut gefolgt war. Auch dort waren die Fenster vernagelt gewesen. Er sah sich in dem Raum um. An einer Wand waren große Kartons gestapelt, auf denen deutlich sichtbar stand, wo oben war. An einem Schreibtisch tippte eine junge Frau in einem weiten Pullover und verwaschener Jeans mit zwei Fingern auf einer alten Schreibmaschine. Am Rand des Schreibtisches lief Papier aus einem Faxgerät in einen Karton auf dem Fußboden. Ein Ringbuch lag aufgeschlagen neben einem überquellenden Aschenbecher auf einem niedrigen Glastisch voller Kaffeeflecken. Die Frau bedeutete Martin, auf einer Autorückbank an der Wand Platz zu nehmen, und setzte sich ihm gegenüber auf einen niedrigen, dreibeinigen Hocker. »Mr. Rabbani hat Ihnen sicher erklärt, nach welchem Prinzip wir hier arbeiten. Um die Preise möglichst niedrig zu halten, haben wir diesen stillgelegten Bahnhof als Geschäftsräume angemietet, so können wir die laufenden Kosten erheblich reduzieren. Außerdem verkaufen wir unsere Arzneimittel nur in großen Mengen. Suchen Sie etwas Bestimmtes, Mr. Odum? Besonders gut laufen unsere Generika der Medikamente Tylenol, Azetaminophen, Valium, Sudafed und Kenacort. Sie können gerne mal den Katalog durchsehen. Soweit mir bekannt ist, wird die Elfenbeinküste derzeit von keiner bestimmten Epidemie bedroht, abgesehen vom HIV-Virus. Leider haben wir noch keinen Zugang zu generischen Aids-Präparaten, hoffen aber, dass sich das ändert, wenn die Regierungen entsprechend Druck auf die Pharmakonzerne ausüben …« Sie hielt inne und betrachtete ihren Besucher plötzlich mir fragendem Blick. »Sie haben noch gar nicht erwähnt, in welcher Eigenschaft Sie hier sind, Mr. Odum? Sind Sie Arzt oder Vertreter einer Gesundheitsbehörde?«
Wieder rauschte ein Zug hinter dem Bahnhof vorbei. Als er vorbei war, sagte Martin: »Weder noch.«
Susanna Slánská hob die Hand und berührte den kleinen Davidstern an der Kette um ihren Hals. »Ich glaube, ich verstehe nicht.«
Martin beugte sich vor. »Ich muss Ihnen etwas gestehen. Ich bin nicht hier, um günstige Medikamente zu kaufen.« Er blickte ihr direkt in die geröteten Augen. »Ich bin hier, um mehr über ein Projekt von Samat herauszufinden, den Tausch der Gebeine des litauischen Heiligen gegen jüdische Thorarollen.«
»Oh!« Die Frau warf einen Blick auf die Sekretärin an der Schreibmaschine. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie leise, »und die schaffe ich nicht ohne einen Brandy und ein paar Zigaretten.«
Susanna Slánská beugte sich zu Martin vor, damit er ihr die Zigarette mit einem Streichholz anzünden konnte. »Ich hab noch nie eine Beedie geraucht«, sagte sie, während sie sich zurücklehnte und einen genüsslichen Zug nahm. Dann inspizierte sie die indische Zigarette kritisch. »Ist da Marihuana drin?«, fragte sie.
Martin schüttelte den Kopf. »Was Sie da schmecken, sind die Eukalyptusblätter.«
Sie zog wieder an der Beedie. »All diese Experten, die so leidenschaftlich davor warnen, dass Rauchen die Gesundheit gefährdet, sind mir ein wenig suspekt«, sagte sie und ließ dabei den Rauch aus dem Mund gleiten. Sie wandte den Kopf und schaute zu den beiden übergewichtigen Männern hinüber, die am Nebentisch dicke Zigarren pafften. Beim Anblick ihres Profils fiel Martin auf, wie unglaublich gut sie einmal ausgesehen haben musste. »Vieles gefährdet die Gesundheit«, fügte sie hinzu und sah ihn wieder an. »Finden Sie nicht auch?«
Martin, der sich auf seine eigene Zigarette konzentrierte, fragte: »Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel unter Hochspannungsleitungen zu leben. Zum Beispiel sich von Fastfood mit künstlichen Geschmacksverstärkern zu ernähren. Zum Beispiel Recht zu haben, wenn deine Regierung Unrecht hat.« Sie bedachte den alten Kellner mit einem abgespannten Lächeln, als er zwei Cognacschwenker mit einem drei Jahre alten Brandy und ein Schälchen Erdnüsse auf den Tisch stellte. »Ich spreche aus bitterer Erfahrung«, fügte sie hinzu, »aber das hat Ihnen sicher schon der Unterton in meiner Stimme verraten.«
Sie war mit ihm in den Salon de thé im obersten Stock eines protzigen Hotels gegangen, das erst kürzlich auf der anderen Seite des Flusses eröffnet hatte. Von dem Fenster aus, an dem ihr Tisch stand, konnte Martin sehen, was ihm vom Flugzeug aus aufgefallen war: die Hügel rings um Prag mit ihren tristen Trabantensiedlungen.
»Mein Mann«, sagte die Frau jetzt und konzentrierte sich auf ihre Geschichte, »war Arzt in Vinohrady, das ist ein Stadtteil von Prag, hinter dem Museum. Ich arbeitete als seine Sprechstundenhilfe. Wir traten zusammen einem literarischen Zirkel bei, der sich einmal die Woche traf, um über Bücher zu sprechen. Ach, das war eine sehr anregende Zeit, das können Sie mir glauben. Mein Mann war furchtlos – er hat ständig gewitzelt, hohes Alter sei nichts für Leute mit schwachem Herzen.« Sie trank einen großen Schluck Brandy und zog hektisch an ihrer Beedie, als würde die Zeit knapp, als müsse sie die Geschichte ihres Lebens noch schnell erzählen, weil es bald zu Ende ginge. »Sagen Sie ruhig, wenn Sie das alles maßlos langweilt, Mr. Odum.«
»Im Gegenteil«, versicherte Martin ihr. »Es fasziniert mich maßlos.«
Susanna Slánská zog eine schlanke Schulter in ihrem maßgeschneiderten Designerjackett hoch. »Wir waren glühende Marxisten, mein Mann und ich. Wir waren überzeugt, dass der große russische Bär den Kommunismus erstickt hatte, und nicht umgekehrt. Unser tschechischer Held, Alexander Dubček, war noch ein parteitreuer Apparatschik, als wir die ersten Petitionen für Reformen unterschrieben. Die von den Sowjets ernannten Statthalter, die über uns herrschten, konnten nicht unterscheiden zwischen antikommunistischen und prokommunistischen Dissidenten, wie wir es waren. Aber sie fanden, dass die ganze Entwicklung in die falsche Richtung lief und auf die richtige zurückgeführt werden müsste, damit der Marxismus überleben könne. Und wenn sie doch mal einen Unterschied machten, hielten sie unsere Form des Dissidententums für die bedrohlichere von beiden. Und so ereilte uns das gleiche Schicksal wie die anderen.«
Martin sah, wie sich ihre Gesichtsmuskeln anspannten, weil sie sich so lebhaft an ihr Leiden und ihren Kummer erinnerte, als würde sie alles erneut durchleben. »Dazu muss ich Ihnen eine Geschichte erzählen«, sprach sie hastig weiter, fast ohne Atem zu holen. »Über den NKWD-Kommissar, der Stalin gegenüber zugegeben hatte, dass ein bestimmter Gefangener kein Geständnis ablegen wollte. Stalin dachte über das Problem nach. Dann fragte er den Kommissar, wie viel der Staat wiege – der Staat mit all seinen Gebäuden und Fabriken und Maschinen, die Armee mit all ihren Panzern und Lkws, die Marine mit all ihren Schiffen, die Luftwaffe mit all ihren Flugzeugen. Und dann sagte Stalin: Glauben Sie wirklich, dieser Gefangene kann dem Gewicht des Staates standhalten?«
»Haben Sie das Gewicht des Staates zu spüren bekommen? Waren Sie und Ihr Mann im Gefängnis?«
Susanna Slánská war mittlerweile so aufgewühlt, dass sie gleichzeitig Rauch und Brandy schluckte. »Natürlich haben wir das Gewicht des Staates zu spüren bekommen. Natürlich waren wir im Gefängnis, einige Monate zur selben Zeit und einmal sogar im selben Gefängnis, einige Monate zu verschiedenen Zeiten, sodass wir wie Schiffe in der Nacht aneinander vorbeifuhren. Ich habe festgestellt, dass man den Gestank des Gefängnisses in der Nase mitnahm, wenn man entlassen wurde. Es dauerte Monate, Jahre, ihn wieder loszuwerden. Einmal, als mein Mann aus dem Gefängnis nach Hause kam, habe ich ihn durch den Spion in der Tür erst gar nicht erkannt, so übel hatte man ihn zugerichtet. Passiert so etwas auch in Amerika, Mr. Odum, dass man seinen eigenen Mann nicht mehr erkennt? Und einmal wurde er verhaftet, weil er einen jungen Mann behandelt hatte, der sich den Knöchel gebrochen hatte. Wie sich herausstellte, war es ein von der Polizei gesuchter Dissident. Die amerikanischen Zeitungen, die über den Prozess berichtet haben, erwähnten, das Gleiche sei dem Arzt widerfahren, der den gebrochenen Knöchel von Abraham Lincolns Mörder behandelt hatte.«
Aus irgendeiner dunklen Vergangenheit – aus irgendeiner dunklen Legende? – kam der Artikel über den Prager Gerichtsprozess in Martins Gedächtnis an die Oberfläche. »Sie sind die Frau von Pavel Slánsk!«
»Sie haben den Namen gehört! Sie erinnern sich an den Prozess!«
»Jeder, der die Ereignisse in Osteuropa verfolgt hat, kennt den Namen Pavel Slánsk«, sagte Martin. »Der jüdische Arzt, der den gebrochenen Knöchel eines Dissidenten behandelte und dann vor Gericht auf unschuldig plädierte. Gleichzeitig bekannte er sich schuldig, den Kommunismus reformieren zu wollen, weil der ohne Reform nicht überlebensfähig sei. Das hat er sehr genau erläutert. Er war der Vorläufer der Reformer nach ihm: Dubček in der Tschechoslowakei und schließlich Gorbatschow in der Sowjetunion.«
Ein aufrichtiges Lächeln erschien auf Susanna Slánskás Gesicht.
