4. Kapitel:
Richtfest
Montag, 9. Mai, später
»Klar, komm vorbei«, sagt Brigitte. »Du weißt ja, wo der Schlüssel liegt. Ich bin um fünf bei dir.«
Brigitte ist mein Fels in der Brandung. Seltsam, bis heute morgen dachte ich noch, ich sei selbst der Fels in der Brandung, doch jetzt komme ich mir eher vor wie ein schiffbrüchiges Tretboot.
Ich fische Brigittes Wohnungsschlüssel aus dem Übertopf der Geranie, die einzig zu diesem Aufbewahrungszweck vor der Haustür steht. »Das ist am unauffälligsten. Geranien hat jeder. Sie bieten sich so offensichtlich als Versteck an, dass niemand darauf kommt, dass jemand wirklich so blöd sein könnte, seinen Schlüssel da ernsthaft zu hinterlegen«, ist ihre Theorie. Ich finde ja, das ist ein bisschen naiv um die Ecke gedacht, aber die Kriminalstatistik bestätigt Brigitte: Alle bewahren ihren Schlüssel in den Geranien auf, niemand glaubt, dass jemand anderes das auch macht, und wenn im Dorf eingebrochen wird, dann auf konventionelle Weise, nämlich durch das Kellerfenster oder die Terrassentür.
Die Stunden, bis Brigitte endlich kommt, verbringe ich damit, ihre Süßigkeitenschublade zu leeren. Da sind sogar noch Dominosteine und Lebkuchenherzen drin – es ist mir ein Rätsel, wie die bei Brigitte so lange überleben konnten. Die Schublade scheint eine Art Reservat für vom Aussterben bedrohte Schleckereien zu sein. Aber was machen die Häkelnadel und die braune Wolle darin? Ich nehme eine bereits vollendete Handarbeit genauer in Augenschein: Es ist ein etwas schief geratener ... Dominostein? Ich glaub's ja nicht: Brigitte häkelt jetzt Süßigkeiten! Das scheint ihre neueste Masche zu sein.
Wahllos stopfe ich historische Kalorien in mich herein und blättere dabei in den Zeitschriften, die auf dem Beistelltisch gestapelt liegen. Ein Heft namens Vinum stellt »Deutschlands junge Weinweiber« vor, lauter erfolgreiche Winzerinnen. So eine wäre Brigitte auch gerne. Sie hat ein Ziel, einen Plan. Sie wird dafür sorgen, dass ihre Träume wahr werden. Und ich? Nicht drüber nachdenken!
Unter dem Vinum-Heft liegt eine handgeschriebene Liste. Ich muss grinsen. Die Liste! Oben drüber steht TO DO Vor meinem 30. Geburtstag. Die fünf DIN-A4-Zettel sind eng beschrieben mit Aktivitäten, alphabetisch sortiert von »Alte Apfelsorten retten« über »Bumerang schnitzen« und »Kanuwandern in Skandinavien« bis zum »Zeitkapsel verbuddeln für die Nachwelt«.
Wir haben vor ein paar Jahren gemeinsam
beschlossen, solche Listen zu schreiben – und sie auch umzusetzen.
Ich bin beim Schreiben allerdings gerade mal bis D gekommen:
Apfelkuchen essen
Bickbeeren suchen
Canasta spielen
Dörrobst
zubereiten
Brigitte meinte damals allerdings schon, dass »Apfelkuchen essen« nicht zählt, weil ich das quasi jeden Tag machte – ich hatte da wirklich gerade so eine Phase –, dass ich »Bickbeeren suchen« nicht abhaken dürfte, weil ich das vor Jahren zuletzt gemacht hätte – es sollte sich schließlich nicht um eine Liste mit Kindheitserinnerungen handeln, sondern wir wollten zukunftsorientiert sein. Dasselbe würde für »Canasta spielen« gelten, habe ich auch immer mit meiner Oma gemacht. Und »Dörrobst zubereiten« hieße nicht, Äpfel in der Obstschale vertrocknen zu lassen. Dass Brigitte auch immer alles so genau nehmen muss! Ich hatte mir vorgenommen, meine Liste irgendwann zu vervollständigen, aber ich weiß nicht mehr, wo ich sie hingelegt habe.
Brigitte hat sich übrigens die Freiheit genommen, ihre Liste nicht der Reihe nach abzuarbeiten, sondern kreuz und quer. »Warum sollte ich mir ein vorgefertigtes System aufzwingen?«, ist ihre Erklärung für diese Sprunghaftigkeit. Sonst nimmt sie das mit der Liste aber sehr genau: Ungefähr zwei Drittel aller Aktivitäten sind inzwischen mit einem sauberen, weinroten Häkchen als erledigt markiert. Ich staune, was sie alles gemacht hat.
Und plötzlich weiß ich es: Brigitte wird
fortgehen. Weg aus dem Dorf. Und zwar nicht erst »irgendwann«, zu
einem absolut unbestimmten, fernen Zeitpunkt, wie ich mir immer
einrede. Wenn sie diese Liste erledigt hat, kommt der Weinberg. Das
heißt, der kommt natürlich nicht zu ihr, sondern sie geht zum Berg.
Wer weiß, wohin. Und ich werde hier zurückbleiben. Ohne Freundin.
Ohne Job. Ohne Verlobten. Ohne Perspektive. Das war mir vorher noch
nie so klar. Ich heule ein bisschen. Zu recht, wie ich
finde.
»Hey«, sagt Brigitte und lässt sich neben mir auf das Sofa fallen, »hast du einen guten Grund zum Heulen?«
»Mehrere«, schniefe ich, erleichtert, dass sie endlich da ist.
Brigitte reicht mir eine Packung Taschentücher, holt einen angefangenen Häkelspekulatius samt Originalvorlage aus der Schublade und fordert mich auf: »Erzähl mal!«
»Ich bin meinen Job los.«
»Scheiße. Warum das denn?«
»Sie haben jetzt einen Geldautomaten. Der kann das wahrscheinlich besser.«
»Bestimmt. Und er passt farblich garantiert besser zum Teppich.«
Mir gelingt ein schlappes Grinsen. »Und Heiner geht fremd.«
»Mit dem Geldautomaten?«
»Mit Monique.«
»Nein!« Brigittes Mund bleibt offen. Sie glaubt mir nicht. Warum auch? Das ganze ist einfach zu absurd.
»Doch. Ich habe beide gesehen. Im Laub in meinem Wäldchen. Monique trug nur noch einen String, den man mit der Hand waschen muss.«
»Interessant, worauf du alles achtest.«
»Das war irgendwie nicht zu übersehen.« Ich muss wieder heulen.
»Heiner ist ein echter Drecksack«, stellt Brigitte zwei Taschentücher später fest. »Und Monique konnte ich noch nie leiden. Die passen ganz gut zusammen.«
Ich schluchze auf.
»Entschuldigung. So war das nicht gemeint. Da hat der Idiot zuhause die tollste Frau, die man sich denken kann, und er macht sich an diese intrigante Lockenstümperin heran. Silke, du hast was Besseres verdient.«
»Es gibt nichts besseres«, behaupte ich schwach und greife nach dem letzten Dominostein.
»Nichts Besseres als Heiner? Nichts Besseres als diesen langweiligen, unkommunikativen, humorlosen, schlaffen, unattraktiven, uncharmanten Blödmann? Ist das dein Ernst?« Sie funkelt mich an. »Ich hatte das Gefühl, dass es in letzter Zeit sowieso nicht mehr so prickelnd zwischen euch läuft. Deshalb schien mir die Idee mit dem Hausbau auch so unpassend. Habe ich mich da getäuscht?«
Nein. Sie hat sich nicht getäuscht. Sie hat alles durchschaut. Trotzdem will ich es noch nicht wahrhaben. »Aber es war doch gerade alles so ... schön.« Das Wort hört sich falsch an, kaum dass ich es ausgesprochen habe.
»Wenn du schön durch bequem ersetzt, dann stimmt der Satz.« Brigitte ist knallhart. Und ehrlich. Ehrlicher als ich selbst zu mir.
Ich muss endlich zugeben: »Doch, ich kann mir etwas Besseres vorstellen. Nicht wirklich vorstellen, nein, das wäre zuviel. Aber ich habe da so eine Ahnung. Und es ist wahr, so toll lief es mit uns schon lange nicht mehr. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie es war, in Heiner verliebt zu sein.« Ich schniefe einmal versuchsweise, aber ich merke, dass keine Tränen mehr kommen. Stattdessen kann ich nicht mehr aufhören zu reden. »Ich frage mich sogar, ob ich überhaupt jemals in ihn verliebt war. Das muss ja wohl so gewesen sein, irgendwann, doch allein der Gedanke kommt mir inzwischen irgendwie fremd vor. Aber ich dachte, das ist eben so. Ich dachte, dass das Leben mit ihm einfach so weiter gehen kann, und dass das schon richtig so ist. Es hat einfach ... gepasst.«
»Und jetzt passt es nicht mehr?«
»Genau. Mein Leben ist ein Trümmerhaufen. Ich habe keinen Job mehr, ich habe keinen Verlobten mehr, und wahrscheinlich stehen zuhause schon die gepackten Koffer für mich bereit, dann habe ich auch kein Dach mehr über dem Kopf. Und ich habe keine Idee, wie es weitergehen soll.«
Brigitte überlegt, während sie eine Flasche Wein entkorkt und zwei Gläser auf den Tisch stellt. Sie schenkt ein, schwenkt den Wein im Glas und nimmt einen Schluck.
