1990: LINCOLN ENTWICKELT EIN EIGENLEBEN
Zur dauerhaften Genugtuung seiner acht Mitglieder war der Legendenausschuss von dem fensterlosen Kellerraum in Langley in einen von Sonnenlicht durchfluteten Konferenzraum im dritten Stock aufgestiegen. Das war das Positive. Die Kehrseite war, dass die neue Räumlichkeit ausschließlich Blick auf den riesigen Parkplatz bot, der von den unteren Chargen der CIA benutzt wurde. (Die hohen Tiere im sechsten Stock, einschließlich Crystal Quest, DDO und Chefin des Ausschusses, genossen den Luxus eines eigenen Stellplatzes in der Tiefgarage mit einem Aufzug, der sie ohne Zwischenstopp in ihr Büro beförderte.) »Man kann eben nicht alles haben«, hatte der ehemalige Stationschef gestöhnt, der den Vorsitz des Legendenausschusses führte, als er den Raum das erste Mal betrat und zum Fenster hinausblickte. Er hatte auf eine Virginia-Landschaft gehofft, nicht auf Asphalt. Um seine Enttäuschung zu verschleiern, gab er den Spruch zum Besten, der über der Bürotür der CIA-Station in Kairo geprangt hatte, die er vor vielen Jahren geleitet hatte: »Yom asal, yom basal … Einen Tag Honig, einen Tag Zwiebeln.«
»Wie weit sind wir gekommen?«, fragte er Maggie Poole, die in Oxford Französisch studiert und den dort erworbenen britischen Akzent noch immer nicht ganz abgelegt hatte, weshalb es besonders affektiert klang, wenn sie französische Worte in die Unterhaltung einstreute.
»In die dritte étage«, erwiderte sie jetzt, und verstand ihn absichtlich falsch, um ihn auf die Palme zu bringen. »Hier oben stehen die Trinkwasserspender auf dem Flur, nicht im Raum.«
»Herrgott nochmal, Sie wissen genau, was ich meine. Sie wollen mich nur ärgern.«
»Moi?«, fragte Maggie Poole in gespielter Entrüstung. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Er meint«, schaltete sich der Aversionstherapeut mit Yale-Abschluss ein, »wo wir mit der neuen Legende für Dante Pippen sind.«
Für Dante, der sich ein weiches Kissen ins Kreuz gelegt hatte, um den Druck auf die Schrapnellverletzung zu mildern, hatten diese Sitzungen Unterhaltungswert. Er konnte einen halbwegs angenehmen Nachmittag verbringen, auch wenn sein lahmes Bein und die Rückenverletzung ihm mehr oder weniger rund um die Uhr Schmerzen bereiteten. Er schloss die Augen, um sie vor der grellen Sonne zu schützen, die schräg durch die offenen Jalousien hereinfiel, und genoss die Wärme im Gesicht. »Ich habe mir gedacht«, warf er in die Runde und konnte förmlich die Knochen quietschen hören, als die alten Hasen des Legendenausschusses ihre Hälse reckten, um ihn anzublicken, »diesmal könnten wir vielleicht in Pennsylvania anfangen.«
»Wieso Pennsylvania?«, fragte die Lexikographin, die von der Uni Chicago ausgeliehen worden war, worüber sie nur froh sein konnte: Das Tageshonorar, das die Company zahlte, musste nicht versteuert werden.
Der Älteste im Ausschuss, ein CIA-Veteran, der bereits während des Zweiten Weltkriegs für OSS-Agenten Legenden erfunden hatte, was er nicht müde wurde zu erwähnen, setzte sich eine Nickelbrille auf die Nase und schlug die Martin-Odum-Personalakte aus dem Zentralregister auf. »Gegen Pennsylvania«, sagte er und spähte dabei angestrengt auf die kleine Schrift des Lebenslaufes, »ist nichts einzuwenden. Mr. Pippens Vorgänger, Martin Odum, verbrachte die ersten acht Jahre seines Lebens in Pennsylvania, in einem kleinen Ort namens Jonestown. Seine Mutter stammte aus Polen, sein Vater hatte eine kleine Fabrik, wo er Unterwäsche für die Army herstellte.«
»Von Jonestown aus konnte man mit dem Auto gut eine Reihe von Schlachtfeldern aus dem Bürgerkrieg erreichen. Als er in der Grundschule war, hat er ein paar davon mit seinem Vater besucht«, ergänzte Dante, der etwas abseits an der Wand saß. »Am besten gefiel ihm Fredericksburg, wo er zwei- oder dreimal war.«
»Kann jemand, der ein paar Mal Fredericksburg besucht hat, Experte für den Bürgerkrieg werden?«, fragte Maggie Poole aufgeregt, weil sie ahnte, worauf das Ganze hinauslaufen sollte.
