2. Kapitel:
Auf diese Steine könnten Sie bauen
Freitag, 6. Mai
Der Tag in der Sparkasse ist furchtbar. Oma Ellerbrock beschwert sich, dass ich die Kontonummer ihres Enkels, der ein Konto bei einer mir unbekannten schwäbischen Privatbank hat, nicht auswendig weiß. Dabei überweist sie ihm nun schon zum dritten Mal Geld, »also, langsam könnten Sie sich das wirklich mal merken!« Dummerweise ist mein Zahlengedächtnis nicht das beste, das ist im Job manchmal etwas hinderlich. Einen gewissen persönlichen Service erwarten unsere Kunden schon. »Wir sind ja nicht in einer anonymen Großstadt«, betont der Filialleiter gerne, »hier kennt man sich.« Die Sparkasse ist aufgebaut wie ein Tante-Emma-Laden, allerdings mit einer Panzerglasscheibe über dem Tresen und kleinen Schubladen, durch die man die Überweisungsformulare und das Geld schiebt. Automaten gibt es hier keine, weder zum Geld ziehen noch für Kontoauszüge. Aber vielleicht ändert sich das bald. In letzter Zeit gibt es immer wieder Gerüchte, die Filiale sollte modernisiert werden, der Raum würde »offener gestaltet«, so, dass auch die Angestellten frei herumlaufen könnten. »Endlich nicht mehr wie ein Leguan im Terrarium«, hofft meine Kollegin Susi und strebt so zielstrebig wie eine Echse im Winterschlaf auf ihre Tupperdose in der Mikrowelle zu. »Dann bewege ich mich automatisch den ganzen Tag und nehme wie von selbst ab!« Sie gießt Sahnesoße über ihren Gabelspagettiberg und seufzt in Erwartung besserer Zeiten.
Ich seufze auch, weil ich eine böse Ahnung
habe: Mindestens eine Stelle wird gestrichen werden. Und das ist im
Zweifelsfall meine. Einen anderen Job finde ich hier in der Gegend
nicht. Also müsste ich in die Großstadt fahren. Jeden Tag im Stau,
morgens und abends. Oder ich werde Hausfrau, noch bevor das Haus
fertig ist. Ohne Haus hätte ich erst mal auch nicht so viel
Hausarbeit. Trotzdem: Eine Perspektive ist das nicht.
Fünfzehn Überweisungen und einen Dauerauftrag später entkomme ich zu Hause knapp Heiners Mutter durch einen Sprint die Treppe hoch. Im Schlafzimmer zieht sich Heiner gerade um.
»Hat deine Mutter eigentlich etwas über ihre Geranien gesagt?«, frage ich ihn vorsichtig.
»Nö. Wieso?«
Es scheint also keinen Stress gegeben zu haben. Ich versuche deshalb, nicht also schuldbewusst zu klingen: »Weil die alle eingegangen sind.«
»Jaja, wegen dieser grassierenden Geranien-Grippe. Das hat deine Mutter meiner Mutter doch ellenlang erklärt. Wahrscheinlich warst du da schon im Bett. Muss ja eine fiese Seuche sein, man kann froh sein, dass man selber noch mal davon gekommen ist. Auf Kreta soll es auch ein paar Gärtner erwischt haben. Stand hier doch alles in der Zeitung. Sagt jedenfalls deine Mutter.«
Während ich Heiner zuhöre, wundere ich mich, dass er ein frisches Hemd anzieht. Das macht er sonst nie. In meiner Anwesenheit findet er ein gut durchgeschwitztes T-Shirt mit ein paar alten Ketchupflecken normalerweise angemessen. Trotzdem muss ich grinsen. Mutti ist doch die Größte – nie um eine Sensationsstory verlegen. Die Fakten sind wie immer auf die Schnelle für die Anwesenden nicht nachprüfbar: Heiner liest nur den Sportteil und seine Eltern waren auf einem anderen Kontinent. Und wenn Mutti Lust dazu hat, kann sie einem alles glaubhaft machen. Sogar eine Geranien-Grippe. Am 1. April hat sie mal mit einem gefakten »Hallo, hier ist ihre Telefongesellschaft! Ihr Gebührenzähler läuft und läuft und wir können ihn nicht abstellen, da muss ein Defekt ihrerseits vorliegen«-Anruf eine Freundin dazu gebracht, ihre Telefonleitung mit einer Schere durchzuschneiden. Ich muss sie gleich mal anrufen und mich bedanken.
Doch da klingelt schon das Telefon. Heiner ist
schneller als ich. Er sagt nur kurz: »Ich komme«, legt auf und
sprintet mit einem »Feuerwehrübung, tschüss!« die Treppe runter und
aus dem Haus. Im frischen Hemd. Viel Spaß.
