6. Kapitel:
Ich unterschreibe nichts!

Donnerstag, 12. Mai, abends

Das Tollste an einer Tupperparty ist das Gastgeschenk. Das bekommt man einfach so von der Tupperberaterin, man muss noch nicht mal etwas kaufen! Und Dodo macht immer dann eine Tupperparty, wenn es ein besonders schönes Gastgeschenk gibt. Da achtet sie schon drauf, schließlich wechselt das Angebot monatlich. Heute gibt es ein Prima Klima. Das ist eine grüne Plastikschachtel mit Deckel, deren Boden gewellt ist. Vorne sind kleine Nupsies dran.

»Darin hält sich Gemüse wochenlang frisch!«, erklärt uns die Tupperberaterin, eine energische Mitdreißigerin mit einem leichten Überbiss, der ihr Ähnlichkeit mit einem Pferd verleiht. »Ich tue da immer Möhren rein, die sind nach drei Wochen noch immer 1-A!«, versichert sie, bleckt kurz die Zähne und schüttelt ihre dichte, blondierte Haflingermähne. Der pinkfarbene Lippenstift auf ihrem Zahn gibt ihrem Werben einen hübschen farbigen Akzent, deshalb weise ich sie nicht darauf hin. Stattdessen drücke ich an den Nupsies herum.

»Wofür sind die?«

»Das sind sozusagen die Augen«, erklärt Frau Pferdegebiss.

Ich gucke sie verwirrt an. Ich habe noch nicht mal von der Bowle probiert und schon kommt sie mir komisch. »Augen?«

»Ja, hihi, wir nennen das so. Damit kann man das Mikroklima im Prima Klima regulieren.« Mit geübten Handgriffen drückt sie an der Box herum und demonstriert mir die verschiedenen Blickmöglichkeiten. »So sind sie geöffnet, so geschlossen. Und sie können auch blinzeln.«

Ich stelle mir vor, wie mich die giftgrüne Schachtel aus den Tiefen meines Kühlschrankes heraus verzweifelt anblinzelt, um mich darauf aufmerksam zu machen, dass in ihrem Inneren vier Monate alte Möhren – noch immer knackig frisch – ihrer Erlösung harren. Gibt es Prima Klima auch in größer? So in ungefähr, sagen wir, Konfektionsgröße 42? Ich könnte mich prima hinein setzen, oder vielleicht legen, das ist auf Dauer wohl bequemer, und einfach abwarten, bis sich meine Probleme verflüchtigt haben und mein Lebensklima wieder meinen Vorstellungen entspräche. Dann würde ich wunderbar frisch und erholt der Box entsteigen und ... ja, was dann? Weiterleben wie bisher? Hier hakt der Plan. Muss ich noch mal überdenken.

Die Tupperberaterin holt aus zwei großen Reisetaschen mit der Aufschrift dress for success Ob ihr Job wohl das ist, was sie sich unter success vorstellt? Aber bei dem Thema halte ich wohl besser den Mund. – die neuesten Highlights des Sortiments: Backformen aus glibberigem roten Material, die garantiert nicht im Ofen schmelzen, obwohl sie sich anfühlen, als würden sie schon nach fünf Minuten in der Sonne zerlaufen wie Playmobilmännchen auf der heißen Herdplatte. Das hat Brigitte früher angeblich mal ausprobiert. »Die grinsen bis zum Schluss«, schwärmt sie heute noch von ihrer makabren Spielzeugfolter.

Der absolute Tupper-Knüller ist eine Schale aus der Reihe Eleganzia. Natürlich auch aus unverwüstlichem Plastik, diesmal allerdings als Glas getarnt. Eine recht aufwändige Maskerade in verschiedenen Blautönen. Das Ergebnis ist nur beinahe gelungen: Die Schale sieht nicht wirklich gläsern aus, man hat aber das Gefühl, sie würde in spitze Scherben zerspringen, ließe man sie fallen. Die Tupperberaterin bietet an, das Gegenteil zu beweisen und die Bruchfestigkeit der Ware zu demonstrieren, aber Dodo gibt vor, Angst um ihre Terrakottafliesen zu haben. In Wirklichkeit schreckt sie wahrscheinlich die Vorstellung ab, dass alle ihre Gäste auf Knien herum kriechen und beim Zusammensuchen der Scherben lauter Dinge finden, die sie vor Ewigkeiten unter die Schränke und in dunkle Nischen gefegt hat. Wir spielen uns doch alle hier gegenseitig vor, wir wären die perfekte Hausfrau. Das heißt: Fast alle. Brigitte ist es egal, wie sie auf andere wirkt, und ich lade einfach keine Gäste ein. Aber die anderen: Ulrike, die immer nur zur Spargelzeit einlädt, weil das wahrscheinlich das Einzige ist, das sie kochen kann. Sabine, die für jede kleine Besorgung das Auto nimmt, aber niemals und unter gar keinen Umständen damit auf die Autobahn fahren würde. Claudia, die mit ihrem Mann eine Doppelhaushälfte bewohnt und sich einen erbitterten Kleinkrieg mit den Nachbarn in der anderen Haushälfte liefert. Jetzt überlegen sie sogar, ihren Teil des Hauses andersfarbig zu streichen, um sich zu distanzieren.

Ich denke plötzlich an den Massivhauspark. Dort muss niemand heile Welt vorgaukeln oder sich Gedanken darüber machen, was die Nachbarn denken. Dort ist alles nur Fassade – und will auch gar nichts anderes sein. Wie beruhigend. Abends, wenn die Siedlung menschenleer zurückbleibt, ist es dort bestimmt wunderschön. Ganz friedlich.

Als Dodo den Bruchtest der engagierten Tupper-Ponydame abgewendet hat, betritt Monique den Raum. Sie ignoriert Brigitte und mich, wirft Dodo ein gekünsteltes »Hallöchen!« zu und verteilt Küsschen an drei der anwesenden Gäste, Miss April, Mai und Juni, wie mir plötzlich auffällt. Das fragwürdige Fotoshooting wird nicht erwähnt, stattdessen reden sie über neue Bauchmuskelstraffungsübungen und über Claudias Nachbarin, die es gewagt hat, den Friseur in der nächsten Kleinstadt aufzusuchen und deren blonde Strähnchen jetzt angeblich einen eigenartigen Schimmer haben.

»Warum sind die Tusneldas hier? Sind das etwa deine neuen Freundinnen?«, zischt Brigitte Dodo zu.

Die bleibt ganz gelassen. »Nö«, antwortet sie cool. »Das ist rein politisches Networking.«

»Hä? Wie meinst du das denn?«, hakt Brigitte nach. »Von Politik haben die doch gar keine Ahnung.«

»Müssen sie auch gar nicht. Es reicht, wenn ich davon Ahnung habe. Und mit drei Kindern ist man irgendwann sicher auf diplomatischem Parkett.« Dodo grinst.

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Worauf willst du hinaus? Was hast du vor?«

»Es ist noch zu früh, darüber zu reden. Aber ich verspreche dir: Wenn es soweit ist, wirst du eingeweiht. Und du auch, Silke. Aber ihr müsst noch ein wenig Geduld haben«, sagt Dodo.

Na toll. Wo Geduld doch unsere große Stärke ist. Was hat Dodo bloß vor? Und warum muss sie dafür Monique und ihre Getreuen einladen? Wir bohren noch ein bisschen weiter, aber aus Dodo ist nichts herauszubekommen. Sie schenkt uns nur still lächelnd Bowle nach.