»Martin war auf jeden Fall ein Experte für Fredericksburg«, sagte Dante lachend. Er hatte die Augen noch immer fest geschlossen, das Erfinden von Legenden machte ihm wieder sichtlich Spaß. So ähnlich musste es sein, einen Roman zu schreiben, stellte er sich vor.
»Seine Geschichten über die Schlacht waren derart anschaulich, dass mancher, der sie hörte, ihn im Scherz fragte, ob er im Bürgerkrieg dabei gewesen war.«
»Können Sie uns ein Beispiel nennen?«, fragte der Vorsitzende.
»Er wusste zum Beispiel, dass Bobby Lee einmal Stonewall Jackson erzählt hat, dass er in dem Haus, wo Burnside seinen Befehlsstand hatte – Chatham Mansion auf der anderen Seite des Rappahannock –, dreißig Jahre zuvor der späteren Mrs. Lee den Hof gemacht hatte. Martin hatte auch eine Anekdote über Old Pete Longstreet parat. Der General soll sich ein Damenschultertuch umgelegt haben, ehe er durch ein Standfernrohr die Schlacht beobachtete und meinte, der Angriff der Unionsarmee sei eine Finte und die eigentliche Offensive würde woanders starten.«
Der Vorsitzende spähte Dante über den Rand seiner Nickelbrille an. »War Bobby Lee der General, den wir als Robert E. Lee kennen?«, fragte er.
»Genau der«, sagte Dante von seinem Platz an der Wand. »Die Virginier nannten ihn Bobby Lee – allerdings sprach ihn keiner so an.«
»Na, da lässt sich doch allerhand draus machen«, sagte der Vorsitzende zu den anderen. »Unser Mann ist vielleicht kein Bürgerkriegsexperte, aber mit einem bisschen Hilfe könnte er durchaus einer werden, nicht wahr?«
»Womit wir zum Namen kommen«, sagte Maggie Poole. »Und was wäre für einen Bürgerkriegsexperten logischer, als ihn Lincoln zu nennen?«
»Da könnten wir ihm auch gleich den Vornamen Abraham verpassen«, feixte der Aversionstherapeut.
»Va te faire cuire un œuf«, fuhr Maggie Poole ihn an und musste offensichtlich den Impuls unterdrücken, ihm die Zunge rauszustrecken. »Nein, ich habe an Lincoln als Vornamen gedacht, weil das einer Legende als Bürgerkriegsexperte Glaubwürdigkeit verleihen würde.«
»Lincoln Soundso hört sich für mich durchaus elegant an«, rief Dante von der Wand her.
»Merci, Mr. Pippen. Schön, dass Sie so aufgeschlossen sind, was man von einigen anderen hier im Raum nicht behaupten kann«, sagte Maggie Poole.
»Ich kannte in Chicago mal einen Waffensammler namens Dittmann – mit zwei t und zwei n«, sagte die Lexikographin. »Der hatte sich auf Schusswaffen aus dem Bürgerkrieg spezialisiert. Sein ganzer Stolz war ein englisches Scharfschützengewehr, das hieß Whentworth oder Whitworth oder so ähnlich. Die Waffe schoss mit Papierpatronen, die sündhaft teuer waren, aber sie galt in den Händen eines erfahrenen Scharfschützen als tödlich.«
»Lincoln Dittmann ist ein Name mit … Gewicht«, befand der Vorsitzende. »Wie gefällt er Ihnen, Mr. Pippen?«
»Ich könnte mich dran gewöhnen«, stimmte er zu. »Und es wäre durchaus originell, aus einem Geheimagenten einen Bürgerkriegsexperten zu machen.«
Die Mitglieder des Legendenausschusses wussten, dass sie fündig geworden waren, und jetzt sprudelten sie vor Ideen nur so über.