»Hmm. Mal eine praktische Frage: Weiß Heiner, dass du weißt, dass er fremdgeht? Haben die beiden dich gesehen?«
»Nein.«
»Gut. Das gibt dir Zeit zum Nachdenken. Und hat Monique nicht eigentlich eine Affäre mit dem Bürgermeister?«
»Das dachte ich auch immer. Der tut doch alles für sie – ebnet sogar den Weg für ihr beknacktes Aerobic-Center. Bei dem Landfrauenabend, zu dem ich neulich mit musste, hieß es, er würde sogar den Bebauungsplan ändern.«
»Aha!« Brigitte sieht aus, als wäre ihr eine Lichterkette aufgegangen. »Weißt du denn, wo das Aerobic-Ding gebaut werden soll?«
»Nö, keine Ahnung.« Es gibt im Moment auch kaum etwas, was mich weniger interessiert. »Ich gehe da bestimmt nicht hin.«
»Niemand wird da hingehen«, sagt Brigitte triumphierend. »Denn es wird dieses Aerobic-Center nie geben.«
»Wieso nicht? Seit wann kannst du hellsehen?«
»Ich kann nicht hellsehen, ich füge nur die Informationspuzzleteile zusammen: Monique will das Aerobic-Center nämlich auf deiner Wiese bauen lassen. Ich habe das Gerücht neulich gehört, aber nichts drauf gegeben, weil ich dachte, der Bebauungsplan schließt das ohnehin völlig aus. Wenn aber der Bebauungsplan nun geändert wird, ist plötzlich alles möglich. Und an Heiner macht sich Monique bestimmt nur ran, um günstig an die Wiese zu kommen. Wahrscheinlich hat er ihr erzählt, dass das Land ihm gehört.«
Ich bin baff. Das klingt alles so logisch! Bescheuert, aber doch logisch. Und so einfach. »Ist ja schön, dass hier im Dorf nichts verborgen bleibt«, sage ich mit einer Spur von Bitterkeit. Wahrscheinlich hat sich die Geschichte meiner Arbeitslosigkeit auch schon wie ein Lauffeuer verbreitet.
»Man muss nur seine Quellen haben«, antwortet Brigitte ungerührt. »Und eins sage ich dir: Mit Monique, diesem intriganten Weibsbild, nimmst du es doch locker auf.«
»Du meinst, ich soll um Heiner kämpfen?«, frage ich verblüfft.
»Blödsinn! Nicht um Heiner sollst du kämpfen, sondern um dich, deinen Stolz, deine Ehre. Außerdem wollen wir doch etwas Spaß haben, oder? Sähe es uns ähnlich, diesen hergelaufenen Hupfdohlen buchstäblich das Feld – dein Feld! – zu räumen?«
Wohl kaum. Ich fasse etwas Mut.
Brigitte und ich beschickern uns mit dem hervorragenden Rotwein und werden immer alberner. Irgendwann fällt mir der Anruf von vorhin im Laub ein. Es war ja mein Telefon, das geklingelt hat. Auf meiner Mailbox ist eine Nachricht von Herrn Wesseltöft! Woher hat der denn meine Nummer? Ach, die hat Mutti ja in seinen Fragebögen angegeben.
»Liebe Frau Meiners, hier spricht Wesseltöft. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, den Sie nicht ablehnen sollten. Sie haben die einmalige Gelegenheit, ein Haus zu gewinnen! Und ich versichere Ihnen, Sie wären meine persönliche Traumkandidatin. Darf ich Ihnen die Teilnahmeunterlagen schicken? Ich bin mir fast sicher, dass Sie gewinnen werden!«
Ich bin hin und weg. Seine Stimme klingt noch verführerischer, als ich sie in Erinnerung hatte. Wie geschmolzene Zartbitterschokolade. Wie das Schnurren eines sehr, sehr schmusigen Katers.
»Er hat mich Traumkandidatin genannt!«, erkläre ich Brigitte verzückt. Hach! Sie sieht mich irritiert an. Ich spiele ihr die Nachricht vor und erzähle ihr alles – inklusive der missglückten Hausfrauenerotikphantasien.
Brigitte lacht sich kringelig und pflichtet mir bei, dass die Stimme außerordentlich verlockend klingt und dass es ein gutes Zeichen ist, dass Herr Wesseltöft bei mir anruft. »Ich wusste ja gar nicht, dass du noch ein Eisen im Feuer hast«, sagt sie.
»Man muss die Männer schmieden, solange sie heiß sind«, sage ich, ob des Weinkonsums etwas nuschelig, und habe schon viel bessere Laune. »Ach, was würde ich darum geben zu wissen, ob das etwas werden kann mit ihm ...«
»Lass uns das Bunte-Orakel spielen«, schlägt Brigitte vor. »Und dann überlegen wir uns, was wir mit Monique machen.« Das Bunte-Orakel ist ein Spiel, dass sie vor ein paar Jahren erfunden hat. Es geht so: Man stellt eine Frage, die die eigene Zukunft betrifft. Dann muss man mit geschlossenen Augen die aktuelle Ausgabe der Bunte aufschlagen und mit dem Finger auf eine Seite tippen. Der Satz, auf den der Finger zeigt, enthält die Antwort auf die Frage. Das Ganze fordert natürlich eine gewisse Auslegungsfreude und Interpretationsgabe. Es funktioniert am besten, wenn man etwas angeduselt ist. Und man kann es natürlich nicht mit jedem spielen. Eigentlich geht es nur mit Brigitte.
Sie reicht mir das knallige Heft. Auf dem Cover steht groß: Hat diese Ehe eine Chance? Gemeint sind eine wilde Prinzessin und ihr derzeitiger Mann, ein Zirkusartist, oder Bauarbeiter, oder war er doch Profi-Fußballer? Er schuftet – sie sonnt sich am Strand, heißt es weiter. Warum denn nicht? Ich hätte gegen eine solche Ehe nichts einzuwenden. Ich läge gerne am Strand, während mein Mann arbeitet. Wenn ich sicher sein könnte, dass mein Mann auch wirklich arbeitet und sich nicht seinerseits im Gehölz wälzt. Ich muss wieder an Heiner denken.
»Das Titelblatt zählt nicht. Fang an, stell eine Frage!«, befiehlt Brigitte, die mir meine finsteren Gedanken immer ansieht.
»Okay. Fangen wir mal ganz vorsichtig an: Wo werde ich wohnen?« Ich schließe die Augen, flippe durch die Seiten, schlage das Heft auf, gleite mit dem Zeigefinger über die linke Seite und stoppe im unteren Drittel – da steht erfahrungsgemäß der meiste Text. Ich bin eine erfahrene Oraklerin. Ich öffne die Augen und lese vor: »Schlösser, Palais, Villen hat er gecheckt, aber noch ist kein Mietvertrag unterschrieben.« Es geht um Tom Cruise, der in Berlin einen Film drehen wird.
»Wie langweilig«, stöhnt Brigitte. »Das muss man ja gar nicht mehr deuten. Das ist ja Klartext.«
»Vielleicht habe ich das Orakel unterfordert«, vermute ich. Und denke doch einen Moment sehnsuchtsvoll an eine gemeinsame Villa mit dem Tom Cruise der Massivhaus-Fachverkäufer.
»Lass mich mal!« Brigitte greift nach der Zeitschrift. »Was muss ich tun, um endlich ein Weingut zu bekommen?« Die Antwort des Orakels: »Für den French-Color-Look muss man nicht ins Nagelstudio. Die Lackarbeiten schafft jeder allein.«
Schon wieder eine eindeutige Aussage: Brigitte muss sich eben ranhalten. Sie wird ihr Weingut bekommen. Das ist anscheinend nicht nur ihr und mir klar, sondern auch der Bunte.
»Ich kann doch gar kein Französisch«, stöhnt Brigitte trotzdem. »Und was bitte ist denn der French-Color-Look?«
»Das sieht so aus, als hätte diese Dame hier die Hände zu heiß in Smarties gebadet.«
»Prima«, sagt Brigitte und sieht sich das Foto an, »da kann ich ja sämtliche Nagellackreste verbraten – aus den Achtzigern, Neunzigern und die Besten von heute. Und das soll ein Trend sein?«
»Sieht so aus.«
»Mir fällt dazu eine Frage ein: Liebes Orakel, sollen wir im French-Color-Look zum Feuerwehrball gehen?« Daraufhin erfahren wir, dass die natürliche Sollbruchstelle des Mannes seine Leiste ist.
