1997: MARTIN ODUM ERFÄHRT, WAS DIE HÖHLE VON MACHPELA IST
Martin war vom Dröhnen der Triebwerke eingelullt worden und hatte – das rechte Bein auf dem Gang, das linke Knie gegen die Rückenlehne des Sitzes vor ihm – fast den halben Flug verschlafen und den Anblick der Sandstrände Israels verpasst, die sich unter der Tragfläche wie ein leuchtender Teppich erstreckten. Als das Fahrwerk knirschend ausfuhr, schreckte er auf. Er blickte zu Stella hinüber, die tief und fest neben ihm schlief.
Er berührte sie an der Schulter. »Wir sind gleich da.«
Sie nickte bedrückt. Je näher sie Israel kam, desto unsicherer wurde sie, ob es richtig war, den verschwundenen Mann ihrer Schwester zu suchen. Und wenn sie ihn tatsächlich fanden? Was dann?
Den Grundregeln der Branche gehorchend, hatten sie zunächst verschiedene Routen genommen: Sie war nach London geflogen und von dort mit dem Zug nach Paris gefahren. Dann hatte sie eine Maschine nach Athen bestiegen, um von dort den Flug um zwei Uhr nachts nach Tel Aviv zu nehmen. Er war von New York nach Rom geflogen und hatte sich für ein paar Stunden unter das Touristengewimmel am Kolosseum gemischt, bevor er mit dem Zug nach Venedig fuhr, um dort die Fähre nach Patras zu nehmen und schließlich per Bus zum Flughafen Athen zu fahren. Beim Einchecken für die Maschine nach Israel hatte er in der Schlange gleich hinter Stella gestanden, und als er an die Reihe kam, hatte er der Frau hinter dem Schalter zugezwinkert und sie gebeten, ihm den Platz neben dieser gut aussehenden Frau zu geben, die gerade eingecheckt hatte.
»Eine Bekannte von Ihnen?«, hatte die Frau gefragt.
»Noch nicht«, hatte er erwidert.
Die Frau hatte gelacht. »Ihr Männer seid doch alle gleich.«
Als die Maschine nach der Landung am Flughafen Ben Gurion bei leichtem Nieselregen zu ihrem Stellplatz rollte, bat der Kapitän die Passagiere über Lautsprecher, aus Sicherheitsgründen noch einen Augenblick sitzen zu bleiben. Kurz darauf schlenderten zwei schlanke junge Männer den Gang entlang und überprüften die Pässe. Sie trugen die Hemden über der Hose, um die Pistolen zu verbergen, die sie im Gürtel stecken hatten. Derjenige, der zuerst Martins Reihe erreichte, trug eine Sonnenbrille, hinter der man seine Augen nicht sehen konnte.
»Pässe«, sagte er barsch.
Stella holte ihren aus dem Seitenfach ihrer Handtasche unterm Sitz. Martin nahm seinen aus der Innentasche seiner Weste und reichte beide dem Sicherheitsagenten. Der blätterte sie mit dem Daumen durch, kehrte zu der Seite mit dem Foto zurück und musterte Martin über den Rand des Passes hinweg. »Reisen Sie zusammen?«
Beide sagten gleichzeitig: »Nein.«
Der junge Mann steckte die zwei Pässe ein. »Kommen Sie mit«, befahl er. Er trat beiseite, damit Martin seinen Handkoffer aus dem Gepäckfach holen konnte, dann scheuchte er Stella und Martin vor sich her den Gang hoch. Die anderen Passagiere starrten dem Mann und der Frau, die da aus der Maschine geführt wurden, fassungslos nach und überlegten, ob sie wohl Promis oder Terroristen waren.
Ein olivgrüner Suzuki mit einer dicken Plastiktrennwand zwischen Vordersitzen und Rückbank stand unten an der Gangway auf dem feuchten Rollfeld, und Martin und Stella wurden mit einer Geste aufgefordert, in den Fond zu steigen. Kaum hatte Martin Platz genommen, als er hörte, wie klickend die hinteren Türen verriegelt wurden. Stella wollte etwas sagen, doch er schnitt ihr mit einem Fingerzeig das Wort ab, gab ihr zu verstehen, dass das Fahrzeug verwanzt sein könnte. Als er sah, wie nervös sie war, schenkte er ihr ein beruhigendes Lächeln.
Die ersten Schatten der Morgendämmerung tasteten sich auf das Rollfeld und die Äcker östlich des Flughafens, als der Wagen zu einem Hangar auf der anderen Seite der Hauptstartbahn fuhr und an einer Metalltreppe hielt, die zu einer hoch gelegenen grünen Tür führte. Die hinteren Autotüren wurden entriegelt, und der Fahrer nickte träge Richtung Treppe.
»Ich vermute, wir sollen da hoch gehen«, sagte Stella.
»Mm-hm«, pflichtete Martin bei.
Er ging vor ihr her die Treppe hoch und versuchte dabei, sein lahmes Bein zu schonen. Oben angekommen, zog er die schwere Stahltür auf, ließ Stella den Vortritt und folgte ihr in einen riesigen Raum mit einer auffällig niedrigen Decke. Etwa zwanzig Schreibtische standen kreuz und quer, und an jedem arbeitete jemand an einem PC. Trotz des Schildes an der Tür, das Unbefugten den Zutritt streng untersagte, würdigte niemand die beiden Besucher eines Blickes. Soldatinnen in Khakihemden und Khakiminiröcken schoben Wagen durch den Raum, sammelten und verteilten Disketten. Ein Mann mit grauem Bürstenhaarschnitt tauchte hinter einem dicken Vorhang auf, der eine Ecke des Raumes abteilte. Er trug Anzug und Krawatte (ungewöhnlich für einen Israeli), und auf seinem tief gebräunten Gesicht lag ein unverbindliches Lächeln.
»Na, wen haben wir denn da. Dante Pippen höchst persönlich.«
»Wusste gar nicht, dass hohe Tiere beim Shabak noch vor der Sonne aufstehen«, sagte Martin.
Das Lächeln erstarb im Gesicht des Israeli. »Hohe Tiere beim Shabak gehen gar nicht erst ins Bett, Dante. Früher wussten Sie das.« Er sah Stella an, die sich das Gummiband von ihrem langen Zopf zog, damit das vom Nieselregen feuchte Haar trocknete.
»Springen Sie doch mal über Ihren Schatten«, sagte der Israeli zu Martin und betrachtete die schlanke Figur seiner Reisegefährtin, »seien Sie ein Gentleman und machen Sie die Dame und mich miteinander bekannt.«
»Sein Name war mal Asher«, sagt Martin erklärend zu Stella. »Nicht auszuschließen, dass er ihn inzwischen wieder recycelt hat. Als unsere Wege sich kreuzten, war er Schnüffler für den Shabak, die Kurzform von Sherut ha-Bitachon ha-Klali. Hab ich das halbwegs richtig ausgesprochen, Asher? Der Shabak ist in Israel so ungefähr das, was das FBI in den USA ist.« Martin grinste den Israeli an. »Und ich habe nicht den leisesten Schimmer, wer sie ist.«
Der Israeli streckte beide Hände weit von sich. »Verkauf mich nicht für dumm, Dante.«
»Wenn ihr sie aus dem Flugzeug geholt habt, wisst ihr auch, wer sie ist. Raus mit der Sprache, Asher. Wer hat euch den Tipp gegeben?«
»Ein kleiner Vogel hat mir was gezwitschert.« Asher hob den Vorhang ein Stück an und winkte seinen Besuch in den Bereich, der als Büro diente. Er zeigte auf eine Couch und setzte sich ihnen gegenüber auf einen hohen Hocker.
»Könnte es sich bei dem Vogel um ein Weibchen namens Fred handeln?«, fragte Martin.
»Ein Weibchen, das Fred heißt?«, erwiderte Asher unschuldig.
