7. Kapitel:
So ein Tag, so wunderschön wie heute ...

Freitag, 13. Mai, später

Ich schaffe es gerade noch nach Hause, bevor das Unwetter losgeht. Dort ziehe ich die Birnendose und die Schokosoßenflasche aus der verschmierten Tüte, spüle sie unter fließend Wasser ab und mache mir eine Birne-Helene-LightVariante: Ich fülle die Kuhle in den Birnenhälften (wo einst das Kerngehäuse war) mit Schokosoße und esse die selbstkreierten Köstlichkeiten gleich aus der Hand. Eine Birnenhälfte passt komplett in meinen Mund, ohne Abbeißen. Köstlich! Allerdings riecht die Leckerei wirklich ein wenig nach der Waschküche von Heiners Mutter, aber darüber möchte ich lieber nicht nachdenken.

Dann lasse ich Wasser in die Wanne einlaufen, weil in jeder Frauenzeitschrift steht, dass ein Bad Wunder wirkt. Dass diese Art von Home-Wellness, wie jedes ordinäre Vollbad heutzutage heißt, unglaublich entspannt, Glückshormone freisetzt und einen neuen Menschen aus einem macht. Normalerweise dusche ich ja lieber, da wird man schneller sauber und hat nicht diese umständlichen Vorbereitungen. Aber ich habe noch knapp vier Stunden bis zum Beginn des Feuerwehrballs, also entscheide ich mich für das volle Programm: Ganzkörperpeeling, Enthaarungscreme an allen entscheidenden Stellen, Feuchtigkeitsmaske und Haarkur. Alles Pröbchen aus Zeitschriften. Schon dafür lohnt es sich, diese Blätter zu kaufen. Ich ziehe mich aus, öffne die winzigen Tütchen und verteile die wohlriechenden Produkte großzügig auf verschiedenen Körperpartien. Hoffentlich komme ich nicht durcheinander: War das mit dem leckeren Aprikosenduft jetzt die Haarkur oder das desodorierende Balsam für müde Füße? Oder etwa die Enthaarungscreme? So ganz ist das ja nicht meine Welt, aber ich werde mir Mühe geben. Monique soll sehen, dass die Konkurrenz nicht schläft. Abgesehen vom Schönheitsschlaf, bei dem die Konkurrenz, also ich, inzwischen großen Vorsprung hat.

Nach hundert Trilliarden Minuten, die ich, um das Ergebnis nicht zu gefährden, in etwas angespannter breitbeiniger Haltung verbracht habe, geben die Härchen in der Bikinizone und an den Beinen vorschriftsgemäß ihren Geist auf und lassen sich fast widerstandslos abschaben. Das dampfend heiße Wasser in der Wanne leuchtet verlockend in blau, weil ich einen entspannenden Badezusatz – besser gesagt: alle Proben mit Badezusätzen, die ich finden konnte, es müssen insgesamt fünf gewesen sein – hinein geschüttet habe. Dann fällt mir ein, was alle Homewellness-Ratgeber dringend empfehlen: Vor dem Bad alles, was man eventuell während des Wannenaufenthaltes braucht, in Reichweite legen. Und ein paar Kerzen anzünden. Das finde ich zwar übertrieben, viel wichtiger finde ich es jedoch, ein paar Leberwurstschnittchen zu schmieren und auf dem Wannenrand zu platzieren. Und weil ich eh in der Küche bin, nehme ich noch ein paar Teelichter mit und stelle sie neben die Brote. Okay, dass sieht ein wenig komisch aus, aber schließlich kommt nicht Schöner wohnen zum Fototermin. Ich hoffe sogar, dass überhaupt niemand kommt.

Natürlich höre ich genau in diesem Moment Schritte auf der Treppe. Heiner! Für den wollte ich doch schön sein! So darf er mich auf keinen Fall sehen, ich habe größere Ähnlichkeit mit einer Schmalzstulle (Griebenschmalz, um es mal deutlich zu sagen), als mit der Partyqueen, die heute Abend beim Feuerwehrball seine Augen überquellen lassen wird. Und sein Herz entflammen, falls er eins hat, nur, um es danach in den Staub zu werfen. Oder, ach, vielleicht behalte ich es dann auch einfach ... Wir werden sehen.

Ich schließe schnell die Tür ab. Sehe, wie die Klinke sich nach unten bewegt. An der Tür gerüttelt wird. Ich verhalte mich ganz still. Hoffentlich geht er wieder weg. Vielleicht überlegt er es sich ja anders. Vielleicht will er ja gar nichts ins Bad. Es gibt hier doch auch noch ein paar andere Zimmer, in denen er sich aufhalten könnte. Mal ein bisschen in der Küche abspülen wäre nicht schlecht. Eine verwegene Vorstellung: Ich aale mich im Schönheitsbad, während der Göttergatte gutgelaunt die Hausarbeit erledigt. Das kommt ja selbst im Fernsehen nur selten vor. Diese ganzen Soaps zeichnen sich zwar nicht gerade durch Realitätsnähe aus, aber so märchenhaft sind sie nun auf wieder nicht.

An der Tür wird wieder gerüttelt, und von der anderen Seite grunzt Heiner: »Ich muss scheißen!«

Mein wohliges Wellnessbeautygefühl inklusive hauswirtschaftendem Märchenprinzen verpufft bei diesen groben Worten. Hatte Heiner je Feingefühl? Lohnt es sich überhaupt, dass ich mich für ihn hübsch mache?

»Weiber«, grummelt der Neandertaler vor der Tür und poltert dann die Treppe hinunter. Genau, denke ich, geh zu Mami, leg das Ei bei deinen Eltern. Auch bezeichnend, dass er von Frauen im Plural spricht. Mehr als eine, das ist für ihn anscheinend Normalzustand. Weiß er eigentlich, wie lange Monique morgens im Bad braucht? Ich schätze mal, ihr Geschwindigkeitsrekord liegt bei ungefähr fünfundneunzig Minuten ohne Haare waschen. Da wird er sich noch wundern, der Heiner.

Endlich lasse ich mich in das doch etwas sehr leuchtend blaue Wasser gleiten. Die diversen Cremes, Masken und Packungen lösen sich von mir und treiben als schillernder Film an der Oberfläche. Man könnte meinen, ich sei in eine Ölpest geraten. Flügellahm sinke ich nach hinten und atme den Lavendelduft ein. Oder war es Rosmarin? Orange? Nelke? Bohnenkraut? Ich habe so viele verschiedene Ingredienzien ins Wasser gekippt, dass ich nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, welche olfaktorischen Reize ich genieße. Egal, was es ist, es wirkt auf jeden Fall ungeheuer einschläfernd. Ich schließe meine Augen für einen kurzen Moment und bemühe mich, das Gesicht ganz locker zu lassen, denn ich habe gelesen, dass man damit Faltenbildung vorbeugen kann. Ich frage mich, wie das wohl aussieht. So lässig, als bekäme ich in meinem Haus in Marbella gerade die neueste Ayurvedamassage verpasst – oder eher, als käme ich vom Zahnarzt und die Betäubung hätte noch nicht nachgelassen? Die Frauen in den Hochglanzmagazinen sehen alle so aus, als würden sie nie auf solche Tricks zurückgreifen müssen, weil sie einfach nicht genug Hautmaterial übrig haben, um überhaupt Falten zu bilden. Das würden sie allerdings nie zugeben, sie sagen einfach: »Ich habe gute Gene.« Das ist schwer zu überprüfen, weil man ja so gut wie nie ihre Mütter und Großmütter kennen lernt. Außer vielleicht im Fall Maria und Margot Hellwig. Da könnte ich allerdings nicht zweifelsfrei identifizieren, wer die Mutter und wer die Tochter ist. Frauen im Dirndl kann ich sowieso nicht auseinanderhalten. Gut, dass sich das Problem in Norddeutschland selten stellt. Ich bin ja geneigt, an die Version mit den guten Genen zu glauben. Meine Mutter ist nämlich so gut wie faltenfrei. Und meine Oma war auch nicht besonders knittrig ...

Ich ziehe mein Ibiza-Kleid und die goldenen Riemchensandaletten an und gehe zum Feuerwehrball. Dort treffe ich Maria und Margot Hellwig, die mich in ein Gespräch über Kunst verwickeln und mich dann darauf aufmerksam machen, dass die Tanzband in diesem Jahr besser ist als im vorigen. Ich sehe zur Bühne, dort steht Freddy Mercury und singt I want to Break free. Dann wollen die beiden Damen Hellwig unbedingt, dass ich ihnen auf ihrer Serviette ein Autogramm gebe. Ich weigere mich, renne davon und versuche, auf ein wolkenkratzerhohes Carport zu klettern. In ungefähr zwanzig Meter Höhe verliere ich den Halt, rutsche ab und stürze in die Tiefe. Glücklicherweise habe ich mich vorher angeseilt, aber Ralf-Georg hat den Knoten geändert und die Schlinge zieht sich jetzt um meinen Hals. Ich bekomme keine Luft mehr. Ich versuche zu schreien, aber es kommt nur ein dumpfes Blubbern aus meinem Mund ...