Zwei Gläser später versuchen Brigitte und ich herauszufinden, wie man den Bestellzettel richtig ausfüllt. Wollte ich die Gefrierseligen (Oder heißen die Eisheiligen?) nun in 800 ml, 1,5 oder 1,8 Liter? Muss ich dann 2a oder 5c ankreuzen? Gibt es Sonderfarben, zum Beispiel diese verwaschenen Pastellfarben, die ich noch aus meiner Kindheit kenne? Oder muss ich das jetzt alles in diesem schrecklichen Lila nehmen? Weshalb schließen runde Deckel besser als eckige? Und warum, zum Teufel, bestelle ich wieder so verdammt viel? Es ist schon seltsam, wie mich bei diesen Tupperpartys immer der Gruppensog packt und in einen Konsumstrudel reißt. Ich brauche all diese Döschen und Boxen gar nicht, trotzdem kommt es mir jedes Mal so vor, als könnte ich nicht ohne sie weiterleben. Und den anderen geht es anscheinend genau so. Claudia bekommt daher von ihrem Mann jeweils ein Budget zugeteilt, und wenn sie die Höchstsumme überschreitet, muss sie sich bizarre Lügen ausdenken, exorbitante Brotpreiserhöhungen erfinden oder eine dringende Autoreparatur vortäuschen. Das Ganze beschäftigt mich so sehr, dass ich für einen Moment fast vergesse, dass ich bis Montag noch täglich mit Geld zu tun hatte und bald über kein Einkommen mehr verfüge. Vielleicht werde ich zum Sozialfall! Aber dann habe ich immer noch meine Tupperschüsseln und kann mein Essen anständig aufbewahren. Ich kann preiswert einkaufen, große Mengen kochen und einfrieren. Ich werde ein Musterbeispiel an Sparsamkeit. Ich werde praktisch gar kein Geld mehr ausgegeben.

Monique kommt auf mich zu. Was will die? Ich leere mein Bowleglas, verschlucke mich an einer stark alkoholgetränkten Erdbeere und bekomme einen Hustenanfall. Brigitte klopft mir heftig auf den Rücken, das hilft, ein Erdbeerstückchen löst sich –und landet auf Moniques T-Shirt mit der goldglitzernden Aufschrift Zicke, genau auf dem Z. Sie wischt meinen Auswurf mit einer angewiderten Handbewegung weg, zwingt sich aber einen Sekundenbruchteil später wieder ein Lächeln ins Gesicht. Dann prescht sie direkt auf ihr Ziel los.

»Silke, du hast da doch diese Wiese an der Autobahn.«

»Ja?« Ich tue ahnungslos.

»Die würde ich gerne pachten.«

»Kommt gar nicht in Frage!« Ups, das war jetzt vielleicht ein bisschen heftig – und wie mir die Blicke von den anderen Gästen mitteilen, wohl auch etwas laut. Aber ich will gar nicht wissen, warum sie die Wiese haben will. Ich mag mir keine haarsträubenden Lügengeschichten anhören, seien sie auch noch so gut ausgedacht.

Monique lächelt einfach weiter, wie Brigittes Playmobilmännchen. Sie dreht sich um und tänzelt ohne ein weiteres Wort mit ihrem Bestellzettel zurück zu ihren Freundinnen.

»Was war das denn?«, fragt Brigitte.

»Monique. Die kennst du doch.«

»Nee, ich meine: Warum fragt die so direkt? Das sieht ihr doch gar nicht ähnlich. Das sah eben überhaupt nicht nach einem hinterhältigem Plan aus.«

»Wahrscheinlich hat sie keinen Plan.«

»Ach, Silke, sei doch nicht so naiv. Natürlich hat die einen Plan. Das war bestimmt bloß ein kleiner Auftritt, um dich in Sicherheit zu wiegen. Sie hat ganz direkt gefragt, du hast nein gesagt, und jetzt sollst du denken, die Sache ist damit erledigt.«

»Ist sie auch. Sie fragt mich, ich sage nein, die Sache ist durch.«

»Niemals. Das ist eine Falle.« Brigitte ist noch immer misstrauisch. Brigitte, das Diplomatenkind, deren Familie seit Generationen bei politischen Verwicklungen beraten und geschlichtet hat – und hin und wieder überstürzt das Land verlassen musste, in dem sie gerade lebte. Brigitte, die mit Intrigen in etwas größerem Maßstab aufgewachsen ist. Die deshalb natürlich hinter jeder Anspielung gleich einen Putsch wittert. »Die Wiese solltest du auf jeden Fall behalten«, rät sie mir.

»Ich habe nichts anderes vor.« Selbst wenn Monique noch so intrigiert: Ihre Hüpfburg gegen Hüftgold wird sie dort nicht bauen. Eher bekomme ich in zehn Tagen eine Bikinifigur!

Die Bowle bei Dodo ist wieder prima, doch irgendwie werde ich mit dem Rest der Gesellschaft nicht so recht warm. Die Gespräche drehen sich darum, wer ein echtes Marmorbad hat und wer sich den Marmor nur hat aufmalen lassen. Ich wusste gar nicht, dass so etwas geht. Oder dass jemand auf so eine bescheuerte Idee kommen könnte. Der allerneuste Hit in Sachen Badezimmerdeko sind übrigens, so darf ich jetzt erfahren, Marmorkugeln. »Am besten original italienische«, wie Monique betont. Ich warte die ganze Zeit auf einen Hinweis von ihr, der statt ihrer Ansichten über kultivierte Raumgestaltung ihre Beziehung zu Heiner verrät. Aber: nichts.

Sobald man hier unter Frauen ist, scheint es, als würden Männer nicht existieren. Die im Alltagsleben so öffentlichkeitswirksam ausgeglichenen und freundlichen Ehefrauen reden in einer anderen Tonlage; ihre Stimmen verlieren jegliche säuselnde Sanftheit und werden durchdringend, laut bis schrill. Jede versucht, sich so gut wie möglich Gehör zu verschaffen. Es wird viel gelacht, laut, übersteuert. Es geht um Wohnambiente, darum, wie man es sich nett macht in seiner eigenen kleinen Eigentumswelt – und zwar netter als die Nachbarn, das ist vor allem Claudia sehr wichtig. Männer spielen keine Rolle, es sei denn sie sind irgendwie im Weg, verdienen nicht genug Geld, müssen mal wieder mit neuen Socken versorgt werden oder haben sich ein neues Auto gekauft. Aber wenn man ganz genau hinhört, merkt man, dass das Auto interessant ist, nicht der Mann. Männer haben ihre Feuerwehr, ihren Schützenverein und ihren Fußball, und damit sollen sie sich gefälligst auch beschäftigen, anstatt rumzunerven. So sehen die Damen das hier.

Und ich? Klar, im Moment bin ich auch ganz froh, wenn ich Heiner aus dem Weg gehen kann. Aber perspektivisch? Ich träume davon, mit einem Mann zu reden. Richtig gut zu reden, über alles. Nicht so wie in dem alten Gag aus Heiners Repertoire: »Hey, Puppe, zieh dich aus, ich will mit dir reden!« Außerdem träume ich noch von ganz anderen Dingen, aber darüber spreche ich natürlich nicht. Schon gar nicht mit diesen Frauen. Wir sind hier ja nicht bei Sex and the City.

Auf dem Weg nach Hause komme ich an der Telefonzelle vorbei, die mir bereits vorher aufgefallen ist. Das Deckchen und die Vase sind immer noch da, das gemütliche Ambiente wird nun allerdings auch noch durch Vorhänge abgerundet. Gelbgemusterte Schabracken. Sind das nicht die vom Aldi? Die hat meine Mutter doch gekauft! Sollte sie etwa ...

Ihr Dekowahn scheint sich auszubreiten.

Heiner sitzt mit seinen Eltern unten im Wohnzimmer vor dem Fernseher. »Ist doch billiger, ein Gerät laufen zu lassen als zwei«, sagt seine Mutter immer. Dafür nimmt sie in Kauf, statt der neuen Rosamunde-Pilcher-Verfilmung mit Schießereien prall gefüllte Actionkracher gucken zu müssen. Auch wenn sie die Guten und die Bösen nie auseinanderhalten kann und auf ihre Zwischenfragen nur genervte Antworten bekommt. Hin und wieder empört sie sich, dass so viel Gewalt nicht nötig sei, man könne Konflikte doch auch anders lösen. Aber dann schläft sie meistens ein und träumt von einem romantischen Happy End oder einem noch ergiebigeren Waschmittel.