»Fred ist Crystal Quest, Boss der CIA-Abteilung für dreckige Tricks.«
»Ist das ihr richtiger Name, Dante? Wir kennen die DDO der CIA unter einem anderen Namen.«
Stella blickte Martin an. »Wieso nennt er dich andauernd Dante?«
Asher antwortete für ihn. »Als Ihr Reisebegleiter uns vor acht Jahren einen Gefallen getan hat, arbeitete er unter der Legende Dante Pippen. Er verschwand von unserem Radarschirm, ehe wir seine richtige Identität in Erfahrung bringen konnten. Sie können sich also vorstellen, wie verblüfft wir waren, als wir herausfanden, dass Dante Pippen mit der Olympic-Maschine aus Athen kommen würde, unter dem Namen Martin Odum. Ist Martin Odum Ihr richtiger Name oder bloß wieder eine von Ihren Legenden?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
»Na, jedenfalls, Leute wie Sie sollten nicht in Israel auftauchen, ohne vorher dem Shabak Bescheid zu geben. In meinen Augen gebietet das die professionelle Höflichkeit. Erst recht, wenn Sie mit einem früheren Mitglied des KGB reisen.«
Martin ließ sich nach hinten in die Couch sinken, die Augen wie gebannt auf Stella gerichtet. »Mit solchen kleinen Einzelheiten liegen die Israelis immer richtig«, sagte er leise. »Als Nächstes erzählst du mir wohl noch, dass Stella nicht dein richtiger Name ist.«
»Ich kann das erklären«, sagte sie.
Eine von den Soldatinnen in einem besonders kurzen Minirock kam mit einem Tablett herein, auf dem eine Kanne heißer Tee und zwei Tassen standen. Sie stellte es auf den Tisch. Asher raunte ihr etwas auf Hebräisch zu. Beim Hinausgehen bedachte sie die beiden Besucher mit einem Blick über die Schulter und lächelte.
»Wenn Sie es erklären können, erklären Sie’s«, forderte Asher Stella auf. Er füllte die beiden Tassen und schob sie über den Tisch seinen Besuchern zu.
Martin fragte Stella. »Was hast du für den KGB gemacht?«
»Ich war keine Spionin oder so«, erwiderte sie. »Kastner war stellvertretender Leiter des Sechsten Hauptdirektorats, bevor er übergelaufen ist. Das Direktorat war in erster Linie für Wirtschaftsverbrechen zuständig, brachte aber irgendwann auch Abteilungen unter, für die in anderen Direktoraten kein Platz war. Die Fälscher zum Beispiel hatten ihre Büros im Sechsten Hauptdirektorat, und ihr Etat wurde aus dem Gesamtetat des Direktorats bezahlt. Das Gleiche galt für die Abteilung, die am Reißbrett Waffen entwickelte, die gar nicht gebaut werden sollten, um die Pläne dann den Amerikanern in die Hände zu spielen, damit die unnütze Energien darauf verschwendeten, mit uns Schritt zu halten. Ich war Englischlehrerin an einer Mittelschule, als Kastner mir einen Job in einer Abteilung anbot, die so geheim war, dass nur eine Hand voll Parteileute außerhalb des Kremls von ihr wussten. Intern hieß sie ›Unterabteilung Marx‹, aber nach Groucho, nicht nach Karl. Da saßen rund um die Uhr zwei Dutzend Mitarbeiter an einem langen Tisch zusammen, schnitten aus Zeitungen und Zeitschriften Artikel aus und ließen sich antisowjetische Witze einfallen –«
Asher stand die Skepsis ins Gesicht geschrieben. »Ich hab in meinem Leben ja schon so manche unglaubliche Geschichte gehört, aber das schießt wirklich den Vogel ab.«
»Lassen Sie sie weitererzählen.«
Stella fuhr fort. »In den Augen des KGB war die Sowjetunion ein Dampfkessel, und die Unterabteilung Marx war das kleine Ventil, durch das man den Druck entweichen lässt. Ich und ein paar andere junge Frauen kamen jeden Freitag und lernten die Witze auswendig, die sich die Unterabteilung die Woche über ausgedacht hatte. Wir hatten Spesenkonten – am Wochenende gingen wir in Restaurants, in Komsomol-Clubs, Arbeiterkantinen oder auf Dichterlesungen und erzählten die Witze herum. Einmal haben sie eine Studie gemacht und herausgefunden, dass ein guter Witz, der in Moskau zum ersten Mal erzählt wurde, binnen sechsunddreißig Stunden die Halbinsel Kamtschatka an der Pazifikküste erreichen konnte.«
»Geben Sie uns ein Beispiel, was Sie für Witze in Umlauf gebracht haben«, verlangte Asher, der noch immer an der Geschichte zweifelte.
Stella schloss die Augen und überlegte einen Moment. »Als in Polen gegen die dortige Stationierung von sowjetischen Truppen protestiert wurde, hab ich die Geschichte von dem jungen Polen erzählt, der in eine Warschauer Polizeiwache stürmt und ruft: ›Schnell, schnell, Sie müssen mir helfen. Zwei Schweizer Soldaten haben mir meine russische Uhr gestohlen.‹ Der Wachtmeister ist verdutzt und sagt: ›Du meinst, zwei russische Soldaten haben dir deine Schweizer Uhr gestohlen.‹ Und der Junge erwidert: ›Stimmt, aber das haben Sie gesagt, nicht ich!‹«
Als weder Martin noch Asher lachte, sagte Stella: »Damals fanden das alle lustig.«
»Fällt dir noch einer ein?«, fragte Martin.
»Einer unserer erfolgreichsten Witze war der, wo sich zwei Apparatschiks der KP in Moskau auf der Straße treffen. Sagt der eine: ›Hast du schon das Neueste gehört? Unsere Wissenschaftler haben es geschafft, nukleare Sprengköpfe zu verkleinern. Wir brauchen keine teuren Interkontinentalraketen, um Amerika auszuradieren. Wir packen den nuklearen Sprengkopf einfach in einen Handkoffer und deponieren ihn in einem Schließfach am New Yorker Hauptbahnhof. Und wenn uns die Amerikaner Ärger machen, pffft, ist von New York nur noch radioaktive Asche übrig.‹ Darauf der andere: ›Njewosmoschno. Unmöglich. Wo sollen wir denn in Russland einen Handkoffer auftreiben?‹«
Stellas Witz erinnerte Martin an eine Situation aus seiner früheren Legende: Lincoln Dittmanns Unterhaltung mit einem Saudi im Dreiländereck Paraguay-Brasilien-Argentinien. Der Saudi hatte sich für eine sowjetische nukleare Kofferbombe interessiert. Irgendwie konnte er übers Stellas Witz nicht lachen. Asher schien es genauso zu ergehen, denn er biss sich irritiert auf die Wange.
Stella wiederholte mit Nachdruck: »Wo sollen wir denn in Russland einen Handkoffer auftreiben? Das ist die Pointe, Herrgott nochmal! Ist in Israel Lachen verboten?«
»Asher ist das Lachen schon vor langer Zeit vergangen, genau wie seinen Kollegen bei der CIA und beim KGB«, sagte Martin. »Das sind alles Opportunisten, die sich mit den Fingerspitzen an einer Welt festklammern, die sie nicht mehr begreifen. Wenn sie sich lange genug festhalten können, haben sie die Pension durch und züchten bis ans Ende ihrer Tage Bohnen im Garten ihres Reihenhauses. Die vorherrschende Emotion ist bei ihnen Nostalgie. Die seltenen Male, dass sie sich wirklich entspannen, fangen sie alle ihre Sätze an mit: ›Wisst ihr noch, wie wir …‹ Hab ich Recht, Asher?«
Asher schien bei Martins kleiner Rede zusammenzuzucken. »Also schön«, sagte er an Stella gewandt, »gehen wir erst mal davon aus, dass Ihre Geschichte stimmt, dass Sie tatsächlich für die Unterabteilung Marx lausige antisowjetische Witze in Umlauf gebracht haben, damit das Land Dampf ablassen konnte. Aber Sie und Dante sind doch sicher nicht ins Heilige Land gekommen, um Witze zu erzählen?«
»Wir sind Touristen«, sagte Martin mit ausdrucksloser Stimme.
