1993: DER VERURTEILTE ERBLICKT DEN ELEFANTEN

Die sieben Kilometer lange Piste vom Dorf Prigorodnaja zur vierspurigen Straße zwischen Moskau und St. Petersburg war endlich asphaltiert worden. Der Priester, der nach einem einwöchigen Zechgelage wieder aufgetaucht war, entzündete Kerzen für Innozenz von Irkurtsk, den Heiligen, der um das Jahr 1720 herum die Straße nach China ausgebessert hatte und nun die Zivilisation in Form eines Asphaltbandes mit einem frisch aufgemalten weißen Streifen in der Mitte nach Prigorodnaja bringen würde. Die Bauern, die einen klareren Blick dafür hatten, wie Mütterchen Russland funktionierte, vermuteten eher, dass dieser Fortschrittsbeweis irgendwie damit zusammenhing, dass die große Holzdatscha des verstorbenen und wenig betrauerten Lawrenti Pawlowitsch Berija vor einigen Monaten von einem Mann gekauft worden war, der von allen nur der Oligarch genannt wurde. Ansonsten wusste man praktisch nichts über ihn. Er kam unregelmäßig in einem glänzenden schwarzen Mercedes 600, das silberne Haar und die dunkle Brille eine flüchtige Erscheinung hinter getönten Scheiben. Eine Frau aus dem Dorf, die für ihn die Wäsche machte, hatte ihn angeblich einmal auf dem turmartigen Ausguck seiner Datscha gesehen, wie er wütend die Asche seiner Zigarre abschnippte, bevor er sich zu jemandem umdrehte und eine Anweisung erteilte. Die Frau, die die Wäsche aus nackter Angst vor der neumodischen Waschmaschine lieber am flachen Flussufer wusch, war zu weit weg gewesen, um mehr als ein paar Wörter aufzuschnappen – »Begraben, sag ich, aber lebendig …« –, aber der wilde Tonfall des Oligarchen sowie die Bedeutung des Gesagten hatten ihr einen solchen Schock versetzt, dass es ihr noch jedes Mal eiskalt den Rücken herunterlief, wenn sie die Geschichte erzählte. Zwei Bauern beim Holzhacken auf der anderen Seite des Flusses hatten gesehen, wie der Oligarch auf Aluminiumkrücken über den Weg hinter seiner Datscha humpelte, der zu der baufälligen Papierfabrik führte, die vierzehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, weißen Rauch aus riesigen Schornsteinen ausstieß, und dann weiter zum Dorffriedhof und der kleinen orthodoxen Kirche mit den Zwiebeltürmen, von denen die verblichene Farbe abblätterte. Zwei Barsois tobten ausgelassen vor dem Oligarchen her, während er eine Hüfte vorschob und das Bein hinterherzog, um die Bewegung dann mit der anderen Hüfte zu wiederholen. Drei Männer in Ralph-Lauren-Jeans und Telnyashka, den typischen gestreiften Marineoffiziershemden, die viele Soldaten auch noch nach der Armeezeit trugen, folgten ihm, jeder eine Schrotflinte in der Armbeuge. Die Bauern hätten liebend gern einen genaueren Blick auf diesen untersetzten Mann mit den hochgezogenen Schultern riskiert, der neu in ihr Dorf gekommen war, verwarfen den Gedanken jedoch, als einer von ihnen den anderen daran erinnerte, was der Metropolit, der im Januar vor zwei Jahren aus Moskau gekommen war, um das orthodoxe Weihnachtsfest zu zelebrieren, vom Ambo aus gepredigt hatte: Wenn ihr schon so dumm seid, euch mit dem Teufel an einen Tisch zu setzen, dann nehmt um Himmels willen einen langen Löffel.

Die Straßenarbeiter waren mit riesigen Planierraupen, Dampfwalzen und Lastern voller Teer und Schotter während der Nacht angerollt, als das Polarlicht im Norden noch wie geräuschloses Kanonenfeuer am Himmel flackerte. Es war nicht viel Phantasie vonnöten, um sich vorzustellen, dass hinter dem Horizont ein gewaltiger Krieg ausgefochten wurde. Die Männer, lange Schatten im gespenstischen Licht der Scheinwerfer, zogen vom Teer steif gewordene Jacken und kniehohe Gummistiefel an und machten sich an die Arbeit. Als der Morgen dämmerte und sie vierzig Meter Straße geteert hatten, waren das Polarlicht und die Sterne verschwunden, aber am mondlosen Himmel standen noch zwei Planeten: Mars, direkt über ihnen, und Jupiter, der im Westen noch immer über dem tiefen, vom bernsteinfarbenen Glühen Moskaus durchtränkten Dunst tanzte. Als der Bautrupp das kreisrunde Loch erreichte, das am Tag zuvor ein Bagger in die Sandpiste gegraben hatte, blies der Vorarbeiter in seine Trillerpfeife. Die Maschinen blieben stehen.