Ich schlüpfe unbemerkt an ihnen vorbei unters Dach. Als Heiner sich eine Stunde später neben mich ins Bett legt, stelle ich mich schlafend – und frage mich: Gehe nur ich ihm aus dem Weg, oder er auch mir? Früher, in grauer Vorzeit, als die Erde noch von Dinosauriern bevölkert wurde und die Autos noch Ente oder Käfer hießen, war das mal anders mit uns. Da haben wir uns abends im Bett immer noch unterhalten. Über nichts Weltbewegendes, nur darüber, wie der Tag so war, was wir gemacht haben, wer bei der Arbeit was gesagt hat und welche neuen Süßigkeiten ich beim Einkaufen entdeckt habe. Irgendwann hat das aufgehört. Wann war das? Vor zwei Jahren? Oder ist das schon länger her? Und warum sprechen wir nicht mehr miteinander? Weil es uns nicht interessiert, was der andere zu sagen hat? Warum hat es uns vorher interessiert? Ganz objektiv gesehen war es doch damals auch nicht spannender. Wer von uns hat zuerst geschwiegen? Und warum ist es dem anderen nicht aufgefallen?

Ich versuche, eines unserer abendlichen Gespräche zu rekonstruieren, aber es gelingt mir nicht. Die Vorstellung, dass Heiner und ich uns angeregt unterhalten ist mir genauso fremd wie die, dass wir Sex miteinander haben. Oder sogar noch fremder, weil ein Mann bei einem Gespräch nicht einfach seinen Instinkt auf Autopilot schalten und ihm folgen kann.

Ich bin auf jeden Fall erleichtert, nicht mit Heiner reden zu müssen. Meine Selbstgespräche sind im Moment schon anstrengend genug. Aber morgen Abend ist Feuerwehrball! Ich werde strahlend schön aussehen, blendende Laune haben und Heiner wird mich seit langem mal wieder ansehen. Dann wird ihm auffallen, was er an mir hat, ihm wird wieder einfallen, wie gerne er mich mag, er wird charmant sein, wir werden gemeinsam nach Hause gehen und dann – ach, so weit mag ich gar nicht denken. Vielleicht wird alles wie früher. Das wäre schön. Obwohl ich mich ja nicht mehr so genau erinnern kann, wie es war. Besser als jetzt auf jeden Fall. Hey, das klingt ja, als wäre ich hundert! »Früher war alles besser« – was ist das denn für ein Gedanke? Ich bin erst siebenundzwanzig, was soll denn dieses »Früher« für mich gewesen sein? Die Neunziger? Also bitte! Wie kann man in der Vergangenheit leben, wenn man noch nicht mal eine hat? Das wird wohl nichts. Ich muss mich also weiterhin auf die Zukunft konzentrieren. Vielleicht erst mal nicht so sehr auf die ferne, sondern auf die nähere. Und eine einfache Fragestellung wählen. Zum Beispiel: Welche Schuhe ziehe ich denn morgen Abend zum Feuerwehrball an? Ja, das ist wirklich eine gute Frage. Bei einer kurzen Meditation über meine Schuhvorräte entschlummere ich sanft.

***

Freitag, 13. Mai

Das Telefon klingelt. Ich nehme ab und höre: »Welche Schuhe ziehst du an?«

Einen Moment lang muss ich nachdenken: Träume ich? Kann das sein, dass ich mich selbst im Traum anrufe, um mir diese Frage zu stellen? Aber wozu dieser Umweg über die moderne Kommunikationstechnologie? Was will mir dieser Traum sagen?

Dann merke ich, dass das gar kein Traum ist, sondern meine Mutter.

»Die hohen goldenen Sandaletten«, sage ich, ohne nachzudenken. Kein Mensch würde vermuten, dass ich solche Schuhe besitze. Sogar ich selbst vergesse das manchmal und bin dann ganz überrascht, wenn ich sie hinten in der Ecke meines Schuhschrankes zufällig finde. Ich habe sie mir vor Ewigkeiten gekauft, als ich Sandra einmal in der Stadt besucht habe. Sandra war schon immer die Frau für große Auftritte, stets extravagant genug gestylt, um für Gesprächsstoff zu sorgen. Mal sah sie aus wie eine britische Undergroundsängerin, mal wie eine New Yorker Künstlerin. Wie »Sharon Stone beim Shoppen« oder eine »italienische Filmdiva im Strandurlaub«, so sagt sie jedenfalls. Sie hat immer Namen für ihre Looks. Sandra hat ein magisches Talent, die ausgefallensten Leute kennenzulernen. Sie spricht einfach jeden an, den sie interessant findet – und die Angesprochenen sind immer hocherfreut. Sandra geht ständig ins Kino oder zu Konzerten; meistens wird sie eingeladen. Sie ist auf jeden Fall eine Style-Queen, und mit ihr einzukaufen ist ein unvergleichliches Erlebnis, bei dem selbst ich meine Hemmungen zeitweise verliere. Und so habe ich diese sensationellen, schwindelerregend hohen, goldenen Riemchenstilettosandaletten gekauft, in denen ich problemlos einen Oscar (für die Verfilmung meines Lebens?) entgegen nehmen oder eben, ja, genau, zum Feuerwehrball stöckeln könnte.

»Du hast goldene Sandaletten?«, fragt meine Mutter ungläubig. Klar, das sind definitiv Schuhe, die sie mir nie zugetraut hätte. Die hätte mir niemand zugetraut – noch nicht mal ich mir selbst. Aber Sandra und die Verkäuferin in dem ultrahippen Schuhladen. Okay, sie haben eine Art von Glamour, der hier unter Umständen missverstanden werden könnte, ein gewisses Extra, dass man in diesen Kreisen eventuell knallhart und unumwunden als »nuttig« interpretieren würde. Außerdem, so erinnere ich mich dunkel, kann ich nicht besonders gut mit ihnen gehen. Ich komme leicht ins Schwanken und sehe dann aus, als hätte ich auf einem dieser billigen Kreuzfahrtschiffe besonders schweren Seegang erwischt. So war es jedenfalls an dem Tag, als ich die Schuhe gekauft habe und dann gleich zu dem Rockkonzert tragen musste, zu dem Sandra mich mitgeschleppt hat. Ich fühlte mich etwas hilflos und hatte das Bedürfnis mich festzuklammern, aber es war gerade kein Fels in der Brandung in der Nähe. Sandra fiel aus, sie hat es nicht so gern, wenn man an ihr herumzerrt. Und die Typen, die herumliefen, sahen eher so aus, als würde ich an ihnen zerschellen. Damals war ich ja auch noch mit Heiner glücklich. Oder zumindest zufrieden. Ich weiß das gar nicht mehr so genau. Das war vor zwei Jahren. Seitdem habe ich die Schuhe nie wieder angezogen. Es gab einfach keine passende Gelegenheit.

Doch das muss ich meiner Mutter jetzt ja nicht im Einzelnen darlegen, deshalb antworte ich nur mit: »Ja.«

»Und du meinst wirklich, die sind das Richtige?«

Wenn Mutti die Frage so stellt, schwingt die Antwort, die sie erwartet, immer schon mit. Sie will, dass man zugibt, dass man sich geirrt hat, dass man dringend ihren Rat braucht und noch dringender von ihr ein Paar Schuhe geliehen haben möchte, denn nur sie ist im Besitz der einzig wahren Fußbekleidung für diesen speziellen Anlass.

Anlass ist das Stichwort: Meine Mutter ist ein Fan von Anlassmode. Sie hat Kleider, die für ein Sommerfest bei Bekannten im Garten ab 15.00 Uhr taugen, die man aber natürlich nicht anziehen kann, wenn man zu einem offiziellen Vormittagsempfang geht. Sie hat das passende Kostüm für eine standesamtliche Trauung, für den Fall, dass man Trauzeugin ist und es sich um die erste Ehe handelt. Sollte einer der Heiratenden vorher schon anderweitig vermählt gewesen sein, würde sie natürlich etwas anderes anziehen. Zu kompliziert? Ja, das ist es. Doch Mutti durchschaut es, dieses eng verflochtene Regelwerk der Anlassmode. Es macht ihr große Freude – und es ist jedes Mal ein Schock für sie, wenn ich mich entweder völlig darin verheddere oder es einfach komplett ignoriere. Ich könnte sie doch um Rat fragen. Mache ich aber nicht, sondern sage nur: »Ja, die passen perfekt zum Kleid.«

»Wenn du meinst ... Hoffentlich hast du Recht.« Mutti bezweifelt natürlich, dass ich Recht habe, das hört man schon am leicht beleidigten Tonfall. Mit einem knappen »Bis später!« beendet sie das Telefonat. Immerhin hat sie mich nicht gefragt, was ich mit meinen Haaren mache. Mit denen kann man nämlich entgegen der Annahme meiner Mutter gar nichts machen. Sie scheinen Stylingprodukte, auch modernste Sprühkleber, in Minutenschnelle restlos zu verzehren. Vor ein paar Jahren habe ich mal probeweise zwei hübsche kleine Strass-Spangen in die mittellangen, mittelbraunen Fransen geklemmt. »Trägst du heute ein Geweih?«, kommentierte Heiner diesen Versuch. Seither habe ich mich von Kopfmodeschmuck ferngehalten.

