5. Kapitel:
Alles ziemlich billig
Mittwoch, 11. Mai, später
Im Feuerwehrhaus verstecken wir uns auf der Galerie, von der aus wir den ganzen Raum überblicken können. Kurz darauf kommen ein Fotograf, sein Assistent samt Fotoausrüstung, Monique und eine Frau mit einem Alurollkoffer hereinmarschiert.
»Hier ist es ja total zappenduster«, brüllt der Fotograf. »Ey, Dirk, mach mal die Klappe da auf!« Er deutet auf das große Garagentor, durch das zwei Löschfahrzeuge gleichzeitig passen.
»Nee ... äh ... Moment mal, halt, das geht aber nicht«, piepst Monique dazwischen.
»Wieso denn nicht?«
»Dann können ja alle reingucken. Außerdem habe ich keinen Schlüssel dafür.«
Ach, denke ich, so exhibitionistisch wie sie immer tut ist sie also doch nicht.
»Rolfischatzi, du hast doch diese ganzen tollen Lampen mitgebracht, lass Dirk die doch aufbauen.« Die Frau mit dem Rollkoffer versucht die Situation zu retten. »Das sieht doch sooooo professionell aus!«
»Was hier professionell ist, bestimme immer noch ich«, murrt der wahnsinnig professionelle Fotograf, lenkt aber ein und gibt dem Assistenten ein Zeichen. Dirk baut Stative für die Lampen auf und verlegt Kabel, während Rolf hin- und hergeht, ein Auge zukneift und mit dem anderen den Raum durch ein Rechteck, dass er aus Daumen und Zeigefingern bildet, betrachtet. Nach einer Viertelstunde ist das Feuerwehrhaus komplett illuminiert.
Brigitte holt eine Super-8-Kamera aus ihrer Umhängetasche und drückt sie mir in die Hand. »Damit nimmst du die Show auf!« sagt sie.
»Und dann zeigen wir ein Best-of auf dem Feuerwehrball«, sage ich und grinse. »Aber wird man das Rattern nicht hören?«
»Keine Sorge«, antwortet Brigitte und zeigt auf den Assistenten, der gerade einen gigantischen Ventilator anwirft. Die Windmaschine erzeugt Verwirbelungen in Moniques Haupthaar und ein lautes Dröhnen. Um das zu übertönen, schaltet Dirk einen Ghettoblaster ein, aus dem hektische Drum-&-Bass-Rhythmen blubbern.
»Nun zeig mal, was du hast, Süße!«, grinst der Fotograf Monique an. Auf diesen Moment hat sie gewartet. Sie streift die Spaghettiträger lasziv über die Schultern und windet sich in einer elegant-frivol gemeinten Bewegung aus dem engen roten Kleid. Darunter trägt sie rote Spitzendessous aus dem örtlichen Modehaus, wie ich unschwer erkennen kann. Sie dreht sich kokett auf ihren hohen goldenen Sandaletten um die eigene Achse.
»Ich habe schon Models mit weniger Cellulitis gesehen«, befindet Rolf.
Monique sagt gar nichts.
»Mach mal den BH weg. Ich will sehen, ob deine Titten hängen.«
Zwar bin ich nicht gerade auf Moniques Seite, doch den Ton finde ich trotzdem nicht passend. Das ist also dieser wahnsinnig professionelle Fotograf, der so unglaublich künstlerische Fotos macht? Ich frage mich: Muss man als Fotograf so sein?
Monique öffnet den BH. Ganz professionell. Ohne Unterstützung sacken ihre Brüste ein paar Zentimeter tiefer, weg vom Kinn, mehr so auf natürliche Höhe. Der Fotograf stöhnt und hält sich theatralisch die Hand vor die Augen, als müsse er sie vor Taubenkacke schützen.
»Da muss Tape ran!«, sagt er zu der Rollkofferfrau gewandt. Die nickt und verzieht sich mit ihrer Ausrüstung in eine Ecke, in der ihr der Assistent schon Tisch, Stuhl, Spiegel und Licht aufgebaut hat.
»Los, los«, seufzt der Fotograf in Richtung Monique und wedelt mit seiner Hand in Gänsescheuchmanier.
Die Rollkofferfrau holt allerlei Tiegelchen, Tübchen und Täschchen aus ihrem Koffer und macht sich daran, Moniques Körper und Gesicht für die Fotoaufnahmen herzurichten. Dafür braucht sie jede Menge Make-up, das sie mit einem Spachtel aufträgt, eine Flasche Babyöl, mit dem sie Monique glasiert wie einen gerade gebackenen Kuchen, und eine Hand voll Glitzerstaub, den sie dekorativ auf ihrem Kunstwerk verteilt. Dann führt sie Monique wie eine Kuh auf einer Auktion dem Fotografen zur Beurteilung vor.
»Hast du nicht was vergessen?«, fragt er schroff.
»Ich dachte, es geht vielleicht ohne.«
»Fürs Denken wirst du nicht bezahlt«, herrscht der Fotograf sie an. Er geht zu ihrem Koffer, nimmt eine große Rolle Pflaster heraus und befiehlt Monique: »Umdrehen. Arme hoch!«
Er reißt ein großes Stück Pflaster von der Rolle; es sieht so aus, als wolle er sie fesseln. Aber dann nimmt er nur eine ihrer Brüste in die Hand, bringt sie in die gewünschte Position, zieht mit der anderen die Haut an der Seite und auf dem Rücken so straff wie möglich zusammen – und fixiert sie mit dem Pflaster. Ich habe ja schon gehört, dass man bei Modeaufnahmen die Klamotten, die den dürren Models zu weit sind, hinten mit ein paar Nadeln zusammen steckt. Aber dass man bei einem Nacktmodell ähnlich verfährt, das ist mir neu. Und ich finde es sehr unangenehm. Das Zuschauen wird mir langsam peinlich, doch ich filme weiter. Gleichzeitig bin ich fasziniert, genau wie Brigitte, deren Mund vor Verwunderung leicht offen steht.
Monique lässt die Prozedur ohne zu Murren über sich ergehen. Nur einmal fragt sie schüchtern: »Sieht man das nicht später auf den Fotos?« und deutet auf den Klebestreifen unter der Achsel.