»Ja, er war seiner Zeit voraus, was in manchen Ländern als Kapitalverbrechen gilt. Die Behörden in den USA haben wenig Verständnis für ihn gezeigt – man könnte meinen, es hat ihnen nicht in den Kram gepasst, dass da einer den Kommunismus reformieren wollte, weil sie fürchteten, es könnte ihm gelingen. Mein Mann wurde zum Staatsfeind erklärt und wegen antikommunistischer Umtriebe zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Mir erging es wie der Dichterin Achmatowa: Zu jeder Jahreszeit stand ich am Gefängnis in der Schlange, um Päckchen mit Socken, Seife und Zigaretten für den Häftling 277103 abzugeben. Die Nummer hat sich mir ins Gedächtnis eingebrannt. Die Wärter haben den Empfang der Päckchen quittiert und versprochen, sie abzuliefern. Eines Tages dann wurde mir eines meiner Päckchen per Post zurückgeschickt mit dem Stempel VERSTORBEN. Warum die Bürokratie in Killerstaaten dazu neigt, sich streng an Regeln und Vorschriften zu halten, hat mir noch niemand befriedigend erklären können. Jedenfalls, auf diese Weise habe ich erfahren, dass mein Mann, der Häftling Slánsk, nicht mehr lebt.« Susanna Slánská hob eine Hand, um den Zigarrenqualm wegzuwedeln, der vom Nachbartisch herüberkam. »Könnte ich noch eine von Ihren seltsamen Zigaretten haben? Der Eukalyptus hilft mir, den Gestank der Zigarren zu ertragen. Ach, Mr. Odum, glauben Sie mir, wenn man sich mit den Schikanen abfinden konnte, war das Dissidententum wirklich anregend.«
»Was für Schikanen gab es denn noch außer dem Gefängnis?«
»Man verlor seine Arbeit, man musste in eine Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung umziehen, in der schon zwei Paare wohnten, man wurde zur Therapie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, um aufzuarbeiten, wieso man ein System kritisierte, das doch im Grunde vollkommen war. Wenn wir uns spätabends in einer Wohnung trafen, um zu diskutieren, zum Beispiel über Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, dachte unsere kleine Gruppe über mögliche Entwicklungen nach, ging im Geist alle Szenarien durch – nur eine Möglichkeit zogen wir nie in Erwägung: Dass nämlich aus den Gangstern, die in der Sowjetunion herrschten, freischaffende Gangster werden könnten, als der Kommunismus zusammenbrach. Im Rückblick ist mir klar, dass wir unglaublich naiv waren. Die Hochstimmung hat uns blind gemacht – jedes Mal, wenn wir miteinander schliefen, dachten wir, es wäre das letzte Mal. Das machte uns zu leidenschaftlichen Liebenden, bis der Tag kam, an dem niemand mehr da war, mit dem wir schlafen konnten. Und dann waren wir keine Liebenden mehr, sondern Hassende.«
»Und die preiswerten Medikamente – wie sind Sie dazu gekommen?«
»Ich war ausgebildete Krankenschwester, und nach dem Prozess gegen meinen Mann traute sich kein Arzt mehr, mich einzustellen. Jahrelang habe ich mich mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen – in Arztpraxen geputzt, in Mietshäusern in aller Herrgottsfrühe die Mülltonnen rausgeschleppt. Als unsere eigenen Kommunisten 1989 endlich entmachtet wurden, beschloss ich, das zu tun, wovon mein Mann immer geträumt hatte: Generische Präparate so preiswert wie möglich an die Dritte Welt zu verkaufen. Ich habe Samat während eines seiner ersten Aufenthalte in Prag kennen gelernt und ihm von meiner Idee erzählt. Er war sofort einverstanden, die Sache finanziell zu unterstützen, als Geschäftszweig seines bereits bestehenden humanitären Unternehmens ›Soft Shoulder‹. Mit seinem Geld konnten wir den Vyšehrad-Bahnhof mieten und die ersten Generika kaufen. Inzwischen kann ich mir vier Leute für den Versand und eine Sekretärin leisten, die stundenweise kommt. Ich wollte Samat einmal das Geld zurückzahlen, aber er hat sich geweigert. Ich finde wirklich, er ist so was wie ein Heiliger.«
»Ich nehme an, man muss schon ein Heiliger sein, wenn man die Gebeine eines Heiligen in die Heimat zurückführen will«, sagte Martin.