Ich ziehe die funkelnden, beinahe jungfräulichen Sandaletten mit dem spitzen Neun-Zentimeter-Absatz hinter etlichen Paaren ausgelatschter Turnschuhe hervor. Sie sind genau so wild und glamourös, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich probiere sie an. Sie passen perfekt. Erstaunlich, an den Füßen habe ich in letzter Zeit anscheinend nicht zugenommen. Ich gehe ein paar Schritte –ohne zu fallen, zu stolpern, zu schwanken. Ich bin eine Königin!

Testweise schreite ich die Treppe hinab, winke huldvoll meinem imaginären Volk, dass mich mit Jubelrufen empfängt – und begegne unten im Flur Heiners Mutter, die gerade Zinntellerchen abstaubt. Da hat sie gut zu tun, ich würde schätzungsweise ein Jahr brauchen, bis ich ihren ganzen Nippes gesäubert hätte. Sogar an den Wänden hängt hier »Was-zum-Hinstellen«.

Sie schaut an mir hoch, bemerkt, dass sie den Kopf ein wenig mehr in den Nacken legen muss als sonst, um mein Gesicht zu erreichen, guckt dann sofort wieder nach unten, zu meinen Füßen, und mustert kritisch die Absatzhöhe und die goldenen Riemchen. Okay, die verunglückte French-Color-Trendlackierung lässt meine Zehennägel aussehen wie Smarties beim Strandurlaub, aber das ist nicht der Grund für den missbilligenden Ausdruck in ihrem Gesicht.

»Ist bei dir der Luxus ausgebrochen?«, fragt sie, den Blick immer noch auf meine Prinzessinnenschühchen gerichtet.

»Nö, kann man nicht gerade sagen«, antworte ich wahrheitsgemäß.

»Vielleicht solltest du dein Geld lieber für das Haus sparen, als es für modischen Schnickschnack aus dem Fenster zu werfen«, gibt Ex-Schwiegermutter-in-spe zu Bedenken. Ihrer Meinung nach sollte ich ein Haushaltsbuch führen, in dem ich akribisch jede Ausgabe notiere. Ein Liter Milch: 89 Cent. Ein Pfund Butter: 99 Cent. Sechs Eier: keine Ahnung, was Eier kosten. Ein Paar Schuhe: 179 Euro – oder so ähnlich stellt sie sich das wohl vor. Und Heiner sollte dann abends das Buch kontrollieren, die Ausgaben mit mir besprechen und bei Gefallen abzeichnen.

»Die Schuhe sind schon älter«, sage ich zu meiner Verteidigung. Ein schwaches Argument, ich weiß. Aber das Thema scheint damit abgehakt zu sein.

»Du kannst mal eben mit mir eure Bettwäsche zusammenlegen.« Urgh! Hat Heiner ihr etwa schon wieder unser schmutziges Bettzeug zum Waschen gegeben? Er weiß genau, wie ich das hasse. Das ist erniedrigend. Okay, im Moment sind keinerlei peinliche Flecken drauf. Aber trotzdem! Als ob ich die nicht selber waschen könnte. Oder er. Naja, er kann es wahrscheinlich wirklich nicht. Muttersöhnchen. Und jetzt habe ich seine Mama auch noch am Hals. Dabei bin ich doch mit meiner eigenen schon vollauf beschäftigt.

Heiners Mutter drängt mich, den Staubwedel eifrig schwingend, als würde sie ein renitentes Philharmonieorchester dirigieren, in die Waschküche. Das Fünfziger-Jahre-Pendant zum Hauswirtschaftsraum der schlüsselfertigen Wohnträume. Dampfschwaden umwabern meine goldbeschuhten Füße, ein stechender Geruch knallt durch meine Nase direkt ins Hirn. Es riecht nach einem Gemisch aus sehr preiswertem Waschmittel, Domestos-Imitat, drei Wochen alten Kohlrouladen (mit jeder Menge Garn drumherum) und einem Hauch Pfirsich-Melba. Letzteres könnte der Weichspüler sein. Ich verspüre das dringende Verlangen, mich irgendwo festzuhalten, um nicht ohnmächtig zu werden. Wenn das Böse einen Ferienwohnsitz suchte, käme dieser Raum sicher in die engere Wahl.

Bevor ich nach einem der Heizungsrohre greifen kann, drückt mir Heiners Mutter zwei Zipfel Bettbezug in die Hand, zieht an der anderen Seite straff und befiehlt: »Recken!« Sie reißt so heftig am Stoff, dass ich fast vornüberkippe, und als ich mich zurücklehne, um gegenzuhalten, gibt sie plötzlich nach. Ein plastikbezogener Küchenstuhl aus den siebziger Jahren bremst meinen Fall. Er ist zwar hart, aber noch härter wären die grauen Steinfliesen gewesen.

Nach dem dritten Bezug haben wir uns in Rhythmus und Zugintensität ungefähr angeglichen und arbeiten recht harmonisch. Obwohl ich Sinn und Zweck dieser Tätigkeit nie wirklich begriffen habe – Wozu Bettbezüge glattrecken, man verknüddelt sie doch eh sofort, wenn man darin schläft? – genieße ich den meditativen Aspekt daran. Ich stehe sogar halbwegs sicher auf meinen Stöckelschuhen, fast würde ich meinen, ich hätte meine Mitte gefunden. Derart eingelullt – man könnte auch sagen: willenlos – lausche ich den Worten, die Heiners Mutter zu mir spricht: »Wir haben uns überlegt, liebe Silke, wo Heiner und du doch jetzt zusammen das Haus bauen wollt und es also ernster mit euch wird und wir ja auch bereit sind, euch zu unterstützen – das haben wir mit dem Grundstück ja schon gezeigt –, dass es da vielleicht ganz gut wäre, wenn die Verhältnisse geregelt würden.«

Wie meint sie das? Geregelte Verhältnisse? Ich habe nichts gegen geregelte Verhältnisse, im Gegenteil, ich war immer ein großer Fan davon, ich verlasse mich gerne auf etwas. Außerdem kann ich ja nichts dafür, dass meine Verhältnisse gerade so ungeregelt sind. Aber davon weiß sie doch wohl nichts, oder?

Ich nicke bloß und schicke ihr ein fragend-zustimmendes »Hmmm«, übers Laken. Der Pfirsich-Melba-Geruch wird von einem Birne-Helene-Duft überdeckt, den ich mir eventuell aber nur einbilde. Ich habe ewig keine Birne Helene mehr gegessen, so mit richtiger Dosenbirne und der teuren Fertigschokosoße. Darauf bekomme ich jetzt richtig Appetit.

»Wir meinen ...«

Wer sind eigentlich wir, möchte ich sie am liebsten fragen. Sie und ihr Mann? Die gesamte Heiner-Familie? Die Dorfgemeinschaft? Eine übergeordnete Sittenkontrollinstanz? Der Landfrauenverein? Letzteres scheint mir am wahrscheinlichsten. Aber ich muss aufpassen, damit ich genau mitbekomme, was sie mir sagen will. Und ich darf nicht immer an Birne Helene denken. Konzentration, bitte!

Zum Glück setzt sie noch mal neu an: »Wir meinen, dass es an der Zeit wäre, dass Heiner und du – dass ihr heiratet.«

Sie macht mir einen Antrag! Ihr Sohn geht fremd, und sie hält um meine Hand an. Ich bin ... gerührt.

»Wir haben schon einen Ehevertrag vorbereitet. Er liegt im Wohnzimmer. Du könntest ihn jetzt gleich unterschreiben.«

Ich bin nicht mehr gerührt. War doch klar, dass sie ans Geld denkt.

