10. Kapitel:
Alles anders

Sonntag, 15. Mai

Jemand spricht von Begehrlichkeiten, die geweckt werden sollen. Dazu dudelt Fahrstuhlmusik. Die Stimme ist laut, geweckt werde ich eindeutig, aber Begehrlichkeiten werden dadurch zunächst erst mal keine ausgelöst.

Nach kurzem Orientierungsrundblick stelle ich fest: Ich liege im Bett des Schlafzimmers des Designerhauses. Neben mir liegt Herr Wesseltöft. Wir sind anständig zugedeckt, aber ich kann fühlen, dass zumindest ich unter der Decke nichts anhabe, zero, in Zahlen: null. Dafür habe ich auf und in meinem Kopf die schallverstärkte Probebühne der Grand-Prix-Gewinner, unterstützt durch ein Ballett aus Betonmischmaschinen. Meine Oma hat mich mal vor Eierlikör gewarnt. Und Oma hatte immer Recht.

»Da unten ist jemand«, flüstere ich, und: »Was sollen wir machen?« Um mir die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen, rüttele ich sanft an Herrn Wesseltöfts Schulter. Zwar drängen sich ganz andere Fragen in mein noch leicht gelähmtes Bewusstsein – vor allem diese eine, nämlich »Haben wir?« –, aber das möchte ich lieber nicht vor Zeugen klären, schon gar nicht vor dem transpirationsfreien Herrn im Dreiteiler, dem ich die Stimme im Erdgeschoss zuordne. Herr Wesseltöft setzt sich ruckartig auf. Zum Glück ist die Kopffreiheit im Designerschlafzimmer großzügiger bemessen als in Heiners Mansarde. Trotzdem hält sich Wesseltöft den Kopf und stöhnt leise: »Ohhhhh!« Dann sieht er mich verwundert an.

»Was machen Sie denn hier? Was mache ich hier? Und was ist da unten los?«

Da unten bricht gerade ein kleiner Tumult los. Vermutlich ist die erste Gruppe des Tages, die durch das Haus geführt wird, auf die Überreste unserer kleinen Orgie gestoßen.

»Warum ist heute überhaupt eine Führung?«, frage ich. »Ich dachte, sonntags wäre hier geschlossen.«

»Oh, verdammt, das hatte ich ja ganz vergessen: Heute ist Aktionssonntag. Als Auftakt für die große Hausverlosung am nächsten Wochenende. Sie haben sich doch auch beworben«, sagt Herr Wesseltöft. Er hat einen eindeutigen Informationsvorsprung. Ob das in anderen Bereichen unseres bisherigen gemeinsamen Lebens auch so ist? Doch zunächst muss ich dementieren.

»Ich habe mich für gar nichts beworben! Außerdem bin ich nackt. Ich will sofort hier weg! Wo sind meine Sachen?« Meine Stimme überschlägt sich beim Flüstern ein wenig.

»Dort, wo Sie sie ausgezogen haben: im Wellnesspavillon. Meine Klamotten sind übrigens auch noch dort«, flüstert Herr Wesseltöft zurück. »Hoffe ich jedenfalls.« Er hält sich den Kopf inzwischen mit beiden Händen.

Ach ja. Im Wellnesspavillon. Die Dampfsauna. Das heißt, Herr Wesseltöft ist auch nackt. Und wenn man nackt neben einem ebenfalls nackten Mann – der selbst mit Kopfschmerzen immer noch sehr attraktiv aussieht – in einem Bett aufwacht und sich an nichts erinnern kann, dann heißt das höchstwahrscheinlich nicht, dass nichts passiert ist. Vermutlich habe ich die heißeste Liebesnacht meines Lebens hinter mir und weiß gar nichts davon. Verdammt! Doch bevor ich Herrn Wesseltöft fragen kann, drängt er zum Aufbruch. »Los jetzt. Wir müssen irgendwie an unsere Sachen kommen!«

Ich wickele mich von Hals bis Fuß in die Bettdecke und will aufstehen, aber Herr Wesseltöft hält mich zurück: »Die Decke bleibt hier! Sonst bekommen wir bestimmt Ärger.«

»Den bekommen wir sowieso, wenn wir hier erwischt werden«, zische ich zurück und sprinte mit umgewickelter Decke so schnell es geht über die gläserne Brücke in den Wellnesspavillon. Da liegt zum Glück noch mein Klamottenhäufchen. Ich ziehe mich schneller an, als meine Mutter eine Bürste zücken kann, und verstecke mich mit dem ebenfalls blitzschnell bekleideten Herrn Wesseltöft im Handtuchschrank. Schade, jetzt habe ich mir seinen Alabasterkörper gar nicht näher und bei Tageslicht ansehen können.

»Ich brauche unbedingt meine Tüten! Die sind noch in einem Küchenschrank, glaube ich«, sage ich leise. Mein Mobiltelefon steckt zum Glück in meiner Hosentasche.

»Wir warten, bis die Gruppe hierher kommt«, sagt Herr Wesseltöft, der erstaunlicherweise schon wieder Herr der Lage zu sein scheint, was man von einem Mann, der verkatert in einem Handtuchschrank kauert, nicht erwarten sollte, »schließen uns der Führung an, sammeln unauffällig soviel wie möglich von unseren Sachen ein und verschwinden dann.«

»Das klingt ja sehr ausgefeilt. Und wenn man uns erkennt? Verfolgt? Wohin verschwinden wir denn?« Ich bin ganz aufgeregt: Auf der Flucht mit meinem neuen Geliebten, auf dem Weg in den Untergrund! Nur bitte nicht in einen von Herrn Kurz Kellern ...

»Mich wird man natürlich erkennen. Ich behaupte dann einfach, das wäre Teil einer Fortbildung. Und Sie erkennt doch sowieso niemand. Wir treffen uns in einer Stunde vor den Klinker- und Fliesenmustern im Showroom.«

Toller Plan. Aber was heißt hier, mich erkennt sowieso niemand? Frechheit! Als ob das alles für mich so einfach wäre.