»Ja genau. Touristen«, stimmte Stella enthusiastisch zu. Sie nahm den Becher Tee, tauchte ihren kleinen Finger hinein und befeuchtete sich mit der Fingerkuppe die Lippen. »Wir wollen den Tempelberg besichtigen, Masada am Toten Meer, die Grabeskirche …« Ihre Stimme verlor sich.
»Haben Sie auch vor, zwischendurch Ihre Schwester in der Siedlung im Westjordanland zu besuchen?«
Stella warf Martin einen Blick zu, schaute dann wieder Asher an.
»Ja, natürlich, das auch.«
»Und in welcher Eigenschaft begleitet Dante Sie?«
Stella hob das Kinn. »Ich kenne ihn unter dem Namen Martin. Er ist mein Liebhaber.«
Der Israeli beäugte Martin. »Dann könnten Sie doch bestimmt ihren Körper beschreiben, wenn Sie müssten.«
»Kein Problem. Bis zu der verblassten Tätowierung eines sibirischen Nachtfalters unter ihrer rechten Brust.«
Aus den Augenwinkeln sah Martin, wie Stella anfing, die oberen Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen. Wieder keine Spur von Unterwäsche, nur ein Dreieck blasser Haut. Asher räusperte sich verlegen. »Das, ähm, ist nicht erforderlich, Miss Kastner. Ich habe Grund zu der Annahme, dass Dante als Privatdetektiv arbeitet und Sie ihn engagiert haben. Was Sie nach Feierabend machen, ist Ihre Sache.« Asher sah Martin an. »Das also wird aus Spionen, wenn sie aus der Kälte kommen – sie verwandeln sich in Privatdetektive. Ist auf jeden Fall besser, als Bohnen zu züchten. Eins würde mich interessieren, Dante: Wie wird man eigentlich Privatdetektiv?«
»Man sieht sich alte Krimis an.«
»Er ist ein großer Fan von Humphrey Bogart«, bestätigte Stella, ohne Martin anzuschauen.
Asher betrachtete sie eine Weile, während sie ihren Tee trank. Als er wieder das Wort ergriff, hatte sich seine Stimmung verändert. Auf Martin machte er jetzt eher den Eindruck eines Bestatters als eines Polizeibeamten. »Ich muss Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen, Miss Kastner«, begann Asher. Er rutschte vom Hocker und ging zu einem Tisch, auf dem ein dicker Aktenstapel lag. Er schlug die oberste Akte auf. »Es ist mir sehr unangenehm, aber die amerikanische Botschaft in Tel Aviv hat uns folgende Nachricht des Außenministerium zukommen lassen. Ich zitiere: ›Bitte setzen Sie Estelle Kastner davon in Kenntnis, dass ihr Vater, Oskar Alexandrowitsch Kastner, vor fünf Tagen in seinem Haus in Brooklyn einen Herzinfarkt erlitten hat.‹«
Stellas Augen verengten sich ängstlich. »Oh Gott, ich muss Kastner sofort anrufen«, flüsterte sie.
Martin erkannte an Ashers Miene, dass der Anruf sich erübrigte. »Er ist tot, nicht wahr?«
»Leider ja«, sagte Asher zu Stella. Sein Blick fiel auf Martin. »Und Ihnen soll ich etwas von dem kleinen Vögelchen ausrichten, Dante. Auf dem Dach über Ihrem Billardsaal wurde eine junge Chinesin tot aufgefunden. Ihr Chef, dem das Chinarestaurant unten im Haus gehört, hat nach ihr gesucht, als sie nicht wieder zur Arbeit kam. Sie war von dem Schwarm aus einem Ihrer Bienenstöcke zu Tode gestochen worden. Grässliches Ende, finden Sie nicht auch?«
»Ja«, gab Martin grimmig zu. »Kann man wohl sagen.«
Aus Angst, der Fahrer oder einer der anderen Fahrgäste in dem Sammeltaxi, das sie nach Jerusalem brachte, könnte ein Mitarbeiter des Shabak sein, sagten weder Martin noch Stella ein Wort. Außerdem fürchteten sie, dass ihre Gefühle sie übermannen würden, wenn einer von ihnen das tröstliche Schweigen brach. Fünfzig Minuten nach Verlassen des Flughafens standen sie an einer Straßenecke im Zentrum von Jerusalem. Um sie herum tobte der morgendliche Verkehr. Trupps von Soldaten, darunter dunkelhäutige Äthiopier mit grünen, kugelsicheren Westen und grünen Baretts, patrouillierten in den Straßen und überprüften die Papiere von jungen Männern, die arabisch aussahen. Martin ließ sechs Taxis passieren, bevor er das siebte heranwinkte. Sie fuhren zum American Colony Hotel in Ostjerusalem, vor dem eine lange Schlange palästinensischer Taxis wartete. Vor dem Hotel wurde ein junger russischer Schachspieler, der zu einem Turnier angereist war, von Fernsehkameras gefilmt. Er stand über die Motorhaube eines Wagen gebeugt, auf der ein Schachspiel aufgebaut war, und bewegte die Figuren in raschen Zügen, während er leise über einen Fehler in der schwarzen Position schimpfte oder die Schwäche eines weißen Angriffs beklagte. Schließlich sah er eine Öffnung und rückte die weißen Figuren fröhlich zur entscheidenden Attacke vor, dann blickte er auf und erklärte auf Englisch, dass Schwarz angesichts der erdrückenden weißen Übermacht aufgegeben habe.
»Wie kann er gegen sich selbst spielen, ohne verrückt zu werden?«, fragte Stella.
»Gegen sich selbst zu spielen hat den Vorteil, dass man immer weiß, wie der nächste Zug des Gegners aussieht, anders als im wirklichen Leben«, bemerkte Martin.
Er ließ die ersten drei Taxis mit Fahrgästen abfahren, ehe er dem vierten winkte. »Mustaffah, stets zu Ihren Diensten«, sagte der junge palästinensische Fahrer, als er ihr Gepäck in den gelben Mercedes lud, der allem Anschein nach schon mehr Jahre auf dem Buckel hatte als der Fahrer. »Wo soll’s hingehen?«
»Qiryat Arba«, sagte Stella.
Die Begeisterung wich aus Mustaffahs Augen. »Das kostet hundertzwanzig Schekel oder dreißig Dollar«, sagte er. »Ich bringe Sie nur bis zum Haupttor. Die Juden lassen kein arabisches Taxi rein.«
»Einverstanden«, sagte Martin, als er und Stella auf dem rissigen Leder der Rückbank Platz nahmen.
Mustaffahs Plastikperlschnur, die am Rückspiegel baumelte, schlug klackernd gegen die Windschutzscheibe, als das Taxi durch festungsähnliche israelische Wohnstraßen an Scharen orthodoxer Juden vorbeifuhr, bis sie Jerusalem schließlich auf einer Landstraße verließen, die sich nach Süden ins Judäische Bergland hineinfraß. Auf den felsigen Hängen zu beiden Seiten der Straße waren Gruppen palästinensischer Männer zu sehen, die, um die Checkpoints zu vermeiden, über Trampelpfade ins jüdische Jerusalem gingen, weil sie hofften, dort für einen Tag Arbeit zu finden. In den Wadis waren Jungen hoch oben in die Bäume geklettert. Sie pflückten Oliven und stopften sie sich in die offenen Hemden.