In dem Moment werde ich wach. Tauche auf. Schnappe nach Luft. Huste. Röchele. Springe dem Tod von der Schippe. Das war knapp! Fast wäre ich ertrunken. Im Aromaölbad. Einsam, ohne Herrn Wesseltöft wiedergesehen zu haben, ohne mich von Brigitte oder meinen Eltern zu verabschieden. Und wenn Heiner dann an meinem Grab gestanden und sich überlegt hätte, was seine letzten Worte zu mir gewesen waren – nein, dass hätte nicht gut ausgesehen für ihn.

Wie lange war ich wohl unter Wasser? Dreißig Minuten oder nur drei Sekunden? Angefühlt hat es sich wie ein ganzer Abend. Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit, die Zukunftsplanung zu vermeiden. Wer keine Zukunft hat, muss auch nicht planen. Aber dafür bin ich nicht der Typ. Kein bisschen suizidal veranlagt.

Dabei wäre das Wetter dafür gerade passend: Draußen schüttet es wie aus Eimern, dazu blitzt und donnert es in Sekundenabständen. Als säße ich unter einem Wellblechdach, auf dem die Einstürzenden Neubauten proben. Brigitte hat mir mal eine Platte von denen vorgespielt, das klang genauso. Der Bandname hat mich aber trotzdem beeindruckt.

Ich lackiere meine Nägel neu, diesmal einfarbig rot, passend zum Kleid, und probiere etwas Lidschatten aus. Smaragd heißt die Farbe, die ich nach Anleitung aus einer weiteren Zeitschrift bis zu den Augenbrauen hoch großzügig auf den Oberlidern verteile. Angeblich braucht man keine Vorkenntnisse und nur fünf Minuten für den Nouvelle-Vague-Look, mit dem vor allem Brünette verführerisch aussehen.

Aus dem Spiegel guckt mich eine Kreuzung aus Panda und Laubfrosch an. Naja, mit etwas Wimperntusche dazu wird es schon gehen. Vielleicht soll das auch so? Geheimnisvolle Reize der Tierwelt. Scheint ja auch Moniques Erfolgsrezept zu sein. Männer sind eben animalisch veranlagt.

Ich lausche an der Tür, ob die heimische Fauna vielleicht während meines Unterwasserintermezzos unbemerkt zurückgekehrt ist. Es ist kein Grunzen, Schnaufen oder Trampeln zu vernehmen. Ich öffne die Tür und gehe in die Küche. Die Leberwurstschnittchen haben nicht lange vorgehalten, ich brauche Nachschub. Vollkornbrot, dick mit Butter beschmiert und mit Schokoladenscheiben belegt. Als Klappstulle natürlich. Nervennahrung für den bevorstehenden Abend.

Kauend überlege ich mir, wann ich am besten zum Feuerwehrball gehen sollte. Und mit wem. Heiner hat einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen. Bin schon im Festzelt, mit den Feuerwehrkumpels vorglühen. Wie jedes Jahr – abgesehen von dem einen Mal, als er mich abgeholt hat. Der fällt also aus.

Nicht, dass ich bezüglich der Begleitung eine üppige Auswahl hätte. Ideal wäre jemand wie George Clooney, elegant, aber nicht zu protzig. Allerdings müsste er schon Hoch- oder wenigstens Plattdeutsch sprechen, sonst würde ihn niemand verstehen und ich müsste den ganzen Abend lang dolmetschen, und wer weiß, was dabei herauskäme. Andererseits hätte ich dann alle Gespräche, die er führt, unter Kontrolle. Und wenn man von jemandem wie George Clooney begleitet wird, dann ist es ja wohl mehr als verständlich, dass man sich ein wenig besitzergreifend benimmt. Aber Herr Clooney steht bei mir leider ebenso wenig Schlange wie Bill Clinton, ein politisch brisanter Begleiter in diesem konservativen Ort, Clark Gable – lebt der überhaupt noch? –, mein Verlobter, meine beste Freundin oder der Dalai Lama. Der wäre sicher sehr gut für meine innere Ausgeglichenheit während der Veranstaltung.

Ich könnte meine Mutter anrufen und mit meinen Eltern hingehen, aber ich bin ja keine Fünf mehr. Außerdem wäre meine Mutter irritiert, dass ich nicht mit Heiner zusammen hingehe, und dann schöpft sie noch Verdacht, dass etwas in meinem Leben nicht ganz in Ordnung sein könnte. Und dann muss ich mir ihre Ratschläge anhören. Ihr psychologisches Wissen bezieht sie aus dem Fernsehen, genauer gesagt aus Soaps und romantischen Komödien. Hin und wieder spielt noch ein alter Schlagertext mit rein, der dann möglichst originalgetreu vorgetragen wird. »Liebeskummer lohnt sich nicht, my Darling! Schade um die Tränen in der Nacht«, würde sie mir wahrscheinlich vorsingen, und um den Originalakzent zu betonen, würde sie »sich nicht« wie »sisch nisch« aussprechen. Und natürlich würde sie irgendwann sagen: »Ach, es hat halt nicht sollen sein. Dann kommt eben ein Besserer.« Aber sie wird mich ansehen, als wüsste sie genau, dass bestimmt kein Besserer kommt. Mitleidig. Und ein wenig vorwurfsvoll, als wäre klar, dass ich das alles verbockt habe. Sie wird ein paar gequirlte Klischees vortragen, und ich werde mich fühlen, als hätte ich mir daran den Magen verdorben. Mein Leben ist kein Klischee, und kann auch nicht mit solchen geheilt werden. Wenn mein Leben ein Klischee wäre, würde wenigstens etwas Gutes, Schönes, Spannendes darin passieren. Nicht nur diese ganzen Niederlagen.

Nein, ich werde auf keinen Fall mit meiner Mutter zum Feuerwehrball gehen. Mit meinem Vater schon eher. Der hat nämlich durchschaut, wie das hier im Dorf läuft: Die Frauen haben das Sagen. Die Männer fühlen sich zwar als Boss, sonst würde ihre Eitelkeit Schaden nehmen, aber die Frauen treffen die Entscheidungen. Alle Frauen außer ich, versteht sich.

Meinen Vater gibt es aber nicht einzeln. Meine Mutter schon, aber er macht nie etwas Privates alleine. Eigentlich weiß ich gar nicht, was er überhaupt so macht, neben seinem Job als Bauingenieur. Wahrscheinlich füllt er seine Freizeit damit, sich Schlachtpläne gegen die Maulwürfe auszudenken. Und meiner Mutter zuzuhören. Das kann sehr zeitraubend sein.

Eigentlich kenne ich meinen Vater gar nicht gut. Komisch, schließlich war er immer da. Physisch jedenfalls. Und dabei gleichzeitig irgendwie abwesend. Seltsame Gedanken, sie scheinen noch sehr von meinem Nahtoderlebnis in der Badewanne geprägt zu sein.

Ich glaube, ich werde einfach allein zum Feuerwehrball gehen. Auch eine Möglichkeit. Und sicher nicht die schlechteste, sondern die einfachste. Ich muss nur aufpassen, dass es nicht so wirkt, als hätte mich jemand versetzt. Und zu gewollt natürlich auch nicht.

Die Wahl des Zeitpunktes ist wichtig, das weiß ich aus den Gesellschaftsgazetten. Nicht zu früh und nicht zu spät. Am besten, wenn ungefähr zwei Drittel der Gäste anwesend sind. Und wann ist das? Um halb neun? Ja, das ist eine gute Zeit. Dann sieht es so aus, als hätte ich vorher noch Tagesschau geguckt. Das muss ich dann aber auch wirklich machen, falls jemand mich in ein weltpolitisch niveauvolles Gespräch verwickelt. Dabei kann ich mir diese Details über Anschläge im Irak und Unruhen im Gaza-Streifen nie merken. Manchmal kommt es mir so vor, als würden wochenlang die gleichen Nachrichten ausgestrahlt, nur die Wettervorhersage ist jedes Mal neu, deshalb fällt das niemandem auf.

Noch zwei Stunden. Ich ziehe den String an.

Noch eineinhalb Stunden. Ich ziehe das Kleid an.

Noch eine Stunde. Ich ziehe die Schuhe an.