»Okay. Wir müssen dringend miteinander reden!« Am liebsten würde ich damit gleich anfangen. Was war denn nun letzte Nacht?

»Ja, das müssen wir. Aber nicht jetzt und nicht hier«, zischt er. Komisch, sollte er nicht irgendwie zutraulicher sein? Zärtlicher? Verliebter? Aber das ist wahrscheinlich nur die Aufregung. Ich will mich schnell noch zu ihm drehen und ihm einen Kuss geben, da reißt jemand die Schranktür vor uns auf, und Herr Wesseltöft sagt ein wenig zu laut: »Ja, man kann hier ganz deutlich sehen, dass auch bei der Innenausstattung der Schränke eine echte Künstlerin am Werk war. Allein die Maserung der Rückwand – wunderbar!«

Zwei Frauen mit Betonfrisuren, die aussehen wie Gesellenstücke von Monique, treten verdutzt zurück, als wir den Schrank verlassen. »Ja, hier ist eben alles vom Feinsten«, sagt die eine Frau zur anderen.

Wenn die wüssten, denke ich und mache mich rasch auf den Weg zu meinen Tüten. Herr Wesseltöft verschwindet einfach, als hätte es ihn nie gegeben. Männer! Einer wie der andere. Flüchtiger als Lippenstift angesichts einer Portion Pommes Frites.

In einem unbeobachteten Moment zerre ich meine Klamottentüten aus dem Küchenunterschrank und schleiche über den Kiesweg davon, vorbei an neureichen Möchtegerndesignervillenbesitzern oder solchen, die nur vortäuschen, welche zu sein.

Im Showroom versuche ich, um mir die Zeit zu vertreiben, den Unterschied zwischen den Klinkertypen Lüneburg und Büsum herauszufinden. Ist es die Körnung? Die Farbe? Ist Lüneburg nicht einen Tick heller als Büsum? Schwer zu sagen. Vielleicht ist das einzige Distinktionsmerkmal wirklich der Preis? Oldenburg wirkt insgesamt grober, Celle sandiger, Westerland changiert mehr ins Bläuliche. Ich versuche mir die namensgebenden Orte vorzustellen. Fühlt man sich in einem Lüneburg-geklinkertem Haus dann immer so wie in der putzigen Kleinstadt, die ganzjährig wie ein Adventskalender aussieht und nach Plätzchen zu duften scheint? Was für Auswirkungen haben Farbe und Struktur des Klinkers auf die Beziehung der Bewohner? Und wie weit sind Herr Wesseltöft und ich letzte Nacht gegangen? Ich kann mich wirklich an nichts, an rein gar nichts erinnern. Mein Gehirn ist blank wie das Silberpapier einer Zartbitterschokolade mit fünfundsiebzig Prozent Kakaoanteil, fünf Minuten, nachdem sie mir in die Hände gefallen ist. Außerdem dröhnt mein Kopf immer noch so, als würde die Brachfläche mit einer Planierraupe bearbeitet. Auf dass dort nie wieder ein zartes Pflänzchen des Erinnems keimen möge. Nie wieder Alkohol, nehme ich mir vor, lasse aber die Option offen, diesen Vorsatz auf Nie wieder Eierlikör einzuschränken. Mit ein paar Ausnahmeregelungen vielleicht, zum Beispiel: Eierlikör nur noch in unmittelbarer Verbindung mit Walnusseis oder Schokoladenpudding oder Brownies oder auf einer Torte oder ... Ich will mich da noch nicht so genau festlegen. Aber natürlich denke ich lieber über Eierlikör nach als über Herrn Wesseltöft, der übrigens schon drei Minuten zu spät ist. Denn das könnte ja unangenehm werden. Zu Enttäuschungen führen. Dabei haben wir uns doch so wunderbar verstanden! Ich weiß, er ist der Richtige! Ich will gar nicht mehr über ihn wissen, ich will einfach nur mit ihm zusammensein, alles andere kann ich mir ja herbeiphantasieren, wie es mir gerade in den Kram passt. Ein Mann vom Holodeck, nach meinen eigenen Ideen gestaltet, ja, das wär's doch! Aber dafür ist es wohl zu spät. Um diese Illusion aufrecht zu erhalten, hätte ich nie mit Herrn Wesseltöft reden dürfen, nie mit ihm gemeinsam den Grand Prix gucken und vor allem nie Eierlikör trinken dürfen.

Andererseits: Würde ich auf diesen, soweit ich mich erinnere, grandiosen Abend in meinem ja nicht gerade prall gefüllten Erlebnisschatzkästchen verzichten wollen? Nein. Und da taucht er auch schon auf, der Herr Wesseltöft, neben dem Fliesenmuster Friesland, zur Rechten ein mit durchsichtigen Glaskieseln gefülltes Glasbecken, über dem der Einhandhebelmischer Amrum schwebt.

»Ach, hallo«, sage ich, als würden wir uns ganz zufällig hier treffen, und setze mich auf den Rand des Glasbeckens, der sehr unbequem ist und bestimmt einen fiesen Abdruck auf meinen Pobacken hinterlässt.

»Das war ein schöner Abend gestern«, beginnt Herr Wesseltöft. Das hört sich so formell an. Will er mich nicht küssen? Ich neige den Kopf etwas zu ihm hin, doch er macht keine Anstalten, sich mir zu nähern. Anscheinend ist er nicht am Austausch von Zärtlichkeiten interessiert.

»Mmm-hm«, mache ich zustimmend. Aber?

»Ich meine das ernst: Das war wirklich toll. Sie sind eine wunderbare Frau! Ich bin völlig von ihnen fasziniert«, süßelt er weiter.

Aber? »Ja«, sage ich, und: »Schön.« Dann steht ja einer gemeinsamen Zukunft nichts im Wege. Aber irgendwas läuft falsch. Hier ist der Wurm drin. Oder bin ich nur keine Komplimente mehr gewohnt?