»Was soll das bedeuten?«
»Ist doch ganz klar«, meint Brigitte, »beim Feuerwehrball klappt jemand zusammen, weil er so hingerissen von unserem French-Color-Look ist. Oder: Die Männer werden uns zu Füssen liegen.«
»Bestimmt«, lache ich. »Aber nun das Wichtigste: Was machen wir mit Monique?« Auch darauf weiß die Bunte eine Antwort: »Jette Joop besitzt die Möpse Emily und Lucky aber auf Veranstaltungen nimmt sie sie ungern mit.«
»Das zielt doch ganz deutlich auf Moniques Nacktkalender-Projekt«, analysiert Brigitte messerscharf und nimmt einen weiteren Schluck Rotwein, »mit dem sie das Aerobic-Center finanzieren will. Eigentlich müsste das heißen: Sie nimmt ihre Möpse gerne zu Veranstaltungen mit. Das ist ein Druckfehler. Oder das Orakel will uns in die Irre führen. Auf jeden Fall hat es was mit Möpsen zu tun.« Brigitte kichert albern.
»Aber was machen wir nun mit Monique?«, will ich wissen.
»Wir besuchen sie.«
»Nee, Brigitte, das ist nicht dein Ernst!« Ich bin schockiert.
»Doch, klar, wir müssen den Feind gründlich studieren. Ich habe gehört, dass sich die Bewerberinnen für den Kalender heute bei Monique treffen.«
»Zu denen wir ja nun kaum gehören«, wende ich ein.
»Noch nicht.«
Ich schüttele entschlossen den Kopf. »Nicht mit mir!« Aber Brigitte startet einen Killermonolog über erfolgreiche Spionagemethoden, an dessen Ende ich so platt bin, dass ich mich sogar widerstandslos zu einem Freeclimbingwettbewerb auf dem Eiffelturm angemeldet hätte. Ich weiß auch nicht, was nun schlimmer wäre: Zu Monique zu gehen oder ungebremst auf Paris hinab zu stürzen ...
Brigitte zieht mich schon ins Bad und nötigt mir etwas Lippenstift auf. »Wir wollen uns da ja nicht nackt blicken lassen«, sagt sie.
»Wie ist denn nun der Plan?«
»Wir finden bei dem Treffen erst mal heraus, wie das mit dem Kalender so ablaufen soll. Wann der Fotograf kommt, wer wo fotografiert wird und so. Und dann überlegen wir uns was Hübsches.« Brigitte tupft sich etwas Glitzer aufs Dekolletee. Ich wehre ihre funkelnden Finger, die auch zu mir herüber langen, mit Mühe ab.
»Stellst du dir das nicht ein wenig einfach vor?«, unke ich.
»Du wirst sehen«, sagt Brigitte, »es wird noch
viel einfacher!«
Für mich wird es erst mal viel schwieriger. Brigitte drückt heftig auf den Klingelkopf über dem Namensschildchen aus gebürstetem Stahl, in das in Schreibschrift Monique eingraviert ist, und mir wird so übel, als hätte sie mir den Finger direkt in den Magen gebohrt. Ich kotze rasch und möglichst unauffällig hinter einen Busch in den gepflegten Vorgarten. Als ich mir den Mund abtupfe, öffnet sich die Tür.
Monique guckt einen Moment verdutzt, denn mit uns hat sie nun wirklich nicht gerechnet.
»Sigrun hat gesagt, es wäre okay, wenn wir auch kommen«, säuselt Brigitte in ungewohnt hoher Stimmlage und bezieht sich dabei auf eine von Moniques Hofdamen. »Sie meinte, ihr braucht vielleicht doch noch Hilfe bei der tollen Charity-Aktion, die du dir ausgedacht hast. Du bist ja sooooo kreativ!«
Unsere unfreiwillige Gastgeberin lächelt verwirrt und geschmeichelt und hebt mit einer gezierten Bewegung ihre rechte Hand zum Kopf, als müsste sie die Frisur richten. Auf ihrem zur Löwenmähne toupierten Haar sitzt eine Art Geweih aus funkelnden Strasssteinchen. Sie trägt Leggings und ein Shirt mit Fledermausärmeln, der Ausschnitt rutscht etwas und gibt den Blick auf den linken BH-Träger und die dazugehörige Schulter frei. Ihr Outfit ist komplett in Leopardenmuster gehalten. Geweih, Fledermausärmel, Raubkatzenmuster – und Spatzenhirn, ergänze ich gehässig –: Sie sieht aus wie diese seltsamen Fabelwesen, die in bayerischen Souvenirläden verkauft werden. Wolpertinger heißen die, glaube ich.
»Du siehst ja määäärchenhaft aus«, flötet Brigitte einschmeichelnd weiter. Sie erzielt den gewünschten Effekt: Monique bittet uns hinein.
Wir nehmen zwischen den Möchtegern-Models in der Sitzecke Platz. Es gibt ein Sofa, das über Eck geht, dazu zwei Sessel mit dem gleichen unbeschreiblichen Muster. Der Grundton ist irgendwie beige, darauf verschlingen sich florale und grafische Motive. Ich meine, mehrere Dreiecke zu erkennen, die eine Lilie angreifen, die sich wiederum hinter ein paar kreuz und quer angeordneten Schlangenlinien und einer Urwaldimpression zu verstecken versucht. Was für Drogen mag der Textildesigner genommen haben? Was mag in seinen unergründlichen Hirnwindungen vorgegangen sein? Hat er sich etwas dabei gedacht, oder hat er nur etwas Mustermüll zu einem misslungenen Designomelette verquirlt? Eines muss man dem Dekor lassen: Flecken sieht man darauf garantiert nicht. Dafür auf dem cremefarbenen, hochflorigem Velourteppich. Der Clou des Sofas bleibt mir verborgen, bis Monique ihn vorführt. In der Mitte kann man ein Element umklappen, darunter kommen kleine Schälchen für Erdnüsse und Salzstangen zu Vorschein – und ein Mini-Roulette-Tisch.
»Deswegen heißt diese Sitzlandschaft Modell Casino«, erläutert unsere Gastgeberin stolz. »Sie ist sogar abwaschbar.« Sie streichelt zärtlich über die Polster und sieht mich strafend an, als mir das Mon Cherie, das ich mir vom Tisch genommen habe, aus der Hand fällt und über die Sitzfläche auf den Teppich hüpft. »Ich habe mir erst überlegt, keine dunklen Lebensmittel oder Getränke zu servieren«, sagt sie. »Aber dann dachte ich: Nein, wie spießig.« Sie eilt in die Küche und kommt mit einem Putzlappen wieder, mit dem sie energisch den Hauch von Schokolade verreibt, den mein Kamikaze-Cherie auf dem Velour hinterlassen hat. »Das ist Microfaser«, stößt sie etwas gepresst hervor, »damit geht jeder Fleck wieder raus.«
So ist Monique. Aus allem macht sie eine Show. Sie ist eine personifizierte Dauerwerbeverkaufssendung. Es geht auch nonstop weiter: »Habt ihr schon meine neueste Neuerwerbung gesehen?«, fragt sie in die Runde und fährt, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Das ist meine Designer-Tischleuchte Mikado. Die acht LED-Sticks sind frei in der Lampe positionierbar.« Wie ein gelerntes Vorführ-Model deutet sie auf etwas, das aussieht wie ein überdimensionierter Zahnstocherhalter: einen Würfel mit verschieden langen Chromstäbchen darin, die an den Enden farbig vor sich hin funzeln. Dieses Wunderwerk des Geschmacks steht auf einer komplizierten Tischkonstruktion, die sich aus zwei verschiedengroßen, gläsernen Halbkreisen auf einem – natürlich – Chromgestell zusammensetzt. Der kleinere Halbkreis hat Räder, man kann ihn unter den größeren schwenken. Bei dieser Aktion würde allerdings die Lampe geköpft werden. Und das wäre wohl kaum im Sinne der so gar nicht spießigen Besitzerin.
Ich frage mich, warum Monique überhaupt so viel Wert darauf legt, nicht spießig zu sein. Was ist für so eine Frau, die anscheinend Texte aus Möbelprospekten auswendig lernt, überhaupt spießig – außer Angst vor Flecken auf dem Teppich? Sind geregelte Mahlzeiten spießig? Oder ist es spießig, einen Kombi zu fahren? Findet sie mich spießig, weil ich demnächst in einem Fertighaus wohne?
Moment! Erstens: Was interessiert es mich, wie Monique mich findet? Die Meinung dieser Schlampe kann mir doch wirklich egal sein! Und zweitens: Ich werde kein Haus mit Heiner bauen. Nicht, wenn er mir nicht eine gute Erklärung für das liefern kann, was ich gesehen habe. Und was soll das schon für eine Erklärung sein? So was wie: »Schatz, es ist nicht, wie du denkst?« Ach, bitte! Es ist doch immer genau so, wie man denkt. Das weiß ich ganz sicher, zwar nicht aus Erfahrung, aber zumindest aus dem Fernsehen. Ich will keine Frau sein, die auf schlappe Ausreden reinfällt, nur um ihre finanzielle Existenzgrundlage nicht zu verspielen. Verdammt, daran habe ich noch gar nicht gedacht: Mit dem Geld wird es ja jetzt auch eng werden. Kein Job, kein Freund, kein Geld, kein Sex. Keine Zukunftsperspektive. Da wären wir wieder: Willkommen in der Sackgasse!