»Vorhin am Flughafen hast du das Schicksal ganz schön herausgefordert«, sagte Martin. »Ich meine, als du angefangen hast, dir die Bluse aufzuknöpfen, um Asher die Tätowierung zu zeigen. Was hättest du gemacht, wenn er dich nicht davon abgehalten hätte?«
Stella rückte so dicht an Martin heran, dass ihr Oberschenkel seinen berührte; sie brauchte dringend Trost. »Ich glaube, ich kann Menschen ganz gut einschätzen«, erwiderte sie. »Ich wusste instinktiv, dass er mich davon abhalten oder wenigstens wegsehen würde.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Martin. »Hast du gedacht, ich würde auch wegsehen?«
Stella starrte durch das schmutzige Fenster und dachte daran, wie sie sich beim Abschied an Kastner geklammert hatte. Er hatte dann seinen Rollstuhl abrupt gewendet, aber sie hatte trotzdem noch die Tränen gesehen, die ihm in die Augen schossen. Sie blickte Martin an. »Entschuldigung. Ich war in Gedanken woanders. Was hast du gesagt?«
»Ich habe gefragt, ob du gedacht hast, ich würde auch wegsehen, als du dir die Bluse aufgeknöpft hast.«
»Ich weiß nicht«, gab sie zu. »Ich bin noch nicht ganz schlau aus dir geworden.«
»Wo liegt das Problem?«
»An bestimmte Bereiche von dir kommt mein Instinkt einfach nicht ran. Dein wahrer Kern liegt unter zu vielen Schichten verborgen – fast so, als wärst du verschiedene Menschen gleichzeitig. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob du dich für Frauen interessierst. Ich bin nicht sicher, ob du mich verführen willst oder nicht. Das ist ein Punkt, über den Frauen Klarheit haben müssen, bevor sie mit einem Mann ein Arbeitsverhältnis aufbauen können.«
»Das will ich nicht«, sagte Martin ohne Zögern. »Das Problem bei Frauen im Allgemeinen und dir im Besonderen ist, dass ihr unfähig seid, Komplimente entgegenzunehmen, ohne gleich Verführungsabsichten dahinter zu vermuten.« Martin dachte an Minh, wie sie es an ihren seltenen gemeinsamen Abenden immer wieder geschafft hatte, sein unwilliges Fleisch zu erregen. Er fragte sich, ob ihr Tod auf dem Dach über dem Billardsaal wirklich ein Unfall gewesen war.
»Ich sage dir, was Sache ist, Stella: Ich habe mit Verführung nichts mehr am Hut. Wenn ich in die Ecke getrieben werde, interessiert mich Liebe nicht, dann kämpfe ich.«
»Aus dir spricht nur der Schmerz«, flüsterte Stella und dachte an ihren eigenen Schmerz. »Du solltest vielleicht mal darüber nachdenken, dass Nähe ein Mittel gegen Schmerz sein kann.«
Martin schüttelte den Kopf. »Meiner Erfahrung nach bauen Menschen Nähe auf, um Sex zu haben. Sobald sich das mit dem Sex erledigt hat, sorgt Nähe für zusätzlichen Schmerz.«
Stella rückte wieder von ihm weg und schnaubte verärgert: »Das ist typisch Mann, für euch ist Nähe nur ein Mittel, um Sex zu haben. Frauen sind da etwas feinfühliger – für sie ist Sex ein Mittel, um Nähe zu bekommen. Frauen wissen, dass Nähe zum anderen der größte Orgasmus überhaupt ist, weil sie es ermöglicht, aus dem Gefängnis rauszukommen, das sich jeder selbst errichtet hat. Sex, der zu Nähe führt, ist ein Gefängnisausbruch.«
Mustaffah bremste an einem israelischen Checkpoint, wurde aber durchgewunken, als zwei Soldaten durchs Fenster spähten und die beiden Passagiere für Juden auf dem Rückweg in eine der Siedlungen hielten. Das Taxi fuhr an Straßenständen mit Bergen von Orangen und Zucchinis vorbei, an Imbissbuden, in denen Kebab an Spießen röstete, und an Werkstätten mit aufgebockten Autos, unter denen Mechaniker flach auf dem Rücken lagen. Er bremste erneut für eine Schafherde, die auseinander stob, als Mustaffah auf die Hupe drückte. Junge arabische Frauen mit Babys auf dem Rücken und ältere Frauen in langen Gewändern mit Bündeln auf dem Kopf wandten den Kopf ab, um keinen Staub ins Gesicht zu bekommen, wenn der Mercedes vorbeibrauste.
Eine halbe Stunde, nachdem sie Jerusalem verlassen hatten, erreichte das Taxi Qiryat Arba und hielt neben einem Schild mit der Aufschrift: Zionistische Siedlung. Martin sah, dass zwei Wachposten sie argwöhnisch beobachteten. Beide waren mit Uzis bewaffnet, und unter ihren kugelsicheren Westen lugten die rituellen zizijot, die Quasten, hervor. Während Stella das Gepäck aus dem Kofferraum des Taxis holte, ging Martin ans offene Seitenfenster, um Mustaffah zu bezahlen. Von einem Minarett weiter unten trieb der vom Tonband abgespielte klagende Ruf des Muezzin, der die Gläubigen zum Mittagsgebet aufforderte, zur jüdischen Siedlung herüber. Als Martin drei Zehndollarscheine durch das Fenster reichte, bemerkte er, dass der Fahrerausweis am Handschuhfach zwar ein Foto von Mustaffah zeigte, aber auf den Namen Azzam Khouri ausgestellt war.
»Wieso haben Sie gesagt, Sie hießen Mustaffah?«, fragte er.
»Mustaffah war mein Bruder, er wurde während der Intifada von der israelischen Armee getötet. Wir haben jüdische Panzer mit Steinen beworfen, und die Soldaten wurden wütend und haben uns beschossen. Seitdem nennt meine Mutter mich Mustaffah, so kann sie sich vorstellen, mein Bruder würde noch leben. An manchen Tagen nenne ich mich selbst Mustaffah, aus dem gleichen Grund. Und an anderen Tagen weiß ich nicht mehr genau, wer ich bin. Heute ist so ein Tag.«
Die Wachen am Tor nahmen die Pässe der Besucher in Augenschein. Als Stella erklärte, sie sei gekommen, um ihre Schwester Ya’ara Ugor-Shilow zu besuchen, riefen sie in der Siedlung an, die sich mit ihren steinernen Apartment- und Einfamilienhäusern wie Lava über etliche einst kahle Hänge hinunter auf die arabische Stadt Hebron zuwälzte. Minuten später tauchte oben auf dem Hügel ein zerbeulter Pick-up auf und rollte dann langsam mit häufigen Fehlzündungen an dem Spielplatz vorbei, auf dem es von Müttern und Kindern wimmelte, auf das Tor zu. Gleich darauf lagen sich Stella und ihre Schwester in den Armen. Martin sah, wie Stella leise auf Elena, oder Ya’ara, wie sie sich jetzt nannte, einsprach. Diese wich einen Schritt zurück, schüttelte heftig den Kopf, bevor sie in Tränen ausbrach und sich wieder in die Arme ihrer Schwester warf. Der Fahrer des Pick-up, ein untersetzter, bärtiger Mann in den Fünfzigern, der schwarze Turnschuhe, einen schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte und einen schwarzen Filzhut trug, kam auf Martin zu und musterte ihn durch eine fensterglasdicke Nickelbrille.
»Schalom, Mr. Martin Odum«, sagte er mit einem unverkennbaren Brooklyner Akzent. »Ich bin Rabbi Ben Zion. Sie müssen Stellas Detektiv sein. Hab ich Recht?«
»Ich bin ein Detektiv und ein Freund«, sagte Martin.