Ja, vielleicht hätte es sexier ausgesehen, wenn ich erst die Schuhe, dann den String und dann das Kleid angezogen hätte. Aber schließlich mache ich das hier ausschließlich zu meinem Vergnügen. Und die Zeit habe ich ganz gut rumgekriegt. Niemand kann sich so langsam bewegen wie ich!

Eine Drei-Wetter-Taft-Haarspray-Old-Spice-Aftershave-Wolke wabert die Treppe hinauf. Heiners Eltern verlassen das Haus.

Tagesschau. Tornados zerstören die Innenstadt von Duisburg. Ich war noch nie in Duisburg. Das Wetter. Und los.

Es hat aufgehört zu regnen. Die Luft riecht gleichzeitig frisch und modrig. Als wäre etwas sehr Altes neu erschaffen worden. So weich und einladend und gleichzeitig geheimnisvoll. Nach einem köstlichen, fremden Pilzgericht. Vielleicht auch nach Sex – wenn ich noch wüsste, wie der riecht. Ich wünsche mir Herrn Wesseltöft als Begleiter. Mit ihm würde der Abend Spaß machen. Und wenn dann auch noch Brigitte hier wäre! Mein Mobiltelefon piept. Eine SMS von ihr, wie immer genau zur richtigen Zeit: Halt die Ohren steif, Ballkönigin! Ich denke an Dich! Trinke gerade Wein aus Südafrika. Lass die Finger von Heiner! Kuss, B.

Jaja, die hat leicht reden. Hat ja ihren Wolfgang. Ein charmanter Mann. Mit Humor. Gutaussehend. Und so wohlerzogen! Er holt sogar immer die Haare aus dem Duschabfluss, ohne zu murren oder auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Dabei handelt es sich größtenteils um ihre Haare. Sie hat mir mal erzählt, dass sie das sehr beeindruckt. Mich auch. So muss ein Mann sein. Sie hat ihn wirklich verdient. Nur: Mich bringt das auch nicht weiter.

Der weite Rock schwingt anmutig um meine Beine, auf den hohen Schuhen gehe ich so grazil wie Nicole Kidman, nur dieser String, der schneidet wie Zahnseide zwischen meine Pobacken. Teilt sie unbarmherzig, trennt sie wie die Mauer einst Deutschland. Ich versuche mir einzureden, dass sei normal, ich werde mich daran gewöhnen, der Schmerz lässt gleich nach. Der Weg ist nicht weit, nur knapp ein Kilometer. Ich werde ja wohl nicht so albern sein und vor einem Stück Stoff, dass Frauen wie Monique ohne mit der Wimper zu zucken tragen, kapitulieren! Was die kann, das kann ich schon lange.

Neben dem Feuerwehrhaus ist ein großes weißes Zelt aufgebaut, das Festzelt. Davor stehen ein paar Buden. Um die beiden, in denen Bier verkauft wird, sammeln sich Menschengrüppchen. Aus der Bratwurstbude quillt dichter Qualm. Die zwei tristen Matjesbrötchen in der Fischbude werden von vier Neonröhren ausgeleuchtet, in dessen Schein die beiden Verkäufer mit ihren Fischbrötchengreifzangen vor lauter Langeweile Mücken fangen. Die Schießbude sieht noch genau aus wie vor zwanzig Jahren. Wahrscheinlich sogar wie vor fünfzig oder hundert Jahren, aber das kann ich natürlich nicht beurteilen. Es gibt noch genau die gleichen Plastikrosen und Federbüschel (ich dachte immer, das seien Staubwedel), von deren Stiel man kleine weiße Röhrchen abschießen muss. Und Tiersilhouetten auf einem Laufband. Auf dem Tresen einen alten Teppich zum Aufstützen.

Direkt vor dem Zelt ist der Platz nicht gepflastert. Das ist etwas unpraktisch, denn der Regenguss hat den Boden durchweicht, vor dem Eingang hat sich ein großes Schlammloch gebildet, bereit, meine goldenen Schuhe zu verschlucken.

»Verehrtes Fräulein, darf ich's wagen, Arm und Geleit Ihnen anzutragen«, höre ich eine Stimme hinter mir. Heiner? Er ist gekommen, um mich zu retten! Zwar spricht er etwas seltsam, auch seine Wortwahl scheint mir ungewöhnlich, aber das macht mir im Moment nichts aus. Ich drehe mich um und sehe –

– Kalle. Heiners Kumpel. Jetzt erkenne ich schon nicht mal mehr die Stimme meines Verlobten. Beinahe-ExVerlobten. Aber Kalle ist nun wirklich der Letzte, von dem ich gereimte Galanterien erwartet hätte. Das hat er bestimmt mühsam auswendig gelernt. Und von ihm ist es sicher auch nicht. Trotzdem lasse ich mir von ihm gerne über den Schlammkrater helfen. Alles, was meine Schuhe und damit auch meine Nerven schont, soll mir recht sein. Außerdem ist es vielleicht ein wirkungsvoller Auftritt – quasi ohne aufzutreten über die Schwelle getragen zu werden.

Leider habe ich nicht damit gerechnet, dass Kalle mich wie einen Kartoffelsack schultert. Das sieht sicher etwas unvorteilhaft aus, wie ich so mit hängenden Beinen und dem Hintern voran ins Festzelt getragen werde. Viel Publikum hat mein unglamouröser Auftritt zum Glück nicht, die langen Tische mit den Papiertischdecken und den hölzernen Klappstühlen sind noch leer, nur ein paar Feuerwehrmänner sind schon da. Niemand, den ich näher kenne. Wenigstens zeichnet sich mein Höschen nicht ab, denke ich, aber sobald ich wieder ein paar Schritte gehe – Kalle hat mich zu Boden fallen lassen und zerrt mich zur Bar – fühle ich mich wieder, als stünde ich kurz davor, Schmirgelpapier auszuscheiden.

Kalle gibt mir ein Bier aus, und obwohl ich gar kein Bier mag, muss ich es trinken, alles andere wäre unhöflich. Ich will seine Gentleman-Anwandlungen nicht unterbinden. Trotzdem kommt mir dieser Aufmerksamkeitsanfall etwas seltsam vor. Sonst sieht Kalle mich eher nicht an, wenn es nicht sein muss, und spricht überwiegend Grunzlaute zu mir. Das kann daran liegen, dass ich ihn immer dann zu Gesicht bekomme, wenn er gerade mit Heiner gezecht hat. Vielleicht ist Kalle ja ganz anders? Ich mustere seine Kinnpartie. Markant, wirklich markant. Starke Hände hat er auch. Eigentlich ist er nicht mein Typ, aber unter Umständen könnte ich ihm ja etwas abgewinnen. Ich sollte ihn mal mit anderen Augen sehen, mich von dem festgefahrenen Bild lösen.

»Ich muss mit dir reden, Silke«, sagt Kalle, nimmt einen kräftigen Schluck und wischt sich den Bierschaum vom Mund. Oh, vielleicht ist er mir schon einen Schritt voraus? Er hat sich schon Gedanken über mich gemacht, das neue Kleid, die Schuhe haben seine Augen geöffnet, seinen Blick geschärft, nun weiß er, was er will: mich! Die Freundin seines besten Freundes! Ein Dilemma, das sein Herz schier zerreißen will. Wir steuern geradewegs auf eine Tragödie zu ...

»Ich möchte dich, etwas fragen, Silke.«

»Ja, Kalle?«

Unsere Blicke treffen sich. Er hat wässrige blaue Augen mit einem ganz speziellen Glanz. Unter anderen Umständen hätte ich sicher gedacht, dass kommt vom verstärkten Bierkonsum. Aber in diesem Moment bin ich geneigt zu glauben, dass dieser feine Schimmer durch meine Anwesenheit ausgelöst wurde. Mit den nächsten drei Schlucken, die eher einer sind, weil er zwischendurch nicht absetzt, leert Kalle sein Glas. Dann rückt er endlich mit der Sprache raus.

»Verpachtest du mir deine Wiese?«

O nein! Nicht auch noch Kalle! Hängt er etwa im Komplott mit drin? Soll ich eingekreist werden? Oder ist er in einer Einzelmission unterwegs? Mal sehen, was er sich so ausgedacht hat. »Warum sollte ich dir die Wiese verpachten?«

»Du bekommst auch sechshundert Euro im Jahr. Das ist viel! Und dafür möchte ich einen langfristigen Pachtvertrag. Mit Kaufoption. Oder, am besten, ich kaufe dir das Land sofort ab.« Er steckt seine Hand ganz tief in die rechte vordere Hosentasche und wühlt darin herum, als wollte er seine Eier ausgiebig kraulen. Wahrscheinlich macht er es sogar. Dann zieht er ein dickes Geldbündel hervor und wirft es vor mir auf den Stehtisch. Das ist auf den ersten Blick plump, auf den zweiten vielleicht beeindruckend, aber nur so lange, bis man näher hinschaut und sieht, dass es sich um lauter Zehn-Euro-Scheine handelt, die von einem porösen Weckgummi notdürftig zusammengehalten werden.