Doch bevor ich ins dumpfe Brüten verfalle, das sich angesichts des Sofamusters schnell zu einer ernsthaften Depression auswachsen könnte, stupst mich Brigitte an.
Monique klatscht in die Hände: »Meine Damen, meine Damen«, ruft sie geziert, als wäre sie die Herzogin von Soundso und wir ihre Gesellschafterinnen. Alle sehen sie an.
Monique beginnt, ihr Kalendervorhaben ausführlich zu erläutern. Hochglanz soll er werden, die Fotos sollen »künstlerisch wertvoll« sein. Sie habe da auch schon einen Fotografen an der Hand: »Einen Top-Profi, der sogar schon für den Playboy gearbeitet hat.« Die Damen sind beeindruckt.
»Es wird äußerst professionell zugehen«, erklärt Monique und lässt sich dann in einem längeren Monolog über die Strapazen des Model-Daseins aus. »Man muss immer pünktlich sein, stets ausgeschlafen, die zart gebräunte Haut darf keine Bikinistreifen haben.« Auf keinen Fall dürfe man dem Fotografen widersprechen, man müsse Talent fürs Posieren haben und einen starken Ausdruck, man sollte fotogen sein und natürlich sehr zeigefreudig. Die letztgenannte Anforderung lässt die meisten Anwesenden schlucken.
»Für zwölf Kalenderblätter brauche man zwölf Models aber die haben wir ja zum Glück schon allein beisammen«, fährt Monique fort und zählt, mit einem süffisanten Seitenblick zu Brigitte und mir, ihren anwesenden Fanclub durch.
Elf.
Eine fehlt, um das Jahr rund zu machen.
Monique dreht sich suchend um, lässt ihren Blick wie Suchstrahler durch den Raum wandern, als könnte sich in der modernen Wohnwand in zeitloser Buche-Optik noch eine mögliche Modelkandidatin verborgen halten.
»Na, dann ist es ja gut, dass wir vorbeigekommen sind«, meldet sich Brigitte zu Wort und strahlt Monique an. »Silke springt natürlich gerne ein! Du hast ja sicher schon gehört, dass Natalies Freund ihr verboten hat, sich vor der Kamera auszuziehen, oder?« Manchmal erschreckt es mich, wie gut Brigitte informiert ist. Offensichtlich hat Monique nämlich noch nichts davon gehört.
Doch sie fängt sich recht schnell wieder. »Ja? Nun ... das ist schön. Also weiter. Ich werde Miss Juli sein«, verkündet Monique und rückt ihr Glitzergeweih zurecht, »denn ich bin ein Sommertyp! Außerdem habe ich im Juli Geburtstag.« Sofort geht wildes Geschnatter los, wer welchen Monat repräsentieren möchte; vor allem um den Mai und den Juni gibt es heftiges Gezerre. Ich bekomme den unbeliebtesten Monat zugeteilt: den November. Das klingt schon so trübsinnig nach Volkstrauertag. Soll ich mich vielleicht vor dem Kriegerdenkmal räkeln? Irgendwas läuft hier mal wieder total verkehrt: Ich wollte doch gar nicht mitmachen! Das flüstere ich Brigitte ins Ohr: »Ich will nicht!«
»Psst!«, ranzt sie mich an. Gemeinsam lauschen wir weiter Moniques Ausführungen, die an einem interessanten Punkt angekommen sind: Die Verteilung der Motive und der Fototermine. Eines muss man ihr lassen: Sie ist gut organisiert. Naja, vielleicht doch nicht so gut, denn es steht bislang doch nur ein Fototermin fest: ihrer. Am Mittwochabend. Im Feuerwehrhaus. »Das hat so eine besonders sinnliche Atmosphäre«, schnurrt Miss Juli. »Diese großen, roten Feuerwehrautos! Diese dicken Schläuche!«
Brigitte grinst. »Das ist ja besser, als ich gehofft habe. Ich habe da auch schon eine Idee ...«, raunt sie mir zu.
Monique hat gesehen, dass wir die Köpfe zusammenstecken, und wirft uns einen strengen Blick zu: »Was gibt es?«
»Tolle Idee, wirklich toll!«, beteuern wir leutselig, wobei das Brigitte deutlich glaubwürdiger gelingt als mir. »Was Besseres wäre uns nie eingefallen!«
Monique wirft uns noch einen skeptischen Blick zu und verteilt dann eine Liste, auf der wir, die zukünftigen Erotik-Kalender-Modelle, den uns zugeteilten Monat, unsere Telefonnummern und Termine, an denen wir Zeit haben, notieren müssen. Der Top-Profifotograf mit einschlägiger Erfahrung in künstlerischer Erotikfotografie würde sich dann bei uns melden und alles weitere absprechen. »Und bis dahin: Keine Bikinistreifen! Aber eine zarte Bräune!«
Ich bin kurz versucht zu fragen, warum Miss November denn unbedingt einen Café-Latte-Teint haben muss, ob da nicht ein anregendes Totenbleich besser käme, doch Brigitte zieht mich schon gen Ausgang. »Wir wissen alles, was wir wissen wollten!«, zischt sie mir zu.
Monique guckt schon wieder misstrauisch. Brigitte wiederholt daher mit betont deutlicher Stimme: »Wir haben ein schlechtes Gewissen, weil wir wissen, dass wir eigentlich früher ins Bett gehen sollten ... Silke braucht doch jetzt wirklich ihren Schönheitsschlaf!«
Monique nickt zustimmend: »Ja, da hast du wohl Recht.« Sie ist nicht gerade unglücklich darüber, uns schon loszuwerden.
»Und wie ist jetzt dein Plan?«, frage ich Brigitte, als die Haustür hinter uns ins Schloss fällt.
»Wir machen Moniques geheimste Phantasien
wahr«, grinst sie mich an. »Wir bringen etwas Leben in ihr
Miss-Juli-Shooting.«
Auf dem Weg nach Hause komme ich an der
Telefonzelle vorbei. Auf dem Telefon liegt ein gehäkeltes Deckchen,
darauf steht eine Vase mit einem Blumenstrauß. Das sieht sehr
seltsam aus. Graffiti kennt man ja. Aber ein
Verschönerungsanschlag? Merkwürdig. Aber auch irgendwie reizend.
Wer steckt wohl dahinter?
Heiner schläft. Und schnarcht. Muss unheimlich entspannt sein, der Typ. Hat sich ja auch ordentlich ausgetobt. Ich werfe ihm ein paar verächtliche Blicke zu und zögere. Hätte ich nicht besser bei Brigitte bleiben sollen? Ich muss mir eingestehen: Ich bin aus reiner Gewohnheit nach Hause gegangen. Ohne groß darüber nachzudenken. Vielleicht habe ich auch gehofft, dass Heiner nicht da ist. Aber wo sollte er denn auch sein? Bei Monique im Schrank? Das wäre mir auf jeden Fall lieber. Ich könnte auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Aber das ist erstens unbequem, ich sehe gar nicht ein, dass ich als betrogene Arbeitslose auch noch weitere Unannehmlichkeiten ertragen soll, und zweitens ist der Bezug gerade total krümelig und ich müsste erst mal Staubsaugen; das würde Lärm machen, Heiner würde aufwachen, mich zur Rede stellen, seine Eltern würden mit dem Besenstil gegen die Decke klopfen ... der Gedanke ist nicht zu ertragen. Außerdem ist das Schlafzimmer immer noch mein Revier. Also lege ich mich auf meine Seite des Bettes. Als ich mein Kopfkissen aus seinen Klauen befreie, stöhnt Heiner. Denkt wohl an Monique. Soll er es doch genießen, sein Waldbodenabenteuer. Er weiß ja nicht, dass er auch bloß Mittel zum Zweck ist. Ach, ist das alles widerlich. Und gut, dass ich ihn los bin!
Aber ich bin ihn ja noch gar nicht los.
Es ist ja alles wie immer. Nur, dass ich jetzt mehr weiß. Doch noch habe ich keine Ahnung, wie ich damit umgehen werde. Wir liegen da wie eh und je. Heiner auf der rechten Seite, ich auf der linken. Man könnte ein Foto von uns machen und wüsste später nicht, in welchem Jahr es aufgenommen wurde. Äußerlich hat sich nichts verändert. Aber in mir drin brodelt ein Vulkan aus – Spüli. Ja, es fühlt sich an, als würde Spüli durch meine Adern fließen. Irgendwie sauber, aber verkehrt.
Ich dachte immer: Hier gehöre ich her, hier, neben Heiner. Aber nun stimmt das gar nicht. Das verwirrt mich zutiefst.