»Ich bin der Rabbi, der Ya’ara mit Samat verheiratet hat«, erklärte Ben Zion. »Wenn Sie Samat ausfindig machen wollen, damit Ya’ara die religiöse Scheidung erhält, sind Sie mir willkommen. Wenn nicht, dann nicht.«
»Woher wissen Sie, dass ich Detektiv bin? Und dass ich Samat suche?«
»Ein kleines Vögelchen hat es jemandem beim Shabak geflüstert, und dieser Jemand hat mir erzählt, dass zwei Touristen, die sich für nichts anderes als Qiryat Arba interessieren, bei uns auftauchen könnten. Und Wunder über Wunder, da sind Sie.« Der Rabbi hob eine Hand, um die Augen gegen die Mittagssonne abzuschirmen, und betrachtete den Detektiv aus Brooklyn von Kopf bis Fuß. »Sie sind kein Jude, Mr. Odum.«
Hinter ihnen gingen die beiden Schwestern Arm in Arm den Hügel hinauf. Martin sagte: »Woran haben Sie das erkannt?«
Rabbi Ben Zion deutete mit dem Kinn in Richtung Hebron, das durch die flimmernde Hitze, die aus dem Tal unter ihnen aufstieg, zu sehen war. »Wer in einem Meer von Arabern lebt, erkennt seinesgleichen auf Anhieb.«
»Mit anderen Worten, es ist eine Instinktsache.«
»Überlebensinstinkt, im Laufe von zweitausend Jahren entwickelt.« Der Rabbi warf die beiden Koffer auf die Ladefläche des Pick-up. »Steigen Sie ein«, befahl er. »Ich bringe Sie zu Ya’aras Wohnung. Wir sind vor den Frauen da und setzen schon mal Teewasser auf. Und wir zünden eine Gedenkkerze für Ya’aras Vater an – das Vögelchen hat mir nämlich auch erzählt, dass er gestorben ist, aber ich hielt es für besser, wenn Stella ihrer Schwester die traurige Nachricht selbst überbringt. Wenn Sie nett fragen, erzähle ich Ihnen, was ich über den verschwundenen Gatten weiß.«
Der Rabbi legte den Gang ein und donnerte mit wippenden Schläfenlocken den Hügel hinauf, vorbei am Postamt der Siedlung, vorbei an dem Einkaufzentrum, wo sich Frauen in knöchellangen Röcken und kleine Jungen mit gestrickten Jarmulken auf dem Kopf drängelten. Ya’ara wohnte in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Parterre eines Hauses mit Blick auf Hebron. »Als ihr Mann sie verlassen hatte, war sie völlig mittellos, deshalb hat unsere Synagoge sie unter ihre Fittiche genommen«, erklärte der Rabbi. Er suchte an einem Schlüsselbund, bis er den richtigen fand, und schloss die Tür auf. Die Wohnung war spartanisch eingerichtet. In einem Zimmer stand ein schmales Bett, darüber an der Wand hing ein gesprungener Spiegel, der ringsum mit Plastikmuscheln verziert war, und eine umgedrehte Holzkiste diente als Nachttisch. Das Mobiliar im Wohnzimmer bestand aus einem Ausziehtisch, auf dem ein Wachstuch ausgebreitet war, sowie aus einer kunterbunten Ansammlung von Klappstühlen mit einem Schwarzweißfernseher auf einem davon. Auf einem halbhohen Bücherregal, das den Wohnbereich von einer winzigen Kochnische abtrennte, standen drei Blumentöpfe mit Plastikgeranien. Martin öffnete die Tür zu dem kleinen Badezimmer. An einer Kordel über der Badewanne hingen Damenunterwäsche und etliche Paar langer Wollstrümpfe. Ben Zion bemerkte Martins Gesichtsausdruck, als er zurück ins Wohnzimmer kam. »Die Möbel haben wir Arabern abgekauft, deren Häuser zwischen uns und Hebron standen und abgerissen wurden, damit wir sicher zur Höhle von Machpela gehen können.«
Martin trat ans Fenster, zog die Jalousie hoch und blickte hinaus auf das Gewirr von Hebrons Straßen und Häusern. »Was ist die Höhle von Machpela?«, fragte er über die Schulter hinweg.
Der Rabbi war in der Küche und versuchte, mit einem Streichholz den Gasbrenner für das Teewasser anzuzünden. »Ich hör wohl nicht richtig? Was die Höhle von Machpela ist? Nichts Geringeres als der zweitheiligste Ort für Juden auf dem Planeten Erde, gleich nach dem Tempelberg oder was davon übrig ist, der Klagemauer. Hebron – das in biblischer Zeit ebenfalls Qiryat Arba hieß – ist der Ort, wo Stammvater Abraham begraben liegt, ebenso seine Söhne Isaak und Jakob und seine Frau Sarah. Den Palästinensern ist sie ebenfalls heilig. Sie haben unseren Abraham nämlich als einen ihrer Propheten eingeheimst und an der Stelle eine Moschee gebaut. Jetzt sind wir gezwungen, uns beim Beten mit ihnen abzuwechseln.« Der Rabbi hatte den Brenner entzündet und setzte den Kessel auf. Er schüttelte ungläubig den Kopf, während er mit einem weiteren Streichholz eine Kerze ansteckte und sie ins Zimmer trug. »Was ist die Höhle von Machpela?«, murmelte er vor sich hin und stellte die Kerze auf den Tisch. »Selbst ein schegez sollte die Antwort darauf kennen. Wir gehen jeden Freitag bei Sonnenuntergang zu der Höhle, um an der heiligen Stätte den Schabbat zu begrüßen. Sie und Stella sind herzlich eingeladen, uns dahin zu begleiten – so könnt ihr dem Shabak wenigstens erzählen, dass ihr doch ein bisschen Sightseeing gemacht habt.«
Martin fand, dass es an Smalltalk reichte. »Was ist mit Samat?«
»Was soll mit ihm sein?«, fragte Rabbi Ben Zion.
»Ist er mit einer anderen Frau abgehauen?«
»Ich werde Ihnen mal was sagen, mein lieber Privatdetektiv aus Brooklyn, der offenbar denkt, Männer würden ihre Frauen nur wegen einer anderen Frau verlassen. Samat hatte das nicht nötig – er hat sich nämlich so viele Frauen gemietet, wie seine Libido verlangte. Wenn er mit seinem Honda für zwei, drei Tage verschwand, was glauben Sie wohl, wohin er dann ging? Es ist ein offenes Geheimnis, wo er war. Er war da, wo viele Männer hingehen, wenn sie Frauen wollen, die mit ihnen Sachen machen, die ihre Ehefrauen nicht mit ihnen machen. In Jaffa, in Tel Aviv, in Haifa – es finden sich genügend Häuser von schlechtem Ruf, wie meine selige Mutter sie nannte, in denen die Damen gegen entsprechende Bezahlung ihren Kunden jeden Wunsch erfüllen.« Der Rabbi schwenkte eine Hand in die ungefähre Richtung der Mittelmeerküste. »Samat hatte fleischliche Gelüste, das sah man ihm an den Augen an – wie er zum Beispiel seine Schwägerin Estelle anschaute, wenn sie zu Besuch war. Aber Samat hatte nicht nur fleischliche Gelüste. Er kochte noch so manches andere Süppchen.«
In der Kochnische begann der Kessel zu pfeifen. Der Rabbi sprang hin und drehte das Gas ab. Gleich darauf kam er mit einem Tablett wieder, auf dem der Kessel und vier Tassen standen, und stellte es neben die Gedenkkerze auf den Tisch. Dann gab er in jede Tasse einen Teebeutel und goss kochendes Wasser in die erste. Als Martin dankend abwinkte, nahm er selbst die Tasse, ließ sich auf einen Klappstuhl nieder und wippte ungeduldig mit einem Fuß. Martin schob einen Stuhl an den Tisch und nahm gegenüber dem Rabbi Platz.