»Das war nicht meine Frage, Kalle.«

Er guckt mich verdutzt an. Braucht ein bisschen Zeit, um zu begreifen, was ich gesagt habe. Wenn ich mir das recht überlege, sind seine Augen ziemlich glasig.

»So? Waswarndeinefragenochmal?«

Jetzt realisiere ich auch den Trennschärfeverlust in seiner Sprache. »Warum möchtest du die Wiese haben? Wofür?« Ich spreche laut und übertrieben deutlich, als wäre er schwerhörig.

Kalle holt tief Atem und rafft die versprengten Reste seines Intellekts zusammen, um mir eine völlig überzeugende Erklärung zu liefern: »Ich möchte eine Kamelfarm aufmachen. Das war schon immer mein Traum. Ich liebe Kamele. Schon als Kind. Das sind einfach exquisite Tiere. Und so genügsam und nützlich.«

Das hat er aber schön einstudiert. Hat sich sogar bemüht, Pausen zwischen den einzelnen Wörtern zu machen. Aber diese Idee ist bestimmt nicht auf seinem Mist gewachsen. Sätze wie »Das sind einfach exquisite Tiere« würden Kalle nie einfallen. Das klingt mir eher nach ... Monique.

»Und warum brauchst du einen langfristigen Pachtvertrag? Oder willst gleich kaufen?«

»Ja, ähm, weil, Kamele werden nun mal sehr alt. Und wenn die sich erst mal an einen bestimmten Ort gewöhnt haben ... das sind sehr häusliche Tiere. Bisschen wie Katzen. Die ziehen ja auch nicht gerne um.«

Ich muss zugeben, Kalle schlägt sich recht tapfer. Aber ich hake unbarmherzig nach: »Wie alt werden Kamele denn im Schnitt?«

»Ja, äh, also, manche werden fast siebzig oder achtzig. Oder einzelne auch mal hundert. Bei guter Pflege natürlich.«

Wie ich noch aus dem Biologieunterricht weiß, werden Kamele durchschnittlich vierzig Jahre alt. Im Behalten überflüssiger Fakten bin ich Meisterin. »Und wie willst du die Kamele nutzen?«

»Naja, man könnte sie melken oder drauf reiten oder vielleicht Pullover daraus machen.«

»Und warum brauchst du unbedingt meine Wiese?«

»Weil die einfach geeignet ist. Der Boden. Die Lage. Ist dort am besten für Kamele. Woanders geht das nicht.«

Hat er sich das jetzt selbst ausgedacht, oder ist er gut präpariert worden? Und von wem? Von Monique und Heiner? Oder Heiners Mutter. Oder, Moment, ist Kalles Onkel nicht Bauunternehmer? Ja, das passt alles ins Bild. Daher muss ich ihm leider das Aus für seinen Traum von einer eigenen Kamelfarm auf meiner Wiese verkünden.

»Lieber Kalle, so ganz ausgereift scheint mir dein Businessplan noch nicht zu sein. Und meine Wiese steht leider nicht zur Verfügung. Tut mir Leid.« Ich trinke mein Bier aus und wende mich zum Gehen. Das Herumstehen in den hohen Schuhen ist ungewohnt, meine Füße fangen an zu schmerzen, ein paar Schritte werden ihnen gut tun. Ich stöckele möglichst gekonnt von dannen. Ah, ja, das mögen die Füße. Ein kühles Bad hätten sie vielleicht vorgezogen, aber sie haben nun mal keine Wahl. Ganz hinten im Zelt sehe ich jetzt Heiner, umringt von ein paar Feuerwehr-Kumpels. Ich könnte ja mal auf ihn zugehen. Ganz unauffällig, nur mal hallo sagen, um zu sehen, wie er auf mein Outfit reagiert.

Nach ein paar Metern wird das angenehme Gefühl des nachlassenden Fußschmerzes von einem brutalen Reißen getrübt. Mein String ist anscheinend zu Nato-Draht mutiert und will verhindern, dass meine Pobacken sich aneinander reiben. Doch das tun sie nun mal, schließlich habe ich ja keinen dieser winzigen Betonhintern, die man in Dokumentationen über brasilianische Strände sieht. Überhaupt ist mein Hintern nicht geeignet, in irgendeiner Dokumentation eine aussagekräftige Rolle zu spielen. Aber das ist doch kein Grund, derartig übertrieben auf einen harmlosen String zu reagieren! Das ist ja, als hätte man die Zahnarztszene von Marathon Man in meine Unterhose verlagert. Ich muss dieses Biest loswerden. Sofort! Mit zusammengebissenen Zähnen eiere ich gen Zeltausgang, denn draußen stehen ein paar Dixie-Klos. Zum Glück sind immer noch recht wenig Leute da, den Zeitpunkt für meinen großen Auftritt habe ich anscheinend völlig falsch eingeschätzt.

Beim Hinausgehen muss ich durch die Matschgrube, und es wartet kein neuer Kavalier auf mich. Was hätte ich dem auch erzählen sollen: Trag mich bitte zum Dixie-Klo, damit ich mein Höschen ausziehen kann? Das würde doch selbst der distinguierteste Gentleman für eine unmissverständliche Aufforderung zum Vollkontakt halten. Abgesehen davon, dass es hier gar keine distinguierten Gentleman gibt, sondern nur ganz normale Männer. Und vielleicht noch ein paar notgeile Böcke.

Ich patsche todesmutig durch die feuchte Pampe, und mir ist, als hätte ich keinen festen Boden unter den Füßen. Seltsamerweise fühle ich mich noch immer so, als ich schon längst wieder auf dem gepflasterten Weg bin. Das muss also eher was mit mir zu tun haben als mit der Beschaffenheit des Untergrundes.

Die Dixie-Klos stehen in diesem Jahr nicht dort, wo sie in den letzten hundert Jahren immer standen. Das verwirrt mich. Ich sehe mich um – nichts Blaues in der Nähe. Stöhnend mache ich mich auf die Suche. Vorsichtig, denn jeder Schritt schmerzt, als wäre ich die Assistentin eines Zauberers, der eine neue Variante des Zersägte-Jungfrau-Tricks ausprobiert, aber leider die Gebrauchsanweisung nicht genau gelesen hat.

Ich stöckele mit Minimalbewegungen über den Spielplatz hinter dem Feuerwehrhaus und durchs Gebüsch. Dort höre ich erst albernes Kichern, dann eine Männerstimme. Rascheln. Ich kann mir nicht helfen, irgendwie kommt mir die Situation bekannt vor. Bin ich dazu verflucht, jedes Mal, wenn ich mich etwas Belaubtem auch nur nähere, etwas zu sehen, was ich lieber nicht sehen möchte? Werden Büsche zu meiner Kristallkugel?

Ich pirsche mich weiter heran. Meinem Schicksal kann ich ja eh nicht entgehen, warum sollte ich also anderen ihre Heimlichkeiten gönnen? Wahrscheinlich sind es eh nur ein paar knutschende Teenager. Ich habe das ja damals nie gemacht: im Gebüsch geknutscht. Allerdings eher mangels Gelegenheit. Fehlender Knutschpartner.

Jetzt erkenne ich die Stimme von Monique. Steckt die Schlampe denn in jeder Hecke? Kann die sich nicht ganz normal in der Öffentlichkeit bewegen oder einfach zuhause bleiben? Das ist ja fast, als würde sie es provozieren, von mir aufgespürt zu werden! Sehen kann ich sie leider nicht, aber dieser affektierte Ton ist unverkennbar. Sie klingt ungeduldig, fordernd.

»Und wann können wir anfangen?«, herrscht sie ihren Gesprächspartner an. Diesmal ist es nicht Heiner, sondern der Bürgermeister, Markenzeichen: sonore Stimme. Er versucht, sie zu beschwichtigen.

»Immer mit der Ruhe. Es ist alles in die Wege geleitet. Aber so schnell geht das nicht. Du hast ja gar keine Ahnung, um was sich ein Bürgermeister alles kümmern muss. Um jede Straße, die ausgebessert wird. Um die neue Kanalisation. Und wenn Enten auf dem Badeteich schwimmen, dann muss ich mich auch darum kümmern. Die könnten ja auf eine der Bänke kacken.«

»Dein Entendreck interessiert mich nicht«, zischt Monique. »Ich will mein Aerobic-Center. Ich will die Baugenehmigung!«

»Hast du das Grundstück überhaupt schon gekauft?«

»Das lass mal meine Sorge sein. Ich arbeite daran und mache gute Fortschritte, mein kleiner Schnurzelpurzel.« Moniques Stimme ist wieder ins Säuselige abgedriftet. Hat sie den Bürgermeister eben wirklich Schnurzelpurzel genannt?