»Ach, Püppchen, da merkt man mal wieder, dass du überhaupt keine Ahnung von künstlerischer Fotografie hast«, sagt Rolf gönnerhaft. »Das wird doch alles wegretuschiert. Genau so wie deine Cellulitis.«
Monique guckt leicht pikiert, sie hatte wohl gedacht, dass allein ihre natürliche Schönheit schon blendend genug sei.
Brigitte holt ihr Mobiltelefon aus der Tasche, tippt eine Nummer, wickelt dann das Handy in ein Taschentuch und wispert hinein: »Feuer! Die alte Hütte von Peters im Wald brennt. Kommen Sie schnell! Huch, jetzt ist der Empfang weg! Krchhhzzzzschkrkrkr!« Sie beendet das Gespräch und grinst mich an. »Es kann losgehen!«
»Was war das denn?«, frage ich.
»Blöde Frage. Ich habe gerade einen Brand gemeldet. Damit Monique ein paar Zuschauer für ihren großen Auftritt bekommt.«
Unsere Hauptakteurin folgt inzwischen brav den ebenso professionellen wie künstlerischen Anweisungen des Fotografen: »Ja, gib's mir Baby! Los, Titten hoch!« Sie lässt sich in alle möglichen Positionen dirigieren und räkelt sich sogar lasziv auf der Motorhaube des Löschfahrzeugs, wobei sie ein wenig aussieht wie eine Nacktschnecke, die beim Strip-Poker verloren hat.
Dann heulen die Sirenen los.
Monique sitzt gerade rittlings auf der Schlauchrolle, will in Panik abspringen, verfängt sich mit ihren High-Heels und hängt fest. Der Fotograf ist begeistert: »Ja, Baby, geil, bleib so, das ist ja total authentisch.« Der Lärm zerschneidet grell die Luft, die große Eingangstür öffnet sich, die Feuerwehrmänner des Dorfes strömen im Laufschritt herein und bleiben verdutzt vor der Szene stehen. Der Fotograf knipst ungerührt weiter. Monique sieht man an, dass ihr zum ersten Mal im Leben etwas peinlich ist. Sie ist puterrot angelaufen und versucht, sich mit den Schläuchen notdürftig zu bedecken, was dem ganzen Bild zusätzliche Pikanterie verleiht.
»Wollten wir nicht ein Feuer löschen?«, fragt Ralf-Georg, der sich als einziger nicht für die Szene zu interessieren scheint.
»Ja, genau«, rafft sich der alte Ortsbrandmeister Sörens zusammen. »Peters Waldhütte soll angeblich brennen.«
»So ein Quatsch«, sagt Ralf-Georg. »Ich komme gerade von dort. Da findet eine Grillparty statt. Und das Bier, das ich dort stehen gelassen habe, reicht locker zum Löschen der Holzkohle. Nein, da muss es sich um einen Fehlalarm handeln.« Er klingt ein bisschen enttäuscht.
»Bist du sicher?«, fragt der Ortsbrandmeister nach.
»Ganz sicher.«
»Tja, dann muss ich wohl umdisponieren. Wo ihr schon mal alle da seid – dann machen wir doch gleich mal eine Rettungsübung. Monique, es ist ja sehr freundlich von dir, dass du uns dabei helfen willst. Handliche Opfer können wir immer gebrauchen.« Sörens grinst. Doch dann hüllt er sie ganz ritterlich in eine knisternde goldene Rettungsdecke und befreit sie aus dem Schlauchgewirr.
Monique gewinnt langsam ihre Fassung wieder, macht »Pffff!« – warum, weiß ich auch nicht, wahrscheinlich hat sie mal in einer Fernsehserie gesehen, dass das ein passendes Geräusch für einen Abgang aus einer unpassenden Situation ist – und stöckelt als angeschlagener Rauschgoldengel davon.
Der Fotograf hat inzwischen schon ein paar Feuerwehrmänner, die ihre T-Shirts ausgezogen haben, von der Rollkofferfrau einölen lassen und lässt sie jetzt mit Schläuchen in der Hand posieren. »Super, Jungs, ja, genau so! Ihr seit Naturtalente! Kaum zu glauben, dass es so was in diesem Kaff doch gibt.«
Aus der Ferne hört man Monique wütend aufschreien. »Das war meine Idee! Meine Fotos! Mein Kalender! Mein Fotograf!«
Ich weiß nun definitiv, dass ich nicht Miss November sein werde. Die Vorstellung im Feuerwehrhaus war zu entwürdigend. Und damit meine ich jetzt nicht Brigittes kleine Überraschungs-Inszenierung, sondern den Teil davor. Sind alle Erotik-Fotoshootings so? Werden die Brüste aller Playboyhäschen von Leukoplast-Streifen in die richtige Position gebracht? Oder lag es an Moniques maßloser Selbstüberschätzung?
»Das hätten wir im Kasten!«, freut sich Brigitte neben mir – doch ein Blick auf mich lässt ihre Augenbrauen in die Höhe schnellen. »O nein, Silke! Jetzt werd bloß nicht schwach.«
»Werde ich nicht«, sage ich. »Aber den Film können wir nicht auf dem Feuerwehrball zeigen. Das ist zu ...«
»Zu was?«
»Zu irgendwas eben. Das will ich nicht. Irgendwie ... irgendwie tut mir Monique richtig Leid.«
Brigitte sieht mich streng an. »Du weißt doch, dass sie keine Sekunde zögern würde, oder?«
»Kann schon sein«, entgegne ich trotzig. »Aber ich bin schließlich nicht sie.« Einen Moment lang starren wir uns in die Augen. Ich weiß, worauf Brigitte wartet. Sie will, dass ich wegsehe und sie sich durchsetzt. Aber das werde ich nicht.
»Nein, du bist nicht wie Monique«, sagt sie schließlich. Und plötzlich ist in ihrem Blick etwas, das ich nicht recht deuten kann. Es ist wieder dieser Ausdruck, den sie auch damals hatte, als sie mir im Bus den Platz neben sich angeboten hat. »Du bist wirklich anders als die anderen.«
Was soll das denn jetzt heißen?