»Wieso sollte jemand wie Samat, der Häuser von schlechtem Ruf aufsuchen musste, um seine Begierden zu befriedigen, eine orthodoxe Frau heiraten, die er nie zuvor gesehen hatte?«
»Um das zu beantworten, müsste ich mich in Samat hineinversetzen können, und das kann ich nicht«, erwiderte der Rabbi und pustete geräuschvoll auf seinen Tee, bevor er die Tasse an die Lippen führte, um die Temperatur zu testen. Da der Tee noch zu heiß war, stellte er die Tasse wieder auf den Tisch. »Er war ein seltsamer Vogel, dieser Samat. Ich bin Ya’aras Rabbi. Im jüdischen Glauben legen wir bei unseren geistlichen Führern nicht die Beichte ab, wie die Katholiken das tun. Aber wir vertrauen uns ihnen an. Ich habe Ya’ara geglaubt, als sie mir erzählte, Samat habe sie in der Hochzeitsnacht nicht angerührt und auch nicht danach. Er hat nie im gemeinsamen Ehebett geschlafen. Es könnte also gut sein, dass sie noch Jungfrau ist. Als Samat mit ihr unter einem Dach lebte, war sie fest davon überzeugt, dass mit ihr irgendwas nicht stimmte. Ich habe versucht, ihr klarzumachen, dass höchstens mit ihm was nicht stimmte. Das habe ich auch ihm versucht, deutlich zu machen.«
»Mit Erfolg?«
Der Rabbi schüttelte traurig den Kopf. »Ich bin auf taube Ohren gestoßen.«
»Was wollte er eigentlich hier?«
»Er hat sich versteckt.«
»Wovor? Vor wem?«
Der Rabbi probierte seinen Tee erneut. Diesmal trank er einen kleinen Schluck. »Ich kann ja nun keine Gedanken lesen, oder? Wie hätte ich denn wissen sollen, wovor und vor wem? Schauen Sie, in eine jüdische Siedlung zu ziehen, mitten zwischen all die Araber, das ist ein bisschen so, als würde man der französischen Fremdenlegion beitreten: Sobald du unterschrieben hast, will keiner mehr deinen Lebenslauf sehen, wir sind einfach froh, dass du bei uns bist. Ich weiß aber, dass Samat den Leiter unseres Sicherheitsdienstes um eine Schusswaffe gebeten hat. Um seine Frau beschützen zu können, wie er sagte, für den Fall, dass die Hamas-Terroristen angreifen sollten.«
»Hat er die Waffe bekommen?«
Der Rabbi nickte. »Alle, die in einer Siedlung leben und sehen können, worauf sie schießen, können eine Waffe bekommen.« Dann fiel Ben Zion noch etwas ein. »Samat verfügte offenbar über unerschöpfliche Geldquellen. Er hat immer alles bar bezahlt – ein schickes Haus auf der Seite von Qiryat Arba, wo man den Sonnenuntergang beobachten kann, ein fabrikneues japanisches Auto mit Klimaanlage. Er hat seine Frau nie in die Synagoge begleitet, nicht einmal an hohen Feiertagen, aber es ist niemandem entgangen, dass sie stets einen Umschlag voller Geld in den Spendenkasten gesteckt hat.«
Just in diesem Augenblick trafen Ya’ara und Stella ein, was Martin endlich Gelegenheit gab, Samats Frau genauer zu betrachten. Sie war klein und übergewichtig, hatte das pausbäckige Gesicht eines Teenagers und einen matronenhaften Körper mit einem so üppigen Busen, dass die Knöpfe ihrer Bluse gefährlich spannten. Martin fürchtete, dass einer von ihnen jeden Augenblick abplatzen könnte. In den Lücken zwischen den Knöpfen erspähte er den rosa Stoff eines robusten BHs. Sie trug einen knöchellangen Rock, wie er bei Lubawitscher Frauen beliebt war, und einen runden Filzhut mit flacher Krempe, den sie nervös auf dem Kopf drehte, als suche sie die Vorderseite. Die kleinen Hautstellen, die Martin von ihrem Körper sehen konnte, waren kreideweiß, weil sie wohl nie Sonne abbekamen. Auf ihren Wangen waren Tränenspuren. Stella, deren Augen trocken waren, hatte den gleichen Anflug eines Lächelns auf den Lippen wie an dem Tag, als sie bei Martin im Billardsaal aufgetaucht war.
Der Rabbi sprang auf, als die Frauen plötzlich in der Tür standen. Ya’ara küsste die mesusa, bevor sie eintrat. Der Rabbi nahm ihre Hand in beide Hände, beugte den Oberkörper vor, sodass sein Kopf auf einer Höhe mit ihrem war, und redete wie ein Wasserfall auf Hebräisch auf sie ein. Martin vermutete, dass der Rabbi ihr sein Beileid aussprach, denn Ya’ara brach wieder in Schluchzen aus, Tränen strömten ihr über die Wangen und tropften auf den eng zugeknöpften Kragen ihrer Bluse. Ben Zion führte Ya’ara zu der Gedenkkerze und fing an, auf Hebräisch zu beten, wobei er auf den Sohlen seiner Turnschuhe vor und zurück wippte. Ya’ara wischte sich die Tränen mit einem Ärmel ab und fiel in das Gebet mit ein.
»Wollen Sie nicht auch für Ihren Vater beten?«, flüsterte er Stella zu.
»Ich bete nur für die Lebenden«, widersetzte sie heftig.
Nach dem Gebet verabschiedete sich der Rabbi mit der Begründung, er müsse sich um den Schabbat-Gang zur Höhle von Machpela kümmern, und Martin hatte zum ersten Mal Gelegenheit, mit Stellas Schwester zu sprechen. »Das mit Ihrem Vater tut mir Leid«, sagte er.
Sie senkte schüchtern die Lider und erwiderte: »Ich habe einfach nicht damit gerechnet, dass er stirbt, schon gar nicht an einem Herzinfarkt. Er besaß das Herz eines Löwen. Nach allem, was er durchgemacht hatte –« Sie zuckte schwach mit den Schultern.
»Ihr Schwester hat mich engagiert, Samat zu finden, damit Sie eine religiöse Scheidung erhalten können.«
Ya’ara wandte sich an Stella. »Was soll mir eine Scheidung denn nützen?«
»Das ist eine Frage des Stolzes«, stellte Stella fest. »Du kannst ihn nicht einfach ungeschoren davonkommen lassen.«
Martin lenkte das Gespräch wieder auf seinen Auftrag. »Haben Sie irgendwelche Sachen von ihm – ein Buch, das er mal gelesen hat, ein Telefon, das er benutzt hat, eine Flasche, aus der er sich einen Drink eingeschenkt hat, vielleicht sogar eine Zahnbürste? Irgendwas?«
Ya’ara schüttelte den Kopf. »Ich hatte noch Briefpapier von ihm, mit einer Londoner Adresse im Briefkopf, aber es ist verschwunden, und an die Adresse erinnere ich mich nicht. Samat hat seine persönlichen Sachen in einen Schrankkoffer gepackt und ihn von zwei Jungs gegen Bezahlung zum Taxi bringen lassen. Er hat sogar unsere Hochzeitsfotos mitgenommen. Das einzige Foto, das wir noch von ihm haben, hat Stella nach der Hochzeit gemacht und unserem Vater geschickt.« Bei der Erwähnung ihres Vaters kullerten ihr wieder Tränen über die Wangen. »Wie konnte Samat mir das nur antun, frage ich Sie?«
»Stella hat mir erzählt, dass er oft telefoniert hat«, sagte Martin. »Hat er angerufen, oder wurde er angerufen?«
»Sowohl als auch.«
»Dann müssten die Nummern, die er gewählt hat, doch bei der Telefongesellschaft gespeichert sein.«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Der Rabbi hat unseren Sicherheitsdienst hier gebeten, die Nummern zu besorgen. Die haben sogar extra jemanden nach Tel Aviv zu der Telefongesellschaft geschickt. Aber die Magnetbänder mit den gespeicherten Verbindungen waren versehentlich gelöscht worden.«
»In welcher Sprache hat er telefoniert?«
»Englisch. Russisch. Manchmal Armenisch.«
»Haben Sie ihn nie gefragt, womit er sein Geld verdient?«
»Doch, einmal.«
Stella fragte: »Und was hat er gesagt?«
»Zuerst hat er nicht geantwortet. Als ich nicht locker ließ, hat er gesagt, er würde Beinprothesen aus dem Westen an die Opfer von russischen Landminen in Bosnien, Tschetschenien und Kurdistan verkaufen. Er hat gesagt, wenn er wollte, könnte er ein Vermögen damit machen, aber er würde sie praktisch zum Einkaufspreis verkaufen.«
»Und du hast ihm geglaubt?«, fragte Stella.