»Du sollst doch nicht immer Schnurzelpurzel zu mir sagen, du ungezogenes Mausispatzi.« Ein klatschendes Geräusch lässt darauf schließen, dass Schnurzelpurzel mit seiner flachen Hand Mausispatzis ungezogenen Hintern tätschelt.

Okay, die stecken unter einer Decke. Nicht, dass das eine besonders neue Information für mich wäre. Aber manche Dinge glaube ich ja erst, wenn ich sie selbst höre. Und damit meine ich nicht die haarsträubenden Kosenamen. Wie sie wohl Heiner nennt? Bestimmt genauso, ich glaube nämlich nicht, dass ihre Gehirnzellen genug Kapazität für zwei so lange Wörter haben. Politischen Einfluss scheint sie dafür umso mehr zu haben. Mir ist klar: Wenn der Bürgermeister es schafft, den Bebauungsplan so zu ändern, dass meine Wiese als Sportfläche ausgewiesen wird, dann muss ich sie hergeben. Dann wird der Druck auf mich von allen Seiten so groß werden, bis ich eingeknickt bin und das Aerobic-Center gebaut werden kann. Der gesellschaftliche Druck: Landfrauen, Feuerwehr, alle Kaufleute, alle Frauen, die ich im Dorf kenne, Seniorenvolkstanzverein, Typberatungskreis, selbst meine eigene Mutter. Dann muss ich sie verpachten, hundert Jahre lang, für eine lächerlich geringe Pacht. Oder verkaufen. Auf jeden Fall muss ich das Land der Gemeinde abtreten, für die Allgemeinheit. Und Monique triumphiert, weil dann ihr blödes Aerobic-Center gebaut wird. Das gönne ich ihr nicht!

Trotzdem muss ich jetzt erst einmal dieses Folterinstrument von Unterhose loswerden. Ohne allzu viel Geraschel entferne ich mich von Schnurzelpurzel und Mausispatzi und finde am anderen Ende des Spielplatzes die Dixie-Klos. Natürlich sind es keine echten Dixie-Klos, sondern nachgemachte, man steht hier auf dem Land nicht so sehr auf Markenware, deshalb sind sie auch grün statt blau und passen sich hervorragend ins Landschaftsbild ein. Total unauffällig. Und zum Glück noch ohne Schlange davor. Frauen haben einfach die besser trainierte Blase, die müssen bei solchen Feierlichkeiten erst ab Mitternacht pinkeln, und Männern reicht auch der nächste Baum oder die nächste Hauswand. An allen anderen Tagen ist solch ein Benehmen – kann man hier überhaupt noch von Benehmen sprechen? – natürlich völlig inakzeptabel, aber am Tag des Feuerwehrballs gelten keine Regeln. Höchstens die des Festwirts, die auf sorgfältig kopierten DIN-A4-Zetteln im Zelt an jeder Ecke hängen.

Arbeitsanweisungen und -hilfen Eures geliebten Festwirtes zum -Überleben des Feuerwehrballs!

Punkt Eins: Bier bestellen! Ein Bier bestellen geht schon mal gar nicht. Damit sagt man, dass man ne knickrige Sau ist, keine Freunde hat oder Antialkoholiker ist, also das Allerletzte. :-) Immer mindestens zehn bestellen. Nie vorher abzählen, wie viele Leute um einen herum stehen und dann ganz genau die Anzahl bestellen! Einfach irgendeine Zahl über die Theke grölen. Im Zweifelsfall: zehn! :-) Ganz falsch: Die Umstehenden fragen, ob sie überhaupt noch ein Bier haben wollen. Wichtige Regel auf unserem Feuerwehrball: Gefragt wird nicht – saufen ist schließlich kein Spaß!

In dem Ton geht das weiter. Zehn Gebote lang. Hier herrschen raue Sitten.

Ich schließe mich im linken der drei kuhfladengrünen Klohäuschen ein. Als ich die Tür hinter mir zuziehe, überlege ich noch einen Moment: verriegeln oder nicht? Ich habe geradezu panische Angst, auf einer öffentlichen Toilette eingesperrt zu sein und nicht wieder hinaus zu können, weil das Schloss klemmt. Das ist mir einmal als Kind bei C&A passiert, ich musste nach meiner Mutter rufen, die konnte auch nicht helfen, also rief sie meinen Vater, und als ich endlich aus meinem kargen Gefängnis befreit wurde, stand eine ganze Traube Schaulustiger herum. Nein danke, darauf kann ich verzichten. Zuhause habe ich diese Ängste überhaupt nicht. Seltsam, oder? Dabei würde mich dort wahrscheinlich niemand befreien. Sieht man ja. Oder hat Heiner vorhin etwa Anstalten gemacht, mich aus dem Bad zu retten? Ich hätte ja in einer Notlage sein können, außerstande, um Hilfe zu rufen. In der Badewanne ertrunken. Um dann von Heiner gefunden zu werden. Das ist ja auch irgendwie peinlich.

Die Plastiktoilettentür lässt mir keine Wahl, sie muss verriegelt werden, sonst schwingt sie sofort wieder auf. Zuhalten geht nicht, es gibt keinen vernünftigen Griff und nichts dergleichen, was diesen Namen verdient hätte, nur einen winzigen Nupsi, den man so geschickt und feinfühlig wie den Ausguss einer störrischen Milchtüte handhaben muss. Und ich brauche beide Hände für die Operation »stacheldrahtfreier Schritt«.

Vorsichtig pelle ich mich mit einer Hand aus dem eleganten Höschen, während ich mich mit der anderen abstütze und gleichzeitig mein Ibiza-Kleid hochraffe. Ich bleibe mit dem rechten Absatz hängen und wäre fast gestürzt, soweit das in der engen Kabine überhaupt möglich ist. Ich kann gerade noch mein winziges Täschchen retten, das auf dem mit nicht näher zu definierenden Flüssigkeiten durchweichten Boden bestimmt gelitten hätte. Kurze Gedankennotiz: Striptease-Tänzerin kommt als Ausweichberuf für mich nicht in Frage. Schade. Aber ich hatte mir beinahe schon so etwas gedacht.

Das rote Spitzenfolterinstrument stopfe ich, so gut es geht, in meine Handtasche. Passt gerade so eben.

Nach fünf Minuten Herumrütteln – die Zeit kommt mir erstaunlich lang vor, mindestens wie zwei Stunden im Liegestuhl oder eine halbe Stunde mit meiner Mutter – gelingt es mir, mich aus der Kabine zu befreien.

Ich mache ein paar Schritte, nichts scheuert und reißt mehr, mein Schamhaar (beziehungsweise das, was nach der ausführlichen Beauty-Kur davon übrig ist) wird angenehm belüftet. Ich fühle mich einerseits befreit, andererseits völlig ausgeliefert. Nackt. Kein Wunder, das bin ich ja auch, selbst wenn es niemand sieht. Mir kommt es aber so vor, als würde jeder sehen können, dass ich keine Unterhose mehr trage. Dabei ist noch nicht mal jemand in der Nähe, und ich komme mir trotzdem schon angegafft vor. Wie eine Exhibitionistin wider Willen. Vielleicht sollte ich einfach ganz schnell mal nach Hause gehen und mir einen konventionellen Schlüpfer anziehen.

Dieser eindeutig gute Plan wird von meiner Mutter vereitelt, die geradewegs auf mich zueilt, meinen Vater wie einen ungezogenen Dackel hinter sich herziehend.

»Silke, da bist du ja endlich!«, ruft sie aufgedreht durch ihre rot geschminkten Lippen.

»Wieso? Ich bin schon die ganze Zeit da. Wo wart ihr?«

»Dein Vater musste noch ein paar Schnecken salzen. Er nimmt jetzt immer das Salz mit Jod, Fluor und Folsäure. Das funktioniert hervorragend!«

»Ich denke, ihr mögt keine Schnecken?« Ich kann mir meinen Vater schlecht vor einem Teller voller Weinbergschnecken vorstellen, und noch weniger, dass meine Mutter, die Queen of Conveniance-Food, welche zubereitet.

»Ja, genau darum geht es doch! Er streut Salz auf diese ekligen, braunen, spanischen Nacktschnecken, und dann schäumen sie und gehen ein. Mit Jod, Fluor und Folsäure.« Sie sagt das mit nicht zu knappem Jagdstolz und präsentiert meinen Vater wie eine Trophäe. Ich versuche, ihn mir in Großwildjägermanier vorzustellen, mit dem Fuß auf einer erlegten Nacktschnecke, während meine Mutter seinen Triumph über die aggressive Kreatur dokumentiert. Schwierig.