»Was ist los?«, rief ungeduldig ein Dampfwalzenfahrer, der sich aus dem Führerhaus lehnte, durch die provisorische Atemmaske, welche er sich zum Schutz vor dem Schwefelgeruch aus der Papierfabrik aufgesetzt hatte. Die Männer, die pro Meter und nicht pro Stunde bezahlt wurden, wollten keine Zeit verlieren.

»Jesus soll jeden Moment auf die Erde zurückkehren, in Gestalt eines russischen Zaren«, erwiderte der Vorarbeiter träge. »Wir wollen doch nicht verpassen, wenn er über den Fluss kommt.« Er steckte sich an der Glut einer aufgerauchten türkischen Zigarette eine neue an und schlenderte hinunter zu dem Fluss, der über mehrere Kilometer hinweg parallel zur Straße verlief. Er hieß Lesnia, nach dem dichten Wald, durch den er sich auf seinem Weg vorbei an Prigorodnaja schlängelte. Um zwölf Minuten nach sechs lugte eine kalte Sonne über die Bäume und fing an, den dicken Septemberdunst dicht über dem Fluss aufzulösen, der Hochwasser führte und den Ufersaum auf beiden Seiten in seichtes Sumpfland verwandelt hatte. Man konnte hohe Grashalme sehen, die sich in der Strömung wiegten.

Das kleine Fischerboot, das aus dem Dunst auftauchte, schaffte es nicht ganz bis ans Ufer, sodass die drei Insassen aussteigen und das letzte Stück durchs Wasser waten mussten. Die beiden Männer in Marineoffiziershemden zogen sich Schuhe und Socken aus und krempelten ihre Jeans bis zu den Knien hoch. Der dritte Insasse musste das nicht. Er war splitternackt. Auf dem Kopf trug er eine Dornenkrone, unter der Blut hervorquoll. Eine große Sicherheitsnadel steckte in der Haut zwischen seinen Schulterblättern und hielt ein Stück Pappe mit der Aufschrift Spion Kafkor. Der Gefangene, dessen Handgelenke und Ellbogen mit Elektrokabel auf dem Rücken gefesselt waren, hatte einen mehrere Wochen alten, verfilzten Bart, und sein ausgemergelter Körper war mit blauen Flecken und Brandwunden übersät, die nur von ausgedrückten Zigaretten stammen konnten. Vorsichtig watete er durch den Schlamm, bis er festen Boden erreichte, blickte sich verwirrt um und betrachtete sein Spiegelbild im seichten Wasser, während die Marineoffiziere sich die Füße mit einem alten Hemd abtrockneten, die Socken und Schuhe wieder anzogen und die Hosenbeine nach unten rollten.

Der Spion Kafkor schien das Gesicht nicht wieder zu erkennen, das ihn da von der Wasseroberfläche aus anblickte.

Die zwei Dutzend Bauarbeiter starrten wie gebannt auf die drei Gestalten und hatten ihre Arbeit völlig vergessen. Die Fahrer stiegen aus ihren Maschinen, die Männer mit Harken und Schaufeln standen einfach da und traten beklommen von einem Bein aufs andere. Jedem war klar, dass den nackten Christus, der jetzt von den Fallschirmjägern die Böschung hochgestoßen wurde, Schreckliches erwartete. Und ihnen war ebenso klar, dass sie Zeugen des Geschehens sein sollten, damit sie die Geschichte herumerzählen konnten. Solche Sachen passierten zurzeit ständig in Russland.

Weiter hinten auf der frisch geteerten Straße wischte sich der Schweißer des Bautrupps die verschwitzten Hände an seiner dicken Lederschürze ab, holte dann eine große Butterbrotdose von dem Karren mit dem ganzen Schweißgerät und kletterte die Böschung hinauf, um besser sehen zu können. Der Schweißer, ein kleiner, stämmiger Mann, der eine getönte Schutzbrille trug, öffnete den Deckel der Dose und griff hinein, um die versteckte Kamera zu aktivieren, die in den Boden einer Thermosflasche eingebaut war. Er legte sich die Thermosflasche auf die Knie und fing an, den Deckel zu drehen und Fotos zu schießen.