»Und ich glaube, dass wir sehr gute Freunde werden könnten – das wir vielleicht schon Freunde sind.«

Freunde? Ich will immer noch knutschen! Deshalb frage ich ungläubig: »Freunde?«

»Ja«, sagt Herr Wesseltöft, »Sie wissen schon: Menschen, denen man alles anvertrauen kann. Die immer für einen da sind. Da haben Sie doch bestimmt schon mal von gehört.«

Ja, habe ich. Das ist aber kein Grund, das hier ins Komödiantische zu ziehen. »Haha«, lache ich bitter.

»Das habe ich mir gedacht«, sagt Herr Wesseltöft leise und spielt nervös an der Armatur herum. Ein scharfer Wasserstrahl attackiert die gläsernen Kiesel.

»Was?«

»Das Sie vielleicht etwas anderes wollen. Dass Sie mehr wollen. Gestern haben Sie versucht, mich zu küssen.«

»Und, ist es mir gelungen?« Die Frage platzt einfach so aus mir heraus. »Ich kann mich nämlich nicht erinnern«, gebe ich zu.

»Naja, wenn das so ist«, sagt Herr Wesseltöft. »Also, gelungen ist es Ihnen schon. Gewissermaßen. Aber was ich Ihnen eigentlich sagen wollte ...«

Ich liebe Sie. Ich verzehre mich nach Ihnen. Aber ich habe eine böse Ehefrau zuhause , die wir gemeinsam loswerden müssen, damit unserem Glück nichts mehr im Leben steht. Und eine seltene Stoffwechselkrankheit habe ich auch, aber die bekommen wir gemeinsam schon in den Griff. Geld ist keins da, aber irgendwie werden wir es schaffen, und etwas aufzubauen ...

Ich bin gespannt, welches Hindernis es noch aus dem Weg zu räumen gibt.

»Ich bin schwul«, sagt Herr Wesseltöft.

»Was? Seit wann?«

Blöde Frage, ich weiß. Aber in so einer Situation kann wirklich niemand von mir verlangen, dass ich auch noch nachdenke, bevor ich spreche.

»Wahrscheinlich schon immer«, antwortet Herr Wesseltöft.

»Das kommt jetzt etwas ... unerwartet«, sage ich. Und dann merke ich, wie ich tatsächlich ein bisschen wütend werde. »Ich fasse mal kurz zusammen: Ich begegne dem Mann meiner Träume, also Ihnen, wir verbringen gemeinsam eine vermutlich heiße Nacht – und daraufhin stellen Sie fest, dass sie schwul sind. Oder habe ich das falsch verstanden?«

»Nein, ganz so ist es nicht.« Herr Wesseltöft hebt beschwichtigend die Hände. »Ich weiß schon lange, dass ich schwul bin. Aber soll ich das rumposaunen? So besonders viele Gleichgesinnte gibt es hier auf dem Land nicht. Einen Karriereschub habe ich mir davon auch nicht gerade versprochen. Es hat sich einfach nicht ergeben, es jemandem zu erzählen. Sie sind eigentlich fast die Erste.«

»Hm«, sage ich. Was soll ich auch sonst sagen? Einerseits bin ich ja gerührt, dass er mir so viel Vertrauen entgegen bringt. Andererseits: Ich wollte ja wirklich etwas ganz anderes. Und nun bin ich sein Coming-Out-Katalysator! Habe ich irgendwelche Hinweise übersehen? Er sieht kein bisschen aus wie dieser junge Arzt aus der Lindenstraße.

Ach es wäre so schön gewesen, so einfach: Heiner gegen Herrn Wesseltöft tauschen und einfach weitermachen. Wie häufiger in letzter Zeit habe ich das dunkle Gefühl, dass mein Leben nicht immer so leicht ist wie gegen meine Oma im Canasta zu gewinnen. Meine Augen füllen sich so schnell wie das Glasbecken unter dem Einhandhebelmischer. Herr Wesseltöft sieht schon ganz verschwommen aus. Ich muss hier weg.

»Auf Wiedersehen!«, sage ich schroff und nehme meine Tüten.

»Aber wo wollen Sie denn hin?« Herr Wesseltöft wirkt bestürzt. Okay, es ist wirklich nicht sehr höflich von mir, ihn jetzt hier so sitzen zu lassen, zwischen Friesland und Lüneburg und den blankgeputzten Armaturen. Aber ich sage lieber erst mal gar nichts mehr, bevor ich etwas Falsches sage. Hätte er mir seine sexuelle Ausrichtung nicht auch verschweigen können wie allen anderen? Oder hätte er für mich nicht einfach eine Ausnahme machen können? Bin ich etwa schlechter als ein Mann? Das alles möchte ich lieber nicht aussprechen. Deshalb gehe ich. Wortlos.

»Sie wissen ja, wo Sie mich finden: Haus drei, gleich vorne links in der Musterhaussiedlung. Da ist mein Büro. Ich werde auf Sie warten!«, ruft er mir hinterher.

Jaja, denke ich, innerlich schon verheult, das könnte so romantisch klingen. Aber so? Soll er doch warten, bis er rosa wird! Jetzt weiß ich wenigstens: Zwischen uns war nichts. Ist nichts. Wird nie was sein. Das ist wenigstens geklärt. Der Filmriss ist also egal.

Oder?

Irgendwie habe ich das Gefühl, als könnte da doch mehr gewesen sein. Eine schwache Erinnerung an Küsse und Berührungen räkelt sich träge in meinen likörgeschädigten Gehimwindungen. Sind da nicht noch Spuren auf meiner Haut zu erkennen?

Kaum habe ich die Musterhaussiedlung verlassen, schalte ich mein Mobiltelefon ein. Brigitte hat vierzehn Nachrichten auf meiner Mailbox hinterlassen und mir fünfundzwanzig SMS geschickt hat, alle mit Variationen des Textes: Wo bist du? Melde dich! Sofort!