»Läuft die Kamera noch?«, frage ich, um abzulenken. Brigitte nickt. »Na, dann solltest du weiterfilmen.« Ich deute über die Brüstung. Brigitte folgt meinem Blick und beginnt zu kichern. Unter den steten Anfeuerungsrufen des Fotographen haben einige der Feuerwehrmänner offensichtlich alle Hemmungen und als direkte Folge alle Kleidung fallen lassen. Die Posen, die bei Monique vorher nur ein bisschen billig aussahen, erreichen einen neuen Höhepunkt.
»Mit so etwas kann man sicher viel Geld
verdienen!«, freut sich Brigitte. Dazu sage ich lieber nichts, sehe
aber ganz genau hin und sammle Erfahrungswerte für meine nächste
Phantasieverabredung mit Herrn Wesseltöft.
***
Donnerstag, 12. Mai
Erst passiert siebenundzwanzig Jahre in meinem Leben ungefähr gar nichts, jedenfalls nichts Unerwartetes, und jetzt alles auf einmal. Ich weiß, ich sollte am Boden zerstört sein. Aber seltsamerweise geht es mir anders. Es passiert mal was. Ich fühle mich eigenartig belebt. Wie eine Heldin im Film, die den Prüfungen des Schicksals ausgesetzt ist. Nur, dass ich noch nicht weiß, wie das Drehbuch weitergeht. Abe der Vergleich passt: Meine Zukunft kommt mir nicht vor wie das Loch, das Kalle und Heiner gebaggert haben, sondern eher wie ein unbeschriebenes Blatt Papier.
Ich fühle mich stark genug, sogar Heiners Mutter (meiner Ex-Schwiegermutter in spe) beim Kartoffelschälen zu helfen und mir ihre Haushaltstipps anzuhören. Sie sagt mir, wie ich den Sparschäler zu halten habe, damit ich die Schale noch dünner abschälen kann. Sie empfiehlt mir, Seifenreste in einem alten Nylonstrumpf zu sammeln und diese Strumpfseife dann statt Duschbad zu verwenden. Und dann schenkt sie mir im Überschwang sogar noch einen alten Brottopf, den sie im Keller zwischen Millionen anderen Töpfen und Übertöpfen gehortet hat. Ich bin gerührt – weil ich weiß, dass ich dieses Leben bald hinter mir lassen werde.
Bloß: Ein neues Leben ist noch nicht in Sicht.
Neulich habe ich gelesen, dass Frauen sich öfter mal »ins Unreine« scheiden lassen. Wenn sie also noch keinen neuen Partner haben. Männer würden eher dazu neigen, sich schon vor der Trennung jemanden zu suchen. Ist es nicht beruhigend, selbst den Statistiken zu entsprechen?
Unter dem Vorwand, ich müsste Staub wischen und ein paar ihrer Spartipps direkt in die Praxis umsetzen, verabschiede ich mich von Heiners Mutter und verkrümele mich unters Dach. Ich suche sämtliche Nagellackreste zusammen – ja, ich habe nicht gelogen, ich werde wirklich Reste verwerten! – und beginne mit einer French-Color-Maniküre. Der Feuerwehrball naht, und da will ich umwerfend aussehen. Ich habe schließlich einen Ruf zu verlieren! Moment, nein, das stimmt gar nicht: Was das optische Erscheinungsbild angeht, habe ich gar keinen Ruf. Ich glaube, das ist noch nie von jemandem wahrgenommen worden – außer von meiner Mutter und von Heiner.
Ach, Heiner. Es ist schon merkwürdig: Jahre habe ich mit ihm zusammengelebt, eingepfercht unter diesen Dachschrägen, und kaum mehr als einen flüchtigen Gedanken an ihn verschwendet. Und jetzt – kaum, dass ich weiß, dass unsere gemeinsame Zeit bald ein Ende haben wird – muss ich immer wieder über ihn nachdenken. Seltsamerweise empfinde ich aber keine Wut. In Filmen und Romanen sind die betrogenen Frauen doch immer rasende Furien, oder eiskalte Rächerinnen, oder auf eine andere Art in der Lage, ihrer Wut und Enttäuschung Ausdruck zu geben. Und ich? Ich bin einfach nur ... ja, was eigentlich? Ein bisschen traurig, glaube ich. Heiner und ich leben nebeneinander her, ohne uns wirklich wahrzunehmen. Wenn ich lachen will, wenn ich mich geborgen fühlen will, wenn ich möchte, dass es mir einfach nur gut geht, dann gehe ich zu Brigitte oder zu meiner Mutter. Heiner wird auch nicht nur aus Langeweile mit Monique in den Laubhaufen gestiegen sein. Er hat mich betrogen – aber ich ihn auch, irgendwie. Und es ist traurig, dass es soweit kommen musste. Denn auch, wenn man sich das heute kaum noch vorstellen kann: Heiner und ich hatten richtig schöne Zeiten miteinander.
Ich erinnere mich an unseren ersten gemeinsamen Feuerwehrball – oder besser gesagt: den Feuerwehrball, an dem wir zum ersten Mal als Paar auftraten, ganz offiziell. Heiner tanzte fast den ganzen Abend mit mir, er versuchte sogar ein paar Schritte Samba statt des ewigen Discofoxes. Er trug ausnahmsweise mal kein senffarbenes Sportmoderatorenjackett, sondern einen richtigen Anzug mit Schlips und Einstecktuch, und als er mich von zuhause abholte, hatte er eine langstielige Rose in der Hand. Zwei Wochen vorher hatte er mich gefragt, ob ich mit ihm gehen wolle. Ja, wirklich, er hat genau diese Worte benutzt. Das hieß damals so. Und mich hatte vorher noch nie jemand gefragt, dabei war ich schon achtzehn, und dann sagt man ja nicht beim ersten Mal gleich nein. Schließlich war ich ganz wild darauf, endlich einen festen Freund zu haben. Alle anderen – auch meine Schulfreundinnen Brigitte, Sandra und Dodo – hatten schon längst einen. Monique sogar mehrere.