Meine Mutter hält mir am Telefon einen längeren
Monolog über den Feuerteufel, der zur Zeit »die Gegend unsicher
macht«, wie sie behauptet. Dass die beiden Brände, die es in der
Gemeinde in den vergangenen beiden Monaten gab, mutwillig gelegt
wurden, ist eine Theorie, die sie mit dem Lokalblatt teilt. Eine
heiße Spur hat sie allerdings auch nicht – obwohl ja »heiß«, wie
sie noch mal betont, in diesem Fall gut passen würde. Obwohl
bislang nur leerstehende, verfallene Scheunen betroffen waren, ist
sie in großer Sorge um ihr eigenes und alle anderen Häuser des
Dorfes. Ich will gerade zu einem Beruhigungsversuch ansetzen, da
leitet sie vom Thema »brennende Häuser« auf das Thema »brennendes
Interesse daran, ein Haus mit auszusuchen« über und verpflichtet
mich zum Besuch einer Fertighaus-Mustersiedlung morgen Vormittag:
»Morgen ist Sonnabend, da geht Heiner ja immer Fußballspielen«,
weiß sie, und: »Männer kann man bei solchen wichtigen
Vorentscheidungen nicht brauchen. Denen präsentiert man am besten
eine kleine Auswahl in Frage kommender Objekte. Also höchstens
zwei.« Sagt meine Mutter.
***
Samstag, 7. Mai
Heiner sagt: »Jaja, mach nur.« Hauptsache Haus, der Rest ist ihm egal. Möglicherweise ist ihm auch alles egal, oder er hat gar nicht zugehört. Ich könnte auch allein frühstücken, das würde keinen großen Unterschied machen. Wenigstens müsste ich danach nur ein Gedeck abräumen und der Fußboden wäre nicht so krümelig.
Heiner hält den von ihm so geliebten Sportteil
der Zeitung sehr hoch, so hoch, dass ich ihm nicht ins Gesicht
sehen kann. Essen kann ich ihn auch nicht sehen, aber das ist auch
besser so. Manche Leute haben ja getrennte Schlafzimmer. Ich wäre
für getrennte Esszimmer.
»Du musst dich nur noch kurz überbürsten, dann können wir los«, sagt meine Mutter zur Begrüßung. Das sagt sie immer. Bürsten und kämmen nimmt in ihrer Welt einen wichtigen Stellenwert ein. Ich bürste mich nie. Aus Gründen des Generationenkonflikts und überhaupt. Ich habe noch nicht mal eine Bürste. Gebürstete Haare sehen immer strohig aus, sind elektrisch aufgeladen, knistern unangenehm und fliegen seltsam umher. Bürsten beraubt Haare jeglicher Struktur. Bürsten assoziiere ich mit Monique. Bürsten sind böse. Ich würde lieber in Domestos baden, mit den Zillertaler Schürzenjägern in Urlaub fahren oder die Namen aller in Europa beheimateten Insekten auswendig lernen, als mir die Haare zu bürsten.
Deshalb ignoriere ich die Aufforderung meiner Mutter wie immer - und steige in ihren Opel Corsa. Das schönste Auto der Welt, es fährt auch am besten, jedenfalls besser, als alle anderen Autos, die je produziert wurden, findet Mutti, mit Ausnahme des Modells, dass sie sich in zwei Jahren kaufen wird. Denn sie kauft sich spätestens alle vier Jahre ein neues Auto. Immer einen Opel – denn schließlich gibt es im Dorf die Opel-Vertretung von Heiners Eltern. Einen anderen Wagen zu wählen könnte deren Stolz verletzen, so etwas wie Blutrache auslösen, oder schlimmer: gesellschaftliche Degradierung. Heiner und ich würden dann zu Romeo und Julia.
Dieses rosa Ding im Handschuhfach – die Barbie-Version einer Reisebürste – übersehe ich, und versuche stattdessen, mich seelisch auf die Besichtigung vorzubereiten. Musterhaus-Siedlungen, diese in Stein – oder besser gesagt: Pressholzplatten? – gemeißelten Versprechen eines vorhersehbaren, unaufgeregten, praktischen Lebens. Meines Lebens. Wirklich? Naja, mal gucken.
Ein Haus kaufen ist ja ein bisschen was anderes
als Klamotten kaufen. Aber wenn man das vergleicht, dann ist ein
Haus aus der Musterhaussiedlung wohl eher eins von H&M. Oder
nein: von C&A. Jedenfalls nicht von D&G. Obwohl ich mir gar
nicht vorstellen kann, wie deren Fertighäuser wohl aussehen würden.