Um trotz Heiners Schnaufen und meiner
gequirlten Gedanken einschlafen zu können, probiere ich meinen
alten Trick: Ich versuche, meinen Atemrhythmus an Heiners
anzupassen. Ein-aus-eeeeeiiiiin-aaaaauuuus. Funktioniert
nicht. Sonst ging das immer, nun finde ich den Takt nicht mehr. Aus
Ein-aus wird in meinem Kopf
Schwein! Raus!
***
Dienstag, 10. Mai
Am Morgen rufe ich gleich meine Mutter an. Zwar habe ich das Bedürfnis, mich bei ihr auszuheulen und ihr zu erzählen, wie gemein die Welt zu mir ist und wie fies das Schicksal mich behandelt, aber ich vermute, dass das bei ihr nicht so gut ankäme. Vielleicht würde sie mich sogar falsch verstehen und glauben, ich sei an allem Schuld. Das ist sogar sehr wahrscheinlich, denn sie neigt dazu, mich für mein Leben verantwortlich zu machen. Und eine solche wenig mitfühlende Ansicht kann ich im Moment gar nicht brauchen, also sage ich bloß: »Hallo Mutti, ich habe mir ein paar Tage frei genommen. Wollen wir etwas zusammen unternehmen?«
»Wieso hast du dir frei genommen?« Vom anderen Ende der Leitung schlägt mir Skepsis wie ein nasser Putzlappen entgegen. Dabei fällt mir ein, ich könnte ja auch mal wieder putzen. »Ich möchte mich mal wieder meinem Haushalt widmen«, antworte ich. Das glaubt die nie.
»Das glaube ich nicht. Das ist so gar nicht deine Art.« Meine Mutter kennt mich.
»Du hast Recht, wie immer. Nein, es ist wegen des Umbaus in der Bank. Da geht es drunter und drüber, da kommt man eh nicht so richtig zum Arbeiten ...«, sage ich. So ganz gelogen ist das ja nicht. Mein Rauswurf hat ja auch wirklich was mit dem Umbau zu tun.
»Was heißt hier, ich habe immer Recht?«, fragt Mutti, jedoch rein rhetorisch, denn sie redet sofort weiter: »Das will ich ja auch hoffen. Aber jetzt erzähl doch mal von dem Umbau! Das soll ja ganz toll werden, so modern. Mit viel Luft und Pflanzen und so. Hoffentlich kommt endlich dieser schreckliche Teppich weg! Terrakottafliesen wären schön, das würde dem Raum etwas Mediterranes geben. Es soll ja sogar ein Geldautomat aufgestellt werden. So ein Ding ist ja klotzig, das muss man sicher in die Wand einlassen. Was für ein Aufwand. Aber praktisch ist so eine Maschine ja schon.«
Ist sicher praktisch, so ein Geldautomat. Nur blöd, dass er mich meinen Job gekostet hat. Ich bin kurz davor, es Mutti zu erzählen. Zum Glück redet sie ohne Unterbrechung weiter.
»Wir könnten uns etwas Schickes für den Feuerwehrball kaufen. Ich wollte nachher mal im Modehaus vorbeischauen, die haben neue Auswahl bekommen. Da ist für dich bestimmt auch etwas Flottes dabei.«
Bestimmt. Was Flottes. Damit ich beim Feuerwehrball als fescher Feger auftreten kann. Gehe ich überhaupt zum Feuerwehrball? Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Lohnt sich auch nicht: Wenn man hier im Dorf wohnt, geht man zum Feuerwehrball. So ist das eben. Ausreden zählen nicht – nur ganz spektakuläre: »Ich stecke in Afrika in einem Sandsturm fest und muss danach wegen Verdacht auf ansteckende Tropenkrankheiten einen Monat in Quarantäne« könnte gelten, wenn nicht klar wäre, dass zur Feuerwehrballzeit niemand in Urlaub fährt. Grundsätzlich nicht. »Stehe unmittelbar vor der Niederkunft meines Kindes« – keine Ausrede. Kinder kann man notfalls auch auf dem Ball bekommen. »Michael Schumacher hat mich zum Abendessen eingeladen« – zählt nicht: »Bring ihn doch einfach mit«, hieße es dann. Und all das hätte mir sowieso niemand geglaubt. Und mit der Wahrheit – »Heiner betrügt mich, ich bin meinen Job los und habe keine Lust, weiterhin heile Welt zu spielen!« – hätte ich nur Verwunderung hervorgerufen. Heile Welt ist in diesem Dorf das beliebteste Gesellschaftsspiel. Beliebter noch als Serviettenfalten, Wohnzimmer dekorieren und Klatsch verbreiten zusammen. Derjenige, der Heile Welt als Brett- oder Computerspiel umsetzen und in den Handel bringen könnte, würde zweifelsohne schnell zu dem werden, was meine Mutter »eine gute Partie« nennt.
Nein, es führt kein Weg daran vorbei: Ich muss mit ins Modehaus gehen und mich dort festlich ausstaffieren lassen.
»Weißt du schon das Neueste?«, fragt meine Mutter dann.
»Nein«, antworte ich, etwas verwundert. Man sollte doch meinen, dass »das Neueste« einem am Anfang eines Gespräches mitgeteilt wird. Als Top-Nachricht sozusagen, wie man das aus der Tagesschau kennt. Aber nicht bei meiner Mutter. Die guckt erstens keine Tagesschau, weil sie die News eines Privatsenders viel »dynamischer« findet, und zweitens hat sie ihre eigene Dramaturgie. »Was ist denn das Neueste?«
»Der Feuerteufel hat wieder zugeschlagen!« Dramatische Pause. Dann: »Im Nachbardorf ist eine Scheune niedergebrannt. Er treibt sein Unwesen ganz in unserer Nähe! Er zieht seine Kreise enger, und dann ... hach, ich mag gar nicht daran denken!«
»Woran magst du nicht denken?«
»Was ich tun würde, wenn unser Haus brennt.«
»Und was würdest du tun?«, frage ich.
»Ja, eben, das weiß ich doch nicht. Die Feuerwehr rufen, sicher, aber ich weiß nicht, was ich retten würde – außer deinem Vater natürlich. Der Tresor ist ja feuerfest.«
»Na, dann ist ja gut. Papa kann sich wahrscheinlich sogar selber retten. Und warum sollte der Feuerteufel gerade euer Haus anzünden?«
»Soll er ja gar nicht! Aber man weiß ja nie. Wahrscheinlich würde ich die Fotoalben retten. Und ein paar Kleider.«
Meine Eltern verfügen über elfeinhalb laufende Meter Kleiderschrank. Davon sind ein Meter mit Bettwäsche, eineinhalb Meter mit den Hemden und Anzügen meines Vaters und der Rest mit der umfangreichen Garderobe meiner Mutter gefüllt. Sie besitzt noch diverse Abendkleider aus den siebziger und achtziger Jahren, in die sie, wie sie gerne betont »problemlos hineinpasst«, die sie aber natürlich auf keinen Fall noch mal anziehen würde. Aber, wer weiß, irgendwann wird ja alles wieder modern. Mutti findet die Kleiderschrankaufteilung keinesfalls ungerecht. »Dein Vater hat Doppelmeter«, behauptet sie, wenn man sie darauf anspricht. Die würden eben doppelt zählen. Der Ausdruck »Doppelmeter« ist eine Erfindung meiner Mutter und bedeutet in diesem Fall nichts anderes als zwei übereinander gehängte Kleiderstangen. Soviel zu ihrem Gerechtigkeitssinn.
Ich verzichte auf die Frage, welches ihrer Kleider sie denn zuerst vor den Flammen retten würde, und höre mir stattdessen ihre Theorien zum Feuerteufel an.
»Der Täter ist natürlich ein Mann«, analysiert sie, ganz Profi-Profiler. »Frauen machen so etwas nicht. Die schütten ihren Feinden Gift ins Essen. Die wissen, dass Brandstiftung sich nicht lohnt, weil in Deutschland eh alle gut versichert sind.«
»Aha.« Interessantes Frauenbild, finde ich.
»Beim Motiv des Täters gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, er hasst seine Opfer und will ihnen was Böses. Aber das ist eher unwahrscheinlich, denn ich sehe keinen Zusammenhang zwischen den bislang niedergebrannten Gebäuden. Was hat der halbverfallene Schweinestall eines alten Bauern mit der neuen Garage des Ferienhauses reicher Leute aus der Stadt zu tun? Da fehlt mir vielleicht das entscheidende Puzzleteil. Oder, und das ist wahrscheinlicher: Er ist einfach fasziniert von dem Element Feuer. Er mag es, wenn es brennt. Vermutlich ist er sogar in der Freiwilligen Feuerwehr.«
Die präzise Analyse verblüfft mich. Weiß meine Mutter mehr?
Aber sie schwenkt schon wieder um: »Wenn ich es mir recht überlege, würde ich doch keine Kleider retten. Bloß die Fotoalben, die haben ideellen Wert. Alles andere möchte ich mir lieber neu kaufen. Apropos neu kaufen: Kommst du nun mit ins Modehaus?«
»Ja«, sage ich. Was soll ich auch sonst machen?