Heiner hat mir, abgesehen von dem unappetitlichen Zwischenfall mit dem Pausenbrot, eigentlich immer ganz gut gefallen. Er sah nett aus (wenn man mal die seltsame Brille vergisst, die er immer lustig fand, die ich ihm aber ausgeredet habe, und die Comic-Socken und die Mottokrawatten, die ich ihm leider nicht abgewöhnen konnte), arbeitete schon bei seinem Vater im Autohaus und fuhr einen schnittigen Wagen. Ja, das klingt vielleicht ein wenig materialistisch, aber mit einem tiefergelegten Manta konnte man mich damals in all meiner jugendlichen Naivität schon beeindrucken. Heiner holte mich ab, fuhr mit mir zur Eisdiele und zum Discozelt drei Dörfer weiter. Sein Auto symbolisierte Freiheit, und er, mein fester Freund, gab mir Selbstbewusstsein. Ich fühlte mich erwachsen. Meine Mutter hörte auf mit der täglichen Warnung, ich würde nie einen abbekommen, wenn ich mich weiterhin so unvorteilhaft kleiden, meine Frisur vernachlässigen und nichts aus meinem Typ machen würde. Ich hatte ja endlich einen abbekommen. Heiner war, wie sie gönnerhaft feststellte, nicht der Schlechteste. Zumal die Auswahl der abzubekommenden Männer in einem 2000-Einwohner-Dorf (okay, die drei umliegenden Dörfer könnte man notfalls noch zum Einzugsgebiet dazurechnen) nicht gerade üppig war. Über den Daumen gepeilt gab es zwei ehemalige Mitschüler, die aber in der Stadt studierten und nur am Wochenende ins Dorf zurückkamen, außerdem drei Maurerlehrlinge, fünf ständig grölende Fußballfans (ich glaube, die hatten keinen anderen Beruf), zwei Apfel- und drei Schweinebauern, vier vom Bundesgrenzschutz (alle mit Schnauzbart), einen Konzernerben (der eine Strafe wegen sexueller Nötigung absaß) und noch ein paar andere, die ich mir nicht näher angesehen habe. Ich hätte es schlechter treffen können. Viel schlechter. Heiner brachte mich zum Lachen – zumindest am Anfang, als ich noch nicht alle seine Witze zum tausendsten Mal gehört hatte. Und er war irgendwie cool – nicht im Sinne von Trendzeitschriften-cool, aber er ruhte so in sich selbst. Er wusste, was er wollte. Und er wollte mich. So habe ich mir eine Beziehung damals vorgestellt: Der Mann entscheidet sich für eine Frau, dann sind beide zufrieden miteinander. Es gibt regelmäßig pannenfreien, unpeinlichen Sex – an etwas anderes wagte ich damals nicht zu denken –, man fühlt sich geborgen und der Lebensplan kann erfüllt werden, schön der Reihe nach: Haus, Hochzeit, Kinder. Oder erst die Hochzeit und dann das Haus? Egal. Die Kinder auf jeden Fall später. Gemeinsames Kaffeetrinken nach Feierabend auf der Terrasse, alle paar Jahre ein neues Auto und hin und wieder ein Urlaub im Süden. Nicht nachdenken müssen. Einfach leben. Dass das auch schiefgehen könnte, dass Widrigkeiten auftreten könnten, das war einfach nicht vorgesehen.
Ich werde mich diesen Widrigkeiten stellen. Werde das Ruder selbst in die Hand nehmen und mich herausmanövrieren. Ich werde auf dem Feuerwehrball allen zeigen, wie stolz und unangreifbar ich bin. Die French-Color-Maniküre wird ein Zeichen meiner Stärke sein. Das Ibiza-Kleid wird Selbstbewusstsein ausdrücken.
Verdammt, schon wieder übergemalt. Auf meinem großen Zeh mäandern türkise und pinkfarbene Nagellackschlieren ineinander. In der Illustrierten sah das viel akkurater aus. Ich muss Brigitte anrufen, Nagellack sollte man immer im Team auftragen. Sie muss heute Abend nach der Arbeit einfach Zeit für mich haben.
»Vergiss den Nagellack, heute wird getuppert«, sagt Brigitte.
»Was? Wo denn?« Schlagartig bin ich aufgeregt. Tupperpartys gehören zu den gesellschaftlichen Highlights des Landlebens. Nirgendwo erfährt man mehr Klatsch und Tratsch und praktische Neuigkeiten, darf jede Menge Schnittchen und Sekt zu sich nehmen, kann gleichzeitig einkaufen und bekommt sogar noch ein Geschenk. Ich weiß zwar danach nie, was ich mit dem ganzen Plastikzeug anfangen soll, aber das macht nichts. Irgendwie verschwindet es sowieso immer aus meinen Schränken und taucht dann bei meiner Mutter wieder auf, die allerdings steif und fest behauptet, die bunten Schüsselchen hätten schon immer ihr gehört. Wahrscheinlich spüren die Dinger, wo sie hingehören, wer ihnen ein echtes Zuhause bieten kann.
»Bei Dodo, hast du das denn schon wieder vergessen? Mensch, Silke! Um sieben geht es los. Ich habe uns angemeldet.«
»Danke!« Keine Tupperparty ohne Anmeldung – und ich erinnere mich dunkel daran, vor Monaten eine Einladung bekommen zu haben, die ich bestimmt nicht ordnungsgemäß ausgefüllt und zurückgeschickt habe. Dabei ist das immens wichtig! Schließlich muss die Tupperberaterin genug Gastgeschenke mitbringen. Und die Gastgeberin genug Sekt kaltstellen. Manche sind ja zickig, wenn man so kurzfristig noch dazukommen möchte, aber Dodo ist da sehr großzügig. Und ihre Partys sind immer besonders lustig, was unter anderem auch an ihrer hausgemachten Spezialbowle liegen könnte. Letztes Mal haben Brigitte und ich sogar eine Playbackshow zu Say Hello, Wave Goodbye von Soft Cell improvisiert. Mit dramatischem Schmachten in Kittelschürzen und einer kurzen Table-Dance-Einlage. Angeblich. Ich kann mich nicht genau daran erinnern. Öffentliche Auftritte sind eigentlich nicht meine Stärke – man denke an die Jungesellinnenabschiedsparty –, aber Dodos Bowle enthemmt erstaunlich.