Unten merkte der Gefangene plötzlich, dass die Bauarbeiter ihn anstarrten, und seine Nacktheit schien ihm unangenehmer zu sein als seine missliche Lage – bis er das Loch im Boden erblickte. Es war ungefähr so groß wie ein Traktorreifen. Daneben waren dicke Holzbohlen gestapelt. Er blieb wie angewurzelt stehen, und die Marineoffiziere mussten ihn an den Oberarmen packen und die letzten Meter mitzerren. Am Rande des Lochs sank der Gefangene auf die Knie und blickte die Bauarbeiter an, die Augen hohl vor Entsetzen und den Mund geöffnet, während er durch seine ausgetrocknete Kehle rasselnd die Luft einsog. Er sah zwar Dinge, die er wieder erkannte, doch sein Verstand, der durch die Angst wie benebelt war, fand nicht die Worte, sie zu benennen: die Zwillingsschornsteine, die schmutzig weiße Rauchschwaden ausspien, die verlassene Zollstation mit einem über der Tür aufgemalten verblichenen roten Stern, die Reihe von weiß getünchten Bienenstöcken an einem Hang neben ein paar verkümmerten Apfelbäumen. Das alles war ein schrecklicher Traum, dachte er. Jeden Augenblick würde die Angst überhand nehmen, und er würde aufwachen, er würde sich den Schweiß von der Stirn wischen und noch unter dem Eindruck des Albtraums nicht wieder einschlafen können. Doch die Erde fühlte sich feucht und kalt unter den Knien an, und ein Hauch schwefelhaltiger Luft brannte ihm in der Lunge. Die kalte Sonne, die auf seiner Haut spielte, schien den Schmerz der Zigarettenwunden von neuem zu entfachen, und dieser Schmerz machte ihm klar, dass das, was geschehen war, und das, was gleich geschehen würde, kein Traum war.

Ein glänzender Mercedes kam langsam vom Dorf her über die Landstraße gerollt, dicht gefolgt von einem Begleitfahrzeug, einem metallicgrauen Land Cruiser, der mit Leibwächtern besetzt war. Keines der Autos hatte Nummernschilder, was die Straßenarbeiter so deuteten, dass die Insassen zu wichtig waren, um von der Polizei angehalten zu werden. Der Mercedes machte eine halbe Drehung und kam quer auf der Straße zum Stehen, gut zehn Meter von dem knienden Gefangenen entfernt. Die hintere Scheibe öffnete sich eine Handbreit. Der Oligarch spähte durch eine dunkle Brille nach draußen. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und musterte den nackten Gefangenen lange, als wollte er sich ihn und den Augenblick einprägen. Dann streckte er eine seiner Krücken aus und klopfte dem Mann, der neben dem Fahrer saß, auf die Schulter. Die Beifahrertür öffnete sich, und der Mann stieg aus. Er war mittelgroß und dünn, mit einem schmalen, verkniffenen Gesicht. Er trug Hosenträger, die seine Hose hoch auf der Taille hielten, und ein mitternachtsblaues italienisches Jackett, das wie ein Cape über einem gestärkten weißen, bis zu dem ausgeprägten Adamsapfel zugeknöpften Hemd ohne Krawatte hing. Die Initialen »S.« und »U.-S.« waren auf die Hemdtasche gestickt. Er ging zum Begleitwagen und riss einem der Leibwächter die brennende Zigarette aus dem Mund, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger vom Körper weg und trat auf den Gefangenen zu. Kafkor hob die Augen und wich zurück, als er die Zigarette sah, aus Angst vor weiteren Brandmalen mit der glühenden Spitze. Doch S. U.-S. klemmte sie ihm bloß mit einem schwachen Lächeln zwischen die Lippen. »Das ist Tradition«, sagte er. »Der zum Tode Verurteilte hat Anspruch auf eine letzte Zigarette.«

»Man hat mich … gefoltert, Samat«, flüsterte Kafkor heiser. Er konnte das silberne Haar des Mannes sehen, der vom Rücksitz des Mercedes aus zusah. »Man hat mich in einen stinkenden Keller gesperrt … ich wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war, ich hab jedes Zeitgefühl verloren, ich wurde … mit brüllender Musik geweckt, wenn ich einschlief. Was, erklär es mir, wenn es eine Erklärung gibt, ist der Grund?« Der Verurteilte sprach Russisch mit starkem polnischen Akzent, betonte die offenen »o« und die zweitletzte Silbe. Panik schwang in seiner Stimme, als er sagte: »Ich würde doch keinem verraten, was ich nicht wissen soll.«

Samat zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Darauf habe ich keinen Einfluss mehr. »Wer der Flamme zu nahe kommt, muss sich verbrennen, wenn auch nur als Warnung für andere.«

Zitternd paffte Kafkor an der Zigarette. Der Rauch, der ihm in der Kehle brannte, schien ihn abzulenken. Samat blickte auf die Asche, wartete darauf, dass sie sich unter ihrem eigenen Gewicht krümmte und herabfiel, damit sie die Exekution endlich hinter sich bringen konnten. Kafkor, der an der Zigarette zog, nahm die Asche ebenfalls wahr. Plötzlich schien das Leben von ihr abzuhängen. Der Schwerkraft und jeder Logik zum Trotz wurde sie länger als der ungerauchte Teil der Zigarette.