Ich will so tun, als sei nichts gewesen. Und das geht in
Anwesenheit meiner Mutter immer noch am besten. Erstens bin ich
darin geübt, ihr gegenüber nicht allzu viel von mir preis zu geben,
und zweitens finde ich es sehr bequem, mich einfach in ihrem
Aktionsfluss treiben zu lassen.
Bevor ich zu Mutti gehe, mache ich es mir noch kurz vor dem Fernseher gemütlich. Das ist wohl der einzige Vorteil meiner Arbeitslosigkeit: Ich kann jetzt auch tagsüber fern gucken. Man sieht ganz andere Sachen. Und das ist ja auch viel lehrreicher als immer nur abends diese Krimis und Unterhaltungsshows. Jetzt läuft zum Beispiel eine Dokumentation, die aussieht, als sei sie auf Super 8 aufgenommen worden, dem Familienfilmformat meiner Kindheit. Ein Hubschrauber kommt ins leicht grisselige Bild geflogen, daran hängt ein großes, orangefarbenes Plastikei. Nein, es ist etwas flacher als ein Ei, ein wenig semmelförmig. Ein UFO aus den sechziger Jahren. Damals hat man sich die Zukunft ja noch ganz anders vorgestellt, viel schicker und eleganter und optimistischer. Heute sehen unbekannte Flugobjekte eher aus wie heruntergekommene Planierraupen, aber damals, als meine Mutter noch Mini trug, da waren sie sehr stylish. Der Sprecher (er hat eine markige Stimme, die nach mindestens einer Packung Reval am Tag klingt) sagt aus dem Off: »Das UFO-förmige Futuro-Haus wurde 1968 von dem finnischen Architekten Matti Suuronen als Skihütte und Ferienhaus entworfen. Es wurde aus einem besonderen Kunststoff gefertigt, ist vollständig ausgestattet und bietet Platz für acht Personen.«
Wow, ich bin begeistert. Ein Haus, das man ganz nach Wunsch mal hierhin, mal dorthin transportieren kann vorausgesetzt, man hat den passenden Hubschrauber in der Garage. Auf filigran wirkenden Stelzen steht es in der Gegend herum wie ein nützliches Insekt. Über eine kleine Gangway, die aus dem ovalen Körper ausgeklappt wird, erreicht man das Innere. Es gibt sogar einen – natürlich runden – offenen Kamin in der Mitte.
Ich bin total euphorisiert von dieser raffinierten Wohnidee. Das ist doch mal etwas ganz anderes als die Häuser aus dem Massivhauspark. So schick!
»Es wurden weltweit nur insgesamt zwanzig
Futuro-Häuser gebaut.« Schade, so wenig nur, denke ich. Dann muss
ich los, zu Mutti.
»Wie siehst du denn aus?« Geradezu herzlich kann man die Begrüßung nicht nennen.
»Wie immer«, entgegne ich.
»Das wäre ja schlimm! Du trägst ja Turnschuhe zum Rock. Das sieht plump aus! Du musst sofort andere Schuhe anziehen!« Mutti, die Modepolizei, öffnet die Tür zu ihrem Schuhschrank, zieht ein paar fliederfarbene Kunstledersandalen mit Krokodruck und Pfennigabsatz heraus, überreicht sie mir und befiehlt: »Anziehen!«
Ich gehorche. Zwar finde ich es demütigend, in diesen tussigen Schuhen herumlaufen zu müssen, zudem mir das noch nicht mal besonders elegant gelingt – ich knicke bei jedem zweiten Schritt nach rechts oder links um –, aber was soll ich machen? Einem Streit über Geschmacksfragen, dem härtesten aller möglichen Streitthemen (Politik ist nichts dagegen), fühle ich mich zurzeit einfach nicht gewachsen. Aus lauter Trotz erzähle ich Mutti nichts von den tollen Futuro-Häusern. Sie würde mich ja doch nicht verstehen.
Zum Glück ist der Weg zum Modehaus Redeker nicht weit. Der Laden aus den fünfziger Jahren wurde in den Achtzigern modernisiert, das heißt: mit zahlreichen dreieckigen Spiegeln ausstaffiert. Sogar in der Umkleidekabine geht es zackig zu. Die Chefin und zwei Verkäuferinnen stehen schon bereit. Ich eiere hinter Mutti die Treppe hoch und falle der Boutiquebesitzerin in die Arme.
»Huch!« Sie wankt etwas nach hinten, gegen ein Blusenkarussell.
»Entschuldigung, Frau Redeker«, sage ich.
»Macht doch nichts, Silke. Ist ja nichts passiert«, antwortet sie. So ist das hier: Ich sieze, werde aber geduzt. Das kommt daher, dass mich alle schon seit frühester Kindheit kennen. Und wer damals nicht zur Onkel-Tante-Liga gehört, also dem engeren Freundeskreis meiner Eltern, wurde gesiezt. Das ist bis heute so geblieben.
»Was dürfen wir zeigen«, fragen alle drei Verkäuferinnen im Chor.
»Wir brauchen etwas Schickes für den Feuerwehrball«, antwortet meine Mutter huldvoll. »Flott und festlich, aber nicht zu aufgedonnert.«
»An was hattest du denn gedacht?«, fragt Frau Redeker.
»Ich hätte gerne etwas Klassisches, am liebsten einen Hosenanzug. Für Silke sollte es ein bisschen aktueller sein. Da stelle ich mir eine elegante Schlabberhose mit einem zierlichen Top vor.«
Ich werde nicht gefragt. Eine elegante Schlabberhose? Was soll das denn sein? Ist das nicht schon ein Widerspruch in sich?
Ich frage mal nach: »Wie sieht denn eine elegante Schlabberhose aus?«
»Die ist unten gerafft und aus weichfließendem Material gearbeitet, das kostbar aussieht. So etwas würde deiner Figur schmeicheln«, erklärt Mutti.
Aha. Darum geht es. Die Problemzonen müssen versteckt werden. Denn Probleme und deren Zonen sind in der heilen Welt nicht gefragt.
Die Verkäuferinnen beginnen mit der Präsentation: »Hier hätten wir ein zweiteiliges Set aus Longbluse und Hose in Batikcharakter mit harmonischem Farbverlauf und wellenförmigem Druckmotiv. Die legere Bluse ist mit komfortabel überschnittener Schulter und Seitenschlitzen gearbeitet, die Hose hat einen Rundum-Dehnbund. Die Kombination ist in Schilf und Bordeaux erhältlich.« Passend zum Text schwenkt Frau Redeker eine matschgrüne Kreuzung aus Küchenvorhang, Kartoffelsack und Handarbeitsversuch der dritten Grundschulklasse am Bügel und fordert mich auf: »Silke, zieh das doch mal eben über.«
Als ich aus der Umkleidekabine komme, sehe ich aus, als würde ich zur Entenjagd gehen. Perfekt getarnt, meine Umrisse sind kaum noch zu erkennen. Fehlt nur noch die Lockpfeife und die Flinte.
»Nein, das ist noch nicht ganz das Richtige«, sagt meine Mutter.
»Wie wäre es mit diesem Anzug, der modernes Design mit zeitloser Eleganz verbindet? Die ungefütterte Blusenjacke ist taillenkurz geschnitten und schließt auf drei verdeckte Knöpfe. Die schlanke Hose mit lässiger Schenkelweite und schmalem Bund ist ohne Bundfalte gearbeitet und sitzt besonders bequem«, doziert Frau Redeker fachkundig. Sie hat kürzlich das Seminar In meinem Geschäft bin ich die Königin: Gekonnt verkaufen besucht, auch ein Angebot des Landfrauenvereins.
»Das ist was für mich!«, ruft Mutti entzückt, greift sich das schenkelfreundliche Dreiknopfensemble und huscht in die Umkleidekabine. Ich bleibe in meinem Entenjagddress im Verkaufsraum stehen und sehe mir das Angebot auf den Kleiderständern an. Es überwiegen Blusen in »kombistarken Dessins« (Zitat Frau Redeker), gefolgt von Röcken mittlerer Länge und Hosen, deren Beine unten enger sind als oben.
Mutti tritt schon wieder aus der Kabine und dreht sich vor dem großen Spiegel einmal rasch um die eigene Achse. Frau Redeker und ihre beiden Angestellten brechen spontan in verzücktes Gejubel aus.
»Phantastisch!« – »Wunderbar!« – »Der Anzug steht dir perfekt! Wie elegant und gleichzeitig sportlich du aussiehst! Der ist ja wie für dich gemacht!«
Ich muss zugeben: Sie haben Recht. Mutti sieht wirklich gut aus.
»Den nehme ich«, verkündet sie mit einer weiteren schwungvollen Drehung. »Aus welchem Material ist der?«
»Microsilk. Das sieht besser aus als teure Wolle oder echte Seide, ist knitterfrei und sogar waschbar.«
»Auf dem Schild steht aber 100 Prozent Polyester«, werfe ich nach einer kurzen Inspektion des Pflegeetiketts ein.
