3. Kapitel:
Im Keller

Samstag, 7. Mai, später

Ich habe mich überwunden. Den inneren Schweinehund besiegt und meinem Schicksal ins Gesicht geschaut. Die unhandliche Gartenliege samt Auflage auf das Sumpfgrundstück geschleppt und mich dort niedergelassen, um mich schon mal an meinen neuen Wohnort zu gewöhnen. Mich ein bisschen einzuleben.

Meine Mutter hat den Fertighaus-Vorauswahl-Versuch für gescheitert erklärt und abgebrochen – ich erschien ihr einfach nicht entschlussfreudig genug, und wir hatten kein Haus gefunden, in dem alle Fenster so angebracht waren, dass man sie ohne professionelle Hilfe putzen konnte. Jetzt zähle ich die kleinen Fliegen auf meinem Unterarm und stelle mir vor, wie es so sein wird, hier, im neuen Haus, auf dem Sofa zu liegen und zu wohnen.

Folgende Szene schwebt mir vor: Ich tänzele in einem geschmackvollen Hausdress – eine Art Jogginganzug in elegant fließender Seidenjersey-Qualität – durch das Wohnzimmer und arrangiere duftende Blüten zu hinreißenden Stilleben. Auf dem stilvollen Beistelltisch türmt sich köstliches exotisches Obst auf einer filigranen Etagere. Meine perfekt manikürten Hände greifen nach einem makellosen Pfirsich, mit strahlend weißen Zähnen beiße ich ein Stück saftiges Fruchtfleisch heraus, ohne dabei auf den sandfarbenen, hochflorigen Teppich zu kleckern.

Dabei fällt mir ein: Ich habe ja wirklich einen Pfirsich dabei. Der ist allerdings schon ziemlich zermatscht, als ich ihn aus der Tasche pule. Und beim Hineinbeißen spritzt der Saft über mein T-Shirt und kreiert ein ungleichmäßiges Pünktchenmuster, passend zum Fleck, der von innen durch die Tasche schimmert. Ist doch toll, wenn Kleidung und Accessoires aufeinander abgestimmt sind. Ich mache modische Fortschritte.

Meine Phantasie schreitet auch voran, ich kann kaum folgen: Meine traumhafte Pfirsichnascherei hat anscheinend jemanden heiß gemacht (die reale dagegen hat nur die Wespen angelockt). Starke Hände greifen von hinten um meine Wespentaille (wozu Assoziationen aus dem wahren Leben nicht alles führen können), umschlingen meinen trainierten Körper, streicheln über meine straffen Schenkel, wandern hoch zu meinen festen Brüsten. Ich stöhne leicht auf, als sich eine Zunge sanft in mein Ohr schiebt. Komisch, denke ich noch kurz, es ist doch Samstag, früher Abend, da guckt Heiner doch immer Sportschau. Dann gebe ich den fordernden Küssen auf meinen Hals nach, drehe ich mich um – und sehe Herrn Wesseltöft!

So weit ist es also gekommen. Fast hätte ich im neuen Fertighaus mit einem nahezu fremden Mann Sex gehabt! Das Erschreckende daran: Es hat mir gar nichts ausgemacht, dass es nicht Heiner war. Im Gegenteil: Ich war fast erleichtert, dass er es nicht war. Sollte ich nicht Reue fühlen? Scham? Stattdessen fühle ich mich einfach nur wohl. Bin scharf. Mache die Augen zu. Und träume weiter – doch diesmal überlasse ich nichts dem Zufall. Vorher überprüfe ich kurz meine imaginäre Unterwäsche: Winzige Dessous aus teurem Nichts, die wunderbar sitzen, schließlich sind wir hier nicht in einer weltlichen Umkleidekabine.

Herr Wesseltöft packt mich mit seinen starken Armen, hebt mich hoch – er scheint keinerlei Rückenprobleme zu haben, solche Männer findet man heutzutage selten – und trägt mich ins Schlafzimmer. Moment, woher weiß er eigentlich, wo das Schlafzimmer ist? Schlafwandlerischer Instinkt? Steht das etwa im Drehbuch? Ach, nein, schon klar, er hat mir das Haus ja verkauft. Er legt mich aufs Bett, beugt sich über mich, küsst mich feucht und tief, reißt sich dann das Hemd vom Leib und wirft sich mit entblößter Brust auf mich, dass mir einen kurzen Moment die Luft wegbleibt. Das müssen wir noch üben. Naja, ist ja unsere erste gemeinsame Erotik-Phantasie. Da darf man wohl nicht zu viel erwarten.