»Er könnte doch zunächst selbst die Schlachtfelder besichtigen.«
»Er sollte sich auch eine Sammlung von Bürgerkriegswaffen zulegen.«
»Ich mag Waffen«, verkündete Pippen von seinem Platz aus. »Ja, eine eigene Sammlung mit Bürgerkriegswaffen wäre eine gute Tarnung für einen Waffenhändler. Genau darauf will Fred Astaire mit dieser Legende auch hinaus.«
»Dann müssen wir die Legende also auf einen Waffenhändler abstimmen.«
»Ja.«
»Wer in Gottes Namen ist Fred Astaire?«
»Das ist Mrs. Quests interner Spitzname.«
»Du meine Güte.«
»In welchem Teil der Welt würde Lincoln Dittmann operieren? Wer wären seine Kunden?«
»Seine Kunden wären alle möglichen Leute, die darauf aus sind, Amerika Schaden zuzufügen«, sagte er.
»Um in Lincoln Dittmanns Rolle zu schlüpfen, müssten Sie Ihre Hausaufgaben machen.«
»Hätten Sie was dagegen, sich in ein Thema einzulesen, Mr. Pippen?«
»Im Gegenteil. Würde mir Spaß machen.«
»Er bräuchte glaubwürdige Referenzen.«
»Okay. Fassen wir also zusammen. Er ist in Jonestown, Pennsylvania, aufgewachsen und war als Kind so häufig in Fredericksburg, dass er das Schlachtfeld in- und auswendig kannte, während andere in seinem Alter noch Batman-Comics lasen.«
»Sein Vater könnte eine Kette von Haushaltswarenläden gehabt haben, mit der Hauptfiliale in Fredericksburg, dann hätte er mehrmals im Jahr dorthin gemusst. Dass er möglichst oft seinen kleinen Sohn mitgenommen hat, ist ja schließlich ganz normal …«
»Natürlich! Er hätte ihn in den Schulferien gut mitnehmen können. Der kleine Lincoln Dittmann wird zusammen mit anderen Jungs das Schlachtfeld nach Bürgerkriegsandenken abgesucht haben, die nach heftigen Regenfällen an die Oberfläche gespült werden.«
»Irgendwann hat Lincoln seinen Vater dazu gebracht, in der Gegend nach Gewehren und Pulverhörnern und Orden zu suchen, wenn er mit dem Wagen – geben wir ihm einen Studebaker – in Fredericksburg war, um in seiner Filiale nach dem Rechten zu sehen. Viele Farmer dort haben die Speicher voll mit Sachen aus dem Bürgerkrieg, und Lincolns Vater wird von jeder Geschäftsreise irgendwas mitgebracht haben.«
»Wenn ich Orden sammeln würde«, sagte Pippen, »dann nur welche aus der Unionsarmee. Die Konföderiertenarmee hat keine Orden verliehen.«
»Was hat die Soldaten motiviert, wenn sie keine Aussicht auf Orden hatten?«
»Sie haben für eine Sache gekämpft, an die sie geglaubt haben«, sagte Pippen.
»Die haben die Sklaverei verteidigt, verdammt noch mal –«
»Die meisten Soldaten der Konföderation hatten gar keine eigenen Sklaven«, sagte Pippen. (Martin fiel einiges wieder ein, was er vor vielen Jahren bei seinen Besuchen in Fredericksburg gelernt hatte.)
»Sie wollten sich vom Norden keine Vorschriften machen lassen, dafür haben sie gekämpft. Außerdem hatte Lincoln – ich meine Abraham, den Präsidenten –, als der Krieg anfing, gar nicht die Absicht, die Sklaverei abzuschaffen. Das hätte keiner auf beiden Seiten der Mason-Dixon-Linie akzeptiert, weil keiner wusste, was mit den Millionen von Sklaven in den Südstaaten passieren sollte, wenn sie freigelassen würden. Die Yankees fürchteten, die freigelassenen Sklaven könnten scharenweise in den Norden kommen und ihnen die Fabrikjobs wegnehmen, weil sie für niedrigere Löhne arbeiten würden. Im Süden fürchtete man, sie würden Land pachten und Baumwolle anbauen, die sie preiswerter anbieten könnten als die Plantagenbesitzer. Oder schlimmer noch, sie würden wählen gehen.«
»Er kennt sich ja jetzt schon hervorragend mit dem Bürgerkrieg aus.«
»Unser Lincoln Dittmann sollte irgendwann mal Lehrer oder so etwas gewesen sein, meinen Sie nicht?«
»Ja, er könnte an einem College amerikanische Geschichte mit Schwerpunkt Bürgerkrieg gelehrt haben.«