»Ich war es, die Samat von den jüdischen Thorarollen in der litauischen Kirche erzählt hat.« Wieder hob sie die Hand, um mit dem Davidstern zu spielen. »Die Nazis haben meine ältere Schwester in ein Konzentrationslager in Litauen deportiert. Sie konnte fliehen und hat sich den kommunistischen Partisanen angeschlossen, die der deutschen Nachhut das Leben schwer gemacht haben. Meine Schwester – ihr Partisanenname war Rosa, nach Rosa Luxemburg, richtig hieß sie Melka – hat versucht, die Juden in den Schtetln zu warnen, die noch nicht von den Deutschen und ihren mordenden Einsatzgruppen überrollt worden waren. Nur wenige glaubten ihr – sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass die Nachfahren von Goethe und Beethoven und Brahms zum Massenmord an einem ganzen Volk imstande waren. Aber in etlichen Schtetln gingen die Rabbis auf Nummer Sicher. Sie sammelten die heiligen Thorarollen und unschätzbar wertvollen Kommentare ein – einige davon waren viele hundert Jahre alt – und gaben sie einem litauisch-orthodoxen Bischof zur Aufbewahrung, der sie in einer entlegenen Kirche versteckte. Nach dem Krieg hat meine Schwester mir den Namen der Kirche verraten: Spaso-Preobraschenski Sabor, das bedeutet Kirche der Verklärung Christi, in Susowka, einer Stadt an der Memel, nicht weit von der Grenze zu Weißrussland. Als ich Samat die Geschichte erzählte, ließ er alles stehen und liegen und fuhr zu der Kirche, um die Thorarollen zu holen und nach Israel zu bringen, obwohl er, soviel ich weiß, gar nicht jüdisch ist. Der Metropolit der Diözese weigerte sich, sie herauszugeben, ja sogar, sie zu verkaufen, als Samat ihm eine große Summe Geld bot. Allerdings war er zu einem Tausch bereit: Die Thorarollen gegen die sterblichen Überreste des heiligen Gedymin, der im vierzehnten Jahrhundert die Hauptstadt Vilnius gegründet hatte. Seine Gebeine waren während des Krieges von deutschen Truppen geraubt worden. Nach jahrelangen Nachforschungen spürte Samat die Gebeine des Heiligen schließlich in einer kleinen orthodoxen Kirche bei Cordoba in Argentinien auf, wohin sie nach dem Krieg von geflohenen Nazis geschmuggelt worden waren. Als die Kirche sie nicht herausgeben wollte, schaltete Samat einen Bekannten im argentinischen Verteidigungsministerium ein. Samat hat mir erzählt, er hätte das Verteidigungsministerium überreden können, die Reliquien an die litauische Heimat zurückzugeben.«
»Als Gegenleistung für was?«
»Das hat Samat mir leider nie gesagt.«
»Wann hat er Ihnen das mit dem Verteidigungsministerium erzählt?«
»Als er das letzte Mal in Prag war.«
»Und wann war das?«
»Er ist von Israel zuerst nach London zu Taletbek Rabbani und dann hierher geflogen, um mich zu besuchen, und dann weiter nach –«
Martin merkte, dass Susanna Slánskás Augen sich auf etwas über seiner Schulter konzentrierten. Als er den Kopf wandte, um zu sehen, wo sie hinschaute, bemerkte er, wie ihre Finger den Davidstern unter dem Kragen ihrer Bluse verschwinden ließen. Radek, die Sherlock-Holmes-Mütze vor dem Solarplexus, die andere Hand in der Tasche der Tiroler Jacke vergraben, stand an der Tür des Salon de thé und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Als er Susanna Slánská und Martin erspähte, deutete er mit dem Schirm seiner Mütze in ihre Richtung und steuerte zwischen den Tischen hindurch auf sie zu. Hinter ihm schwärmten ein Dutzend Männer aus.
Susanna Slánská entfuhr ein angstvolles Keuchen, als sie sich erhob. Sie sagte: »Hohes Alter ist nichts für Leute mit schwachem Herzen«, und fuhr dann, die Augen starr auf Radek gerichtet, mit kaum merklichen Lippenbewegungen fort: »Im Aralsee, zwanzig Kilometer vom Festland entfernt, liegt die Insel Wosroschdenije. In der Sowjetära wurden dort Biowaffen getestet. Auf der Insel gibt es einen Ort namens Kantubek. Samat hat in Kantubek eine Kontaktperson, einen Georgier namens Hamlet Achba. Können Sie das alles behalten?«
»Wosroschdenije. Kantubek. Hamlet Achba.«
»Warnen Sie Samat …« Radek war fast bei ihnen. »Ich werde den Gestank eines weiteren Gefängnisses ganz sicher nicht überleben«, murmelte sie vor sich hin.
Um sie herum beobachteten die Kellner und Gäste gebannt, wie sich Radek und seine Begleiter dem Mann und der Frau an dem kleinen Tisch hinten im Raum näherten. Radek, die Lippen zu einem schwachen, zufriedenen Lächeln verzogen, erreichte den Tisch. »Ich habe eine Pistole in der Tasche«, sagte er zu Martin. »Eine deutsche Walther P1. Sie sind verhaftet, Mister. Sie ebenfalls, werte Dame.«
Martin spürte, wie sich das Deck unter seinen Schuhen (die Schnürsenkel und seinen Gürtel hatten sie ihm abgenommen) hob und senkte, während er darauf wartete, dass das Verhör weiterging. In den letzten Tagen waren sie zu den unberechenbarsten Zeiten gekommen, eine Methode, mit der sie ihm eher den Schlaf rauben als Informationen entlocken wollten. Da seine kleine Zelle direkt über dem Kielraum des Hausbootes ebenso wenig ein Bullauge hatte wie die Kajüte darüber, wo die Verhöre stattfanden, hatte er schon lange kein Gefühl mehr dafür, ob es Tag oder Nacht war. Die einzigen Geräusche, die von draußen an sein Ohr drangen, waren die Nebelhörner vorbeifahrender Fähren und das schrille Sirenengeheul, wenn Polizeiwagen durch die Straßen von Prag brausten. Irgendwo im Bauch des Hausbootes stampfte dumpf ein Generator, und hin und wieder flackerte die Glühbirne, die außer Reichweite über seinem Kopf hing. Kurz nachdem Radek ihn vom Polizeibus auf das Hausboot verfrachtet hatte, das flussabwärts nicht weit von der Karlsbrücke an einem Zementkai vertäut war, meinte er, von einem anderen Deck den gedämpften Schrei einer Frau zu vernehmen, doch als er sich das Geräusch noch einmal vergegenwärtigte, kam er zu dem Schluss, dass es wohl das Aufjaulen einer Katze gewesen sein musste, die die Mülltonnen am Kai durchwühlte. Die langen Verhöre in dem stickigen Raum schienen den Vernehmungsbeamten – ein hagerer, unrasierter Mann mit geschorenem Schädel und einer Adlernase, die aussah, als wäre sie mal gebrochen und schlecht wieder gerichtet worden – nicht im Geringsten zu ermüden. Er saß mit hängenden Schultern hinter einem kleinen Schreibtisch, der an den Deckplanken festgeschraubt war, und bombardierte ihn mit sachlich monotoner Stimme mit Fragen, wobei er nur gelegentlich die Augen von seinen Notizen hob. Radek, der jetzt einen eleganten braunen Dreiteiler trug, lehnte neben einem der beiden Wachleute, die Martin aus seiner Zelle holten und zurückbrachten. Martin saß vor dem Tisch auf einem Stuhl, dessen vordere Beine ein Stück gekürzt worden waren, damit der Gefangene ständig das Gefühl hatte, herunterzurutschen. Grelle Lampen auf beiden Seiten des Schreibtisches blendeten ihn, sodass ihm die Augen tränten und er alles nur verschwommen sah.
»Haben Sie einen Namen?«, hatte Martin den hageren Mann hinter dem Schreibtisch beim ersten Verhör gefragt.
Die Frage schien sein Gegenüber zu bekümmern. »Was hätten Sie davon, wenn Sie meinen Namen wüssten?«
»Dann könnte ich mich bei der amerikanischen Botschaft über Sie beschweren.«
Der Mann hatte Radek einen kurzen Blick zugeworfen, dann wieder Martin angesehen. »Wenn Sie die Beschwerde einreichen, können Sie ja sagen, Sie wären von einer geheimen Einheit eines geheimen Ministeriums verhaftet worden.«
Radek unterdrückte ein kehliges Lachen.
Der hagere Mann schob Martin eine Kanne Kaffee hin und sagte: »Bedienen Sie sich.«
»Sie haben da bestimmt Koffein reingetan, um mich wach zu halten«, erwiderte er müde, goss sich aber doch etwas Kaffee in einen Plastikbecher und trank einen Schluck. Seit er auf dem Hausboot war, hatte er gesalzenen Reis, aber nichts zu trinken bekommen.
»Ihre Verhörmethoden haben Sie sich wohl aus amerikanischen Filmen abgeschaut.«
»Das will ich nicht leugnen«, sagte der hagere Mann. »Man sollte kein Snob sein und ruhig Anregungen aufgreifen. Auf jeden Fall sind die Methoden wirksam, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen – ich habe nämlich schon auf beiden Seiten des Verhörtisches gesessen. Als die Kommunisten mich wegen antikommunistischer Umtriebe verhafteten, haben sie mich innerhalb von vier Tagen mit genau diesen Methoden überzeugt, Vergehen zu gestehen, die ich gar nicht begangen hatte. Und welche Erfahrungen haben Sie gemacht, Mr. Odum?«
»Ich habe keinerlei Erfahrung mit Verhören«, sagte Martin.