»Ich hatte keinen Grund, ihm nicht zu glauben.« Plötzlich weiteten sich Ya’aras Augen. »Einmal hat jemand angerufen, als er nicht da war, und eine Nummer hinterlassen, die er zurückrufen sollte. Ich dachte, es hätte was mit den Prothesen zu tun, und habe die Nummer auf die Rückseite eines Backrezepts geschrieben, das zufällig auf dem Tisch lag. Dann hab ich die Nummer auf dem Block neben dem Telefon notiert. Ich hab das Blatt abgerissen und Samat gegeben, als er nach Hause kam, und er ist damit ins Schlafzimmer und hat telefoniert. Das Telefonat muss ihn ganz schön aufgeregt haben, denn einmal hat er richtig in den Hörer geschrien. Außerdem ist er immer wieder ins Russische gefallen.«
»Das Backrezept«, sagte Stella sanft. »Hast du das noch?«
Stella und Martin sahen Ya’ara an, dass sie unsicher wurde. »Es wäre kein Verrat an Ihrem Mann«, sagte Martin. »Falls wir ihn überhaupt finden, wollen wir nur dafür sorgen, dass Sie diesen berühmten get bekommen, damit Sie Ihr Leben weiterleben können.«
»Das ist Samat dir schuldig«, sagte Stella.
Seufzend und wie von der Schwerkraft zurückgehalten, hievte Ya’ara sich hoch und schlurfte in die Kochnische, wo sie eine Blechdose aus einem Schrank an der Wand nahm. Sie kam damit an den Tisch, öffnete den Deckel und blätterte Rezepte durch, die sie im Laufe der Jahre aus Zeitschriften ausgerissen hatte. Sie nahm ein Apfelstrudelrezept heraus und drehte es um. Eine Telefonnummer mit der Landesvorwahl 44 und der Stadtvorwahl 171 war mit Bleistift auf die Rückseite gekritzelt. Martin holte einen Filzstift und ein kleines Notizbuch hervor und notierte sich die Nummer.
»Wo ist das?«, wollte Stella wissen.
»44 ist England, 171 ist London«, sagte Martin. Er wandte sich an Ya’ara. »Hat Samat die Siedlung häufig verlassen?«, fragte er.
»Ein-, zweimal die Woche ist er weggefahren, immer allein, manchmal für ein paar Stunden, manchmal für mehrere Tage.«
»Haben Sie eine Ahnung, wohin?«
»Ich habe ihn ein einziges Mal gefragt, und da hat er nur gesagt, es ginge eine Ehefrau nichts an, wo ihr Mann sich aufhält.«
Stella blickte Martin mit hellwachen Augen an. »Wir sind einmal mit ihm gefahren.« Sie lächelte ihrer Halbschwester zu. »Weißt du nicht mehr, Elena –«
»Ich heiße jetzt Ya’ara«, erinnerte Stellas Schwester sie kühl.
Stella ließ sich nicht beirren. »Das war gleich nach eurer Hochzeit«, sagte sie aufgeregt. »Ich musste um sieben Uhr abends am Flughafen Ben Gurion sein, für meinen Rückflug nach New York. Samat war irgendwo an der Küste zum Lunch verabredet. Er hat gesagt, wenn wir nichts dagegen hätten, uns ein wenig die Zeit zu vertreiben, könnte er uns so lange am Strand absetzen und mich dann auf dem Rückweg nach Qiryat Arba zum Flughafen bringen.«
»Ja, jetzt fällt’s mir wieder ein«, sagte Ya’ara. »Wir haben Sandwiches gemacht, sie in eine Tüte gepackt und eine Flasche Apfelsaft mitgenommen.« Sie seufzte wieder. »Das war einer der schönsten Tage meines Lebens«, fügte sie hinzu.
Stella sagte zu Martin: »Er hat nördlich von Tel Aviv die Schnellstraße genommen und ist an der Ausfahrt Caesarea runter. Dann sind wir durch ein Wirrwarr von Straßen gefahren, aber er hat kein einziges Mal gezögert, er kannte sich anscheinend sehr gut aus. Am Rand der Sanddünen hat er uns abgesetzt, in der Nähe von ein paar Ferienhäusern. Ein Stück weiter die Küste runter konnten wir die riesigen Schornsteine des Elektrizitätswerks sehen.«
Ya’aras Gesicht hellte sich zum ersten Mal in Martins Beisein auf, und wenn sie lächelte, sah sie fast hübsch aus. »Ich hatte einen breiten Strohhut auf, zum Schutz vor der Sonne«, entsann sie sich. »Wir haben im Schatten unter einem Eukalyptusbaum unsere Sandwiches gegessen und dann im Sand nach römischen Münzen gesucht.«
»Und was hat Samat gemacht, während ihr die Dünen nach römischen Münzen abgesucht habt?«, fragte Martin.
Die Schwestern blickten einander an. »Das hat er uns nicht erzählt. Er hat uns gegen halb sechs wieder abgeholt und mich um zwanzig vor sieben am Flughafen abgesetzt«, sagte Stella.
»Mm-hm«, sagte Martin und zog die Stirn kraus, als er anfing, die ersten undeutlichen Teile des Puzzles zusammenzusetzen.
Martin holte ein Adressbüchlein (die Profiregel lautete: ausschließlich Spitznamen und Telefonnummern nach einem einfachen System verschlüsselt) aus seiner Tasche und rief mit seiner Telefonkarte in Xing’s Mandarin-Restaurant (im Adressbuch eingetragen als »Glutamat«) unter dem Billardsaal auf der Albany Avenue in Crown Heights an. Bei dem Zeitunterschied musste Tsou jetzt auf seinem Hocker hinter der Kasse thronen und Minhs Nachfolgerin mit einem strafenden Blick bedenken, falls es ihr nicht gelang, die teureren Gerichte auf der Speisekarte an den Mann zu bringen.
»Pekingente schon zwei Tage in Fenstel«, hatte er Minh einmal mit vor Speichel glänzenden Goldzähnen und todernster Miene erklärt, (wie sie Martin ausgelassen erzählte), »ist Aphlodisiakum, gut fül Elektion.«
»Xing’s Mandalin«, meldete sich eine hohe Stimme so deutlich, als sei es ein Ortsgespräch. »Kein Tisch mehl fül Lunch, auch nicht fül heute Abend. Elst wiedel fül Sonntag.«
»Nicht auflegen«, schrie Martin ins Telefon. »Tsou, ich bin’s, Martin.«
»Yin-shi, von wo lufst du an, hä?«
Martin wusste, dass Fred durch Asher und den israelischen Shabak über seinen Aufenthaltsort auf dem Laufenden gehalten wurde, daher würde er wohl nichts verraten, wenn er die Wahrheit sagte.
»Ich bin in Israel.«
»Islael, das jüdische Königleich, oder Islael, der jüdische Deli auf Kingston Avenue?« Tsou wartete die Antwort nicht ab. »Du hast das mit Minh gehölt, hä?«
»Deshalb ruf ich an. Was ist passiert, Tsou?«
Und schon sprudelte es aus ihm heraus. »Sie geht hoch, um nach Bienenstöcken zu sehn, wie du gesagt hast. Sie kommt nicht zulück. Gäste welden nelvös. Kein Essen in Sicht. Ich gehe in Hof und lufe: ›Minh?‹ Sie antwoltet nicht. Ich steige Feueltleppe hoch, finde Minh auf Boden, bewegt sich nicht, bewusstlos. Vellückte Bienen stechen Leben aus Minhs Gesicht. Ekelig. Muss mich fast übelgeben. Lufe Polizei von Telefon in Loft, Matin, hoffe, du nicht böse, habe sie in Loft gelassen, als sie klingeln, sie setzen Gesichtsmasken auf und verscheuchen Bienen mit Insektensplay, sie blingen Minh in Lettungswagen weg, Gesicht dick wie Basketball. Sie tot, bevol Lettungswagen in Klankenhaus, Matin. Minhs Tod auf Seite zwei in Daily News, dicke Schlagzeile: ›Killerbienen töten Flau in Clown Heights‹.«
»Was hat die Polizei gesagt, Tsou?«
»Zwei Detectives kommen nächsten Tag zum Lunch, die gehen, ohne Lechnung zu bezahlen, ich wedele ihnen damit vol Nase, aber sie stellen sich dumm. Sie flagen nach dil, und ich sage, was ich weiß, nämlich nichts. Sie sagen, Männel in weißen Schutzanzügen haben Bienen getötet. Sie sagen, Bienenstock ist explodielt, deshalb Bienen wütend und Minh angleifen. Hab gal nicht gewusst, dass Honig explodielen kann.«
Durch das Fenster sah Martin, wie der Sonnenuntergang orangerote Streifen an den Himmel malte und der Rabbi eine Gruppe Siedler für den Gang nach Hebron und zur Höhle von Machpela um sich scharte. »Das wusste ich auch nicht«, sagte er sehr leise.