»Das Problem ist nur, als Hochschuldozent braucht man mindestens einen Doktortitel.«
»Dann war er eben an einem Junior College, dafür braucht man keinen Doktor.«
»Es würde ihm noch mehr Glaubwürdigkeit verleihen, wenn er ein Buch über den Bürgerkrieg schreiben würde.«
»Moment mal«, sagte Pippen. »Ich glaube, dafür hab ich nicht das erforderliche Stehvermögen.«
»Stehvermögen allein genügt nicht. Ich weiß das, weil ich drei Bücher geschrieben habe. Man braucht Enthusiasmus, sonst verliert man sich in der Vielfalt der Möglichkeiten.«
»Wir könnten das Buch von jemand anderem schreiben lassen und veröffentlichen es unter Ihrem Namen in einem kleinen Universitätsverlag, der uns noch einen Gefallen schuldet. ›Die Schlacht von Fredericksburg‹, von Lincoln Dittmann.«
»Ich habe den idealen Titel: ›Kanonenfutter‹. Und als Untertitel: ›Die Schlacht von Fredericksburg‹.«
»Meine Güte, wir wollen uns doch nicht mit dem Titel aufhalten.«
»Was sagen Sie dazu, Mr. Pippen?«
»Eine phantastische Tarnung. Einen Waffenhändler, der einmal die Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs an einem Junior College unterrichtet hat, wird wohl niemand verdächtigen, bei der CIA zu sein.«
»Der Legende fehlt aber noch etwas.«
»Was?«
»Ja, was?«
»Das Motiv. Warum ist Lincoln Dittmann so tief gesunken? Warum lässt er sich mit dem Abschaum der Welt ein, mit Leuten, die keine Freunde Amerikas sind?«
»Weil er sauer auf Amerika ist.«
»Warum? Warum ist er sauer auf Amerika?«
»Weil er sich irgendwie Ärger eingehandelt hat. Irgendwas Peinliches.«
Dante schaltete sich ein. »Ich habe nichts gegen Peinlichkeiten. Aber macht aus Lincoln Dittmann bitte keinen heimlichen Transvestiten oder so.«
»Keine Sorge, Mr. Pippen.«
»Wie wär’s mit einem Plagiatsvorwurf?«
»Er hat ›Kanonenfutter‹ aus einer Dissertation abgekupfert, die in den Zwanzigern oder Dreißigern verfasst wurde und die er im Archiv einer Bibliothek gefunden hat.«
»Das würde die Sache für uns einfacher machen. Wir müssten niemanden dafür bezahlen, das Buch über Fredericksburg zu schreiben, wir bräuchten nur irgendeine Dissertation über den Bürgerkrieg zu suchen – davon verstauben bestimmt Tausende auf Bibliotheksregalen – und daraus abschreiben.«
»Ist mal wieder typisch«, stöhnte Dante. »Endlich hab ich Aussicht, Buchautor zu werden, und schon stellt sich raus, dass ich es abgeschrieben habe.«
»Dann vielleicht doch lieber Transvestit.«
»Schon gut, ich nehme den Plagiator.«
»Ein Redakteur einer historischen Fachzeitschrift – der einen anonymen Tipp bekommen hat – könnte Dittmann auffliegen lassen, woraufhin der seine Dozentenstelle verliert.«
»Sein akademischer Ruf wäre dahin.«
»Keine Uni würde ihn mehr einstellen.«
»Das klingt doch schon prima. Die Colleges üben massiven Druck aus, wer nichts veröffentlicht, wird abserviert, und sie erwarten, dass man die Lehre nicht vernachlässigt und gefälligst in der Freizeit forscht.«
»Die Erfahrung hat aus Lincoln Dittmann einen verbitterten Zyniker gemacht. Er wollte es dem College, dem System, dem Land heimzahlen.«
»Ich würde sagen, Ladys und Gentlemen, die Sache ist so gut wie unter Dach und Fach. Jetzt muss sie nur noch bei Crystal Quest höchstselbst auf Wohlwollen stoßen.«
Dante Pippen griff nach dem Gehstock, der an der Wand lehnte, und setzte ihn auf, um sich von seinem Stuhl zu erheben. Ein dumpfer Schmerz fuhr ihm durchs Kreuz in das lahme Bein hinab, aber in seiner Hochstimmung nahm er ihn kaum wahr. »Ich glaube, Crystal Quest wird mit der Lincoln-Dittmann-Legende sehr zufrieden sein«, sagte er zu den Ausschussmitgliedern. »Ich jedenfalls bin’s.«