Auf jeden Fall muss man in keine Umkleidekabine und wird nicht in
unvorteilhaftem Licht zur Schau gestellt. Man muss nicht an
Reißverschlüssen zerren, nicht drei verschiedene Konfektionsgrößen
probieren (von denen höchstens die größte passt). Vielleicht macht
es also Spaß, ein Haus zu kaufen. Ein fertiges. Vielleicht macht es
so viel Spaß, dass man gleich noch eins und noch eins und dann noch
ein weiteres kaufen möchte. Bis der Schrank voll ist, pardon: das
Grundstück. Hoffentlich gerate ich nicht in Kaufrausch. Ich habe
gar keine Einkaufstasche dabei.
Während ich mich noch mit grundsätzlichen Konsumtheorien aufhalte, ist meine Mutter schon ein paar Schritte weiter, nämlich im ersten Musterhaus drin.
Ich folge ihr in die imposante Eingangshalle, bestaune den hohen Luftraum über mir, und höre Mutti mit kalter Stimme knallhart analysieren: »Verschenkter Platz! Und wer putzt das Fenster da oben?« Sie zeigt auf die Glasscheibe, die bis in den Giebel hinauf reicht. Niemand antwortet.
Wir schreiten auf glänzenden Fliesen voran in einen schlauchartigen Wohn-Ess-Bereich. Bisschen enttäuschend, nach diesem Entree hätte man doch etwas, naja, Geräumigeres erwartet. Immerhin hat jemand mittig noch einen Kamin hingequetscht, vor den gerade mal zwei Stühle passen. Die drei Zimmer im oberen Stockwerk sind mickrige Butzen mit so heftigen Dachschrägen, dass man dort nur im Türrahmen stehen kann. Die eignen sich vielleicht als Kinderzimmer – so lange der Nachwuchs noch im Krabbelalter ist.
Mangels Begeisterung verlassen wir das Haus und begeben uns ins nächste. Dort werden wir von einer Dame empfangen, die uns darauf aufmerksam macht, dass es sich bei diesem Haus um ein »Architektenhaus« handelt, was bedeutet, dass es etliche kleine Finessen gibt, die den Preis in die Höhe treiben. Und dass nichts verändert werden darf. Stolz führt sie uns die elektrischen Jalousien vor. Den Dimmer. Und den Hauswirtschaftsraum. Das ist ein kleines, dunkles Kabuff hinter der Küche, in der die Hausfrau zwischen Waschmaschine und Putzeimern Marmelade einkochen darf, während der Hausherr auf der Galerie an seinem Schreibtisch residiert.
»Ein Hauswirtschaftsraum!«, jubelt meine Mutter beim Anblick des tristen Kämmerleins. »Das ist ja ganz wichtig!«
»Wofür?« frage ich.
»Da steht dann die Waschmaschine. Und der Trockner. Da kann man bügeln. Und Wäsche zusammenlegen. Und nähen.«
Ich stelle mir meine Mutter, die schon drei elektrische Nähmaschinen mit ihrer Ungeduld ruiniert hat, beim quilten im Hauswirtschaftsraum vor. Vielleicht verändert so ein Raum ja die Menschen? Vielleicht würde ein Hauswirtschaftsraum auch mich zur Hausfrau machen? Diesen Gedanken behalte ich lieber für mich und frage stattdessen: »Warum kann die Waschmaschine nicht im Bad stehen?«
Die Fertighausfrau und meine Mutter sehen mich beide gleichermaßen entsetzt an. Mutti gelingt es schließlich, ihr Entsetzen in Worte zu fassen: »Aber nein!«, seufzt sie, »Das Bad ist exquisit!«
Ich gucke sie an, als hätte ich nicht recht verstanden. Habe ich auch nicht.
Die Fertighausfrau öffnet ihre sorgfältig orange bemalten Lippen, die einen verwirrenden Kontrast zur pinkfarbenen Bluse bilden. Sie sieht aus wie der geheime erotische Traum eines Papageientulpenzüchters, und sie sagt: »Eine Waschmaschine im Bad, das ist doch asozial.«
Ups. Ein hartes Geschütz. Ich gehe in Deckung und verschweige lieber, dass bei mir zuhause die Waschmaschine in der Küche steht. In der richtigen und einzigen Küche, in der gekocht und gegessen wird, nicht etwa in der Waschküche von Heiners Mutter. Wie würde sie über mich und diesen unhaltbaren Zustand urteilen? »Nicht gesellschaftsfähig« wäre wahrscheinlich noch die harmloseste Einstufung.