»Dann wärest du versorgt. Ist doch auch was Schönes, oder?«

Aha, ich wäre dann also versorgt. So uneigennützig ist die doch sonst nie. Irgendwas muss doch für sie auch dabei herausspringen.

»So richtig viele Reichtümer hast du ja nicht angehäuft. Obwohl du ja schon so lange bei der Bank arbeitest. Da sollte man doch wohl lernen, wie man was zur Seite legt, denke ich. Dir gehört ja nur dieses wertlose Stück Land an der Autobahn.«

Ha! Darum geht es! Alle wollen mein »wertloses Stück Land«. Vielleicht ist das ein Komplott? Vielleicht hat Monique auf Heiner eingewirkt und der nun wieder auf seine ahnungslose Mutter?

»Bin ich denn überhaupt eine würdige Schwiegertochter, wenn ich so gar nichts zu bieten habe?«, entgegne ich schnippisch.

Heiners Mutter guckt ertappt. Als hätte ich ihre geheimsten Gedanken erraten – die so geheim ja nun auch wieder nicht sind. Aber sie fängt sich schnell. »Ja, doch, natürlich, Kind, wie kommst du nur auf so einen Gedanken? Wir wollen doch für unseren Sohn nur das Beste, und wenn er mit dir glücklich ist ... Kommst du jetzt mit ins Wohnzimmer? Ich schenke uns auch einen schönen Sherry ein!«

Der »schöne Sherry« ist bestimmt billiger, hochprozentiger Fusel. Jetzt will sie mich auch noch betrunken machen, um sich dann meine letzte Habe unter den Nagel zu reißen.

»Tut mir Leid, mir fällt gerade ein, ich bin ja verabredet«, sage ich rasch und sprinte, so schnell es eben auf High-Heels geht, am Wäscheständer vorbei und über Wäschewannen hinweg zur Tür, durch den Flur, die Treppe hinauf. Oben tausche ich meine Sandaletten gegen Turnschuhe und rase wieder die Treppe runter und aus dem Haus.

Mein schon in der Waschküche geweckter Appetit auf Birne Helene treibt mich zu Knurres Kramerlädchen. Ich kaufe Dosenbirnen, Schokosoße, Vanilleeis – ich habe leider vergessen, was sonst noch zu Birne Helene gehört, aber Vanilleeis passt immer und zu allem –, und als ich gerade an dem Mediterrane Spezialitäten-Verkaufswagen vorbeigehen will, der Freitags immer auf Knurres Parkplatz steht, fallen mir vor Schreck fast meine Einkäufe aus der Hand: Dort steht –

– Herr Wesseltöft!

Er kauft ein paar eingelegte Oliven und eine Käsecreme, dann geht er in den Supermarkt. Daran merkt man, dass er nicht von hier ist. Einheimische kaufen zuerst bei Knurres, dann am Spezialitäten-Wagen.

Möglichst unauffällig schleiche ich hinter ihm her. Das Tchibo-Regal gibt mir Sichtschutz. Herr Wesseltöft sieht wahnsinnig gut aus, viel besser als das männliche Unterwäschemodel, dass sich auf der TCM-Slip-Packung direkt vor meiner Nase räkelt. Er steht vor dem Köstliches-aus-Fernost-Regal und betrachtet die verschiedenen Reissorten. Ich habe mich immer gefragt, wer so etwas braucht: Duftreis, Sushi-Reis, Himalaya-Spezialmischung und wie die Körnchen alle heißen. Ich kaufe immer Reis im Kochbeutel, wie meine Mutter. Da brennt wenigstens nichts an.

Herr Wesseltöft nimmt eine Dose Kokosmilch in die Hand und dreht sie zärtlich hin und her, als würde er seine Geliebte – mich? – aufmerksam betrachten. Mir wird schon wieder schwindlig, aber das TCM-Trimm-Dich-Gerät gibt mir Halt.

Der Traum von einem Mann legt ein paar erlesene Zutaten in seinen Einkaufswagen und geht er zur Kasse. Dieser Gang! Dieser Po! So knackig und männlich und wohlgeformt!

»Na, Silke, was vergessen?«, fragt mich Barbara, eine der Verkäuferinnen, die unvermittelt neben mir auftaucht. Man munkelt, dass sie ein Verhältnis mit Knurres ältestem Sohn hat und sich Chancen auf die Übernahme des Ladens ausrechnet.

»Ich? Was? Äh, nein – oder vielleicht doch?« stammele ich ertappt.

»Wir haben gerade ganz frische Papayas hereinbekommen. Ein Gedicht, sage ich dir, und um diese Jahreszeit eine Rarität!«

»Lecker«, sage ich und spähe möglichst unauffällig Herrn Wesseltöft hinterher. Er bezahlt schon.

»Und sehr zum empfehlen ist auch die Bisonkeule. Ganz zart. Zergeht auf der Zunge!«.

Herr Wesseltöft schlendert gen Ausgang.

»Und nächsten Monat planen wir Haifischwochen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lecker so ein Hai ist, gedämpft in einem leichten Litschi-Sud. Für den nimmt man aber die aus der Dose, Frischware ist da leider nicht so geeignet, wobei wir die natürlich auch haben. Komm doch schnell mit nach hinten ins Büro, ich gebe dir unseren Aktionsplan, dann kannst du ...

»Tut mir Leid, ich muss jetzt mal!«, schleudere ich Barbara schnell entgegen und renne so unauffällig wie möglich aus dem Laden, dem Objekt meiner Begierde hinterher auf den Parkplatz.

Keine Spur mehr von ihm.

Ob er entführt wurde? Einfach in einen Wagen gezerrt und mitgenommen? Möglich wäre das! Ich male mir aus, wie ich Herrn Wesseltöft aus den Händen der skrupellosen Entführer befreie. Er sitzt, nur mit einer Badehose bekleidet, in seinem tristen Gefängnis und fällt mir vor Freude und Dankbarkeit um den Hals. Toll!

Aber wahrscheinlich ist er einfach weggefahren. Zur Arbeit. In seinen Massivhauspark. Ich sollte da dringend mal wieder vorbeischauen.

Auf dem Weg nach Hause höre ich Musik vom Feuerwehrhaus. Für den Ball ist es noch viel zu früh, der fängt zwar auch schon um sieben an, aber jetzt ist es höchstens drei Uhr. Komisch ... Aber dann fällt mir ein, was Dodo letzte Woche mal erwähnt hat: Vor dem Feuerwehrball gibt es jetzt nachmittags schon ein Kinder- und Dorffest. Denn wenn man schon mal feiert, kann man gar nicht früh genug damit anfangen. Ich ändere meine Route, gehe dem Sound nach, der unterwegs im Rasenmähermotordröhnen untergeht. Grönes haben wieder den Rasen zu stark gedüngt und kommen jetzt mit dem Mähen kaum nach.

Als Herr Gröne mit seinem Aufsitzrasenmäher um die Ecke biegt und hinter dem Haus verschwindet, dringt die Musik wieder durch. Jemand hat inzwischen lauter gedreht. »I want to Break free!«, schallt es mir entgegen. Freddy Mercurys Ruf nach einem anderen Leben, der mich mitten ins Herz trifft. Komisch, ich bin doch sonst nicht so sentimental. Aber in diesem Moment denke ich: Ja, das ist es! Wer hätte gedacht, dass das jemand so in Worte fassen könnte? Der Song ist genial! Ich muss ausbrechen. Ich muss hier raus. Mich befreien. Wovon, das weiß ich nicht, denn zurzeit befreit sich ja eher alles von mir. Aber einen kurzen Moment lang fühle ich eine Aufbruchsstimmung. Dieses Gefühl hatte ich schon mal, ich glaube, da war ich sechzehn. Es hat ungefähr drei Tage lang angehalten, und ich habe damals niemandem davon erzählt. Aber jetzt: Rebellion! Revolte! Ich werde ein Punk! Die deutsche Antwort auf Che Guevara! Zum Hippie, zu den Rolling Stones! Allein an der Aufzählung merke ich bereits, dass nicht wirklich das Zeug zum Aufbruch in mir steckt, wenn ich noch nicht mal annähernd passende Vorbilder benennen kann, doch mein Herz brennt wie mit Grillanzünder befeuert.