Der Mann lachte ungläubig. »Den Eindruck hat Ihre CIA aber nicht bei uns erweckt. Der Leiter der Prager Station hat uns anvertraut, dass Sie einmal ein Spitzenagent waren, so erfahren, dass man Ihnen nachsagte, Sie könnten selbst dann mit einer Menschenmenge verschmelzen, wenn gar keine da war.«
»Wenn ich nur halb so gut wäre, wieso bin ich dann auf Radeks Masche am Flughafen reingefallen?«
Der Mann zuckte mit seinen hängenden Schultern, was sie für einen Augenblick in die Position hob, die sie normalerweise hätten haben müssen. »Vielleicht haben Sie Ihre beste Zeit hinter sich. Vielleicht hatten Sie in diesem Moment den Kopf voll mit anderen Dingen. Jedenfalls, auch wenn Sie Radeks Dienste nicht in Anspruch genommen hätten –«
»Für umgerechnet einen lausigen Dollar in der Stunde«, stöhnte Radek an der Wand.
»Dann wären Sie bestimmt in eines der drei Taxis gestiegen, die draußen standen. Die Fahrer heißen auch alle Radek und arbeiten für uns.«
Martin entdeckte ein noch fehlendes Puzzleteilchen: Woher hatten sie gewusst, dass er nach Prag kommen würde? Offenbar hatte der Leiter der Prager CIA-Station mit seinem tschechischen Kollegen über Martin gesprochen. Und der Stationschef war Crystal Quest unterstellt. Womit Martin wieder bei der Frage angekommen war, die er vor einer halben Ewigkeit dem inzwischen verstorbenen Oskar Alexandrowitsch Kastner in der fensterlosen Kammer auf der President Street in Brooklyn gestellt hatte: Ich möchte wissen, warum die CIA nicht will, dass dieser spezielle verschwundene Ehegatte gefunden wird.
»Ihr hiesiger Stationschef«, sagte der hagere Mann jetzt, »behauptet, Sie sind nicht mehr bei der CIA. Er sagt, Sie arbeiten als Privatdetektiv. Könnte sein, dass er die Wahrheit sagt, könnte aber auch sein, dass er damit nur jede Verbindung der CIA zu Ihnen verschleiern will, weil Sie in flagranti erwischt wurden. Also, Mr. Odum, raus mit der Sprache. Welche Waffensysteme wollten Sie im Vyšehrad-Bahnhof kaufen? Und vor allen Dingen: für wen?«
»Susanna Slánská verkauft generische Arzneimittel.«
»Die Frau, die Sie Susanna Slánská nennen, war niemals mit dem Arzt Pavel Slánsk verheiratet, der, wie Sie sicherlich wissen, in der kommunistischen Zeit als Staatsfeind zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Ihr richtiger Name ist Susanna Dsurova. Sie hat den Namen Slánská angenommen, als sie von Pavels Tod im Gefängnis erfuhr. Was den Handel mit Generika betrifft, so haben wir Grund zu der Annahme, dass sich dahinter eine der größten Waffenschiebereien in Europa verbirgt.« Aus einem der Karteikästen auf dem Schreibtisch holte er einen Bericht hervor, bog mit dem Daumennagel eine Heftklammer auf und entnahm das dritte Blatt. Er setzte sich eine randlose Lesebrille auf und zitierte aus dem Text: »… operiert in Verbindung mit Taletbek Rabbani in London, der behauptet, Prothesen zum Selbstkostenpreis an Dritte-Welt-Länder zu verkaufen …« Der hagere Mann blickte von dem Blatt auf.
»Ihnen ist sicherlich nicht entgangen, dass Mr. Rabbanis Prothesenhandel in London und Susanna Slánskás Generika-Handel hier in Prag von ein und demselben Geldgeber finanziert werden, einem gewissen Samat Ugor-Shilow, der bis vor kurzem in einer jüdischen Siedlung im Westjordanland gelebt hat, wo er vor dem in Moskau tobenden Mafiabandenkrieg Zuflucht gesucht hatte.«
Martins Beinmuskulatur schmerzte allmählich von der unentwegten Anstrengung, nicht vom Stuhl zu rutschen. Er kniff die Augen zusammen, um sein Gegenüber deutlich zu sehen. »Sowohl Mr. Rabbani als auch Susanna Slánská haben Samat Ugor-Shilow als Wohltäter bezeichnet –«
Radek schnaubte verächtlich. »Schöner Wohltäter!«, rief er von der Wand aus.
Der hagere Mann warf ihm einen finsteren Blick zu, als wollte er ihn daran erinnern, dass es eine Hackordnung gab und dass die jungen Vögel zwar zu sehen, aber nicht zu hören sein durften. Dann hielt er das Blatt Papier ins Licht und las einen längeren Abschnitt vor. »Sowohl Mr. Rabbani als auch Susanna Slánská handeln mit einem französischen Produkt, mit dem sich der Fehler korrigieren lässt, den das US-Pentagon zur Abwehr feindlicher Raketen in das GPS-Satellitensystem einbaut … mit sowjetischen Radareinheiten aus der Ukraine … ach ja, mit gepanzerten Mannschaftswagen von einer staatlichen Firma in Bulgarien namens Terem, die an Syrien verkauft werden, um irgendwann in den Irak geliefert zu werden … mit Motoren und Ersatzteilen aus bulgarischen Rüstungsfabriken für die Sowjetpanzer T-55 und T-72 … mit Munition, Sprengstoff, Raketen, Handbüchern für Raketentechnik aus Serbien … mit Düsenjägerersatzteilen und Raketentriebwerken aus einer Flugzeugfabrik im Osten Bosniens. Und hören Sie sich das an: Das Londoner Prothesenlager und der Prager Generika-Handel dienen als Clearingstellen für Aufträge an eine Munitionsfabrik in der bosnischen Stadt Vitez und für Bestellungen von Raketenlenksystemen, die in einem Forschungszentrum in Banja Luka hergestellt werden … Zahlungen für Artikel auf der Bestandsliste erfolgten in bar oder in Diamanten.«
Der hagere Mann schnippte mit dem Nagel seines Mittelfingers gegen das Blatt Papier. »Ich könnte fortfahren, aber wozu?«
In einer seiner Legenden – in welcher, wusste Martin nicht mehr – hatte er auf der »Farm« einen Kurs belegt, in dem die Agenten lernten, wie sie sich in einem feindlichen Verhör zu verhalten hatten. Zu den besprochenen Methoden gehörte auch die, die verhörte Person mit eklatanten Lügen zu verwirren. In einer solchen Situation sollten sich die Agenten strikt an die Fakten halten, von denen sie wussten, dass sie der Wahrheit entsprachen, und nicht auf die Märchen des Vernehmers eingehen.
Martin, dem vor Erschöpfung schon ganz schwindelig war, hörte sich selbst sagen: »Ich weiß absolut nichts von irgendwelchen Waffenverkäufen.«
Der Vernehmer nahm seine Brille ab und massierte sich mit Daumen und Mittelfinger der linken Hand den Nasenrücken.
»Wenn das so ist, was hat Sie dann nach London zum Lagerhaus von Taletbek Rabbani und zum Vyšehrad-Bahnhof in Prag geführt?«
Martin wollte nichts lieber, als sich endlich wieder auf der Pritsche in seiner Zelle ausstrecken. »Ich bin auf der Suche nach Samat Ugor-Shilow«, sagte er.
»Warum?«
In abgehackten Sätzen räumte Martin ein, dass er einmal Mitarbeiter der CIA gewesen war, beteuerte aber, dass er nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst in Brooklyn eine Privatdetektei aufgemacht hatte. Er erklärte, dass Samat seine Frau in Israel sitzen gelassen hatte und welche Folgen das für sie hatte. Er erzählte, dass er Samat im Auftrag von dessen Schwägerin und Schwiegervater suchen und davon überzeugen sollte, sich von seiner strenggläubigen Frau scheiden zu lassen, damit diese irgendwann wieder heiraten konnte.