Brigitte, Dodo und ich waren früher mal ein gutes Team. Sandra gehörte auch dazu. In der Schule saßen wir gemeinsam in der letzten Reihe, waren dort mehr mit Zettelchen schreiben als mit dem Unterrichtsgeschehen beschäftigt, hatten aber trotzdem keine schlechten Noten – weil wir uns gegenseitig geholfen haben. Brigittes Spezialfächer waren Geschichte und Gemeinschaftskunde, Dodo war ein Mathe-Genie, Sandra hat die Naturwissenschaften abgedeckt, und ich war für Deutsch und Englisch zuständig. Die Hausaufgaben haben wir in Arbeitsteilung erledigt und den Sportunterricht gemeinsam geschwänzt.
Dodo hat direkt nach dem Abitur geheiratet und schnell nacheinander drei Kinder bekommen. Ausgehen war da nicht mehr drin. Und Brigitte und ich hatten einfach keine Lust, uns ständig über Windeln und Bobbycars und Zahnungsschmerzen zu unterhalten.
Sandra ist die einzige meiner Freundinnen, die in die Großstadt gezogen ist und studiert. Das Parkplatzproblem hat sie nie gestört, denn sie hat kein Auto. Sie braucht keins, sagt sie. Eine Einstellung, die hier im Dorf größere Verwirrung auslöst. Wie, man braucht kein Auto? Wie soll man denn sonst einkaufen? Zur Arbeit fahren? Urlaub machen? »Zu Fuß oder mit der U-Bahn. Und zum Flughafen fahre ich einfach mit dem Taxi«, sind Sandras Antworten auf diese Fragen. U-Bahn? Wie exotisch. Taxi? Wie dekadent. Aber auch: Wie glamourös!
Sandra und ich treffen uns selten – eigentlich nur, wenn sie zu einem der bereits erwähnten Pflichttermine zu ihren Eltern kommt. Wenn wir uns sehen, ist es sehr nett, mehr aber auch nicht. Unsere Lebenswelten sind inzwischen einfach zu verschieden.
Ich bin froh, dass Brigitte und ich
zusammenhalten.
»Übrigens«, sagt Brigitte so beiläufig wie möglich, »ich gehe nicht mit zum Feuerwehrball.«
»Was? Wie bitte? Wie kannst du mir das antun?«, schreie ich ins Telefon. »Ich habe mir extra ein Kleid gekauft!«
»Meinetwegen? Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen, Schatz«, kontert Brigitte kokett. »Außerdem: Du trägst nie Kleider.«
»Doch. Zum Feuerwehrball. Denn ich will so gut aussehen, dass allen die Augen brennen.«
»Das wird dir bestimmt gelingen. Aber dafür brauchst du mich doch nicht. Wolfgang, der braucht mich dieses Wochenende.«
»Er ist ein Mann, der braucht niemanden.« Ich muss zugeben, mein aktuelles Männerbild ist nicht gerade positiv.
»Er ist mein Mann. Er braucht mich. Und so soll das auch bleiben, deshalb fahre ich hin. Er hat nächstes und übernächstes Wochenende keine Zeit, irgendwelche überraschenden Seminare, frag mich nicht. Und du weißt: Den Feuerwehrball kann ich ihm nicht antun. Das ist so gar nicht seine Welt. Außerdem ist es mir gerade gelungen, für das Wochenende ein Space-Clearing-Team zu bekommen. Ich lasse meine Wohnung nach Feng-Shui-Kriterien umbauen, irre, oder?«
»Du lässt Handwerker in deine Wohnung, während du nicht da bist?« Manchmal kommt mir Brigitte – obwohl das eigentlich überhaupt nicht sein kann – total naiv vor.
»Da darf sogar niemand in der Wohnung sein. Das würde das Chi stören.«
»Aha«. Ich verzichte auf weitere Erklärungen. Brigitte wird schon wissen, was sie tut. Und ich muss ja nicht alles verstehen.
»Nun schmoll nicht, Silke. Ich hole dich heute Abend ab, okay?«
Kaum habe ich aufgelegt, klingelt das Telefon schon wieder.
»Nie meldest du dich!«, trötet meine Mutter Nummer Fünf ihrer Top-Ten-Standardvorwürfe ins Telefon. Das ist neuerdings ihre Lieblingsgesprächseröffnung, dabei begegnen wir uns mindestens einmal am Tag. Ich kann ja kaum aus dem Haus gehen, ohne ihr über den Weg zu laufen. Deshalb gehe ich auch nicht darauf ein, sondern lasse sie gleich weiterreden. »Ich muss unbedingt zum Aldi, da gibt es Rhododendronbüsche im Angebot!«
»Rhododendronbüsche?«
»Rhododendren geben dem Garten Parkcharakter«, findet meine Mutter. Und Parkcharakter ist was Tolles, jedenfalls in ihrem Weltbild. Das Gegenteil von, sagen wir, ungepflegt oder gar verwildert. Oder lieblos. Dabei geht sie nie in Parks. Es gibt hier ja auch gar keine, wir sind ja auf dem Land und nicht in der Stadt. Und in die Stadt fährt meine Mutter nicht freiwillig, noch nicht mal, um sich einen Park anzusehen. Es sei denn, es handelt sich um einen völlig durchorganisierten Busausflug mit dem Landfrauenverein. Dann vielleicht. Auf jeden Fall ist der Garten meiner Eltern voll von Rhododendronbüschen, die meine Mutter allesamt mit Namen anspricht. Es gibt den Gartendirektor Glocker, von dem spricht sie wie von einem alten Hausfreund. Viscy klingt in meinen Ohren mehr wie ein Haustier und Catawbiense Grandiforum nach einer Operndiva oder einer italienischen Urlaubsbekanntschaft. Mein Vater liebt seine Rhododendronsträucher wahrscheinlich sogar noch mehr als meine Mutter es tut. Aber er redet nicht so viel. Im Grunde sagt er meistens gar nichts. Obwohl meine Mutter stets behauptet, mit ihr würde er alles ausführlich besprechen. Nur sei dann eben meistens zufällig niemand in der Nähe. Vielleicht ist diese Rollenverteilung auch das Geheimnis ihrer glücklichen Ehe: Sie spricht, er hört zu. Oder auch nicht. Man weiß ja nicht, was in ihm vorgeht.