»Da sieht man mal, wozu diese modernen High-TechMaterialien in der Lage sind!«, jubiliert meine Mutter. Ich glaube, sie hat mir gar nicht zugehört. »Jetzt brauchen wir nur noch etwas für Silke. Zieh doch mal ein hübsches Kleid an!« Der Anblick des zweiteiligen, entenschnoddergrünen Batiksackes, in dem ich immer noch stecke, scheint eine Strategieänderung erforderlich zu machen. Keine festliche Schlabberhose, sondern etwas Feminineres ist jetzt gefragt.
»Da haben wir etwas ganz Besonderes!« Frau Redeker trägt aus den Tiefen des Raumes eine Menge backsteinfarbenen Stoff herbei. »Das echte Ibiza-Kleid!«
»Wie kommt das denn hierher? Ist es auf einem Schüleraustausch, oder macht es Urlaub?«, versuche ich mich an einem kleinen Scherz. Die Textilfachfrauen lächeln höflich, gehen jedoch nicht weiter darauf ein.
»Es ist authentisch, unkompliziert, verführerisch, wunderbar weich und feminin.« Frau Redeker wirkt, als würde sie einen Gedichtklassiker rezitieren. »Den weiblichen Rundungen folgend schmiegt sich das Oberteil sanft an den Körper.«
Bevor sie anzüglich werden kann, nehme ich das Kleid entgegen und ziehe mich um. Ich verfange mich erst in den Stoffbahnen des weiten Rockes, doch dann erinnere ich mich an einen Zelturlaub und gehe systematisch vor. So geht es, das Kleid passt sogar.
Ich setze mich den prüfenden Blicken meiner Modeberaterinnen aus und frage: »Was bedeutet: Das Kleid ist authentisch?«
»In Ibiza laufen alle so rum«, antwortet Frau Redeker trocken.
»Und hier?«
Frau Redeker merkt, dass sie einen Fehler gemacht hat. Frauen wollen Individualität kaufen und keine Uniform. Rasch steuert sie gegen: »Das ist das einzige Modell im ganzen Landkreis. Ich habe es bei einer internationalen Modemesse entdeckt, man versicherte mir, dass nur ein geringer Teil der Kollektion nach Deutschland geht. Das meiste wird in Paris verkauft. Dort ist das Kleid der Hit der Saison!« Sie sagt Pariiih statt Paris. »Der Busen wird leicht gestützt.« Die beiden Verkäuferinnen zupfen bereits das Dekolletee zurecht. Ich fühle mich sehr feminin, doch mir wäre es lieber, sie würden endlich die Hände von meiner nicht gerade üppigen Oberweite lassen.
»Man sieht deine VPL«, sagt Mutti kritisch.
»Was soll das denn sein? Habe ich so etwas?«
»Schau doch mal richtig in den Spiegel! Das heißt Visible Panty Line. Habe ich neulich im Fernsehen gehört.«
Ich schaue noch etwas genauer hin und sehe, wie sich meine Unterhose leicht abzeichnet. Sieht ein bisschen blöd aus. »Hmmm.«
Weitere Teile der Sommerkollektion werden mir zum Probieren gereicht: Eine »bi-elastische Stretchhose in komfortabler Microfaser, die auch von namhaften Designern verarbeitet wird«, in der ich aussehe wie eine Knackwurst, dazu ein »blickdicht gedoppeltes Blusentop« und einen Blazer »aus innovativem Crash-Leinen«. Ich erinnere mich, dass es mir schon als Kind nicht sonderlich viel Spaß gemacht hat, mich zu verkleiden. Ich fühle mich sehr, sehr fremd, und wünsche mir noch viel mehr blickdichtes Doppel, um die zarten, bi-elastischen Leinen, die einst meine Nerven waren, vor einem Crash zu schützen. Diese Modesprache verwirrt mich.
»Ich nehme das authentisch unkomplizierte Original-Ibiza-Kleid«, entscheide ich. »Trotz der Panty Line.«
»Wir hätten dort hinten ein paar sehr schöne StringTangas. Die sehen edel aus, und es zeichnet sich garantiert nichts mehr ab«, empfiehlt Frau Redeker.
Ich habe die Wahl zwischen zehn winzig kleinen Spitzenfähnchen, die aussehen, als hätte meine Oma bei dem Versuch, ein Taschentuch zu umhäkeln, vorzeitig aufgegeben. Ich suche mir die Unterhose – darf man so ein Fast-Nichts überhaupt noch Unterhose nennen? – mit dem meisten Stoff aus. Man bekommt nicht gerade viel Material für sein Geld.
Aber ich will gut aussehen auf dem
Feuerwehrball. Man soll mir nicht ansehen, wie mies ich mich fühle.
Ich will alles andere als authentisch wirken. Und dafür ist das
Kleid gerade richtig. So sehe ich sonst nämlich nie aus. Fünf Meter
schwingender Rocksaum können eine Menge Selbstbewusstsein
vorgaukeln.
Mit einem gewissen Stolz trage ich meine Beute nach Hause. Nur der String macht mir ein wenig Sorgen. Ich ziehe ihn an und betrachte mich, so gut es geht, im Schlafzimmerspiegel. Ritzenputzer hätte meine Oma diesen Hauch Höschen genannt, der sich zahnseidenartig zwischen meine Hinterbacken drängt und diese in zwei Kontinente teilt, die noch nicht mal ein Handelsabkommen geschlossen haben. Ich frage mich: Wird dieses zarte Folterinstrument einen der oberen Ränge meiner Fehlkauf-Top-Ten belegen? Zurückgeben kann ich es nicht. Erstens möchte ich mir vor Frau Redeker keine Blöße geben, zweitens hätte ich sonst das Problem, dass meine Mutter mir auf dem Feuerwehrball garantiert in regelmäßigen Abständen ein »VPL!« zuzischt, und drittens habe ich schon das Schildchen mit der Waschanleitung herausgetrennt, um nicht wie Monique auszusehen. Ich seufze und betrachte meine fast nackte Rückseite noch einmal im Spiegel. Der Rücken: ganz hübsch. Die Hüften: ausladend. Die Oberschenkel: nicht gerade zierlich, aber auch nicht schwabbelig. Die Waden: würden in der Fußballnationalmannschaft nicht weiter auffallen. Die Fesseln: brauchen High-Heels als akzeptables Lifting. Der Hintern: Wie ein Truthahn im Käfig eines Kanarienvogels. Keine Ahnung, ob mehr Stoff diesen Fleischmassen Einhalt gebieten könnte. Dieser Spitzenschwächling wirkt jedenfalls wie eine zu klein geratene Kaufhaustür am Morgen des Sommerschlussverkaufs. Ein künstlicher Engpass! Vorsätzliche Stoffverknappung! Scheinnotstand! Ich bin mir sicher, dass man mir diesen Mangel an Textilien sogar im Gesicht ansehen wird. Man wird ihn möglicherweise sogar an meiner Stimme hören. Bestimmt schwingt jetzt schon ein spitzenmäßig abgeschnürtes Timbre mit.
Das Telefon klingelt. Ich melde mich wie eine Frau, die nichts als ein knappes Produkt der modernen Dessousindustrie am Leibe trägt: Mit einem tiefergelegten »Hallooooo?«
»Wesseltöft, guten Tag. Spreche ich mit Frau Silke Meiners?«
Ich greife rasch zur Bettdecke, um meine Blöße notdürftig zu verbergen. Okay, in meiner Phantasie hatten wir schon wilden Sex, aber das ist ja nun kein Grund, mich diesem Mann am Telefon nackt zu zeigen.
»Ja«, antworte ich mit möglichst angezogener Stimme. Ich hätte gerne wenigstens ein »Worum geht es denn?« hinzugefügt, aber allein die Tatsache, dass der Protagonist meiner feuchten Träume mich anruft, hat mir die Sprache verschlagen.
»Möchten Sie gerne ein Haus gewinnen?«
»Ja.« Meine Antworten könnten wirklich etwas ausführlicher sein. Bestimmt legt er gleich wieder auf.
»Das ist wunderbar. Ganz wunderbar! Wir verlosen nämlich ein Haus des Typs W2XL Maximum B3.2 ÖSP Primus Luxus. Schlüsselfertig! Und ich wollte Sie auffordern, an unserem Gewinnspiel teilzunehmen. Vielleicht hat Sie meine Nachricht auf Ihrer Handymailbox noch nicht erreicht?«
»Warum gerade ich?« Blöde Frage. Bitte aus dem Protokoll streichen.
»Sie suchen doch ein Haus, oder? Sie waren doch kürzlich mit ihrer Schwester bei uns, nicht wahr?«
Er erinnert sich an mich! Ich habe einen bleibenden Eindruck hinterlassen! Und ein Charmeur ist er auch – zumindest was meine Mutter angeht. Die fände es sicher außerordentlich galant, als »Schwester« von mir angesprochen zu werden.