Wir rollen zur Seite, ich beginne, seinen muskulösen Oberkörper zu streicheln. Der hat ja Brusthaare, wie süß! Ich ziehe daran, zwirbele ein paar zu kleinen Zöpfen. Das macht Spaß. Als ich seine Brustwarzen leicht antippe, zuckt er zurück, so leicht ist er dort reizbar. Ein Mann mit mehr als einer erogenen Zone – eine interessante Laune der Natur.

Ich arbeite mich zur Erregung in der Körpermitte vor, die mir schon auf halben Weg entgegen kommt. Wirklich beeindruckend. Mangels brauchbarem realen Vorbild aus näherem Bekanntenkreis greift meine Vorstellung auf Second-Hand-Eindrücke aus dem Sexshop zurück, in den es mich einmal verschlug; deshalb sieht das, was ich nun in der Hand habe, etwa so aus wie der zweitgrößte Beate-Uhse-Dildo in karibikblau und fühlt sich nach warmem Silikon an. Herr Wesseltöft drängt sich wieder auf mich, diesmal vorsichtiger, ich kann weiter atmen, beginne aber auch zu stöhnen. Das ist ganz schön scharf! Weniger scharf dagegen ist der Ausblick über die Schulter meines neuen Dreamlovers durch das Schlafzimmerfenster. Direkt auf den Opelparkplatz. Ich mache mir gedanklich eine Notiz: Unbedingt Vorhänge kaufen.

In der Schublade von Heiners Nachttischchen finde ich eine angebrochene Packung Kondome, die ich jetzt sehr gut gebrauchen kann. (Moment: Wozu braucht Heiner eigentlich Kondome?) Ich versuche, Herrn Wesseltöft eines mit dem Mund über seine karibikblaue Pracht zu rollen. In einer Frauenzeitschrift habe ich mal gelesen, dass das geht. Man nimmt einfach das Gummi in den Mund, dreht es sich zurecht und streift es mit den Lippen über den Penis. Die Anleitung klang ganz einfach und sehr überzeugend. Mit der Umsetzung hapert es ein wenig. Ich komme mir vor, als hätte ich Weingummis aus Versehen mitsamt Tüte in den Mund gesteckt. Und ich kann noch so sehr darauf rumlutschen, ich finde einfach nicht heraus, wie ich es drehen muss, um es abrollen zu können. Wenn das schon in meinen erotischen Phantasien nicht klappt, wie soll das denn erst im Erlebnisfall funktionieren?

Herr Wesseltöft gibt mir einen langen Zungenkuss, fischt dabei das Kondom aus meinem Mund und rollt es sich ordnungsgemäß über. Dann knabbert er sich an meinem Bein entlang hoch und bringt sich in Stellung. Gleich ist er in Position und wird in mich eindringen – kein unangenehmer Gedanke. Ich räkele mich ein wenig, um noch bequemer zu liegen. Sein Schwanz nähert sich, ich fühle schon ein leichtes Kitzeln –

AUA! Verdammt noch mal!

Uiiiuiiiiiiiiiii, arrrrgh, tut das weh! Was war das denn? Das hat aber nichts mehr mit geträumtem Softporno zu tun. Das ist Hardcore – aber echt!

Gezwungenermaßen wende ich mich wieder voll und ganz dem echten, brutalen Leben zu und befördere die Wespe, die mich in den Oberschenkel gestochen hat, in die ewigen Jagdgründe.

Immerhin habe ich eine interessante Erfahrung gemacht: Der erste Sex mit einem neuen Liebhaber ist immer schwierig. Selbst, wenn man ihn sich nur vorstellt.