Auch im Ausland, besonders in Amerika, kommen beide damit klar: Sie spricht Englisch, er versteht es. Behaupten sie jedenfalls steif und fest. Aber wer mit Pflanzen sprechen kann, der wird ja wohl auch mit so kommunikativen Wesen wie Amerikanern einen gepflegten Plausch halten können.
Jedenfalls hat meine Mutter all ihren Bekannten und Freundinnen versprochen, Rhododendronpflanzen vom Aldi mitzubringen, und jetzt braucht sie mich zum Schleppen. »Man soll im Urlaub nicht nur faul rumhängen, davon schrumpft der Intelligenzquotient.«
»Woher hast du das denn schon wieder?«
Die eigenwillige Allgemein- und Spezialbildung meiner Mutter erstaunt mich immer wieder. Erst neulich hat sie mir geraten, nie in chinesische Restaurants zu gehen, die kein Aquarium haben. Die würden nämlich kein Schutzgeld zahlen und man könnte daher jederzeit mit einem Überfall der Tiraden rechnen – der chinesischen Mafia, wie sie nachschob. Ein interessanter Ratschlag, dabei gehen weder sie noch ich jemals chinesisch essen. Es gibt hier in der Gegend nämlich gar kein chinesisches Restaurant. Und wenn es eines gäbe, wäre es wahrscheinlich sehr schnell pleite, weil die Leute hier glauben, wenn sie beim Chinesen Schwein bestellen, bekommen sie Ratte. Das hat jedenfalls die Oma unseres Nachbarn immer behauptet. Das Vertrauen in das griechische Essen – vor allem in riesige Fleischplatten – ist im Ort größer.
»Das habe ich im Fernsehen gesehen«, verrät Mutti bereitwillig die Quelle ihres Wissens. »Die sind nach Ibiza gefahren, haben den Leuten ganz alltägliche Bürogegenstände gezeigt und dann gefragt, wie die Sachen heißen. Die, die schon zwei Wochen am Strand gelegen hatten, wussten noch nicht mal die Bezeichnung für diese ... na, sag schon, wie heißen sie noch ... Mensch, es liegt mir auf der Zunge, diese kleinen Dinger aus Draht ...«
»Büroklammern?«
»Genau! Erschreckend, nicht? Und damit es dir nicht auch so ergeht, fährst du am besten mit mir zum Aldi.«
Dieser brillanten Argumentation muss ich mich beugen. Allerdings habe ich immer noch nicht vor, meiner Mutter zu sagen, dass sich meine beiden bisherigen Berufsoptionen – zukünftige Leiterin der örtliche Sparkassenfiliale oder Hausfrau und Spezialistin für Wohnambiente im Fertighaus – einfach so in Luft aufgelöst haben. Anscheinend hat sich meine Kündigung doch noch nicht herumgesprochen. Susi und Herr Markmann wohnen jeweils zwei und drei Dörfer weiter, da scheint es keine direkte Klatsch-Verbindung in meinen Heimatort zu geben. Vielleicht hat Susi auch gar nicht mitbekommen, dass ich nicht mehr ihre Kollegin bin. Zuzutrauen wäre ihr das ja. Und Herr Markmann schweigt diskret.
Eigentlich hatte ich ja vor, eine Liste mit Plänen für die Zukunft zu machen – oder mir wenigstens auszumalen, wie die Zukunft aussehen könnte. Ich habe es kurz probiert, aber mir ist einfach nichts eingefallen. Meine Zukunft sieht aus, als hätte meine Mutter versucht, den Videorecorder zu programmieren, um Nur die Liebe zählt und ein paar Telenovela-Episoden aufzunehmen, sich aber mit den Knöpfen vertan, und statt der Friede-Freude-Eierkuchen-Welt, in der spätestens nach 45 Minuten alles gut ist, sieht man auf dem Band nur Grisselkrams. Rauschen. Einen unwirtlichen Schneesturm. Ich verstehe zwar nicht, warum so viele Menschen, die eine Waschmaschine fehlerfrei bedienen können, nicht in der Lage sind, einen Videorecorder korrekt einzuschalten, aber der Alltag beweist diese Form ausgeprägter High-Tech-Legasthenie immer wieder. Ich habe meine Mutter einmal gebeten, mir Frühstück bei Tiffany aufzunehmen, und bekam von ihr eine hübsch beschriftete Kassette – darauf waren leider eine Diskussionsrunde über die Hundeverordnung und ein Krimi, der im Dackelzüchtermilieu spielte. Okay, der war interessant, ich wusste gar nicht, dass Dackelzüchter so finstere Gestalten sind, aber ich hätte den Sonntagnachmittag doch lieber mit Holly Golightly verbracht.
Aber wäre meine Zukunft nicht sowieso verloren gewesen, wenn sie ein Videoband wäre? Ich meine, bald haben alle DVD-Player, und dann säße ich da mit meinem alten Videogerät und meiner einen Zukunftskassette, und muss hoffen, dass es keinen Bandsalat gibt.
Es ist doch seltsam: Ich flüchte mich in die
skurrilsten Parabeln, nur um keine Pläne machen zu müssen. Warum?
Weil ich einfach nicht weiß, wie das geht: Pläne machen. Musste ich
ja noch nie. War nicht nötig. Lief doch alles von selbst. Tut es
jetzt auch, aber aus dem Ruder, und ich gucke mir das seelenruhig
an und fahre mit meiner Mutter zum Aldi, Rhododendren kaufen.