»Ich habe keinerlei Interesse, Prothesen oder generische Präparate zu kaufen. Ich verfolge lediglich eine Spur, die mich hoffentlich zu Samat führt.«
Der Vernehmer hörte sich Martins Erklärung mit einem dünnen Lächeln an. »Und was wollen Sie machen, wenn Sie ihn gefunden haben?«
»Ich bringe Samat in die nächstbeste Stadt mit einer Synagoge und zwinge ihn, vor einem Rabbi zu erklären, dass er sich von seiner Frau scheiden lassen will. Und danach kehre ich nach Brooklyn zurück und langweile mich den Rest meines Lebens zu Tode.«
Der Vernehmer ließ sich Martins Geschichte durch den Kopf gehen. »Mir ist durchaus bekannt, dass Tarngeschichten von Agenten mitunter auch nach dem Motto ›je grotesker desto glaubwürdiger‹ zusammengeschustert werden, aber Sie treiben es eindeutig zu weit.«
Er kramte in den Papieren auf dem Schreibtisch und zog einen weiteren Bericht hervor. »Wir beobachten seit Wochen, wer alles im Vyšehrad-Bahnhof ein und aus geht«, fuhr er fort. »Wir konnten in den oberen Büros sogar ein Abhörgerät installieren. Hier habe ich die Abschrift eines Gesprächs, das wir erst kürzlich aufgenommen haben. Vielleicht kommt es Ihnen bekannt vor. Ein Mann sagte: Ich muss Ihnen etwas gestehen. Ich bin nicht hier, um günstige Medikamente zu kaufen. Ich bin hier, um mehr über ein Projekt von Samat herauszufinden: den Tausch der Gebeine des litauischen Heiligen gegen jüdische Thorarollen.« Der Vernehmer hob die Augen von der Seite und blickte seinen Gefangenen direkt an. »Seltsam, dass Sie die Scheidung, von der Sie sprachen, mit keinem Wort erwähnen. Gebeine des litauischen Heiligen, jüdische Thorarollen – ich vermute, das sind Codenamen für Waffensysteme aus Litauen und Israel. Eines sage ich Ihnen, Mr. Odum: Ganz abgesehen davon, dass es illegal ist, Waffen und Waffensysteme zu verkaufen – was uns an Mrs. Slánská besonders fasziniert, ist ihr Motiv. Sie hat das nicht wegen des Geldes gemacht, Mr. Odum. Sie ist eine Idealistin.«
»Wenn ich mich nicht täusche, ist Idealismus kein Verbrechen, nicht einmal in der Tschechischen Republik.«
»Der amerikanische Schriftsteller Mencken hat einen Idealisten mal als einen Menschen definiert, der, wenn ihm auffällt, dass eine Rose besser riecht als ein Kohlkopf, zu dem Schluss kommt, dass sie auch eine schmackhaftere Suppe ergeben würde. Nun, Mrs. Slánskás Idealismus ist ebenso eigenartig wie der von Mencken – sie ist eine unbelehrbare Marxistin und kämpft für die Rückkehr des Kommunismus. Sie möchte die Uhr zurückdrehen, und angeblich finanziert sie mit den beträchtlichen Erlösen aus ihren Waffengeschäften eine Splittergruppe, die hier in der Tschechischen Republik das Gleiche erreichen will, was den ehemaligen Kommunisten in Polen, Rumänien und Bulgarien gelungen ist: Wahlen gewinnen und wieder an die Macht kommen.«
Martin hatte eine Idee, wie er vielleicht gegen die Müdigkeit ankämpfen konnte, die in ihm den Eindruck erweckte, alles würde in Zeitlupe geschehen: Er schloss ein Auge und stellte sich vor, eine Hälfte seines Gehirns würde schlafen, während die andere Hälfte und das andere Auge wach blieben. In der Hoffnung, der Vernehmer würde seinen cleveren Trick nicht durchschauen, wechselte er Auge und Hirnhälfte einen Moment später. Er konnte hören, wie die Stimme des hageren Mannes weiterleierte, konnte mit dem offenen Auge die verschwommene Gestalt erkennen, die aufstand und sich vor ihm an die Kante des Schreibtisches lehnte.
»Sie sind aus London gekommen, Mr. Odum. Vom britischen MI5 wissen wir, dass Sie mehrere Tage in einer Pension neben der Synagoge in Golders Green gewohnt haben. Das Lagerhaus, in dem Mr. Taletbek Rabbani am Tag vor Ihrer Abreise aus London ermordet wurde, war von Ihrer Pension aus leicht zu Fuß zu erreichen.«
»Wenn alle Leute, die in der Nähe zum Lagerhaus wohnen, verdächtig sind«, gelang es Martins noch funktionsfähiger Hirnhälfte zu sagen, »dann hat der MI5 aber alle Hände voll zu tun.«
»Wir wollen die Möglichkeit nicht ausschließen, mit Ihnen einen Deal zu machen, Mr. Odum. Uns geht es vor allem darum nachzuweisen, dass Mrs. Slánská und Mr. Rabbani an den Waffengeschäften von Samat Ugor-Shilow beteiligt waren und dass das Lagerhaus in London und der stillgelegte Bahnhof in Prag von eben diesem Samat Ugor-Shilow finanziert wurden, einem berüchtigten Moskauer Gangster, der mit dem als Oligarchen bekannten Ugor-Shilow in Verbindung steht. Unser Ziel ist es, die kommunistische Splittergruppe mit Susanna Slánskás illegalen Waffengeschäften in Verbindung zu bringen und sie ein für alle Mal in Misskredit zu bringen … Mr. Odum, hören Sie mir überhaupt zu? Mr. Odum, aufwachen!«
Doch beide Hälften von Martins Hirn hatten vor Erschöpfung den Betrieb eingestellt.
»Bringt ihn zurück in seine Zelle.«
Einmal – etliche Inkarnationen früher – hatte Dante Pippen nur mit Mühe und Not eine endlose Busreise überstanden. Er war von Islamabad, wo er in einem bürgerlichen Viertel in einem Safe House untergebracht worden war, nach Peschawar und weiter in die trostlosen Stammesgebiete des Khaiberpasses gefahren, um dort Kämpfer zu debriefen, die nach ihrem Einsatz in Afghanistan wieder über die Grenze nach Pakistan geschleust wurden. Die Busfahrt (Crystal Quests Vorstellung, wie ein Nachrichtenagenturreporter – Dantes damalige Tarnung – reisen würde) war der reinste Albtraum gewesen. Eingequetscht auf der hölzernen Rückbank hinten im Bus zwischen einem Mullah aus Kandahar, der einen schmutzigen Schalwar-Kamis trug, und einem bärtigen Kaschmir-Kämpfer in einer stinkenden Dschellaba, war Dante jedes Mal überglücklich gewesen, wenn der Bus anhielt, ob mitten in der freien Natur oder auf einer von Abwasser matschigen Dorfstraße, damit sich die Passagiere die Beine vertreten und Richtung Mekka gewandt die Verse des Korans murmeln konnten, die ein Muslim fünfmal am Tag beten musste. Jetzt, da er bequem in dem klimatisierten Reisebus saß, umgeben von gut gekleideten und, was noch wichtiger war, gepflegten Deutschen auf der Heimfahrt vom Kurort Karlsbad, musste Martin Odum schmunzeln, als er plötzlich an Dantes Khaiberpass-Reise dachte. Wie immer, wenn ihm etwas aus Dantes Vergangenheit einfiel, wurde ihm klar, dass auch er eine Vergangenheit gehabt haben musste, und das ließ ihn hoffen, dass er eines Tages fähig sein könnte, sich daran zu erinnern. In Erwartung der tschechisch-deutschen Grenze klopfte er mit der Hand auf den kanadischen Pass in der Innentasche seines Jacketts. Dieser Pass, einer von etlichen, die er aus einem Safe geklaut hatte, als er nach seiner Entlassung aus der CIA sein Büro räumte, war auf einen Einwohner British Columbias namens Josef Kafkor ausgestellt. Der Name sagte Martin zwar nichts, aber er konnte ihn sich leicht merken, da er ihn an Franz Kafka erinnerte und an dessen Erzählungen von verängstigten Menschen, die in einer albtraumhaften Welt ums Überleben rangen – so ungefähr sah Martin sich selbst auch. Das Schaukeln des Busses und das gleichmäßige Dröhnen des Dieselmotors machten Martin schläfrig, und als er die Augen schloss und vor sich hin döste, ließ er die Ereignisse der letzten zwölf Stunden Revue passieren.