»Ist ja widerlich«, sage ich nur.

»Wieso?«, fragt sie scheinheilig zurück. »Diese Biester fressen mir sonst den ganzen Garten kahl. Außerdem gehören die nicht hier her. Hier sind die schwarzen Nacktschnecken heimisch, nicht die braunen. Die sind aus Spanien eingewandert.«

Ich verzichte lieber auf eine Diskussion zum Thema Ausländerfeindlichkeit bezüglich Schnecken und bemerke: »Die Band hat angefangen zu spielen.«

»Ja, dann nichts wie rein ins Zelt!« Mutti sprintet los, nun meinen Vater und mich hinter sich her schleifend.

Über das Schlammloch hat inzwischen jemand Pappe gelegt, die fängt zwar schon an, an den Rändern durchzuweichen, aber noch kann man sie halbwegs gefahrlos überqueren. Meine Mutter schreitet stolz darüber, als hätte man extra für sie einen roten Teppich ausgerollt. Als sie den ziemlich genau zu zwei Dritteln gefüllten Saal betritt, nehmen mindestens die Hälfte der Anwesenden ihr Erscheinen sofort wahr, die andere Hälfte wird schleunigst darauf hingewiesen. Ja, sie hat es raus. Sie ist mindestens die Sabine Christiansen der Feuerwehrbälle.

Mutti schnappt sich einen strategisch günstigen Stehtisch am Rande der Tanzfläche. Von dort aus kann man den ganzen Saal überblicken und wird, das ist noch wichtiger, von allen gesehen. Meinen Vater schickt sie an die Bar, er soll Getränke holen, »Caipi für alle!«, obwohl er sicher lieber Bier trinken würde. Er widerspricht nicht, denn der Abend ist noch frisch und die Zeit für Bier kommt bestimmt noch. Er hat Geduld. Muss er auch haben. Sonst hätte er es nie mit meiner Mutter ausgehalten.

Während wir auf die Cocktails warten, die hier auch nichts anderes sind als Schnaps mit ein paar Limonenscheiben und viel Zucker drin, begutachten wir die Band. Es ist, wider Erwarten, nicht Freddy Mercury mit Queen, sondern Cher mit Truck Stop.

Mutti zeigt auf den Mann, der neben dem Keyboarder steht: »Der da hat mal bei Cats Musik gemacht.« Sie sagt das, als sei das erstens ein besonderes Qualitätsmerkmal, eine Art Gütesiegel für Tanzbands, und zweitens, als hätte sie höchstpersönlich ein neues Talent am Pophimmel entdeckt. »Der kann wunderbar Saxophon spielen. Das soll er jetzt mal machen!«

Ihr Wunsch – oder war es ein Befehl? – geht sofort in Erfüllung. So kommt I've got you, habe zu einem bisher so noch nie gehörten Saxophonsolo. Mutti wippt im Takt mit. Doch ganz zufrieden ist sie nicht. »Das muss Playback sein. Die Sängerin ist zu gut.«

Die Frontfrau von Midnight Affair, so der Bandname, ist wirklich eine ziemlich überzeugende Cher-Kopie. Ihr Haar ist lang, glatt und ebenholzschwarz, sie trägt lächerlich wenig Kleidung, und das bisschen, was sie anhat, hängt ihr in dekorativen Fetzen vom durchtrainierten Leib. Aber ihre Stimme ist wirklich toll. Zu gut, um echt zu sein. So etwas ist man hier nicht gewohnt. Vielleicht wirkt das auch nur so im Kontrast zum Rest der Band, der aussieht, als wäre jeder mit einem eigenen Zwanzigtonner vorgefahren. Mit Ausnahme des Qualitätssaxophonisten, der kam natürlich mit einem strahlenden Zug auf Rollschuhen. Ach nein, das war ja ein anderes Musical.

»Natürlich singt die live!«, verteidige ich die Sängerin.

»Niemals!« Meine Mutter ist über Nacht zur Musikexpertin geworden.

»Jede Tanzband mit soviel Personal singt und spielt live. Das wäre auch viel zu aufwändig, hier ein vernünftiges Playback hinzukriegen«, behaupte ich einfach mal zur Ehrenrettung der Vokalistin, obwohl ich davon nun wirklich keine Ahnung habe.

»Na gut, dann ist es vielleicht nicht Playback«, lenkt Mutti ein, um dann sofort wieder dagegen zu steuern: »Aber es kommt schon aus der Konserve.«

Ich verkneife mir die Bemerkung: »Nicht vielleicht aus der Tiefkühltruhe wie dein Essen?« Soll sie es doch glauben. Es wäre ja lächerlich, sich darüber zu streiten. Da gibt es bestimmt lohnendere Themen.

Die Band spielt inzwischen Sex Bomb. Cher hat Pause, wahrscheinlich muss sie sich um- oder weiter ausziehen. Einer der Trucker gibt den Tom Jones derartig inbrünstig und mit so viel lüsterner Leidenschaft in der Stimme, als wollte er es provozieren, mit Damenunterwäsche beworfen zu werden. Ich hätte da ja was Passendes in meiner Handtasche, aber ich kann mich gerade noch zurückhalten.

Die Tanzfläche hat sich mit Frauen jenseits der Fünfzig in figurfernen Kleidern gefüllt, die enthemmt rocken, als gelte es, ihre Jugend wieder auferstehen zu lassen. Dass es diesen Song damals noch nicht gab, ist ihnen dabei völlig egal. Meine Mutter zieht meinen Vater auf die Tanzfläche, er beginnt einen geschmeidigen Disco-Fox und lässt sie hin- und herwirbeln. Beide wirken gelöst und glücklich, und das liegt bestimmt nicht nur an dem Caipi.

Ich nippe an dem süßsauren Cocktailimitat und schaue mich um. Ich kenne fast alle um mich herum, wenigstens vom Sehen, aber ich habe keine Lust, mit jemandem zu sprechen. Wo ist denn Heiner bloß hin? Ich könnte ihm meine überwältigende Schönheit, die bislang noch niemand bemerkt hat, vorführen. Ob ich eine Anspielung auf mein fehlendes Höschen machen sollte? Früher hat er sich oft gewünscht, ich würde mal »nichts drunter« tragen, aber ich fand das lächerlich und bin nie darauf eingegangen. Lächerlich finde ich das noch immer, aber wo es doch schon mal so ist, könnte ich die Situation auch nutzen ... Oha, der Schnaps steigt mir zu Kopf! Ich komme auf seltsame Gedanken. Aber wenigstens spüre ich meine Füße nicht mehr.

Ganz hinten in der Ecke sitzt Monique an einem Tisch und unterhält sich mit Kalle. Ich erkenne sie nur an ihrer Frisur – einer Kreuzung aus Marge Simpson, Dolly Parton und einem Tornado – die hoch über alles und jeden hinweg ragt. Kalle beichtet ihr bestimmt gerade, dass er bei mir auf Granit gebissen hat.

Monique steht auf und kommt auf mich zu. O Schreck: Sie hat genau das gleiche Kleid an wie ich! Das einmalige Ibiza-Modell! Das darf ja wohl nicht wahr sein. Auch noch in der gleichen Farbe, nur mit anderen Schuhen. Sie trägt Stilettos aus in Regenbogenfarben changierendem Fake-Schlangenleder, die um einiges höher sind als meine Sandalen. Also mindestens fünfzehn Zentimeter. Ja, das kann man schaffen, wenn man unter dem Ballen mit Plateau arbeitet.

Noch fünfzehn Meter. Sie schwankt schon ein bisschen. Noch zehn Meter. Sie hat sich wieder gefasst und sieht siegesgewiss aus.

Noch fünf Meter. Jetzt fällt ihr auch auf, dass wir nahezu identisch angezogen sind. Schockiert bleibt sie stehen. Mustert mich von oben bis unten. Ja, denke ich, zieh mich nur mit deinen Blicken aus, viel gibt es da nicht zu holen. Sie guckt pikiert. Fasst sich. Geht weiter. Bleibt direkt vor mir stehen. Und sagt in schnippischem Ton genau das, was ich mir schon gedacht habe – sie kann ja nicht wissen, dass sie bereits im Gebüsch belauscht wurde: »Tja, liebe Silke, der Ortsrat wird deine Wiese als Sportfläche ausweisen, das hat mir der Bürgermeister versprochen. Und dann wird dort ein Aerobic-Center gebaut, das ist nämlich zum Wohle des Dorfes und der Allgemeinheit. Dem wirst du wohl oder übel zustimmen müssen.« Und schon rauscht sie wieder davon, ohne eine Antwort abzuwarten. Was soll ich auch dazu sagen? Sie hat ja Recht. Verdammt! Außer Ruhm und Ehre und einer Mini-Pacht oder einem Verkaufserlös, der eher einer symbolischen Abfindung gleichkommt, werde ich davon nichts haben. Ich nehme einen großen Schluck und beiße auf eine halbe Limone. Sauer macht lustig, sagt meine Mutter immer. Funktioniert aber nicht. Nicht bei mir.