Mutti fährt mit Schwung vor dem Laden vor und schießt in eine der begehrten Parklücken direkt vor dem Eingang. Zwar gibt es mehr als ausreichend Parkplätze auf dem ungefähr fußballplatzgroßen Gelände, aber es ist für sie eine Art sportliche Disziplin, immer direkt vor der Tür zu parken. Genau wie Backen ohne Waage und Messbecher, dafür mit voll aufgedrehtem Ofen. Und Wäsche waschen ohne Colorschutz. Distanzfreies Parken – übrigens auch, was die umstehenden Autos betrifft. Wessen Fahrertür an Muttis Parkplatz angrenzt, der muss seinen Wagen meist mühsam über den Beifahrersitz erklimmen.
Ich würde mich das nie trauen. Ich halte mich immer genau an die Verkehrsregeln. Vielleicht manchmal einen Tick zu genau, es sei denn, ich übersehe mal ein Einbahnstraßenschild. Das kommt aber so gut wie nie vor, denn in unserem Dorf gibt es keine Einbahnstraßen. Heiner sagt, ich fahre zimperlich, dabei fahre ich bloß defensiv, wie ich das in der Fahrstunde gelernt habe. Ans Steuer seines Wagens lässt er mich nur, wenn er viel getrunken hat und nicht weiß, wie er sonst nach Hause kommen soll.
Als ich vom Beifahrersitz auf den Fahrersitz klettere, um die einzige verbliebene Ausstiegsmöglichkeit aus Muttis Corsa zu nutzen, bevor auch die von motorisierten Gartenfreunden zugeparkt wird, stoße ich mir das Bein. Das gibt bestimmt einen blauen Fleck. Ich bekomme leicht blaue Flecken, und manchmal bilde ich mir ein, ich hätte sie, weil Heiner mich geschlagen hat. Das macht mich irgendwie an. Pervers, ich weiß, und zudem noch völlig absurd, ich weiß auch nicht, wie ich auf so etwas komme.
Mutti holt einen Einkaufswagen und strebt, ohne Zeit zu verlieren, auf die Rhododendronbüsche zu. Die sind vor dem Laden aufgetürmt, der aussieht wie ein viel zu groß und zu flach geratenes Einfamilienhaus, bei dem der Architekt die Fenster vergessen hat. Früher haben sich Architekten, denen beispielsweise ein Kirchturm schief geraten ist, von eben diesem gestürzt. Das war eine Frage der Ehre! Von einem Architekten, der von einem Supermarktdach in die, naja, Tiefe kann man wohl kaum sagen, gesprungen ist, habe ich noch nie gehört. Wahrscheinlich ist ihnen einfach nichts passiert.
Ich werfe einen vorsichtigen Blick nach oben, als ich mich der Eingangstür nähere, nicht, dass da doch noch plötzlich ein Architekt auf mich niederfällt, werde aber von Mutti zurückgepfiffen.
»Silke! Du solltest mir doch helfen!«
»Dein Einkaufswagen ist ja schon voll mit dem Gestrüpp.«
»Das ist erstens kein Gestrüpp, sondern Nova Zembla, und zweitens musst du den jetzt schieben. Ich brauche einen zweiten Wagen.«
»Wozu das denn?«
»Zum Einkaufen! Glaubst du, ich bin nur wegen der Pflanzen da? Wo es doch beim Aldi so guten tiefgefrorenen Lachs gibt!«
Ich steuere den hochbeladenen Grünzeugswagen vorsichtig durch die Gänge, was recht kompliziert ist, da die Blätter die Sicht doch ziemlich einschränken. Mutti bleibt an einem weiteren Sonderangebots-Display stehen.
»Ach, sind das aber hübsche Schabracken! Und so günstig!« Sie nimmt zwei Packungen mit gelbgemusterten Vorhängen und wirft sie zu den zehn Packungen Tiefkühllachs in ihren Wagen.
»Wozu brauchst du denn Vorhänge? Habt ihr mal wieder ein neues Fenster eingebaut?«
Meine Eltern bauen ihr Haus permanent um. Immer, wenn ich sie besuche, muss ich raten, was wieder neu ist. Wenn ich Glück habe, kann ich noch einen Hauch Baustaub entdecken. Dann ist es leicht. Aber meistens verwischt Mutti alle Spuren. Letztes Jahr wäre ich fast nicht darauf gekommen, dass der Wintergarten neu ist. Der sah einfach so aus, als hätte er schon immer da gestanden.
»Nein, aber man weiß ja nie. Ich habe schon eine Idee, wo die gut hinpassen könnten ... Du wirst schon sehen.«
Den letzten Satz verstehe ich als Aufforderung, nicht weiter zu bohren. Ich frage also nicht nach. Schließlich habe ich selbst etwas zu verbergen.
»Schnell, Silke, komm mal hierher!« Mutti zieht mich hinter einen Stapel mit Olivenöl-Kartons, das beim Aldi bekanntlich besonders gut ist. Sie flüstert: »Guck mal unauffällig dort rüber, auf halb fünf. Dort ist Frau Marnke.«
Meine Mutter zeigt in die Richtung, denn mit ihrer Uhrzeitorientierungsangabe kann ich nicht sofort etwas anfangen, schließlich trage ich seit Jahren, wenn überhaupt, eine Digitaluhr. Ich sehe die Frau des Gärtners aus unserem Dorf, die gleich zwei Einkaufswagen, die noch üppiger mit Sträuchern beladen sind als unserer, den Gang entlang zur Kasse schiebt.
»Vielleicht will sie ihrem Garten auch etwas Parkcharakter verleihen«, vermute ich.
Mutti lacht angesichts meiner Naivität einmal kurz höhnisch auf, gerade leise genug, dass uns niemand bemerkt. »Das glaubst du ja wohl selber nicht! Deren Garten sieht doch aus, als hätte dort eine Horde wilder Stiere gezeltet. Sollst mal sehen, die Dinger verkauft sie teuer weiter. Mit mindestens hundert Prozent Aufschlag.«
Ich finde, da ist nichts dabei; mir ist es egal, woher der Gärtner im Ort seine Ware bezieht, ob aus holländischen Gewächshäusern oder vom Aldi. Direktimporte aus dem Regenwald würden mich vielleicht stutzig machen, aber so dröge, wie das Zeug aussieht, das dort im Laden herumsteht, ist dies nicht zu befürchten. Meine Mutter ist da anders: Sie will beim Aldi Schnäppchen machen und sich darüber freuen, und sie will beim Gärtner hochwertig gezogene Gärtner-Rhododendron kaufen. Und diese beiden Welten sollen bitte getrennt bleiben und sich höchstens unter ihrer Kontrolle in den Rabatten ihres Gartens mischen. Hintergangen werden möchte sie nicht.