»Was du gesagt?«, rief Tsou.
»Ich habe gesagt, Honig explodiert normalerweise nicht.«
»Hm. Also. Detectives sagen, Minh nicht mal Minhs Name, sie illegal in Land, aus Taiwan, Name Chun-chiao. Viele, viele Gäste kommen, weil Daily News Name von Xing’s Mandalin auf Seite zwei gedluckt, aber falsch, sie schleiben Zing statt Xing. Bei ganze Sache ich habe schlechte Geschmack in Mund. Geht sehl an Nielen.«
Martin nahm an, dass Tsou Minhs Tod meinte. »Ja, das tut es«, stimmte er zu.
Tsou jedoch war anscheinend mehr mit Minhs falscher Identität beschäftigt als mit ihrem Tod. »Kann heutzutage niemand mehl tlauen, hä, yin-shi? Minh nicht Minh. Vielleicht du nicht Matin.«
»Vielleicht hatte die Daily News ja Recht«, sagte Martin, »vielleicht ist dein richtiger Name ja Tsou Zing.«
»Vielleicht«, stimmte Tsou mit einem verdrossenen Lachen zu.
»Wel kann sagen?«
Die Gruppe von etwa dreißig jüdischen Siedlern, die Männer mit zizijot und Jarmulken, die Frauen in langen Röcken, langärmeligen Blusen und Kopftüchern, marschierte die Straße entlang in Richtung der Höhle von Machpela, um den Schabbat an der heiligen Stätte zu begrüßen, wo angeblich Stammvater Abraham begraben war. Allen voran gingen Rabbi Ben Zion und Martin, das Schlusslicht bildeten die Kastner-Schwestern. Eskortiert wurde die Schar auf beiden Seiten von je einem Polizisten in blauer Uniform und etwa einem halben Dutzend jüngerer Siedler. Die Beschützer hatten Gewehre oder Uzis über die Schultern gehängt.
Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden, und das Zwielicht zwischen den Gebäuden verdunkelte sich. Instinktiv beschlich Martin ein ungutes Gefühl. Agenten im Einsatz mochten das Tageslicht, weil sie dann die Gefahr kommen sahen, und die Nacht, weil sie sich davor verstecken konnten. Die Dämmerung dazwischen bot keinen der beiden Vorteile. Der wuchtige festungsähnliche Bau über der heiligen Höhle ragte vor ihnen auf wie ein im Nebel verirrtes Schiff.
»Was halten die Palästinenser hier eigentlich davon, dass ihr hier regelmäßig zu dem Schrein pilgert?«, fragte Martin den Rabbi, während er die Lücken zwischen den Häusern auf der rechten Seite nach irgendwelchen verdächtigen Bewegungen absuchte. Als ein Lichtblitz von einem Dach reflektierte, zuckte Martin zusammen, erkannte dann aber, dass es nur ein letzter Strahl Sonnenlicht war, den die Solarkollektoren eines dreistöckigen Gebäudes widerspiegelten.
»Die Palästinenser«, erwiderte der Rabbi und deutete auf die Häuser ringsum, »sagen, wir treten ihnen auf die Füße.«
»Stimmt ja auch, oder?«
Der Rabbi zuckte die Achseln. »Hören Sie, wir verhalten uns nicht unvernünftig. Diejenigen unter uns, die glauben, dass Gott der Herr dieses Land Abraham und seinen Nachfahren für alle Ewigkeit geschenkt hat, sind durchaus bereit, die Palästinenser hier wohnen zu lassen, solange sie akzeptieren, dass das Land uns gehört.«
»Und die anderen?«
»Die können auswandern.«
»Na ja, damit bleibt ihnen – genauso wie euch – nicht viel Handlungsspielraum.«
»Besucher von außerhalb haben es immer leicht zu kritisieren, Mr. Odum, und dann fahren sie wieder nach Hause, wo sie sicher sind …«
»Bei mir zu Hause«, entgegnete Martin, »ist es gar nicht so sicher, wie ich dachte.« Er nahm sich vor, mehr Informationen über den Tod von Stellas Vater einzuholen. Er fragte sich, ob eine Obduktion gemacht worden war.
»Sie reden von Straßenkriminalität. Das ist nichts im Vergleich zu dem, womit wir es hier zu tun haben.«
»Ich habe explodierenden Honig gemeint –«
»Wie bitte?«
»Schon gut.«
Martin, der ständig nach möglichen Gefahren Ausschau hielt, sah rechts am Hang oberhalb der Gruppe in einem schmalen Durchgang zwischen zwei palästinensischen Häusern etwas aufblitzen. Plötzlich loderten Flammen auf, und ein brennender Autoreifen, von dem dicker schwarzer Rauch aufstieg, kam den Hügel herunter auf sie zugerollt. Als die Siedler auseinanderstoben, um sich in Sicherheit zu bringen, hallte das kurze, hohle Husten eines Präzisionsgewehrs durch die Siedlung, und direkt vor Martin spritzte der Sand auf. Seine alten Reflexe erwachten zum Leben, und er durchschaute augenblicklich, was los war. Der brennende Reifen war ein Ablenkungsmanöver, der Gewehrschuss war von der anderen Seite gekommen, vermutlich von der Zementzisterne gut hundertfünfzig Meter entfernt auf einer kleinen Anhöhe. Die beiden Polizisten und die bewaffneten Siedler hatten instinktiv reagiert und stürmten in die Richtung, aus der der Reifen gekommen war. Einer der Polizisten brüllte etwas in ein Walkie-Talkie, und gleich darauf heulte hinten in Qiryat Arba eine Sirene los.
»Der Schuss kam von hinten«, rief Martin und hechtete hinter eine niedrige Mauer in Deckung, als der zweite Schuss einen Schritt hinter der Stelle, wo er gestanden hatte, in den Boden einschlug. Als er hinter der Mauer kauerte und die Muskeln seines versehrten Beines massierte, sah er, wie Stella und ihre Schwester den Hügel hoch zurück zur Siedlung rannten, wo Suchscheinwerfer mit ihren grellen Lichtkegeln über die ganze Gegend schweiften. Kurz darauf kamen aus dem Armeestützpunkt in der Nähe zwei israelische Jeeps und ein offener Laster voller Soldaten angebraust. Die Soldaten sprangen aus den Fahrzeugen und liefen geduckt die Hänge auf beiden Seiten der Straße hoch. Hinter der Zisterne ertönten kurze Stakkatosalven aus Automatikgewehren. Martin vermutete, dass der palästinensische Scharfschütze – vorausgesetzt, es war ein Palästinenser – sich aus dem Staub gemacht hatte und die Soldaten ins Dunkle schossen.
Der Rabbi klopfte sich den Schmutz von seinem Schabbatanzug und kam zu Martin herüber. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er außer Atem.
Martin nickte.
»Das war knapp«, sagte Ben Zion, dessen Brust sich aufgeregt hob und senkte. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, die haben auf Sie geschossen, Mr. Odum.«
»Aber wieso sollten sie?«, fragte Martin arglos. »Ich bin nicht mal Jude. Ich bin bloß ein Besucher, der bald wieder nach Hause fährt, wo er sicher ist.«