»Hast du dich schön mit Monique unterhalten?«, fragt Mutti, als sie zum Stehtisch zurückkommt. Ich kann gerade noch »Och ja, geht so« antworten, da nimmt mich mein Vater an der Hand, murmelt leise »Darf ich bitten?«, und führt mich zur Tanzfläche. Er hat sich eingetanzt, bewegt sich schwungvoll und mich gleich mit. Ich versuche, nicht an Schrittfolgen zu denken - okay, es gibt nur eine: eins-zwei-tap -, und lasse mich einfach führen. Cher ist zu Marianne Rosenberg geworden und intoniert inbrünstig: »Er gehört zu mir wie mein Name an der Tür! Und ich weiß, er bleibt hier!«, dazu knödelt frenetisch das Saxophon. Hochstimmung im Saal. Ja, die Menschen hier wissen, zu wem sie gehören, und sie wissen auch, dass man dableibt, sobald erst mal ein Türschild montiert ist. Dann geht man nicht so einfach weg. Das gehört sich nämlich nicht. Vielleicht hätten Heiner und ich auch ein gemeinsames Namensschild an der Tür anbringen sollen? So eins aus Fimo oder Salzteig, bei dem die Namen aus ineinander verschlungenen Würsten gelegt werden. Aber ich dachte, es weiß eh jeder, der uns kennt, wo wir wohnen. Und die, die uns nicht kennen, müssen das auch nicht wissen. Ich konnte doch nicht ahnen, dass das tiefere Auswirkungen auf unsere Beziehung haben würde. Und dann gleich so negative! Hätte ich mal auf Marianne Rosenberg gehört, mein Leben sähe jetzt anders aus.

Mein Vater kurvt mit mir links und rechts und geschickt um langsamere Paare herum. Findet er eine kleine Freifläche, stößt er mich mit einer Hand ab, federt mich am ausgestreckten Arm fort und zieht mich dann wieder schwungvoll zu sich heran. Manchmal baut er noch eine Drehung ein, so wie jetzt, hui, die ist schwungvoll, ich vollführe eine Pirouette um die eigene Achse und mein Rock – o nein! – schwingt tellerartig hoch. Ich kann ihn gerade noch mit der freien Hand hinunterdrücken, sehe dabei aber wahrscheinlich nicht halb so grazil und frivol aus wie Marilyn Monroe über dem U-Bahn-Schacht. Die hatte ja wenigstens eine Unterhose an! Ich komme aus dem Takt und verliere die Balance. Mein Vater fängt einen strengen Blick von mir, wahrscheinlich – hoffentlich! – weiß er nicht, warum, aber er ist klug genug, den kleinen Hinweis zu verstehen und auf weitere Drehungen dieser Art zu verzichten.

Nach einem Von-John-Denver-zu-Chnstina-Aguilera-Medley macht die Band eine Pause, wahrscheinlich muss Cher ihr Kostüm wechseln. Mein Vater und ich gehen zurück zum Tisch, auf dem noch meine Tasche liegt. Ganz allein, denn meine Mutter kommt auch von der Tanzfläche zurück. Das heißt, sie hat wahrscheinlich nicht in meinen Habseligkeiten herumgestöbert. Gut. Sie verabschiedet sich mit einem überdrehten Knicks von ihrem Tanzpartner, dem Bürgermeister.

»Upsala, der konnte sich ja kaum noch auf den Beinen halten, soviel Bier hatte der schon intus«, sagt sie, sobald er aus der Hörweite ist. »Apropos trinken: Kommst du mit in die Sektbar? Ich geb einen aus!« Mein Vater wird mit einer scheuchenden Handbewegung entlassen; aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er mit freudigem Gesichtsausdruck auf dem Biertresen zusteuert, an der gerade irgendwer zehn Frischgezapfte bestellt.

Die Sektbar ist eine mit Stellwänden und großen Sonnenschirmen vom Zelt abgetrennte Ecke, die über und über mit Plastikefeu und bunten Lichterketten behangen ist, die eine Atmosphäre zwischen Dschungelcamp und Disco-Fieber verbreiten. In den Regeln des Festwirts, die hier natürlich auch hängen, lese ich:

Die Sektbar

Männer, seid auf der Hut! Eine richtig gruselige Bude, quasi die Abferkelbox im Festzelt. Für Frauen ein Muss, für uns Kerle erst am späten Abend zu ertragen. :-) Hier ist es so voll und so eng, hier bleibst du auch noch stehen, wenn's eigentlich nicht mehr geht. Doch der Preis, den du für die Stehhilfe zahlst, ist hoch: Du musst Sekt aus mickrigen Blumenvasen saufen. :-)

Zum Glück ist es noch nicht ganz so voll. Die Sektbar ist Damengebiet, wie eigentlich das ganze Dorf, mit Ausnahme des Schießstandes, der Feuerwehrautos und des Biertresens. Männer haben ihre eigenen Biotope, in denen sie geschützt ihre Eigenarten entfalten können. Frauen tun so, als lebten sie in kleinen Nischen, aber in Wirklichkeit haben sie von dort aus die Zügel in der Hand. Die Sektbar ist eine solche geheime Kommandozentrale – hier werden Jobs vermittelt, Ehen angebahnt, Autos gehandelt. Wenn sich doch mal ein Mann dorthin verirrt, wird er völlig auf- und ausgesogen. Das ist sowohl im übertragenen Sinne als auch wörtlich zu verstehen.

Mutti drückt mir einen Sekt in die Hand und integriert uns in eine Gruppe mit ihr befreundeter Landfrauen, die sich über eine feindliche Invasion aufregen. »Das gibt Krieg«, mutmaßen sie, mit leicht drohendem Unterton. Ich wundere mich ein wenig. Bei der Tagesschau habe ich doch extra aufgepasst, die Nachrichten waren die üblichen schrecklichen, aber von einer Invasion, gar einem neuen Krieg, war nicht die Rede. Oder bin ich so durch den Wind, dass mir da etwas Wichtiges entgangen ist? Dabei habe ich mich doch extra vorbereitet, um nicht nur schön, sondern auch klug zu sein, eine gut informierte Gesprächspartnerin eben. Und jetzt das!

Ich höre erst mal weiter zu, so kann ich nichts falsch machen. Vielleicht ergibt sich später die Gelegenheit für einen intelligenten Einwurf, wenn ich den Sachverhalt erst mal durchschaut habe? Das geht schneller als zunächst befürchtet. Die Damen sprechen nicht über Weltmächte und Schurkenstaaten, sondern über das momentane Top-Eins-Lieblingsthema der Hobbygärtner: die bösartige, blutrünstige, zerstörerische, heimtückische spanische Nacktschnecke. Und natürlich darüber, wie man ihr beikommt. Bierfallen werden heiß diskutiert, doch einigen ist das Bier zu schade. Die meisten bevorzugen den direkten Angriff, mit Salz, Messern und Scheren. Claudias Mutter erwähnt ihren selbstgebauten Flammenwerfer. Das klingt alles so brutal, ich bin richtig froh, dass ich keine Schnecke bin.

Ich nippe ein wenig beklommen an meinem halben Sekt, dabei habe ich schon das zweite, volle Glas in der anderen Hand. »Silke fährt mit angezogener Bremse«, macht sich eine der Frauen mit einem besonders apart gemusterten Kleid – vermutlich durch Radioaktivität degenerierte Flora in Mint und Violett auf türkisem Hintergrund, darüber ein geometrisch inspiriertes Liniengewirr – über mich lustig. Man darf hier auf keinen Fall zu langsam trinken, das wird nicht gern gesehen, also leere ich das eine Glas in einem Zug, schütte das zweite hinterher, unterdrücke einen Rülpser und gehe zur Bar, um die nächste Runde zu ordern. Während ich auf die sieben Sekt warte, die ich bestellt habe, schaue ich mich in der höhlenartigen, puffbeleuchteten Ecke um. Der Sound der Band dringt sanft gemildert durch das synthetische Dickicht, sie spielen »It's my party and I cry if I want to«, und ich denke noch, wer soll dazu denn in Partystimmung kommen, so ein trauriges Lied, als ich Heiner in einer besonders dicht bewachsenen Plastikefeukultur entdecke. Na endlich! Jetzt kann ich zu ihm gehen und alles wird gut.