Das klingt jetzt, als hätte ich viel Erfahrung mit neuen Liebhabern. Stimmt aber nicht. Meine amourösen Premieren könnte ich auch noch an einer Hand abzählen, wenn ich ein versehrter Tischler wäre, der einmal zu forsch in die Kreissäge gefasst hat. Mal sehen, ob ich mich noch an alle erinnere (nein, wie kokett!). Da waren: Peter, der mich einmal geküsst hat. Wir gingen beide in die vierte Klasse. Das zählt also vielleicht nicht. Dann gab es den Typen auf der Party von Susi, aber der war so betrunken, das zählt auch nicht. Oder war ich so betrunken? Egal. Es ist schon peinlich: Da hat man unterdurchschnittlich viele Liebhaber gehabt und kann sich noch nicht mal an die paar genau erinnern. An einen möchte ich mich gar nicht erinnern: Daniel. Ein Name wie Sahneeis. Er hat im Urlaub auf Teneriffa meinen Mietwagen gerammt – und sich auch danach nicht weiter zurückgehalten. Allerdings weiß davon nur Brigitte. Sie ist auch die Einzige, der ich erzählt habe, dass Daniel mit meiner gesamten Urlaubskasse durchgebrannt ist. Okay, es war am Ende der Ferien, viel war eh nicht mehr in meiner Geldbörse. Den Schaden am Mietwagen hat Brigitte ausgelegt. Das war schon sehr Thelma-und-Louise-mäßig. Leider hatte Daniel, aus der Nähe betrachtet – und rückblickend sowieso –, recht wenig von Brad Pitt.

Von da an habe ich beschlossen, mich etwas zurückzuhalten. Außerdem gab es ja Heiner. Keine zu hoch gesteckten Erwartungen, keine Enttäuschungen. Eine sichere Sache. Doch jetzt bin ich mir gar nicht mehr so sicher. Vielleicht will ich doch etwas ganz anderes? Enthemmten Fertighaus-Sex mit Herrn Wesseltöft zum Beispiel?

Gut zu wissen wäre jetzt noch: Wenn man die Pannen schon in seiner Phantasie durchspielt, muss man sie dann in der Realität noch mal erleben? Gibt es dann neue Pannen oder vielleicht gar keine? Oder sind die Pannen, wenn man sie vorher schon mal durchgespielt hat, nicht mehr so peinlich, wenn man sie wirklich erlebt?

Hochnotpeinlich fand ich auf jeden Fall den Junggesellinnenabschied von Simone. Simone war in der Grundschule mit mir in einer Klasse, viel hatte ich mit ihr nie zu tun, aber Brigitte hat mich überredet, mitzukommen. Ich bin ja sonst nicht für solche Art launiger Geselligkeit. Und ich gehöre nicht gerne zu einer Gruppe – jedenfalls nicht deutlich erkennbar. Auf derlei Bedenken wurde allerdings keine Rücksicht genommen. Kaum war ich im Windfang von Simones Elternhaus angekommen, bekam ich ein T-Shirt übergestülpt, auf dem mit Fingerfarbe geschrieben stand: Simone's letzte Chance! Mit Apostroph. Darüber waren fleischfarbene nackte Brüste gemalt, schätzungsweise in Doppel-D. Ich musste sofort ungefähr fünf kleine Schnäpse in rot, gelb und grün trinken. Langsam wurde es mir zu bunt, doch Brigitte redete mir gut zu, wir gingen ins Wohnzimmer: »Da ist die Spielhölle!« Die anderen Gäste waren auch schon recht angeschickert – bis auf zwei. Das habe ich erst gar nicht gemerkt, deshalb hat es mich auch nicht gewundert. Ich war zu sehr damit beschäftigt, die Situation zu bewältigen. Ich habe noch nie gerne gespielt. Mir gelingt es nicht, beim Monopoly zu schummeln und es ist mir völlig egal, ob ich bei Mensch-ärgere-Dich-nicht verliere oder gewinne. Das löst einfach keine Gefühlsregung in mir aus. Mein Vater hat mal ein Wochenende darauf verwandt, mir Skat beizubringen. Genau so gut hätte er dem Hund die binomischen Formeln erklären können.