»Wo bist du?«, kreischt sie ins Telefon, als ich sie anrufe. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht! Geht es dir gut? Warum meldest du dich nicht? Was ist überhaupt los?«

Ich erzähle ihr die ganze Geschichte. Vom Feuerwehrball, der Schlägerei, meiner Flucht, dem versenkten Auto, der Musterhaussiedlung. Von der Handtaschenkammer. Dem Grand-Prix-Abend im Designerhaus.

»Das hört sich ja wunderbar an«, sagt Brigitte. »Der Mann scheint ja ein echter Traum zu sein!«

»Der Mann ist schwul.«

»Oh.« Sie klingt nicht mehr ganz so begeistert.

Ich erzähle Brigitte alles, was ich heute Morgen über Herrn Wesseltöft erfahren habe.

»Ach«, sagt sie, »das wäre ja sonst auch zu schön gewesen. Und was machst du jetzt?«

»Woher soll ich das wissen?«, sage ich etwas bockig. Mein Kopf bumpert, ich fühle mich ungeduscht und ungeliebt, und dann soll ich auch noch eine Entscheidung treffen?

»Selbstmitleid hilft dir jetzt ganz sicher nicht weiter«, stellt Brigitte fest, der mein bockiger Ton noch nie den Wind aus den Segeln genommen hat. »Und jetzt denk nicht so viel darüber nach, dass du nicht weißt, was du willst. Sag einfach das erste, was dir in den Sinn kommt.«

»Ich will hier weg!«, sage ich sofort. Und merke, dass das gar keine dumme Idee ist. »Ich fahre in die Stadt«, sage ich, »und ich will endlich mal was erleben!«

»Genau!«, bestätigt Brigitte.

»Ich brauche jetzt Kontrastprogramm. Weg vom Landleben mit all seinen Enttäuschungen.« Das hört sich wirklich verdammt gut an. Also setze ich noch hinterher: »Jetzt wird es glamourös!«

»Pass bloß auf dich auf!«, sagt Brigitte. »Und übertreib nicht sofort wieder. Deinen letzten Auftritt in der großen Stadt hattest du mit einer unvergesslichen Performance in einem Sex-Shop.«

»Danke, dass du mich daran erinnerst.«

»Dafür nicht. Übrigens: Deine Mutter hat mich angerufen und wollte wissen, ob ich weiß, wo du steckst. Ich habe gesagt, du bist in einem Wellnesshotel, das ich dir empfohlen habe. Du wolltest mal in Ruhe nachdenken und gleichzeitig etwas entschlacken, dich um deine Figur und um dein Äußeres kümmern.«

»Und das hat sie dir abgenommen?«

»Aber natürlich! Ich kann sehr glaubwürdig sein, weißt du.«

»Ohne Zweifel. Wann kommst du wieder nach Hause?«

»Morgen früh. Es gibt übrigens interessante Neuigkeiten. Weil ich dich nicht erreicht habe, musste ich ja ein bisschen rumtelefonieren. Du glaubst nicht, was ich herausgefunden habe. Das Machtgefüge im Dorf wackelt. Aber jetzt muss ich aufhören, Wolfgang wartet. Tschüss!« Und zack, weg ist sie.

Ich will also in die Stadt. Hm. Da war doch was. Da war doch ... Tief durch einen Nebel, der mein Gedächtnis verhüllt wie Gardinen mit Grauschleier, wabert die vage Erinnerung an so etwas wie eine Einladung. Es kommt näher, es wird deutlicher, ich muss mich konzentrieren – ja, genau: Sandra. Sandra hat mich gefragt, ob ich mit zu einem Konzert will! Und ich habe abgelehnt, natürlich. Aber jetzt ist alles anders. Ich will in die Stadt. Und ausgehen. Meinetwegen sogar zu einem Konzert.

Ich rufe Sandra an. Sie ist zuhause, ich kann vorbeikommen. Wenn ich es schaffe, mir ihre Adresse und die U-Bahn-Station, die sie mir am Telefon durchgibt, zu merken. Dann gehe ich zur Bushaltestelle an der nächsten Landstraße und warte. Und warte. Und warte. Sonntags fahren die Busse hier noch seltener als sonst. Genaugenommen: nur drei Mal. Morgens, mittags, nachmittags.

Ich setze mich in die kleine Wartehütte, die aussieht, als würde sie besser in eine Postkartenberglandschaft passen als in die norddeutsche Tiefebene, und schaue einem Plakat, das für einen kleinen Zirkus wirbt, beim Zerfleddern zu, während ich auf den Nachmittagsbus warte. Auf dem Plakat ist ein aufdringliches Clownsgesicht. Ich habe Angst vor Clowns, ich glaube, dass sie böse sind. Ob Herr Wesseltöft diese Meinung mit mir teilt? Ich würde zu gerne mit ihm reden. Geht aber nicht. Jetzt will ich etwas erleben. Die Sau rauslassen. Mich amüsieren. Ich zähle die in das Holz gepinnten Reißzwecken.

Endlich kommt der Bus. Eineinhalb Stunden brauche ich, bis ich bei Sandra ankomme. Ich muss vier Mal umsteigen und fahre mit der U-Bahn erst ein paar Stationen in die falsche Richtung.

Sandra wohnt in einer sogenannten »angesagten Gegend«, mitten in der »Szene«, wie sie es nennt. Mir fällt auf, dass viele Leute auf einem Klapprad unterwegs sind. So eins habe ich als Kind mal gehabt – und es gehasst. Es sah völlig lächerlich aus, mit den winzigen Reifen und dem riesigen Scharnier in der Mitte. Außerdem musste man sich unheimlich abstrampeln, um überhaupt voran zu kommen. Ich glaube, ich kann mir kein unkomfortableres Fahrrad vorstellen. Aber den Leuten hier scheinen all diese offensichtlichen Nachteile nichts auszumachen. Sie haben alle Pappbecher in der Hand. Die Männer tragen Trainingshosen, die Frauen bunte Kleider, die mich ein wenig an die Original-Siebziger-Jahre-Frühjahrsputzkittel von Heiners Mutter erinnern, über Jeans. Alle wirken sehr zufrieden mit sich. Fast schon gelangweilt.