Mir fällt auf, dass eine Pause im Gespräch entsteht. Anscheinend bin ich wieder mit Text dran. Er hatte mich etwas gefragt. Was war das noch gleich? Ach ja: Ob ich ein Haus suche.
»Ja.«
»Sie machten auch den Eindruck.«
»Welchen Eindruck?«
»Als ob Sie gerne ein Haus hätten.«
»Ach so.«
»Auf jeden Fall würde ich mich freuen, wenn Sie an unserem Gewinnspiel teilnehmen würden. Sie müssen uns nur einen guten Grund nennen, warum gerade Sie das W2XL Maximum B3.2 ÖSP Primus Luxus gewinnen sollten.«
»Da gibt es so einige. Zum Beispiel stoße ich mir im Moment immer den Kopf, wenn ich aufwache. So klein ist das Schlafzimmer.« Hey, ich werde ja richtig redselig. Drei vollständige Sätze in Folge, sogar stotterfrei!
Aber habe ich da gerade »unser Schlafzimmer« gesagt? Damit er gleich denkt: »Bei der Frau habe ich keine Chancen, das will sie mir ganz subtil mitteilen.« Oh, bitte nicht!
Nein, ich bin fast sicher, ich habe »mein Schlafzimmer« gesagt. Oder wenigstens »das Schlafzimmer«. Ja, das habe ich gesagt. Schön neutral. Weiter so.
»Das ist ja ein ganz phantastischer Grund«, lacht Herr Wesseltöft. »Und so originell! Könnte ich das schriftlich bekommen?«
»Ich unterschreibe nichts!« Das ist so ein Reflex von mir, so antworte ich immer. Jetzt habe ich ihn bestimmt verschreckt. Er will mir ein Haus schenken, und ich weigere mich, es anzunehmen. Scheint das Schicksal meines Lebens zu sein. Nur: Muss es sich deshalb ständig wiederholen?
Ich würde mich jetzt gerne dramatisch in einer Kombination aus Ohnmacht und Weinkrampf aufs Bett fallen lassen, so wie in einer ganz miesen TV-Soap, aber das ist nicht mein Stil. Also schicke ich ein kurzes, glockenhelles »Hahahaha!« durch den Hörer, um den Satz als Scherz zu kaschieren.
Herr Wesseltöft lacht zurück, das klingt sehr angenehm, und mir wird schon wieder etwas wohler. »Ich schicke Ihnen einfach das Teilnahmeformular, Sie füllen es aus und schicken es zurück – oder geben Sie es bei mir persönlich ab. Ich möchte doch, dass unser W2XL Maximum B3.2 ÖSP Primus Luxus in gute Hände kommt.«
»Ihr bitte ... was?«
»Das Haus! W2XL Maximum B3.2 ÖSP Primus Luxus ist die Typbezeichnung.«
»Ach so. Komischer Name für ein Haus.«
»Finde ich auch«, antwortet Herr Wesseltöft spontan. Und setzt nach einer kurzen Pause hinzu. »Ist doch wahr. Klingt mehr nach Computer.«
»Dass sie sich den überhaupt merken können.«
»Ich habe bestimmt ein Drittel meiner Ausbildungszeit darauf verwendet, Häusernamen auswendig zu lernen.«
»Und die restlichen zwei Drittel?«
»Habe ich mir überlegt, dass diese Häuser doch auch ganz anders heißen könnten – und ganz anders aussehen.«
»Das denke ich auch manchmal.« Stimmt überhaupt nicht, das habe ich noch nie gedacht. Aber ich möchte ihm einfach zustimmen. Und ich finde, es wäre schön, wenn ich das wenigstens mal gedacht hätte. Ich könnte ja gleich damit anfangen. Ab jetzt stelle ich mir vor, wie die Dinge wären, wenn sie anders wären. Oder einfach nur anders aussähen. Herr Wesseltöft hat Recht: Man muss nicht alles immer als gegeben hinnehmen. Da hätte ich auch selber draufkommen können. Wäre ich bestimmt auch.
»Wir können uns ja weiter darüber unterhalten, wenn Sie mir den ausgefüllten Gewinnspielbogen vorbei bringen. Die Unterlagen wandern heute noch für Sie in die Post. Ich habe Ihre Adresse ja bereits hier auf unserem Infobogen.
Wir gleichen sicherheitshalber noch einmal Straße, Hausnummer und Postleitzahl ab – er, weil er sehr professionell ist, ich, weil ich das Gespräch so gut es eben geht verlängern will. Die Frage, ob ich ihm meinen Vornamen buchstabieren soll, verneint er sehr höflich. Er muss das Gespräch beenden, um neuen Kunden ein Häuser zu verkaufen. Wie viele er wohl im Monat los wird? Und ob die neuen Bewohner manchmal an ihn denken? So wie ich?
Überrascht stelle ich fest: Wenn ich an Herrn
Wesseltöft denke, vergesse ich sogar, dass ich einen String trage.
Aber jetzt schneidet das hauchzarte Etwas wieder mit ungeahnter
Vehemenz zwischen meine Hinterbacken. Und daran soll man sich
gewöhnen?
***
Mittwoch 11. Mai
»Doch, man gewöhnt sich dran«, beruhigt mich Brigitte. »Man gewöhnt sich an alles: An ein überzogenes Konto, an geblümte Vorhänge, an abwesende Liebhaber. Man gewöhnt sich sogar daran, betrogen zu werden. Das ist ja das Schlimme: Wenn sich ein Zustand nur lange genug hält, dann wird er normal. Als wäre das Leben immer schon so gewesen. Und man kann sich gar nicht vorstellen, dass es auch anders sein könnte.«
Wir stehen auf der Wiese hinter ihrem Haus, die direkt an den örtlichen Kinderspielplatz grenzt, und gucken gen Himmel. Hinter uns spielen zwei kleine Jungen im Sandkasten, über uns kreisen ein paar kleine Punkte herum: Brigittes Tauben.
Brigitte zieht eine weitere aus dem Schlag, der neu sein muss; jedenfalls habe ich ihn hier noch nie gesehen. »Warum ist die nicht auch da oben?«, frage ich und deute auf den weißen Vogel.
»Das ist der Dropper.«
»Der was?«
»Guck einfach mal, was passiert.«
Brigitte setzt die persilweiße Pfauentaube auf den Boden, streut etwas Futter aus – und schwenkt ein Fähnchen. Auf dieses Kommando fallen die Tauben plötzlich wie Steine vom Himmel. Sie rauschen knapp an mir vorbei. Die beiden Jungen auf dem Spielplatz bekommen einen Riesenschreck und laufen heulend und schreiend zu ihren Mütter. Ich mache einen Satz nach hinten und fühle mich wie in einer Theateraufführung von Hitchcocks Die Vögel.
»Huch!«, stoße ich hervor. »Was war das denn?«
»Syrische Adanawammentauben!« Brigitte ist sicht- und hörbar stolz auf ihr neues Hobby. »Das sind dressierte Sturzflugtauben. Cool, oder?«
Ich frage lieber nicht nach, ob sie damit einen oder gar zwei Buchstaben auf ihrer To-Do-Liste abhaken kann. »Was ist denn aus deiner Konfekthäkelei geworden?«
»Ach, das sah nachher alles gleich aus. Spekulatius, Lebkuchen, Dominosteine – alles kleine braune Garnklümpchen. Das Handarbeiten überlasse ich doch lieber dem Ideenkreis junger Landfrauen. Tauben sind viel eleganter und passen daher besser zu mir.«
»Wie bist du denn an die Biester gekommen?«
»Hey, wie sprichst du denn von meinen edlen Tieren? Tauben sind die Rennpferde des kleinen Mannes!«
»Du bist weder ein kleiner Mann, noch hast du je etwas für Pferde übrig gehabt.«
»Aber für Modellflugzeuge, erinnerst du dich? Nur sind mir die doch immer kaputtgegangen, und weil ich technisch so unbegabt bin, kann ich die nicht selbst reparieren. Irgendwann habe ich im Fernsehen eine Dokumentation über diese Tauben gesehen, und da wusste ich: Die muss ich haben! Seitdem standen sie auf meiner Liste. Wolfgang hat irgendwo einen Züchter kennen gelernt. Und der hat mir die verkauft.«
Brigitte ist so etwas von konsequent. Und sie entwickelt sich stetig weiter. Früher flogen in ihrem Zimmer ein Kanarienvogel mit Hasenscharte, ein uralter Wellensittich und zwei Papageien mit verkrüppelten Füßen herum. Und auf dem Fensterbrett saß ein Nymphensittich, der Angst vorm Fliegen hatte. Jetzt hat Brigitte ihre Tauben. Und wenn sie sagt, sie hätte gern ein Weingut, dann meint sie das verdammt ernst. Sie wird es bekommen – und ich gönne es ihr, auch wenn mir bei dem Gedanken, dass sie hier einfach wegziehen und mich zurücklassen könnte, angst und bange wird.
»Es wird Zeit!« Brigitte wirft den Tauben noch etwas Futter hin. »Die Show kann beginnen.«