Er konnte hören, wie Radeks Stimme ihm ins Ohr flüsterte: Mr. Odum, bitte, Sie müssen aufwachen.
Martin war in Etappen an die spiegelnde Oberfläche des Bewusstseins getrieben, wie ein Sporttaucher, der beim Auftauchen Pausen einlegt, um Lungenüberdruck zu vermeiden. Als er schließlich die entsprechenden Muskeln lokalisiert hatte, um die Lider zu öffnen, hockte Radek, der wieder in Reithose und Tiroler Jacke gekleidet war, neben der Pritsche in seiner Zelle. »Na endlich, wurde aber auch Zeit, Mr. Odum.«
»Wie lange hab ich geschlafen?«
»Vier, viereinhalb Stunden.«
Martin setzte sich schwerfällig auf der Pritsche auf. »Wie spät ist es?«
»Zwanzig vor sechs.«
»Morgens oder abends?«
»Morgens. Sind Sie in der Lage zu verstehen, was ich sage? Die Wachleute am Kai, das Personal vom Hausboot, alle sind nach Hause geschickt worden. Irgendwelche hohen Tiere wollen, dass Sie sich in Luft auflösen.« Er reichte Martin seine Schuhe und sagte: »Ziehen Sie die an. Und dann kommen Sie mit.«
Radek stieg vor Martin die Metalltreppe hoch aufs Wetterdeck. In einem kleinen Raum neben dem Mittschiffsgang übergab er ihm den Trenchcoat und den Koffer, den er aus der Pension geholt hatte. Martin öffnete den Kofferdeckel und berührte den weißen Seidenschal, der gefaltet auf der Kleidung lag. Er fuhr mit den Fingern über die Unterseite des Deckels.
»Ihre gefälschten Ausweise und ihre Barschaft in Dollar und britischem Pfund sind noch dort, wo Sie sie versteckt haben, Mr. Odum.«
Martin beäugte Radek misstrauisch. »Für dreißig lausige Kronen die Stunde bieten Sie eine ganze Menge.«
In Radeks Augen flackerte so etwas wie Schmerz auf. »Ich bin nicht der, der ich zu sein scheine«, flüsterte er. »Ich bin nicht der, für den meine Vorgesetzten mich halten. Ich habe in meiner Jugend nicht gegen die Kommunisten rebelliert, um jetzt Staatskapitalisten zu helfen, die die gleichen Methoden anwenden. Ich weigere mich, mit Kriminellen gemeinsame Sache zu machen.« Er zog die deutsche Walther P1 aus einer Tasche seiner Tiroler Jacke und hielt sie Martin hin, mit dem Griff zuerst. »Wenigstens sind Sie gewarnt.«
Zutiefst verwirrt nahm Martin die Waffe. »Gewarnt und gewappnet.«
»Ich habe Anweisung, Sie um fünfzehn Minuten vor sieben gehen zu lassen. Ich vermute, irgendwann würde man Sie tot aus der Moldau fischen. Ihr Koffer mit amerikanischen Dollars, britischen Pfund und falschen Ausweispapieren würde man am Kai entdecken. Die Polizei würde spekulieren, dass ein verdächtiger Amerikaner, der mit illegalen Waffengeschäften zu tun hatte, von internationalen Gangstern ermordet wurde. Die hiesigen Zeitungen würden darüber eine kleine Meldung bringen. Die amerikanische Botschaft würde der Sache nicht viel Beachtung schenken – euer hiesiger CIA-Stationschef würde vielleicht sogar andeuten, dass es im internationalen Interesse besser wäre, wenn sie der Angelegenheit nicht allzu tief auf den Grund gingen. Der Fall würde ad acta gelegt, noch ehe die Tinte auf den diversen Berichten getrocknet wäre.«
»Viertel vor sieben – dann habe ich nicht mal mehr eine Stunde«, sagte Martin.
»Mein Wagen, ein grauer Skoda, steht fünfzig Meter den Kai runter. Er ist voll getankt, der Zündschlüssel steckt. Fahren Sie am Kai entlang, bis die erste Auffahrt zur Straße in Sicht kommt, dann nehmen Sie die erste Brücke, überqueren den Fluss und folgen den Schildern Richtung Ceské Budějovice und von dort weiter nach Österreich. An der Grenze zeigen Sie einen Ihrer falschen Pässe vor. Die ganze Fahrt dürfte nicht länger als zwei Stunden dauern, wenn Sie gut durchkommen.«
»Wenn ich schon abhaue, möchte ich Susanna Slánská mitnehmen.«
»Deren Leben ist nicht in Gefahr. Aber Ihres. Sie muss mit Gefängnis rechnen, wenn die Beweise für eine Anklage reichen.«
Martin machte sich wegen Radek Sorgen. »Wie wollen Sie erklären, dass Ihre Pistole verschwunden ist?«
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir mit der Waffe eins über den Schädel geben würden, aber ordentlich, damit ich noch bewusstlos bin, wenn sie mich finden. Ich werde sagen, Sie hätten mir die Pistole entrissen und mich außer Gefecht gesetzt. Man wird mir vielleicht nicht glauben – ich werde bestimmt degradiert, vielleicht sogar entlassen. Aber egal. Ich leiste Widerstand, also bin ich.«
Die beiden Männer schüttelten sich die Hand. »Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann mal wieder«, sagte Martin.
Radek lächelte verlegen. »Eines sage ich Ihnen jetzt schon, Mister – das nächste Mal bin ich nicht so blöd und knöpfe Ihnen nur einen lausigen Dollar die Stunde ab.«
Radek biss die Zähne zusammen und neigte den Kopf. Martin hielt sich nicht zurück – er wusste, dass Radeks Geschichte mit einer böseren Wunde am Kopf überzeugender wäre. Er packte die Pistole am Lauf und zwang sich, mit vor Mitgefühl verzogener Miene, kräftig zuzuschlagen. Die Kopfhaut platzte auf und der junge Mann sackte benommen auf die Knie.
»Danke«, stöhnte er noch, bevor er das Bewusstsein verlor.
»Ungern geschehen«, erwiderte Martin.
Er nahm seine Sachen und lief über die Gangway zum Kai, wo keine Menschenseele zu sehen war. Radeks Skoda stand in der Dunkelheit links von ihm. Er öffnete die Tür und warf seine Sachen auf den Beifahrersitz. Als er den Zündschlüssel drehte, sprang der Motor sofort an. Er sah auf die Tankuhr – voll, genau wie Radek gesagt hatte. Er legte den Gang ein und fuhr den Kai hinunter. Nach etwa einem halben Kilometer erkannte er im Scheinwerferlicht die Auffahrt zur Straße. Plötzlich trat Martin auf die Bremse. Er machte das Licht aus und hielt im Schatten der Kaimauer. Einen Moment lang blieb er reglos sitzen, während sein Herzschlag ihm in den Ohren hämmerte. Ein alter Instinkt hatte in der Hirnhälfte, die für das Spionagehandwerk zuständig war, Alarm ausgelöst. Er zog die deutsche Pistole aus der Jackentasche, entfernte das Magazin, drückte die erste der eiskalten 9-Millimeter-Patronen heraus und wog sie in der Hand.
Er hielt den Atem an. Die Kugel sah normal aus. Aber sie war zu leicht!
Was der hagere Mann im Verhör gesagt hatte, stimmte nicht: Martin hatte seine beste Zeit noch nicht hinter sich.
Die Patronen einer Waffe zu überprüfen gehörte zu den Lektionen, die Dante Pippen gelernt hatte, als er mal mit einer sizilianischen Mafiafamilie zu tun hatte. Wenn du jemandem eine Schusswaffe gibst oder irgendwo liegen lässt, wo sie gefunden werden soll, besteht immer die Gefahr, dass sie gegen dich verwendet werden konnte. In Sizilien war es ein richtiger Sport, jemandem eine Schusswaffe unterzuschieben, die mit Dummypatronen geladen war, die echt aussahen und sich auch wie echte Kugeln anhörten, wenn man abdrückte. Aber Dummypatronen hatten nicht das gleiche Gewicht wie echte Patronen – wer sich mit Schusswaffen auskannte, spürte den Unterschied.
Radek wollte ihn ins Messer laufen lassen.