Im Treppenhaus, das zu Sandras Wohnung führt, stinkt es wie in einem Iltiskäfig. Sandra begrüßt mich herzlich mit hingehauchten Küssen auf die Wange. Sie sieht, obwohl sie angeblich die letzte Nacht durchgemacht hat, aus wie frisch aus einer Zeitschrift ausgeschnitten. Das kann aber auch an dem gekonnten Lidstrich und dem eindrucksvoll lila-dunkelrot changierendem Lippenstift liegen. Auch sie trägt eine Art geblümtes Kittelschürzenkleid über einer Jeans, dazu genau die Holzlatschen, mit denen meine Mutter von den späten siebziger Jahren bis zur Mitte der Achtziger durch die Gegend geklappert ist. Von der Decke hängen Kabel herunter.

»Ich würde vorschlagen, wir chillen noch ein bisschen, bevor wir nachher in den Tanzsaal gehen. Dort spielt eine sehr vielversprechende Band.« Sandra kennt sich aus, vor allem im Nachtleben.

Ich stelle meine Tüten in der Ecke ihres mit Linoleum ausgelegten Wohnzimmers ab. Sandra sieht sie etwas irritiert an.

»Du willst aber nicht hier einziehen, oder?«, fragt sie vorsichtig.

»Ich würde mich gerne erst mal setzen.«

Sie weist mir einen Platz auf einem der großen Sitzsäcke zu, die um einen nierenförmigen Tisch arrangiert sind, und sagt: »Okay, dann erzähl mal, was mir nun doch die Ehre deines Besuchs verschafft. Und warum du mit großem Gepäck reist.«

»Wenn es etwas gibt, was ich im Moment nicht wirklich möchte, ist das über mich reden«, sage ich missmutig. Sandra wirft mir einen prüfenden Blick zu. Dann zuckt sie mit den Schultern. »Okay. Setzt dich. Entspann dich. Ich hol uns erst mal schnell einen Galao.«

Was bitte?

Die Wohnungstür fällt ins Schloss. Ich fühle mich seht verlassen, aber nach ein paar Minuten ist Sandra schon wieder da und drückt mir einen von zwei Pappbechern in die Hand. Der Galao ist ein Milchkaffee und schmeckt überraschend gut.

»Kocht man in der Stadt seinen Kaffee nicht mehr selbst?«

»Nö«, sagt Sandra, »wieso auch? Gibt es doch überall zu kaufen. Außerdem ist das nicht nur irgendein Kaffee. Bis letztes Jahr haben wir alle Latte Macchiato getrunken. Und seit die Portugiesen die Coffee-to-go-Szene übernommen haben eben Galao.«

Mir ist das Stadtleben jetzt schon zu kompliziert.

Der Galao macht Sandra wach und mich müde, also redet sie in einer Tour, von ihrem Studium, ihrem genialen Nebenjob (irgendetwas mit Computem, einer von diesen Jobs, die es auf dem Dorf nicht gibt), ihren Kollegen, den tollen Schnäppchen, die sie neulich in einem Designerlagerverkauf erstanden hat und lauter Dingen, die mich nicht interessieren. Ich lasse mir das aber nicht anmerken, schließlich habe ich ja klar gemacht, dass ich nicht über mich reden will, und sage höflich »Ach ja« und »Nein, wirklich«. Im Hintergrund blubbern komische Geräusche, die ein wenig nach verkalkter Kaffeemaschine (kann ja gar nicht sein) und kaputtem Wasserhahn klingen, ich vermute aber, dass sie von der Schallplatte kommen, die Sandra aufgelegt hat. »Ich habe meine Liebe zu elektronischer Musik entdeckt«, sagt sie. »Blip-Hop ist das Größte!«

Dann stellt Sandra plötzlich doch eine Frage: »Sag mal, warum siehst du eigentlich aus wie rückwärts durch die Hecke gezogen?«

Hecke. Das Stichwort. Mir schießen die Tränen in die Augen.

Und dann erzähle ich Sandra doch alles: Von Monique, die in jedem Gebüsch zu hocken scheint, bis zum Eierlikör-Exzess mit Herrn Wesseltöft. Von Heiners Seitensprung, meiner Kündigung und dem Eklat beim Feuerwehrball. Nur den geplanten Hausbau verschweige ich, das würde sie nie verstehen. Verstehe ich ja selber kaum noch.

»Da habe ich ja richtig was verpasst«, kommentiert Sandra den Feuerwehrball. »Da gehe ich ein einziges Mal nicht hin, und dann gleich sowas ...« Mit leichtem Bedauern ob der entgangenen Sensation schüttelt sie den Kopf. »Aber lassen wir das. Jetzt ist erst mal etwas ganz anderes wichtig.«

»Und das wäre«, frage ich kläglich.

»Du!« Sandra nickt entschlossen. »Dich müssen wir mal gründlich runderneuern! Und dann sehen wir weiter.«

Sie zieht mich ins Badezimmer. Die Frau, die ich dort über dem Waschbecken im Spiegel sehe, kenne ich nicht. Sie sieht mehr als nur ein wenig mitgenommen aus, die Haare zerzaust, die Haut hektisch gefleckt, die Augen beringt wie ein Waschbär. Aber die Frau trägt ein T-Shirt aus meinem Tüten-Fundus, also muss ich das wohl sein.

»Erst mal duschen. Schön heiß, schön lange. Unter zwanzig Minuten bringt das gar nichts«, behauptet Sandra. »Die Haut muss so richtig schön durchfeuchten. Wasser ist Leben – das musst du durch alle Poren in dich aufnehmen.«

 »Hast du jetzt auch so einen Feng-Shui-Tick wie Brigitte«, frage ich.