»Hilfe! Hilfe!« Ein schriller Schrei übertönt Freddy Mercury.

Auf dem Platz vor dem Feuerwehrhaus steht eine Wand, daran hängt in schwindelerregender Höhe ein kleiner bebrillter Junge, Marvin, Dodos Sohn. Drumherum lauter Schaulustige – und keiner kommt dem Kind zu Hilfe. Okay, der Kleine ist angeseilt, die Wand ist eine Kletterwand, und er ist wahrscheinlich auf eigenen Wunsch und aus eigener Kraft dort hochgestiegen. Aber jetzt scheint es ihm nicht mehr zu gefallen. »Lass mich runter!« schreit er, doch der Feuerwehrmann am anderen Ende des Seils gibt sich unbeeindruckt.

»Du bist noch nicht ganz oben. Erst musst du ganz hochklettern und die Glocke läuten. Dann lasse ich dich runter.«

Ich erkenne den schneidenden Tonfall und renne sofort los. Das ist Ralf-Georg! Er ist ein Jahr älter als ich, und als ich noch zur Grundschule ging, hat er mich oft auf dem Weg dorthin abgefangen und mir mein Taschengeld abgenommen. Er hat mir gedroht, mein Zwergkaninchen zu ertränken, falls ich jemandem davon erzählen würde. Ich hatte höllische Angst, dass er seine Drohung wahr macht, deshalb habe ich mich niemandem anvertraut. Bis heute nicht, dabei habe ich gar kein Zwergkaninchen mehr, es ist schon vor Jahren eines natürlichen Todes gestorben.

»Lass Marvin runter. Sofort!« Ich baue mich vor Ralf-Georg auf und fixiere ihn streng. Noch nie habe ich ihm widersprochen, ich habe noch nicht mal daran gedacht, es zu tun, bin ihm lieber aus dem Weg gegangen, wo ich nur konnte. Aber heute bin ich Superwoman. I want to Break free! Das sollen keine leeren Worte sein. Ich fange gleich damit an. Ich bereite mich seelisch darauf vor, Ralf-Georg fest gegen sein Schienbein zu treten. Oder sollte ich eine empfindlichere Region wählen? Mist, hätte ich doch die Stilettos anbehalten, damit hätte ich ihm richtig Schmerzen zufügen können oder gar bleibende Schäden! Allerdings darf ich auch nicht riskieren, dass er das Seil loslässt und Marvin abstürzt.

Zu meiner nicht geringen Überraschung gehorcht Ralf-Georg sofort. So einfach ist das also? Das hätte ich mal eher machen sollen. Doch das Leben ist eben nicht leicht, wenn man sechs Jahre alt ist, rosa Kleider anziehen muss und die Welt durch Brillengläser sieht, die dick wie Colaflaschenböden sind. So sah ich nämlich als Kind aus. Schlimm. Marvin würde mir da sicher zustimmen, obwohl er natürlich keine rosa Kleider trägt, sondern ein ziemlich lässiges Outfit, mit dem er auch in der HipHop-Szene der amerikanischen Ostküste eine gute Figur machen würde. Er guckt auf jeden Fall ziemlich erleichtert, als er wieder festen Boden unter sich hat.

»Cool, Silke«, sagt er und bedankt sich mit einem komplizierten Handschlagritual bei mir, dem ich nicht ganz folgen kann. Von Ralf-Georg verabschiedet er sich mit einem durchaus ernst gemeint klingendem: »Meine Rache wird furchtbar sein!« Dann schlurft er lässig davon. Ich sehe ihm hinterher und fühle mich einen Moment lang sehr alt. So ein Selbstbewusstsein, so gesund wie aus der Werbung für linksdrehenden Yoghurt, hätte ich als Kind auch gerne gehabt. Oder wenigstens jetzt. Stattdessen entferne ich mich lieber schnell aus dem Einzugsbereich von Ralf-Georg. Er ist zwar angeleint, aber man weiß ja nie.

Ich werfe noch einen vorsichtigen Blick zurück. Ralf-Georg hat eine Pistole aus der Tasche gezogen, mit der er wild herumfuchtelt. Die Waffe ist zum Glück aus Plastik, das kann sogar ich sehen. Jedesmal, wenn er nervös am Abzug rumschnipst, kommt vorne eine kleine Flamme heraus. Bestimmt eines der albernen Werbegeschenke, die in der Firma seines Vaters bedruckt werden. Seit Ralf-Georg einen sehr unangenehmen Druckfehler auf Taschenmessern verschuldet hat, die für einen wichtigen Kunden gedacht waren, wird er angeblich sehr knapp gehalten. Darf nur noch auf kleiner Flamme kochen.

Doch was interessieren mich die Probleme meines Sandkastenfeindes? Habe ich nicht genug eigene? Aber auch über die möchte ich lieber nicht nachdenken.

Neben dem Eingang zum Feuerwehrhaus ist eine weitere Wand aufgebaut worden. Seltsam, dass Fest scheint überwiegend aus Wänden zu bestehen. Diesmal ist es keine Kletter-, sondern eine überdimensionierte Pinnwand, an der ungefähr zwanzig Fotos hängen. Auf den Bildern ist kaum was zu sehen. Mal eine Hausecke, mal ein Busch, ein Giebel oder ein Stück Zaun. Die Ausschnitte sind eng gewählt, man kann nicht erkennen, wo welches Foto aufgenommen wurde. Eine Kunstausstellung, denke ich im ersten Moment. Die Assoziation mag auch durch die Anwesenheit meiner ehemaligen Kunstlehrerin ausgelöst sein, die gerade vergeblich versucht, ihr hüftlanges, hennarotes Haar mit einer völlig überforderten Libellenspange und ein paar Haarklammern am Hinterkopf festzustecken, um wenigstens ihr Gesichtsfeld freizulegen und einen besseren Blick auf die Stellwand zu bekommen. Frau Wegener-Kaltenbach-Sörens. Als sie jung war, kamen Doppelnamen in Mode, aber sie hat sich nie damit begnügt, einem Trend bloß zu folgen, sie musste immer noch einen draufsetzen. Das hat aber irgendwann nachgelassen. Sie fährt immer noch ihre Ente, die sie in den frühen Achtzigern mit einem kleinen Pinsel eigenhändig lila angemalt hat. Die Reifen hatte sie nicht ausgelassen, die sind jetzt allerdings wieder schwarz. Meine Mutter hat mal behauptet, es gäbe gar keine Dreifachnamen, die seien illegal und schon Doppelnamen sollten verboten werden, deshalb hat sie meine Kunstlehrerin immer als potentiell »kriminelles Subjekt« betrachtet. Meiner Meinung nach steckt dahinter eine Portion Eifersucht. Oder vielleicht ist Mutti auch nur neidisch, weil sie noch nicht mal einen zweiten Vornamen hat.

Ich stelle mich neben sie, erstens, um die Fotos zu betrachten, zweitens, weil ich ihren Duft einatmen möchte. Frau Wegener-Kaltenbach-Sörens riecht, seit ich denken kann, immer nach Lebkuchen. Zu jeder Jahreszeit. Keine Ahnung, wie sie das macht. Ich lasse mich von einer Wolke köstlichen Gebäckduftes einhüllen. Ich habe mir mal vorzustellen versucht, was eine Aura ist. Bei anderen Menschen habe ich so etwas nie gespürt. Nur bei meiner Kunstlehrerin. Und ich könnte sogar beschreiben, wie ihre Aura aussieht: Wie ein großer runder original Nürnberger Elisenlebkuchen.

»Hallo Silke! Schön, dich mal wieder zu sehen. Möchtest du etwas warmes Neumondwasser mit Ingwerstückchen? Das regt die Verdauung an.« Sie zieht eine Thermoskanne aus ihrer großen Umhängetasche und hält sie mir hin.

»Nein danke, mir geht es gut.« Und meine Verdauung ist genau richtig, denke ich.