Martin hatte wieder den schmerzlichen Blick des jungen Mannes vor Augen, hörte wieder, wie er mit vor Aufrichtigkeit triefender Stimme sagte: Ich bin nicht der, der ich zu sein scheine.
Wer von uns ist schon der, der er zu sein scheint?
Martin überlegte, ob er zurückfahren und Susanna Slánská befreien sollte. Doch er ließ die Idee gleich wieder fallen – wenn er ihretwegen zu dem Hausboot zurückkehrte, würden sie merken, dass er ihren Plan durchschaut hatte. Und sie würden auf Plan B zurückgreifen, der zweifellos weniger aufwendig wäre, aber rascher ans Ziel führte.
Martin konnte sich vorstellen, wie Plan A aussah: Der Gefangene, der im Besitz diverser gefälschter Ausweispapiere war, als er in Gesellschaft einer Waffenhändlerin festgenommen wurde, überwältigt den Beamten, der ihn bewachen sollte, nimmt dessen Pistole an sich und flieht aus dem Safe House, in dem er verhört wurde, Richtung Österreich. Irgendwo unterwegs bei einer Verkehrskontrolle oder vielleicht erst an der Grenze wird er aufgefordert, seinen Pass zu zeigen. Vor Augenzeugen zieht er die Pistole, um sich den Weg frei zu schießen, und wird von einem Polizisten oder Grenzbeamten niedergestreckt. Klarer Fall von Notwehr. So was war heutzutage in den ehemaligen Randstaaten der Sowjetunion schon fast an der Tagesordnung.
Jetzt, da Martin wusste, dass er in eine Falle gelockt werden sollte, konnte er den Skoda natürlich nicht mehr benutzen. Wenn er das Auto aber irgendwo in einer Seitenstraße parkte, wo es vielleicht erst nach Stunden oder sogar Tagen entdeckt wurde, würde die Polizei wertvolle Zeit damit vergeuden, auf den Straßen Richtung Österreich nach dem Fahrzeug Ausschau zu halten. Sobald er den Skoda irgendwo abgestellt hatte (die Pistole würde er in den Fluss werfen, aber die Patronen auf dem Fahrersitz liegen lassen, um Radek zu ärgern), musste er auf dem schnellsten Weg das Land verlassen: Den ganzen Tag über fuhren Züge nach Karlsbad, das von der deutschen Grenze nur einen Steinwurf entfernt war. Und von dort fuhren jeden Nachmittag Dutzende Reisebusse zurück nach Deutschland. Falls er an der Grenze kontrolliert wurde, konnte er den kanadischen Pass vorzeigen, den er im ausgefransten Futter seines Trenchcoats versteckt hatte. Er überprüfte das Futter erneut und war beruhigt; allem Anschein nach hatte Radek den Pass nicht entdeckt.
Die Stimme des Fahrers, die blechern aus den kleinen Lautsprechern in der Decke des Busses ertönte, riss Martin aus seinen Gedanken. »Wir sind gleich an der Grenze. Bitte halten Sie Ihre Pässe bereit.« Ein Stück weiter vorne sah Martin die niedrigen Flachdachgebäude mit den Wechselstuben und den Toiletten und gleich dahinter die uniformierten Grenzbeamten. Es war ein Reisebus vor ihnen, und drei waren hinter ihnen, was, wie Martin wusste, ein Glücksfall war. Wenn sich die Fahrzeuge stauten, nahmen die Beamten es mit der Kontrolle meist nicht so genau. Als Martins Bus an der Reihe war, stieg ein junger Grenzbeamter mit mürrischer Miene ein, kam den Gang hinunter und schaute dabei mehr in die Gesichter der Reisenden als in ihre Pässe. Martin, der auf der hintersten Bank saß, hielt ihm den aufgeschlagenen Pass so hin, dass das Foto zu sehen war, doch der junge Mann streifte ihn nur mit einem flüchtigen Blick.
Als der Bus schließlich die Grenze passierte, kamen Martin erneut Zweifel, ob es richtig gewesen war, Susanna Slánská in den Fängen des hinterhältigen Radek zurückzulassen, und er hatte die entsetzliche Vision, wie das Gewicht des Staates alle Luft aus ihrem zerbrechlichen Körper quetschte.
Radek hatte auf dem Vordeck gestanden und hinter dem Skoda her gesehen, dessen Rücklichter den Kai hinunter immer schwächer wurden. Als plötzlich die Bremslichter aufleuchteten und der Wagen anhielt, stieß der hagere Vernehmer, der neben ihm durch ein Fernglas spähte, ein gereiztes Knurren aus. Kurz darauf rollten die Rücklichter jedoch die Rampe hinauf und bogen schließlich am Ende der Auffahrt auf die Straße ein. Zufrieden mit ihrem gut durchdachten Plan schüttelten sich die beiden Männer die Hand. Der Vernehmer schob den Ärmel seiner Lederjacke hoch und schaute auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. »Ich gebe unseren Leuten Bescheid, dass er unterwegs ist«, sagte er. »Der Oligarch hat unserem Ministerium telegrafische Anweisungen erteilt – er will, dass die Spur zu Samat bei der Slánská aufhört.«
Radek, der sich mit einer Hand ein Taschentuch auf die blutende Kopfwunde drückte, holte eine kleine Taschenlampe hervor und gab Lichtzeichen in Richtung Kai, wo eine grüne Mülltonne stand. Sekunden später tauchten die zwei Gorillas auf, die Martin aus seiner Zelle geholt und wieder zurückgebracht hatten. Radek winkte ihnen, ihm zu folgen, und ging nach unten zu der kleinen Zelle im Bug zwei Decks tiefer. Als sie eintraten, saß Susanna Slánská auf ihrer Pritsche, die Augen geweitet vor Angst, die Beine an den Körper gezogen, die Arme um die Bettdecke geschlungen, die sie sich trotz der stickigen Luft im Raum bis über die Schultern gelegt hatte. »Muss ich schon wieder zum Verhör?«, fragte sie, griff nach dem Davidstern an ihrem Hals und stand von der Pritsche auf. Statt sie durch die Tür zu winken, traten die beiden Wachmänner links und rechts neben die Frau und packten ihre Oberarme. Susannas Augen weiteten sich, als Radek ihr die Bluse aus dem Hosenbund zog und ihren Bauch entblößte. Dann sah sie die kleine Spritze in seiner Hand und versuchte verzweifelt, sich loszureißen, doch die beiden Gorillas hielten ihre Arme noch fester. Vor nackter Panik begann Susanna, leise zu schluchzen, als Radek die Nadel in das weiche Fleisch ihres Nabels stach und den Kolben hinunterdrückte. Das Mittel wirkte rasch – binnen Sekunden senkten sich Susannas Augenlider, dann fiel ihr das Kinn auf die Brust. Während die beiden Gorillas sie festhielten, schnitt Radek mit einem kleinen Taschenmesser schmale Streifen aus der Bettdecke. Er zwirbelte die Stoffstreifen zu Schnüren, die er an den Enden zusammenband. Dann zog er die Pritsche in die Mitte der Zelle unter die Glühbirne, stieg auf das Bett und befestigte ein Ende der selbst gebastelten Schnur an dem Elektrokabel über der Birne. Er zog daran, um sich zu vergewissern, dass der Knoten fest war und die Schnur nicht riss. Die beiden Gorillas hoben Susannas schlaffen Körper auf die Pritsche und hielten ihn hoch, während Radek eine Schlinge knüpfte, die er der Frau um den Hals legte und stramm zog. Dann sprang er von der Pritsche und stieß sie mit dem Fuß um, und die drei Männer traten zurück und sahen zu, wie Susannas Körper sich langsam an der Schnur drehte. Radek wurde ungeduldig und gab mit einem Finger ein Zeichen – einer der beiden Gorillas umfasste Susanna an den Hüften und zog sie mit seinem Gewicht nach unten, um die Exekution zu beschleunigen. Radek schnalzte mit der Zunge und schüttelte in gespieltem Bedauern den Kopf. »Das konnten wir ja nun wirklich nicht ahnen, dass du selbstmordgefährdet bist«, sagte er zu der Frau, die da in der Mitte des Raumes erstickte.