»Nein, ich stehe mehr auf Thalasso.«

Ich muss mir auch mal so einen Trend rauspicken und ein paar Schlüsselsätze lernen. Man muss ja nicht gleich daran glauben, um andere zu beeindrucken.

Als ich nach fünfundzwanzig Minuten in vorgewärmte – vorgewärmte! – Handtücher gehüllt aus der Dusche trete, fühle ich mich schon besser, sehe aber zumindest an den Händen und Füßen reichlich verschrumpelt aus. Sandra baut vor mir eine kleine Armada aus Tiegelchen und Tübchen auf.

»Für die Augen nimmst du die Ten-Hour-Creme, für die T-Zone die Fünfundzwanzig-Minuten-Lotion«, ordnet Sandra an, »und den Körper cremst du mit der One-Day-Milk ein.«

Ich creme und schmiere drauflos. »Muss man die auf den Packungen angegebenen Zeiten addieren, multiplizieren oder gar subtrahieren?«, frage ich.

»Weder noch. Einfach ignorieren. Ich habe nur herausgefunden, dass Cremes, die eine Zahl im Namen tragen, besonders gut wirken«, antwortet Sandra. Sie muss es wissen, sie sieht phantastisch aus.

Sie malt mir die Augen an und schmiert mir etwas auf den Kopf, das aussieht und riecht wie gepresste Weihnachtsbaumbienenwachskerzen und gegen das selbst meine stylingproduktvernichtenden Haare keine Chance haben. Zum Schluss drückt sie mir einen Lippenstift in die Hand und verschwindet in Richtung ihres Kleiderschranks.

Ich schminke mir den Mund, ziehe frische Jeans und ein neues T-Shirt an. Sandra kommt zurück und bindet mir eine geblümte Kittelschürze um.

»Perfekt!« Sie strahlt mich an. »Ich würde sagen: Mission accomplished. Du siehst klasse aus! Oder, wie man bei euch auf dem Land wahrscheinlich immer noch sagt: stadtfein!«

Ich weiß, dass meine Mutter sich unter stadtfein etwas anderes vorstellt, und ich bin in diesem speziellen Fall ausnahmsweise geneigt, mich ihrer Begriffsdefinition anzuschließen, aber Sandra duldet keinen Widerspruch. »Ohne Schürze oder ein anderes trendiges Detail kommst du in den Club, in den wir nachher gehen, nicht rein«, mutmaßt sie. Ich merke: Dresscodes gibt es nicht nur auf dem Land und im Kopf meiner Mutter.

»Und, wie findest du dich?«, will Sandra wissen.

Die Frau, die ich jetzt im Spiegel sehe, kenne ich zwar immer noch nicht, aber sie sieht gut aus. Vielleicht nicht im herkömmlichen Sinne schön, aber immerhin interessant. Verwegen. Abenteuerlustig. Oder: apart, wie meine Mutter sagen würde.

»Toll!«, sage ich und umarme Sandra.

»Dann los.«

Jetzt gehen wir aus! Und jetzt wollen wir ausgehen, uns amüsieren. Ich will Spaß. Aber wirklich! Und vielleicht auch knutschen! Am liebsten mit Herrn Wesseltöft. Aber das geht ja nicht.

Vor dem Club, der recht baufällig aussieht, gibt Sandra mir einen Schlüssel für ihre Wohnung. »Falls wir uns aus den Augen verlieren. Du kannst dir meine Yogamatte nehmen, die liegt im Regal im Flur. Da müsste auch noch ein Schlafsack sein.«

Sie sagt dem Türsteher ihren Namen und »Ich stehe auf der Gästeliste. Plus eins.« Dabei zeigt sie auf mich. Wir bekommen Stempel und müssen keinen Eintritt zahlen.

Hinter der Tür schlägt mir eine undurchdringliche Wand aus Lärm und Rauch entgegen, von der Sandra sofort verschluckt wird. Ich bin allein. Mit ein paar hundert fremden Menschen um mich herum. Ich falle nicht weiter auf. Wahrscheinlich könnte ich mich völlig daneben benehmen, es wäre allen egal. Das ist der Unterschied zum Leben auf dem Dorf. Wenn man sich dort mal daneben benimmt, liefert man Gesprächsstoff für mehrere Jahrzehnte. Von einer Prügelei wie auf dem Feuerwehrball würde man hier kaum Notiz nehmen.

Der Lärm kommt von der Band. Ein dichter Soundteppich hüllt mich ein. Es klingt, als würden Maschinen gefoltert, Kaffeemaschinen womöglich. Doch dann tritt ein Mann auf die Bühne und beginnt zu singen. Hinter seinem dichten, dunklen Pony, der ihm bis über den Mund hängt, dringt seine tiefe, mächtige Stimme hervor. Als er seine Haare zurückwirft, sehe ich sein zerfurchtes Gesicht. Gar nicht mein Typ. Aber irgendwie sexy. Und er scheint sich wirklich gut zu amüsieren. Tanzt hin und her, mit geschmeidigen Bewegungen, schüttelt sein Haar. Die Musik gewinnt an Form und Melodie und gefällt mir auf einmal richtig gut. Ich drängele mich nach vorne, in die erste Reihe, tanze direkt vor der Bühne. Wir sehen uns an, der Sänger und ich. Nur einen kurzen Moment, aber das reicht.

Nach dem Konzert stelle ich mich an die Bar und warte, was passiert. Das läuft ja schon ganz gut mit dem Amüsieren. Wer sagt denn, dass man unbedingt gute Gespräche braucht? Bisschen Lärm und Rauch und ich weiß nicht was reicht vielleicht auch. Ich trinke Sekt auf Eis, weil mir das von allen alkoholischen Getränken noch am wenigsten alkoholisch vorkommt, und erschrecke ein wenig über den Preis. Wenn das Leben in der Stadt so teuer ist, bin ich nach diesem Abend völlig ruiniert. Plötzlich komme ich mir fremd vor. Als hätte ich mich eingeschlichen. Eine Undercoveragentin ohne Lizenz für irgendetwas. Sieht man mir an, dass ich eigentlich nicht hierher gehöre, oder ist die Kittelschürze eine perfekte Tarnung? Ich habe auch noch immer keine Idee, wie ich wieder Geld verdienen könnte. Aber ist das etwas, womit ich mich heute auseinandersetzen wollte? Nein!