Bei Simone spielten wir ein Würfelspiel, dessen Regeln sich mir nicht erschlossen. Wahrscheinlich gab es gar keine. Egal welche Zahl man würfelte, man musste einen Schnaps trinken. Und im Laufe des Spiels bekam jede einen Umschlag, der erst zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort geöffnet werden durfte. Darin befand sich eine Aufgabe, die die Umschlaginhaberin zu erfüllen hatte. Meine Aufgabe wartete um 23.30 Uhr auf der Reeperbahn auf mich.

Meine natürliche Hemmschwelle löste sich unter Einfluss der regenbogenfarbigen Kurzgetränke in Wohlgefallen auf, wir verließen das Haus. Jede von uns trug ein Titten-T-Shirt. »Ich wollte immer schon mal Brüste wie Sophia Loren haben«, jubelte Brigitte. Das war eine komplette Fehleinschätzung: Sie sah eher aus wie eine Kreuzung aus Pamela Anderson und einem Gemälde von Picasso – irgendwie grotesk und so, als hätte man den Sinn dahinter noch nicht richtig verstanden. Aber so etwas wie Sinn war mir da sowieso schon egal.

Wir quetschten uns zu zwölft in zwei Opel Corsas, und die beiden Nüchternen fuhren uns in die nahe gelegene und doch Universen entfernte Großstadt, unserem ungewissen Schicksal entgegen. Bevor wir die Autos auf dem Heiligengeistfeld wieder verließen, mussten wir alle kleine rote Hütchen und Pappnasen aufsetzen und uns mit Lippenstift gegenseitig Herzchen auf die Wangen malen. Fast überflüssig zu erwähnen, dass im Autoradio die ganze Zeit Marianne Rosenberg in glaszerberstender Lautstärke lief. »Er gehört zu mir wie mein Name an der Tür«, kreischten alle – außer mir vielleicht, denn ich kann nicht singen – verzückt mit. Dabei wohnten die meisten hinter Türen mit dem Namensschild ihrer Eltern oder hatten ihren Nachnamen mit der Eheschließung genauso aufgegeben wie die Überlegung, die angesparten Summen auf ihren Bausparverträgen einfach zu verjubeln. Die Namen auf den Türschildern waren nicht immer die bessere Wahl: Gesine hieß vor ihrer Hochzeit schlicht und einfach Meier, jetzt unterschreibt sie mit Gekröse. Tja, wo die Liebe eben hinfällt. Da kann man wohl nichts machen.

Simone war die einzige, die keinen Umschlag bekommen hatte, sie musste dafür mit einem Bauchladen herumlaufen und Schnullerflaschen voller Liebesperlen mit selbstgebastelten Etiketten, auf denen Viagra stand, verkaufen. Das Geschäft lief erstaunlich gut, manche Kunden wollten allerdings das Produkt gleich gemeinsam mit Simone testen. Sie lehnte dankend ab, trotz zahlreicher Hinweise auf die Letzte-Chance-Oberbekleidung. Ich hatte den Verdacht, sie fühlte sich geschmeichelt.

Brigittes Aufgabe war es, in einer Diskothek auf der Bühne einen Cancan zu tanzen, bei dem man ihren Slip sieht. Kein Problem für Brigitte, sie trug sowieso zu der Zeit ausschließlich Mini in Kombination mit Wochentags-Unterhosen – allerdings nie die richtige. Es war Samstag, und sie hatte ganz offensichtlich den Montag an.

Es war viertel nach elf, als wir schließlich in einen Sexshop einfielen. Einen sehr großen, sehr vollen Sexshop. Wir zogen kichernd an den Regalen lang, nahmen prüfend Dildos in die Hand, fochten mit Vibratoren und tuschelten uns die Namen der Sexfilme zu. Als es gerade richtig lustig wurde, holte Simone aus dem Bollerwagen, den wir zwecks Schnapstransport mit uns führten, einen Ghettoblaster und forderte mich auf, meinen Umschlag zu öffnen. Du wirst Saving all my love for you von Whitney Houston singen – sehr laut und mit dem größten Dildo, den es im Sexshop gibt, als Mikrofon. Ein Textblatt steckte auch im Umschlag. Brigitte reichte mir den Karibikblauen – das größte Modell war ein mannshoher Aufsteller aus Pappe –, Simone schubste mich auf ein kleines Podest, und Gesine schaltete den Kassettenrecorder an.