Crystal Quests Gesichtszüge verfinsterten sich, als sie sich eine schmale Brille aufsetzte und den vertraulichen Bericht der Prager CIA-Station las, den ihr Referatsleiter ihr auf den Schreibtisch gelegt hatte. Die beiden anderen Mitarbeiter im Raum, die sie über die kürzlich in Bosnien entdeckten Massengräber gebrieft hatten, wechselten einen Blick. Sie kannten ihre Chefin gut genug, um zu wissen, wann sich bei ihr ein Stimmungsumschwung anbahnte. Quest blickte langsam von dem Bericht auf. Diesmal hatte es ihr anscheinend die Sprache verschlagen.
»Wann ist das gekommen?«, fragte sie schließlich.
»Vor zehn Minuten«, erwiderte der Referatsleiter. »Da ich weiß, wie wichtig Ihnen die Sache ist, dachte ich, ich bring ihn besser persönlich vorbei.«
»Wo wurde der Skoda gefunden?«
»In einer kleinen Straße nicht weit von der Prager Burg.«
»Wann?«
»Vor zwölf Stunden, anderthalb Tage nachdem die Tschechen ihn vom Kai haben losfahren sehen.«
Die beiden anderen Mitarbeiter lehnten sich zurück und umklammerten die Armlehnen, um sich gegen das Donnerwetter zu wappnen, das sie jeden Augenblick erwarteten. Doch zu ihrer großen Verblüffung machte sich auf Quests knallroten Lippen ein merkwürdiges Grinsen breit.
»Ich liebe diesen Mistkerl«, flüsterte sie heiser. »Wo hat man die Patronen gefunden?«
Auch der Referatsleiter musste unwillkürlich schmunzeln. »Auf dem Fahrersitz«, sagte er. »Sechs Stück, 9-Millimeter-Parabellum, schön säuberlich in einer Reihe. Die Pistole wurde nicht gefunden.«
Quest schlug mit der flachen Hand klatschend auf den Bericht. In den Ohren der beiden Mitarbeiter vor dem Schreibtisch klang es wie Applaus. »Natürlich haben sie die Pistole nicht gefunden. Die hat er sicher in der Moldau versenkt. Mensch, er ist gut, verdammt gut.«
»Kein Wunder«, sagte der Referatsleiter. »Sie haben ihn schließlich ausgebildet.«
Quest wackelte zufrieden mit dem Kopf. »Ja, das hab ich, und wie. Ich hab ihn ausgebildet und betreut und wieder aufgepäppelt, wenn er schlapp machte, und weiter betreut. Es ist einige Legenden her, da haben wir Martin als Dante Pippen eingesetzt. Ich weiß noch, wie er einmal von einer Operation zurückkam, und zwar bei der sizilianischen Mafiafamilie, die angeboten hatte, Sidewinders-Raketen an die Extremisten der Sinn Féin in Irland zu verkaufen. Wir haben uns vor Lachen nicht mehr eingekriegt, als er erzählte, dass die Sizilianer Pistolen herumliegen ließen, und jeder sich eine schnappen und damit herumballern konnte. Die Sache hatte nur einen Haken: Die Knarren waren nämlich mit Dummypatronen geladen. Die Dinger sind nicht so schwer wie richtige Patronen, was man aber nur merkt, wenn man sie in der Hand wiegt. Dante –«, Quest fing an zu kichern und hielt die Luft an, um sich zu bremsen, »Dante hat vorgeschlagen, dass wir hier in Langley Pistolen mit Dummypatronen rumliegen lassen. Er meinte das nur halb im Scherz. Er hat gesagt, so wüssten wir im Handumdrehen, welchen Agenten man vertrauen könnte und welchen nicht.«
»Wenn er in Prag untergetaucht ist, finden sie ihn vielleicht noch«, warf der Referatsleiter ein.
»Dante ist nicht mehr in der Tschechischen Republik«, sagte Quest trocken. »Über die alberne kleine Grenze da zu kommen ist für ihn ein Kinderspiel.«
»Wir finden ihn«, versprach der Referatsleiter.
Aber Quest, deren Kopf noch immer vergnügt auf und ab hüpfte, verfolgte schon ihre eigenen Gedanken. »Ich liebe den Kerl. Ich liebe ihn wirklich. Was für eine gottverdammte Verschwendung, dass wir ihn töten müssen!«
»Ich muss was los werden«, sagte Stella und machte dem Smalltalk ein abruptes Ende. »Ich hatte noch nie eine erotische Telefonbeziehung.«
»Ich wusste gar nicht, dass wir eine erotische Telefonbeziehung führen.«
»Tun wir aber. Die Tatsache, dass du anrufst, ist erotisch. Der Klang deiner Stimme von Gott weiß woher ist erotisch. Die Stille, wenn wir beide nicht recht wissen, was wir sagen sollen, aber noch nicht auflegen wollen, ist unglaublich erotisch.«
Sie schwiegen beide. »Es steht noch lange nicht fest, dass wir je ein Paar werden«, sagte Martin schließlich. »Aber falls ja, müssen wir jedes Mal so miteinander schlafen, als könnte es das letzte Mal sein.«
Seine Bemerkung raubte ihr den Atem. Nach einem Augenblick sagte sie: »Ich habe das Gefühl, wenn wir je miteinander schlafen sollten, würde die Zeit stehen bleiben, der Tod würde aufhören zu existieren, Gott würde überflüssig.« Sie wartete, dass Martin etwas sagte. Als er es nicht tat, fuhr sie rasch fort: »Es macht mich wahnsinnig, dass wir uns erst vor kurzem kennen gelernt haben – ich habe so viel Zeit verloren.«
»Mm-hm.«
»Übersetz das bitte.«
»Zeit kann man nicht verlieren«, sagte Martin. »Erinnerungen wohl.«
Er lauschte auf ihren Atem am anderen Ende der Leitung viertausend Meilen entfernt. »Es wäre doch möglich«, sagte er, »dass wir wegen der großen Entfernung zwischen uns so viel Nähe spüren – weil das Telefon für ein gewisses Maß an Sicherheit sorgt. Es wäre doch möglich, dass die Nähe verpufft, wenn wir uns wiedersehen.«
»Nein. Nein. So wird es nicht sein. Das weiß ich. Bevor Kastner und ich in die USA gingen, war ich in einen jungen Russen verliebt, zumindest dachte ich das. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, es war eine körperlich lustvolle Erfahrung, wie das eben so ist, wenn man das erste Mal verliebt ist. Mit Erotik hatte es nichts zu tun. Dazwischen liegen Welten. Mein russischer Freund und ich haben ständig geredet, wenn wir uns nicht gerade auf einem schmalen Bett in irgendeinem Zimmerchen begrapscht haben. Im Nachhinein kommt es mir wie eine endlose Kette von Worten vor, ohne Zwischenraum. Ich kann mich an Gespräche erinnern, bei denen es kein Schweigen gab. Wie bei der Atomspaltung, die Energie erzeugt. Das Gleiche geht auch mit Worten. Worte enthalten Energie. Du kannst sie spalten und die freigesetzte Energie für dein Liebesleben nutzen. Bist du noch dran, Martin? Wie würdest du meine Beziehung zu dem jungen Russen deuten?«
»Ich würde sagen, du warst noch nicht bereit. Ich würde sagen, jetzt bist du es.«
»Wozu bereit?«
»Bereit für nackte Wahrheiten, im Gegensatz zu einem Häppchen Wahrheit.«
»Merkwürdig, dass du das sagst. Kennst du Leben und Schicksal von Wassilij Grossman? Ein großartiger russischer Roman, einer der besten, kann es glatt mit Krieg und Frieden aufnehmen. Grossman sagt an einer Stelle, er kann nicht mit kleinen Bröckchen Wahrheit leben – er sagt, ein Bröckchen Wahrheit ist gar keine Wahrheit.«
Martin sagte: »Ich musste mich bisher mit Bröckchen begnügen – vielleicht drängt mich ja gerade das dazu, Samat zu finden. Vielleicht liegt ja irgendwo in der Samat-Geschichte eine nackte Wahrheit.«
»Wieso sagst du das?«
»Ich weiß nicht.« Er lachte leise. »Intuition. Instinkt. Verzweifelte Hoffnung, dass es ja doch eine Macht auf der Welt gibt, die Humpty Dumpty wieder zusammensetzen kann.«