Aber was macht er in der Sektbar?

Immerhin ist er ein Mann! Und Männer werden hier doch ...

Im nächsten Moment beugt sich Monique, die ich bisher gar nicht wahrgenommen hatte, zu ihm hinüber, öffnet ihren Mund und beginnt ihn auszusaugen. So jedenfalls sieht das für mich aus, andere mögen es für einen ordinären Zungenkuss halten, was die beiden dort im unzureichenden Schutz der Fake-Flora treiben. Ich hätte es mir ja denken können: Wo etwas wild wuchert, ist Monique nicht weit.

Mir schießen die Tränen in die Augen. Es ist zwar nicht meine Party, aber ich weine trotzdem. Aber eigentlich will ich gar nicht, ich möchte am liebsten die Fassung bewahren und etwas Spektakuläres tun! Vielleicht sollte ich Heiner ohrfeigen, einen Auftritt à la Alexis aus dem Denver Clan hinlegen, dann würden sich einige hier wundern. Könnte aber auch lächerlich aussehen. Ich bin nicht gut im Ohrfeigen. Nachher treffe ich vor lauter Nervosität noch nicht mal.

Ich könnte beiden Sekt ins Gesicht schütten. Aber wenn ich da jetzt mit zwei vollen Gläsern hingehe, dann sieht das ja so aus, als wollte ich ihnen eine Runde ausgeben. »You would cry too if this happens to you« , singt Cher, begleitet vom Saxophon. Ich überlege noch, was ich tun soll, als hinter mir jemand – ein Mann! – in die Sektbar gepoltert kommt und laut losbrüllt. Ich drehe mich um –

– und sehe den Bürgermeister! Er hat einen Blick wie ein waidwundes Tier, jedenfalls glaube ich das, aber ich war noch nie auf der Jagd. Seine Augen sind glasig, von Bier und Tränen, sein Hemd ist durchgeschwitzt, der Schlips fleckig, das Jackett schleift schlapp hinter ihm auf dem staubigen Boden. »Du hast mich nur benutzt!«, heult er in Richtung Monique, die daraufhin ihre Zunge aus Heiners Mund nimmt, den Bürgermeister mustert und leicht angewidert die Nase rümpft. Die umstehenden Damen sind alle einen Schritt zurückgetreten, haben ihre Schneckengespräche eingestellt und beobachten interessiert die Szene. Obwohl die Band nichts von all dem mitbekommen haben kann, liefert sie den passenden Soundtrack: »Love is a battlefield.« Das scheint den Bürgermeister zu ermutigen, er schleudert sein Jackett zur Seite, versucht, seine ohnehin schon aufgekrempelten Hemdsärmel noch weiter aufzukrempeln und brüllt: »Lass die Finger von meinem Mädchen, du Dreckschwein!«

Heiner, der bislang völlig unbeteiligt getan hat, bemerkt, dass er gemeint ist, und setzt die Füße ein Stück auseinander, um besseren Halt zu haben. Dann stürmt der Bürgermeister auf ihn zu und rammt ihm seinen Kopf in den Bauch. Keine saubere Kampftechnik, finde ich. Monique stößt ein lautes, schrilles Kreischen aus, in das die Umstehenden einfallen. Nur meine Mutter, die inzwischen einen Platz neben mir ergattert hat, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu haben, hält sich zurück.

Heiner und der Bürgermeister haben sich aufgerappelt und traktieren sich mit Faustschlägen. Eine zünftige Schlägerei, die immer wieder von den Efeuranken gebremst wird, in denen sich die Kontrahenten verheddern. Der Aufruht hat noch mehr Männer in die Sektbar gelockt, die sich nun eifrig an der Klopperei beteiligen.

»Ihr steht das Kleid besser als dir«, sagt meine Mutter. Mir schnürt sich die Kehle zu. Mutti muss ihr Taktgefühl mal wieder in der Speisekammer vergessen haben. Da hilft es auch nicht, dass die Band jetzt »I will survive!« spielt, denn nein, da bin ich mir ganz sicher, überleben werde ich nicht. Jedenfalls nicht hier. Ich muss weg. So schnell wie möglich. »Aber was zu weit geht, geht zu weit«, setzt Mutti nach. »Das kannst du dir nicht länger bieten lassen, Silke. Wollen wir eingreifen?«

Hmm, ich könnte mit meiner Mutter ein Kampfgespann bilden. Wir würden die ganze Schlägerei ordentlich aufmischen.

Nein, keine gute Idee.

»Ich will hier weg. Schnell und unauffällig. Ich ertrage das nicht länger«, stöhne ich.

»Du hast es gewusst? Du hast gewusst, dass dein Verlobter dich betrügt und hast nichts gesagt? Manchmal verstehe ich dich nicht, Kind«, sagt Mutti besorgt. »Aber wenn du hier raus willst – bitte. Ich muss da auf jeden Fall mal eingreifen!«

Sie wühlt sich zur Bar durch, greift sich einen Sektkühler, taucht ihn ins schon trübe Gläserabwaschwasser, leert noch schnell die Reste aus den Gläsern, die in Reichweite stehen, und marschiert so ausgerüstet auf Monique zu, die immer noch unter der Efeuranke in der Ecke steht und ziemlich geschmeichelt guckt. Bis meine Mutter vor ihr steht.

»Schickes Kleid. Aber du hast dir leider den falschen Mann dazu ausgesucht!«, faucht Mutti sie an – und leert mit einem Schwung den Sektkübel über Monique. Deren Frisur fällt so schnell in sich zusammen wie ihr Stolz, sie guckt einfach nur noch blöd und schnappt nach Luft.

Tolles Bild! Das hat Mutti wieder gut hingekriegt. Für mich wäre so ein Auftritt allerdings nichts gewesen, ich bin nicht so für offen ausgetragene Konflikte.

Der Eklat bedeutet aber auch: Schluss mit dem Heile-Welt-Spiel. Jedenfalls für mich. Alle wissen jetzt, dass Heiner etwas mit Monique hat, und alle wissen, dass ich es auch weiß. Und wahrscheinlich geht das Geläster bereits los. Klatsch und Tratsch im Dorf können mörderisch sein, und ich bin nicht gerne Zielscheibe. Also bleibt mir nur eine Möglichkeit: erst mal untertauchen. Einfach verschwinden.

Während hölzeme Klappstühle krachend zerbersten, Hinterköpfe dumpf auf den Boden knallen und Sektgläser klirrend zerschmettert werden – wir alle haben ja damals Bud Spencer und Terence Hill gesehen und wissen, wie so eine Klopperei auszusehen hat –, verlasse ich möglichst unauffällig die Sektbar. Rückwärts und auf Stöckelschuhen, manchen Frauen liegt so etwas ja, aber ich habe Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Ohne Vorwarnung fliegt mir mein Rock um die Ohren. Hinter mir steht ein Ventilator, ich könnte schwören, der war vorhin noch nicht da. Ich fange mein ungezogenes Kleid wieder ein und hoffe, dass der Anblick meines bloßen Unterleibes möglichst vielen Leuten erspart geblieben ist. Die sollen sich lieber anständig prügeln, statt mich anzustarren. Aber verlassen kann man sich darauf nicht, deshalb sprinte ich los, vorwärts, raus aus dem Zelt, verfange mich mit dem rechten Absatz in der aufgeweichten Pappe, verliere das Gleichgewicht, kann mich mit einem beherzten seitlichen Ausfallschritt noch gerade retten und versinke mit dem linken Fuß knöcheltief im Schlamm. Doch das kann mich nicht stoppen, die weiche Masse macht ein schmatzendes Geräusch, als sie mein Bein und den nicht mehr sehr goldenen Schuh unwillig freigibt. Ich eile weiter. Vorbei an den mückenfangenden Fischbrötchenverkäufem, die ihre Beute als kleine Strecke auf dem gläsernen Tresen ausgelegt haben. Vorbei an der Schießbude, in der eine traurige Plastikrose schon auf halb acht hängt, immer wieder von zwei Besoffenen beballert, die vom spannenden Spezialamüsement in der Sektbar noch nichts mitbekommen haben. Verfolgt von einem schmachtenden Saxophonsolo, das sich mühsam einen Platz in der Durchhaltehymne I am What I am erkämpft: »I am my own special creation«, intoniert Cher inbrünstig, während ich renne, so schnell ich kann und dabei denke: Ich bin gar keine Kreation, weder meine eigene noch besonders speziell. Ich bin einfach nur ich – und wer das sein könnte, das weiß selbst ich im Moment nicht so genau. Aber darauf kommt es ja jetzt auch gar nicht an.