Und da kommt auch schon der Sänger und spricht mich an.

»Du warst in der ersten Reihe, ich habe dich gesehen«, stellt er trocken fest.

»Ich habe dich auch gesehen«, antworte ich.

»Und?«, fragt er. Er möchte ein Kompliment. Er möchte ganz dringend ein Kompliment von mir hören.

»Ja,« sage ich zögernd, »war ganz gut.«

»Ha! Ganz gut?«, lacht er mit einem leichten Anflug von Arroganz, um diese Beleidigung wegzustecken. »Wir waren fett! Wir waren so gut wie noch nie! Wir haben das Haus gerockt! Das Publikum hat Begeisterung aus allen Poren geschwitzt! Du doch auch!«

»Kann schon sein«, räume ich ein. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. So abweisend war ich schon lange nicht mehr. Doch das scheint ihn zu reizen. Er bestellt uns zwei Tequila. Wenigstens keinen Eierlikör. Und dann noch zwei.

»Ich heiße Kilowatt«, stellt er sich vor, als wir bei unserem dritten Tequila sind.

Armer Junge, denke ich, was sich seine Eltern wohl dabei gedacht haben. Bestimmt sind sie Inhaber eines Elektrogeräteladens und wollen, dass der Sohn eines Tages den Familienbetrieb übernimmt. Vielleicht ist das aber auch gar nicht sein richtiger Name, sondern nur ein Künstlername? Ich kenne mich ja in der Musikerszene nicht so aus. Eigentlich kenne ich mich nirgendwo aus.

»Silke«, antworte ich. »Ich heiße Silke.« Falls ihn das interessiert.

Das tut es. Er will sofort mit mir Brüderschaft trinken. Ziemlich altmodischer Brauch. Das kenne ich vom Dorf, das ist da nichts weiter als ein Vorwand, um den anderen zu küssen. Scheint in der Stadt auch nicht anders zu sein: Kilowatt bohrt seine Tequilazunge zielsicher in meinen Mund. Er hat Übung.

Oha!

Dann sagt er: »Ich muss mal pissen. Bleib da!« und geht weg. O nein, der redet wie Heiner. Das hat mir ja gerade noch gefehlt! Dafür ist er wahrscheinlich nicht schwul. Immerhin.

Während ich auf Kilowatts Rückkehr warte, kommt Sandra zu mir. »Das ist der heißeste Typ der Szene – und du hast ihn dir geschnappt!«, sagt sie bewundernd, aber auch mit einem leichten Anflug Eifersucht.

»Ach?«, antworte ich verwundert. »Wenn das schon der heißeste Typ ist, dann ist das um die ganze Szene wohl nicht so doll bestellt.«

»Tu nicht so«, grinst sie mich an. »Ich muss jetzt wohl mit dem Gitarristen vorlieb nehmen.« Zielstrebig steuert sie auf die zweitbeste männliche Trophäe los. Das ist meine Lektion im subkulturellen Punktesystem: Sänger sind besser als Gitarristen. Das Stadtleben ist ganz schön seltsam.

Kilowatt, der Hauptgewinn, kommt wieder und ordert mehr Tequila. Obwohl ich inzwischen zum zweiten Mal in zwei Tagen ziemlich angeheitert bin, läuft die Konversation zwischen uns schleppend. Kilowatt faselt etwas von der »ökonomischen Brutalität des Neokapitalismus« oder so ähnlich. Wehmütig denke ich an Herrn Wesseltöft. Wie gut wir uns verstanden haben! Wie lustig der Abend mit ihm war. Was für ein toller ... Freund er wäre. Aber ich muss nach vorne schauen: Vor mir steht Kilowatt und schlägt einen Spaziergang vor.

»Klar, warum nicht.«

Während wir den Club verlassen, legt er kurz die Hand in meinen Nacken, als wäre ich ein kleines Häschen, das in seinen Stall getragen werden muss. Der Griff kommt mir bekannt vor: Das hat Heiner am Anfang auch immer so gemacht. Ich bemerke, wie mich andere Frauen neidisch ansehen. Tja, Hauptgewinn. Hätten sie wohl auch gerne gehabt. Schade, dass ich mir so überhaupt nichts daraus mache. Eigentlich. Obwohl ... Ich schwanke versuchsweise etwas gegen ihn und lege dabei ausgesprochen zielsicher meinen Arm um seine Hüfte. Schmal. Fest. Der Arm, gegen den ich mich kurz drücke – und der sich jetzt Besitz ergreifend um meine Schultern legt – fühlt sich stark und wohldefiniert an. Ich muss meine Einschätzung von vorhin revidieren denn jetzt fühle ich mich durchaus wie eine Undercoveragentin mit der Lizenz zu so ziemlich allem, was möglich ist. Den nächsten missgünstigen Groupieblick einer Kittelschürzenträgerin pariere ich mich einem Lächeln, das mit Sicherheit nicht nur tequilaselig, sondern auch ziemlich zufrieden wirkt.

Wir gehen zwischen hohen Häusern entlang, durch enge Straßen. Ich halte meinen Blick nach unten gesenkt. Nicht in einem Anfall übertriebener Züchtigkeit, sondern weil ich nicht in einen Hundehaufen treten will. Das Gebiet ist großzügig vermint. Warum halten Leute in der Stadt überhaupt Hunde? Wissen die nicht, dass die armen Viecher kein Katzenklo benutzen?