Die vielen Büsche, die Mutti gekauft hat, passen kaum in ihr Auto (obwohl es sich ja um das beste Auto der Welt handelt, in das prinzipiell alles hinein passt, man könnte ganz Rom damit umsiedeln), aber Mutti ärgert sich schon, dass sie nicht noch mehr gekauft hat, denn jetzt gibt es keine mehr. Frau Marnke hat den gesamten Sonderpostenbestand mitgenommen.
»Naja, die wird sie nicht gut loswerden«,
tröstet sich Mutti. »Ich bringe ja den meisten ihrer potentiellen
Kunden schon welche mit.«
Abends schrubbe ich mir mühsam den Dreck unter
den nur noch partiell bunten French-Manicure-Fingernägeln weg. Ich
habe Mutti geholfen, Onkel Stubbe
und Generaldirektor Kruse, oder wie
die blättrigen Laubhaufen so heißen, einzupflanzen. Dabei kann ich
das Gefühl von trocknender Erde auf der Haut nicht ausstehen. Ich
fühle mich dabei so schmutzig, fast lebendig begraben. Gartenarbeit
ist mir so verhasst wie Monique ein Ultrakurzhaarschnitt. Zwar
fasziniert es mich, etwas wachsen zu sehen, das man essen kann,
aber über ein paar Töpfe Basilikum hinaus hat sich mein grüner
Daumen noch keine Lorbeeren verdient. Ach, doch, wo ich es gerade
sage: Lorbeer natürlich auch. Und Minze, aber die wächst ja wie
Unkraut. Ansonsten sind Pflanzen mir so fern wie der Wunsch, meinen
Kopf ins Maul eines Krokodils zu stecken. Obwohl: Das wäre
wenigstens aufregend. Aber Rasen mähen? Die langweiligste
Beschäftigung der Welt, noch langweiliger als Krabben pulen. Dabei
kann man sich ja wenigstens noch unterhalten. Einmal hat mich der
Aufsitzrasenmäher meiner Eltern mit seinem monotonen Gedröhn
böswillig eingelullt und ich habe ein Blumenbeet niedergemetzelt,
bevor mich ein großer dorniger Strauch bremste. Seitdem habe ich
auf dem rechten Unterarm eine kleine Narbe in Form einer
Schwertlilie – nicht, dass ich wüsste, wie eine Schwertlilie
aussieht, aber Mutti hat es mir gesagt.
»Weißt du schon, was du machen wirst?« Das ist Brigittes erste Frage, als sie mich zu Dodos Tupperparty abholt.
»Wie, machen? Du meinst, kaufen? Ich brauche ein paar Sachen zum Einfrieren.«
»Blödsinn, du frierst doch nie was ein. Du isst immer alles gleich auf. Das ist bestimmt ein Auftrag deiner Mutter.« Sie guckt mich streng an, ich überlege schon, wieder nach Hause zu gehen, aber da wird dann Heiner sein, dem ich bislang erstaunlich erfolgreich aus dem Weg gegangen bin. Außerdem bohrt Brigitte bereits weiter: »Ich meine wirklich: machen. Mit Heiner, mit deinem Job. Willst du weiterhin alles verschweigen?«
Ja, denke ich, das ist doch eine gute Idee, warum bin ich da nicht selbst drauf gekommen? Ich halte einfach meine Klappe und mache weiter wie bisher! Heiner und ich bauen das Haus, wir ziehen ein, Heiner, ganz antiquierter Macho, sagt: »Meine Frau muss nicht arbeiten«, ich gebe offiziell meinen Job in der Bank auf und wir werden nicht glücklich, aber zufrieden. Monique wird Heiners Camilla und ich bleibe Lady Diana. Und wenn ich dann tot bin, fliegt alles auf. Ihr Leben war eine einzige, verzweifelte Lüge, steht dann in meinem Nachruf im Wochenblatt, der zufällig von einer Bestsellerautorin gelesen wird und sie zu einem weiteren Erfolgsroman inspiriert. Dieser wird verfilmt, mit der Cameron Diaz oder Julia Roberts der nächsten Generation in der Hauptrolle und ich komme posthum zu gigantischem Ruhm.
Brigitte lacht, als ich ihr meinen tollen Plan verrate. »Und wenn es bloß eine deutsche Verfilmung mit, sagen wir mal, der Tochter von Veronica Ferres wird?«, gibt sie zu bedenken.
Nein, das geht natürlich nicht. Vielleicht ist der Plan doch nicht so gut. Immerhin, es ist ein Plan! Mein erster! Zwar keiner, der mir besonders viel Initiative abverlangt, aber immerhin.
»Warum hast du denn einen Gehstock dabei?«, frage ich Brigitte, die mit einem hölzernen Stab herumfuchtelt und dabei komisch hin und her tänzelt. »Oder bist du jetzt ein Funkenmariechen?«
»Nein, das ist Capoeira«, klärt sie mich auf. »Eine Mischung aus Kampf und Tanz. Geht auf karibische Sklaven zurück, und damit kann ich den K-Punkt auf meiner Liste abhaken. Ein Karibikurlaub ist im Moment einfach nicht drin, Wolfgang kann sich so schlecht freinehmen.« Sie hüpft wild im Kreis um mich herum und fuchtelt dabei mit dem Stock gefährlich nah vor meiner Nase. »Ich dachte, ich mache mich schon mal für unseren bowleseligen Tabledance warm.«
»Heb dir deine Kampftanzkünste lieber für Monique auf. Wenn sie wieder mit diesem Achtung-ich-kann-Aerobic-Gesicht umherstolziert, kannst du ihr ja zeigen, wie weit sie damit kommt.« Ich muss grinsen, als ich mir dieses ungleiche Duell vorstelle.
»Gute Idee«, sagt Brigitte, lässt den Stab am nächsten Jägerzaun entlang rattern und meint das durchaus ernst.