Ich verlasse den Hauswirtschaftsraum durch die offene Küche, die gerade mal genug Platz bietet, um sich einen Café Latte aufzuschäumen – ein anderes Getränk ist in einem Architektenfertighaus wahrscheinlich auch nicht gestattet –, und das spiegelnd geflieste Wohnzimmer, eile die dunkle Holztreppe hinauf und ins exquisite Bad. Dort finde ich hinter einer exquisiten Sichtschutzwand die exquisite Toilette. Die ist mit einer exquisiten Banderole versehen, auf die jemand in Schönschrift Leider außer Betrieb geschrieben hat. Mit Herzchen über jedem i. Ich schließe rasch die Tür ab, entferne vorsichtig die Banderole und pinkle so leise wie möglich in das nicht angeschlossene Klo. Danach fühle ich mich sehr viel entspannter und gelassener.
Mutti ist mir inzwischen nachgeeilt und spricht durch die verschlossene Badezimmertür mit mir. Das ist so eine Angewohnheit von ihr, Türen schrecken sie nicht ab, wahrscheinlich würde sie auch durch Wände gehen, wenn sie Lust dazu hätte. Ich antworte nicht, denn wenn ich im Bad bin, bin ich im Bad und möchte nicht gestört werden. Dann will ich auch nicht reden. Mein Bad mag zwar nicht exquisit sein, aber immerhin ein Ort des Schweigens. Ich habe auch nie verstanden, warum Mädchen so gerne zusammen aufs Klo gehen. Ich unterhalte mich lieber am Tisch oder auf dem Sofa oder meinetwegen auch beim Abwaschen, aber doch nicht, wenn ich mal muss. Bin ich verklemmt? Ja, meinetwegen, auch das. Hauptsache, ich habe in Gegenwart sanitärer Anlagen meine Ruhe.
Nachdem ich noch ein paar Fingerabdrücke auf der gläsernen Duschtrennwand hinterlassen habe, fühle ich mich der Besichtigung weiterer Räume gewachsen. Auf der Galerie begegne ich meiner Mutter, die wieder fasziniert zu einem Giebelfenster hinaufsieht, mit ihrem »Wer soll das denn putzen?«-Blick. Die Fenster im Schlafzimmer und im Kinderzimmer dagegen sind bestimmt einfach zu reinigen. Genaugenommen sind es gar keine einzelnen Fenster, sondern ein Fensterband, das sich einmal ums Haus zieht. Hübsche Idee. Leider in Stirnhöhe, das heißt, man kann nicht so gut rausgucken. Man würde also auf dem Bett liegen und gegen die Wand starren.
»Wenn Sie hier abends das Licht anschalten, dann sieht das von außen aus, als würde das Dach schweben wie ein Ufo«, flötet die Papageientulpe, die uns nachgeeilt ist.
»Ist ja galaktisch«, grinse ich.
Bevor wir den Rückzug aus dem Universum der
Extrakosten antreten, drückt mir die mit außerirdischem
Farbverständnis gesegnete Außenansichtenexpertin noch ihre
Visitenkarte in die Hand: Katharina
Nelke steht dort. In Botanik war ich noch nie gut, ich hätte
sie wirklich für eine Tulpe gehalten. Gibt es überhaupt zweifarbige
Nelken? Unter den Namen hat man die Berufsbezeichnung gesetzt:
Musterhausdame.
Kaum sind wir der sphärisch-schwebenden Hortensie – Oder wie hieß die Blume noch gleich? – entronnen, geraten wir in den Bannkreis eines Kellerfetischisten. Herr Kurz würde uns am liebsten ein Haus in die Elbe stellen, mit einer weißen Wanne darunter. Die Feinheiten dieser anscheinend genialen Konstruktion, die er uns in ausführlichen Ausführungen darlegt, bleiben meiner Mutter und mir jedoch verschlossen, da wir beide abgelenkt sind. Meine Mutter kann sich nicht konzentrieren, weil Herr Kurz die Hand auf ihren Arm gelegt hat und sie deswegen kurz davor ist, ihn körperlich zu züchtigen. Ich dagegen bin in den Anblick seiner Krawatte versunken. Ich beuge mich noch ein bisschen vor, um das Muster besser dechiffrieren zu können. Lauter kleine Erdmännchen, die auf winzigen Felsbrocken hocken, direkt neben ihren unterirdischen Gängen, bereit, darin zu verschwinden, sobald ein Kollege durch Pfeifton vor Gefahr warnt. Sie haben große Ähnlichkeit mit Herrn Kurz, dieses überall Haarige. Und jedes Hörnchen hat seinen eigenen Keller. Wahrscheinlich handelt es sich ausschließlich um männliche Tiere, die heißen ja wohl nicht umsonst Erdmännchen, und aus den unermüdlichen Erläuterungen des Musterschlipsträgers geht auch hervor, dass ein Keller wohl hauptsächlich dazu da sei, die Bauherren glücklich zu machen.