»Malst du noch manchmal? Du warst immer so besonders talentiert!«

Ich freue mich sehr über dieses Kompliment, auch wenn ich ganz genau weiß, dass da überhaupt nichts Wahres dran ist. Malen kann ich ungefähr so gut wie Kai Pflaume Schwiegermütter vergraulen.

»Leider komme ich kaum noch dazu. Zuviel zu tun«, lüge ich und schäme mich dabei ein wenig. Warum habe ich eigentlich nie daran gedacht, mich künstlerisch zu betätigen? Ein paar Laubsägearbeiten, etwas Bildhauerei oder wenigstens mal ein kleines Aquarell hier und da, und mein Leben hätte einen Inhalt. Ich vermute, ich würde mich dann viel besser fühlen. Ich sollte sofort damit anfangen. Gleich morgen. Ich werde mir ein paar Farben kaufen und meine Empfindungen malen, ganz von innen heraus. Hey, bin ich das, die so etwas denkt? Oder ist das der Lebkuchenduft, der mich inspiriert? Ich erinnere mich daran, dass die Nähe von Frau Wegener-Kaltenbach-Sörens in mir schon immer einen unglaublichen Schaffensdrang ausgelöst hat. Das muss an ihren, wie soll ich es nennen, Vibrationen liegen. Ich gerate dann immer so in Schwingungen, Stimmungen, die sofort nachlassen, sobald meine Kunstlehrerin außer Duftweite ist. Aber diese erfüllten Momente, in denen ich fast so etwas wie Talent fühle, genieße ich.

»Das ist aber schade – du warst immer so begabt! Was füllt denn deine kostbaren Tage?« Sie fragt nach. Damit hatte ich nicht gerechnet! Ich rechne nie damit, dass sich jemand näher für mich interessiert. Meistens ist das auch nicht der Fall. Was erzähle ich ihr bloß? Am besten etwas Privates.

»Ähm, ja, mein Freund und ich planen gerade, ein Haus zu bauen. Hier im Dorf.«

»Ach, wie schön.« Täusche ich mich, oder schwingt da ein Hauch Enttäuschung mit? So richtig begeistert klingt Frau Wegener-Kaltenbach-Sörens auf jeden Fall nicht. »Und ich habe immer gedacht«, sagt sie und guckt mich dabei ganz intensiv an, »dass du einmal hier wegziehst. Raus aus diesem Dorf.«

Ach, denke ich. Ich gucke so intensiv wie möglich zurück. Wie kommt sie denn darauf? »Wie kommen Sie denn darauf?« Das würde mich ja wirklich mal interessieren.

»Ich weiß nicht. Das war nur so ein Gefühl. Ich habe dich immer als starke, unabhängige junge Frau gesehen, die sich nicht einsperren lässt. Die ihren eigenen Kopf hat. Die irgendwann von hier weggeht, in die weite Welt hinauszieht.«

Das klingt ja toll. Und das soll ich sein? So habe ich mich ja selbst noch nie gesehen.

»Wohin denn?«

»In den Nachbarort.« Frau Wegener-Kaltenbach-Sörens kichert. Ich brauche einen kleinen Moment, um die Ironie zu verstehen. »Nein, Silke, das war nur ein Scherz. Ich will dich nicht irritieren. Tu einfach, was richtig für dich ist. Aber denk immer daran: Folge deinem Herzen. Denn man sieht nur mit dem Herzen gut.«

Soll das eine Anspielung auf meine Kurzsichtigkeit sein? Ich dachte immer, die Kontaktlinsen fallen nicht so auf. Ach nein, das war ja das obligatorische Zitat aus dem Buch Der kleine Prinz. Das sollte ich wohl mal wieder lesen.

Ein Feuerwehrmann unterbricht unser Gespräch. »Soll ich den Damen mal unsere kleine Ausstellung erklären?«

»Nein, vielen Dank. Kunst sollte man nicht immer zerreden. Diese Bilder bedürfen ihrer Erklärung nicht. Sie können selbst für sich sprechen!«, entgegnet Frau WegenerKaltenbach-Sörens ihm kühl. Damals im Kunstunterricht haben wir auch nie über Bilder gesprochen, sondern sie immer nur »auf uns wirken lassen«.

Den Feuerwehrmann beeindruckt diese Abfuhr nicht. »Das ist doch keine Kunstausstellung«, belehrt er uns amüsiert. »Das ist ein Gewinnspiel. Man muss herausfinden, wo genau im Dorf die Fotos aufgenommen wurden, die Antworten auf einen Zettel schreiben und den dann in den Kasten hier werfen. Aus allen Einsendungen mit den richtigen Lösungen wird der Gewinner ermittelt und heute Abend beim Ball verkündet.« Er klingt, als hätte er einen Sprachkurs bei einer Lottofee belegt, um sich für diese Aufgabe zu qualifizieren.

»Und was kann man gewinnen?«, frage ich interessiert. Einen neuen Job vielleicht? Oder eine Kreuzfahrt?

»Ein Eselfohlen.« Er strahlt wie Maren Gilzer in ihren besten Zeiten und zeigt mit einer gezierten Bewegung auf das Foto eines zugegeben sehr niedlichen kleinen Esels. »So einen wollte ich schon immer haben«, sage ich, obwohl das gar nicht stimmt, ich bin nur augenblicklich dem Süüüüüüüß-Effekt verfallen. Einen Apfelschimmel wollte ich immer haben, wie Pippi Langstrumpf, die in meiner Kindheit mein großes Idol war. Und eine eigene Villa. Keinen Esel.

»Aber was soll ich eigentlich mit ihm anfangen?«, frage ich den Feuerwehrmann.

Diese Frage wurde in seiner Glücksfeeausbildung anscheinend nicht behandelt. Er guckt mich ratlos an und überlegt ein bisschen. Dann fällt ihm etwas ein: »Vielleicht in den Garten stellen?«

»Ach so.«

Er ahnt, dass ich mit seiner Antwort nicht ganz zufrieden bin und schiebt nach: »Als zweiten Preis gibt es ein halbes Schwein zu gewinnen.«

»Na toll«, sage ich, »und das fällt dann um, wenn ich es in den Garten stelle.« Darauf wendet sich der Feuerwehrmann lieber neuen Interessenten zu und sagt seine Sprüchlein auf.

Ich sehe mir die Fotos genauer an. Einen Baum, der allein auf einer Weide steht, erkenne ich sofort. Der steht unten am Bach, direkt neben der Brücke, auf der ich früher immer Rollschuh gefahren bin. Nicht Inlineskates, noch nicht mal Rollerskates, sondern so richtig schepprige Dinger, die man sich unter die Schuhe schnallt. Ein Stück Sandweg kann ich auch problemlos zuordnen: Das war die Abzweigung zu meinem »Geheimweg«, den ich gegangen bin, wenn ich Ralf-Georg entkommen wollte. Genutzt hat es nichts, besonders geheim war die Strecke anscheinend nicht. Mir kam es jedoch damals so vor. Und die Bickbeerbüsche auf dem nächsten Bild wachsen in meinem Waldstückchen. Aber dieses Fenster mit der Häkelgardine davor? Das könnte überall sein. Haben nicht alle hier solche Häkelgardinen? Ich versuche mich zu konzentrieren. Systematisch vorzugehen. Gibt es im Haus von Heiners Eltern Häkelgardinen? Immerhin wohne ich da, ich sollte das wirklich wissen. Aber ich kann mich nicht genau erinnern. Wer achtet denn auch auf so etwas? Hängen da überhaupt Gardinen? Wahrscheinlich schon, schließlich gehört es sich so. Kann Heiners Mutter häkeln? Ja, auch das ist wahrscheinlich, früher hat man das noch in der Schule gelernt. Also, schlussfolgere ich, wird sie wohl Häkelgardinen haben. Die sind schließlich preisgünstig selber zu machen. Meine Oma hat auch gerne gehäkelt. Deshalb hängen bei meinen Eltern bestimmt solche Gardinen. Meine Mutter nennt sie wahrscheinlich nur anders, Volants oder Schabracken, bestimmt gibt es auch einen neueren, schickeren Wohnambiente-Spezialausdruck dafür. Okay, das wären schon mal zwei Möglichkeiten, die in Frage kämen. Daneben gibt es noch unzählige andere. Naja, nicht unzählige, das Dorf hat knapp 2000 Einwohner, wie viele Häuser kann es da geben? Aber das ist ja nicht die Frage. Ich wende mich dem nächsten Bild zu: Ein Carport. O nein! Das haben ja nun wirklich alle.