Im Gegensatz zum Dorf ist in der Stadt auch nachts mächtig was los. Uns kommen ständig Leute entgegen, die Männer mit Bierflaschen in der Hand, die Frauen leicht schwankend, sich an den Männern festklammernd. Kilowatt kennt sie alle. »Ey, Alter, was geht?«, wird er alle zehn Meter begrüßt.

»Alles klar, alles klar«, antwortet er und schiebt mich weiter, hinein in eine plüschige Bar, in der diverse Fernseher laufen. Es werden Pornos gezeigt, den Kostümen nach – solange die Darsteller noch welche anhaben – aus den siebziger Jahren.

»Abgefahren, oder?«, grient Kilowatt mich an.

»Interessant«, räume ich ein. Leider überhaupt nicht animierend, aber irgendwie ... lustig. Grotesk. Während um uns herum auf den Bildschirmen fleißig kopuliert wird, knutschen wir los, was das Zeug hält. Er mit viel Elan, ich nach kurzer Zeit auch sehr engagiert. Die Pornos sind uns schnell völlig egal, wir hätten uns selbst durch eine Kochshow, eine Dauerwerbesendung für neuartige Putzmittel oder eine Dokumentation über Trottellummen und Blaufußtölpel nicht mehr ablenken lassen. Unsere Haare verschmelzen wie unsere Münder zu einer Einheit, bestimmt sehen wir aus, wie ein außer Kontrolle geratener futuristischer Wischmop. Jeder zerrt an den Klamotten des anderen, aber Sandra hat mir die Kittelschürze stramm wie einen Keuschheitsgürtel gebunden und Kilowatts Hemd hat mehr Ösen als ein Rokoko-Korsett. Ein Hemd mit Ösen – der Mann ist wirklich exzentrisch! Dafür küsst er um so besser. Mein Körper fühlt sich schon wieder ganz »durchfeuchtet« an, wie Sandra sagen würde (die zeitgleich hoffentlich mit dem Gitarristen knutscht), an entscheidender Stelle sogar mehr als nach fünfundzwanzig Minuten Duschen ohne Abtrocknen. Wir lassen nur Sekundenbruchteile voneinander ab, um uns gegenseitig den Tequila einzuflößen, den uns die Barfrau immer wieder unaufgefordert hinstellt. Aber so kommen wir irgendwie nicht weiter. Ich will mehr!

»Wollen wir nicht vielleicht ...«, flüstere ich Kilowatt ins Ohr, als es mir endlich gelingt, seine Zunge von meinem Mund zu trennen. Vielleicht. Das ist so ein Wort, das eine Undercoveragentin sicher nicht gebrauchen sollte. Ich räuspere mich und sage mit entschlossener Stimme: »Wir gehen jetzt zu dir.«

»Aber gerne!« antwortet er.

Als verschlungene Masse bewegen wir uns amöbenartig aus der Bar hinaus, nicht auf die Straße, sondern gleich wieder in den nächsten Hauseingang hinein, einige schmale, fahl beleuchtete, baufällig wirkende Treppen hinauf und hinein in Kilowatts Wohnung. Die scheint über den Rohbauzustand nie wirklich hinausgekommen zu sein. Das Bett ist aus einem Baugerüst zusammengeschraubt und im Bad – das kann man deutlich sehen, weil die Tür offen steht – gibt es nichts außer einer Toilette und einem Wasserhahn, unter dem ein Eimer steht. Die Existenz einer Küche wage ich zu bezweifeln, aber das ist mir sogar egal. Momentan könnten mich weder Cremeschnittchen noch Zürcher Geschnetzeltes locken, ich habe bloß Appetit auf Kilowatt. Und der erscheint mir gerade extrem köstlich!

Endlich löst er Knoten und Knöpfe der Kittelschürze, streift sein ösenbewehrtes Hemd einfach über den Kopf und entfernt ebenso lässig alle weiteren störenden Textilien. Er greift in eine große Schachtel, die neben dem Bett steht, hat die Hand voller Kondome, streift sich eines über, ganz selbstverständlich und ohne Diskussion – und dann geht es ab. In wilder Rangelei werfen wir uns auf die baugerüstgestützte Matratze, fallen völlig hemmungslos übereinander her, mein Gott, dieser Mann kann sich bewegen, und es ist mir egal, wer er ist, was er ist, es ist einfach –

sooooo guuut!

Nach circa fünfhundertsiebenunddreißig Orgasmen – irgendwann habe ich aufgehört zu zählen – schläft Kilowatt endlich ein und ich falle in eine Art Trance. Ich hätte nie gedacht, dass Sex so viel Spaß machen könnte. Und ich hätte auch nicht gedacht, dass ich so sein könnte. So wild, so hemmungslos, so Ist-mir-doch-egal-wer-der-Typist-Hauptsache-er-kann-küssen-und-so-weiter.

Ich bin jetzt ein Groupie, denke ich. Ich werde auf Konzerte gehen, in der ersten Reihe tanzen und sie alle erobern. Alle! Ich werde groß international einsteigen. Ich werde David Bowie verführen! Ach nein, hübsch, aber zu alt und verheiratet. Enrique Iglesias? Nein, der ist zu glatt. Halt, viel besser: Robbie Williams. Genau: Robbie! Mit ihm werde ich süße, heiße Nächte verbringen, um die Welt jetten und ihn dann irgenwo stehen lassen, weil ich einen anderen, noch berühmteren, noch aufregenderen Popstar getroffen haben werde.

Noch besser als Robbie Williams? Wer könnte das sein? So einen gibt es doch gar nicht.

Nun, das wird sich zeigen, denke ich mir so in meiner postkoitalen Trance. Immerhin weiß ich jetzt: Ich kann auch anders. Ich bin nicht immer die, die betrogen wird oder die man nicht küssen will, aus was für Gründen auch immer, Herr Wesseltöft! Nein, ich bin die, der die Männer zu Füßen liegen. Ich bin begehrenswert! Und ich kann haben, was ich will. Sogar den Sänger der angesagtesten Band, deren Namen ich leider vergessen habe.