»Männer brauchen einen Keller. Schon allein für all die Geräte, wo Power draufsteht!«, lautet das Finale seines Monologes.
Da wir keinerlei Geräte, auf denen Power steht,
besitzen, verlassen wir Herrn Kurz, ohne uns in den weiteren
Räumlichkeiten umzusehen. Mit ihm womöglich den Keller besichtigen
zu müssen ... uns schaudert allein bei der Vorstellung. Herr Kurz,
das ging aus seinem Vortrag hervor, hat in seinem Leben schon zehn
Häuser besessen. Wir wollen uns lieber nicht ausmalen, warum er
diese immer wieder verkauft hat. Und was er in den Kellern
zurückgelassen haben könnte.
Draußen, im Tageslicht, bewundert Mutti die
vielen Zierteiche. Vor jedem Haus gibt es einen, und dazwischen
auch noch mal welche. Sie scheinen durch ein kompliziertes
Kanalsystem miteinander verbunden zu sein und haben deshalb eine
leicht burggrabenartige Anmutung. Die vielen kleinen Brücken, die
sich darüber hinwegschwingen, verleihen der Anlage streckenweise
einen leicht missglückten venezianischen Charme. Ein paar
Mini-Gondeln würden gut hierher passen – doch das macht aus den
Fertighäusern noch lange keine Palazzi.
Das nächste Haus ist eine Siebziger-Jahre-Konstruktion aus Glas und dunklen Balken. Es erinnert mich an einen Auftritt von Abba bei der aktuellen Schaubude: Agneta und Anafrid in mondänen Kostümen vor Strohballen. Elegant-rustikal. Ohne große Erwartungen gehe ich hinein – und erstarre.
Ein Satzfetzen erreicht gerade noch den schwindenden Rest meines Bewusstseins: »Ich tue alles, was Sie wollen.« Um mich herum eine große Halle. Unter mir Marmor. Über mir eine Galerie. Vor mir Tom Cruise in größer, besser aussehend, seine Stimme in meinem Ohr, seine Hand streckt sich mir entgegen, greift nach meiner, ich wanke, ergebe mich seinem Timbre, seinem strahlenden Blick, seinem betörenden Duft, sehe Meer, Palmen, eine gemeinsame Zukunft, eine prächtige Villa, taumele benommen zur Seite und kann mich gerade noch am Geländer der Freitreppe festhalten.
»Der Grundriss ist ja sehr unpraktisch. Verschenkter Platz!«, wiederholt meine Mutter ihr Besichtigungsmantra.
Was macht die denn hier? Ach ja, wir sind in einer Musterhaussiedlung, erinnere ich mich.
»Es heißt übrigens nicht Musterhaussiedlung, sondern Massivhauspark«, klärt mich der Tom Cruise der Fertighäuser auf. Er ist nicht nur schön, sondern auch noch klug. Gebildet! Intelligent! Massivhauspark! Was für ein Wort! Das klingt auch gleich wuchtiger, handfester, nicht so provisorisch.
Ich bin verliebt! Hin und weg! Total begeistert! Leider nicht vom Haus, sondern vom Verkäufer. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Das ist Blödsinn. Das passt mir jetzt gar nicht. Aber warum eigentlich nicht?
Herr Wesseltöft heißt er, das steht jedenfalls auf seinem Schild, und ich hätte gerne seine Visistenkarte, nur, um nachzusehen, ob seine Berufsbezeichnung Musterhausherr ist – und natürlich, um seine Telefonnummer zu haben. Seine Krawatte ist uni, und Mutti wickelt er mit dem Angebot: »Sie können den Grundriss natürlich nach Ihren Vorstellungen verändern. Wir benennen dann das Haus nach Ihnen« um den perfekt manikürten Finger. Sie füllt sogar das Formular aus, dass er ihr hinhält. Freiwillig gibt sie alle persönlichen Daten preis, von der Schuhgröße bis zur Telefonnummer. Wahrscheinlich sogar meine Telefonnummer. Ich bin zu verwirrt, um sie davon abzuhalten. Und dann wiederholt Herr Wesseltöft den Satz, von dem ich vorhin im Taumel nur den letzten Teil vernommen hatte: »Sie bauen, Sie bezahlen, und ich tue alles, was Sie wollen.«