Und dann blies ein Windhauch vom Fluss die Asche ab. Kafkor spuckte den Stummel aus. »Poschol ty na chui«, flüsterte er, wobei er beide »o« in poschol bewusst betonte. »Verpiss dich!« Er ging in die Hocke und blinzelte zu den kümmerlichen Apfelbäumen am Hang über ihm. »Da!«, entfuhr es ihm, die Angst überwindend, nur um sich einem neuen Feind gegenüber zu sehen, dem Wahnsinn. »Da oben!« Er sog die Luft ein. »Ich sehe den Elefanten. Das Vieh ist ein richtiges Scheusal.«

Auf der anderen Seite des Mercedes wurde die hintere Tür geöffnet, und eine zierliche Frau in einem knöchellangen Wollmantel und Bauerngaloschen stieg aus. Sie trug einen kleinen schwarzen Hut mit einem dichten Schleier, der ihr über die Augen fiel, sodass ihr Alter nur schwer zu schätzen war. »Josef!«, kreischte sie. Sie taumelte auf den Gefangenen zu, fiel auf die Knie und fragte den Mann im Fond des Wagens laut: »Und wenn es anfängt zu schneien?«

Der Oligarch schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, Kristyna – er hat es in der Erde wärmer, wenn Schnee auf dem Loch liegt.«

»Er ist wie mein eigener Sohn«, schluchzte die Frau, und ihre Stimme erstarb zu einem leisen Wimmern. »Wir dürfen ihn nicht begraben, ehe er was gegessen hat.«

Noch immer auf den Knien und von Schluchzern geschüttelt, kroch die Frau über die Erde auf das Loch zu. Hinten im Mercedes machte der Oligarch eine Bewegung mit dem Finger. Der Fahrer sprang aus dem Wagen, presste der Frau eine Hand auf den Mund und zerrte sie zurück zu der Limousine, wo er sie wieder auf den Rücksitz bugsierte. Bevor die Tür zufiel, hörte man noch ihre Schluchzer: »Und wenn es nicht schneit, was dann?«

Der Oligarch schloss sein Fenster und schaute sich alles Weitere durch die getönte Scheibe an. Die beiden Marineoffiziere packten den Gefangenen an den Armen, hoben ihn in das Loch und legten ihn zusammengerollt auf die Seite. Dann bedeckten sie das Loch mit den dicken Bohlen, die sie an den Enden so fest in die Erde traten, dass sie mit der unbefestigten Straße eine Ebene bildeten. Anschließend legten sie ein Drahtgeflecht über die Holzbohlen. Die ganze Zeit über fiel kein einziges Wort. Die rauchenden Arbeiter auf der Böschung sahen weg oder starrten auf ihre Füße.

Als die Marineoffiziere das Loch abgedeckt hatten, traten sie zurück und bewunderten ihr Werk. Einer von ihnen winkte dem Fahrer eines Lasters. Der Mann kletterte hinter das Lenkrad und fuhr rückwärts bis an das Loch, betätigte dann einen Hebel, woraufhin sich die Ladefläche hob und Teer auf die Straße rutschte. Mehrere Arbeiter kamen und verteilten den Teer mit Harken, bis die Holzbohlen unter einer dicken, glänzenden Schicht verschwunden waren. Sie traten beiseite, und die Marineoffiziere gaben dem Dampfwalzenfahrer ein Zeichen. Schwarze Rauchschwaden drangen aus dem Auspuffrohr, als die rostige Maschine an den Rand des Lochs rumpelte. Der Fahrer schien kurz zu zögern, doch dann ertönte die Hupe des Mercedes und einer von den Leibwächtern, der in der Nähe stand, machte gereizt eine Bewegung mit dem Arm. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, rief er über den Lärm der Dampfwalze hinweg. Der Fahrer legte den Gang ein und rollte über das Loch, presste den Teer dicht zusammen. Auf der anderen Seite angekommen, fuhr er noch einmal rückwärts darüber, stieg dann aus und nahm das frisch geteerte Straßenstück in Augenschein. Plötzlich riss er sich die Gesichtsmaske herunter, beugte sich vor und kotzte auf seine Schuhe.

Fast geräuschlos setzte der Mercedes zurück, wendete und rollte an dem Begleitwagen vorbei in Richtung der Datscha am Rande des Dorfes Prigorodnaja, über die Sandpiste, die schon bald mit der Landstraße Moskau-St. Petersburg – und mit der Welt – durch ein Asphaltband mit einem frisch aufgemalten weißen Streifen in der Mitte verbunden werden sollte.