»An dem Quiz bin ich auch schon gescheitert. Dabei sind meine Gören total scharf auf das Eselfohlen. Aber wer zum Teufel weiß denn, wo dieses Gestrüpp herumsteht?« Dodo ist neben mir aufgetaucht und zeigt auf die Bickbeerbüsche.

»Ich zum Beispiel. Aber dieses Carport? Gibt es davon nicht mindestens zwei Dutzend im Dorf?«

»Da hast du Recht, denn das ist das Modell Helgoland, das günstigste, das bei Carport-Scheller im Gewerbegebiet erhältlich ist. Zur Selbstmontage, natürlich. Jeder, der sich hier im Ort ein Carport hinstellt, nimmt Helgoland. Die Dinger sind quasi identisch – bis auf dieses hier. Das ist nämlich unseres. Mein Göttergatte hat es selbst zusammengeschraubt. Und da er Gebrauchsanweisungen und Bauanleitungen prinzipiell nicht traut, hat er sie gar nicht gelesen, sondern das Ding so hingebastelt, wie er sich das gedacht hat. Das passte natürlich nicht alles ganz so genau, deshalb hat er hier«, sie zeigt auf eine etwas sehr schräge Kante des Daches, »und hier«, eine größere Kerbe in einem der Stützbalken, »ein Stück rausgesägt.« Dodo grinst triumphierend. »Und jetzt bist du dran, Silke!«

Ich musste feststellen, dass ich bei allen Fotos, auf denen neuere Auswirkungen der Zivilisation zu sehen sind – Gardinen oder Carports zum Beispiel – kläglich versage. Dafür liegen mir die Naturaufnahmen. Seltsamerweise, obwohl ich ja keine Ahnung von Pflanzen habe. »Dieses Gestrüpp, wie du es nennst, wächst in meinem kleinen Wäldchen und trägt im Herbst die leckersten Bickbeeren.«

»Klar, wenn es was mit Essen zu tun hat, erkennst du es natürlich!« Dodo grinst. Sie kennt mich eben auch schon länger. Trotzdem vermisse ich in diesem Moment Brigitte. Warum musste sie auch ausgerechnet an diesem Wochenende zu Wolfgang fahren? Obwohl, ich muss zugeben, das mit der Fernbeziehung kriegen die beiden ganz gut hin. Gerade, weil sie sich konsequent mindestens jedes zweite Wochenende sehen – ob nun Feuerwehrball ist oder nicht. Und Wolfgang hasst gesellschaftliche Ereignisse, bei denen kein anständiger Wein ausgeschenkt wird.

»Apropos Essen: Was tropft denn da?« Dodo zeigt auf meine Hand, in der ich noch immer die Plastiktüte aus Knurres Kramerlädchen halte. Meine Zutaten für Birne Helene – die habe ich ja ganz vergessen! Das Vanilleeis ist seines festen Aggregatzustandes offensichtlich überdrüssig geworden und schlängelt sich in malerischen Schlieren durch eine zur Tülle gewordenen Ecke über meine Hose das Bein herab, um auf der Terrasse meines Schuhs ein Sonnenbad zu nehmen. Bäh! Ich strecke meinen Arm so weit es geht von mir und sage: »Igittigitigitt! Das war mal Vanilleeis.« Einen kurzen Moment überlege ich, ob ich die Tüte komplett in den nächsten Mülleimer werfen soll, aber das wäre schade um die Dosenbirnen und die Schokoladensoße. Lebensmittel wirft man nicht weg, das ist in meinem Wertemodell nicht vorgesehen. Lieber friert man etwas ein, was dem Vanilleeis durchaus besser bekommen wäre. Wenn wir nun in der Stadt gewesen wären, hätte es ja noch die Möglichkeit gegeben, dass ein Obdachloser die Tüte im Müll findet und sich über die tadellos erhaltenen Kalorien freut. Aber hier im Dorf gibt es keine Obdachlosen. Und die Chance, dass ein halbverhungerter Hund die Dose mit seinen Zähnen knackt und den Schaubverschluss der Schokosoßenflasche mit der Zunge öffnet, ist auch verschwindend gering. Die Hunde werden hier so reichlich gefüttert, dass sie nie eine Notwendigkeit darin sehen werden, derlei Zivilisationstechniken zu erlernen.

Dodo guckt kurz in ihre gigantisch große Umhängetasche und zieht ein feuchtes Tuch hervor. Geschickt wischt sie damit meine Hose und den Schuh sauber. »Internationale Mütterausrüstung«, erklärt sie und verstaut meine undichte Tüte in einem höchstwahrscheinlich lochfreien Modell. Ich stehe da wie eine ungeschickte Dreijährige – und fühle mich sehr umsorgt.

Dodo und ich enträtseln gemeinsam alle Bilder, füllen einen Zettel aus und geben ihn der männlichen Maren Gilzer im Feuerwehrlook.

»Danke, dass du mir geholfen hast, Silke. Mir ist mal wieder klar geworden: Ich muss noch viel dazulernen«, sagt Dodo.

»Wieso das denn? Ist doch nicht schlimm, dass du meine Bickbeerbüsche nicht erkannt hast.«

»Schlimm ist das nicht. Aber ...« Dodo bricht mitten im Satz ab und schweigt.

»Hat es etwas mit deinem politischen Netzwerk zu tun? Mit dem, was du vorhast, uns aber auf der Tupperparty nicht verraten wolltest? Sagst du mir jetzt endlich, um was es geht?«

»Nein«, wehrt Dodo ab, »das ist immer noch zu früh. Es wäre nicht gut für dich, wenn du davon weißt. Also: Hab Geduld. Du erfährst schon noch rechtzeitig, um was es geht.«

Kommt die mir schon wieder mit dieser Geduld-Nummer! Es ist nicht zum Aushalten! Aber Dodo betrachtet schon entzückt das Foto vom Hauptpreis, dem Eselfohlen. Das könnte sie gut gebrauchen, denn ihre Tochter ist ziemlich scharf auf alles, was auch nur annähernd nach Pony aussieht und hat bald Geburtstag. So ist das, wenn man Kinder hat, notfalls muss man sich dem Glücksspiel zuwenden, nur um ihre dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen. Ob ich dazu in der Lage wäre? Schwer zu sagen.

Über dem Dorf ziehen sich Wolken zusammen, so dick wie die Erbsensuppe aus der Gulaschkanone, die von den Landfrauen verkauft wird. Angeblich ist die selbstgemacht, das steht jedenfalls auf dem Schild, und der Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die suppenausgebende Landfrau sorgfältig etwas – wirklich nur ganz wenig! – Petersilie über jede Portion streut und jeden, der ein nicht völlig leergegessenes Plastikschälchen zurückgibt, mit einem frostigen Wenn-das-meine-hungernde-Großmutter-im-Krieggesehen-hätte-Blick straft. Doch auf diese bühnenreife Darstellung würden eh nur Touristen hereinfallen, vielleicht noch Zugereiste aus der Stadt – das sind alle Menschen, die noch nicht mindestens fünfzehn Jahre im Ort wohnen. Alle anderen wissen, dass die Erbsensuppe vom Großhandel kommt. Meine Mutter besorgt sie dort in gigantischen Dosen zum Schleuderkurs und gibt sie mit einem, wie sie stets betont, sehr geringen Aufpreis an die Landfrauen weiter.

Selbstgemacht oder nicht, ich hätte jetzt gerne einen Teller davon gegessen, doch der Himmel wird immer finsterer und ich glaube, ich habe schon einen Tropfen auf dem Oberarm gespürt. Meine Mutter sagt zwar immer »du bist doch nicht aus Zucker« (Heiner hat ganz am Anfang unserer Beziehung mal das Gegenteil behauptet, manchmal hat er mich sogar mit Schokolade verglichen. Was ihm jetzt wohl als Analogie einfallen würde? Knäckebrot? Sauerkraut? Graupen?), doch ich ziehe es vor, hier nicht als die Miss-Wet-T-Shirt für Aufsehen zu sorgen.