Mein Pflichtgefühl war ebenso groß wie mein Alkoholpegel hoch, deshalb krallte ich meine Hand fest um den Dildo und begann zu singen. Eher: zu jaulen, denn ich kann ja nicht singen. Das aber inbrünstig und laut. »A few stolen moments is all that we share. You' ve got your family, and they need you there. Though I' ve tried to resist, being last on your list, but no other man's gonna do« , intonierte ich voller Leidenschaft. »So I' m saving all my love for you!« Und plötzlich ging mir auf, wovon dieses Lied handelte: Eine Frau sitzt zuhause und wartet auf ihren Geliebten, doch der ist bei seiner Familie. Sie ist sehr tapfer und sehr verzweifelt. Wahrscheinlich wird sie ihr ganzes Leben wartend verbringen. Ich wurde plötzlich unendlich traurig, mir schnürte sich die Kehle zu, Tränen schossen mir in die Augen und vernebelten meinen Blick. But the Show must go on, heißt es doch immer, also machte ich einen Schritt nach vorn, geriet ins Taumeln, und zu meinem tiefen, seelisch empfundenen Schmerz gesellte sich alsbald ein dumpfer körperlicher. Ich war gegen die hölzerne Halterung des Pappdildos getreten, hatte die verkaufsfördernde Erektion und mich zu Fall gebracht und dabei eine aufgeblasene Dolly-Buster-Puppe mitgerissen, aus der mit einem lauten Pffffffff die Luft entwich. Der Mikrofondildo hatte sich tief in meinen Rachen gebohrt. In dem Moment wusste ich: Ich würde niemals eine Jungesellinnenabschiedsparty geben.

Simone wohnt jetzt übrigens auswärts. Zwölf Kilometer weit weg, in einem anderen Dorf. Ich habe sie nie wieder gesehen.

Langsam wird es dunkel, ich packe die restlichen zermantschten Pfirsiche und die Liege zusammen und schleiche mich an den fernsehguckenden Schwiegereltern vorbei in die Dachbutze. Von Heiner keine Spur. Ich werde ein bisschen traurig und weiß eigentlich gar nicht warum.

Ich lege mich aufs Bett. Als das Telefon klingelt, erschrecke ich mich so, dass ich mir den Kopf an der Dachschräge stoße. Das ist doch kein Leben! Ich brauche Luftraum. Sicherheitsraum über meinem Kopf. Oder sollte ich vielleicht etwas Schaumstoff an die allzu nahe Wand nageln? Es klingelt weiter, ich mache mir einen kurzen Moment Sorgen: Ist Heiner etwas passiert? Ach, nein, was soll dem schon zustoßen außer ein paar Bier.

Meine Nicht-Sorge ist berechtigt, am Telefon ist nämlich Sandra. Meine alte Schulfreundin. Die, die in die Stadt gezogen ist und studiert. Sie hat es wirklich getan, hat sich auf ein Leben ohne Carport eingelassen und scheint sogar glücklich damit zu sein. Wir haben nur noch selten Kontakt, aber ich freue mich immer sehr, wenn sie zu Besuch kommt. Immerhin zwei Mal im Jahr: an Weihnachten und zum Geburtstag ihrer Oma. Und der fällt meistens mit dem Feuerwehrball zusammen. Nachmittags schlägt sie sich den Bauch mit Buttercremetorten voll, abends verwirrt sie in aberwitzigen Outfits die Dorfjugend und findet das Ganze auch noch spaßig. »I'm going back to my roots« , singt sie dann immer. Sie kann sich mit allen prima über das Wetter unterhalten, sie studiert schließlich Meteorologie. Oder war es Astronomie? Ich weiß nicht, warum ich mir das nicht merken kann.

»Silke, ich komme dieses Jahr nicht zum Feuerwehrball. Meine Oma hat sich in den Kopf gesetzt, an ihrem Geburtstag ins Theater zu gehen, und da muss die gesamte Familie natürlich mit.«

»Schade! Dann sehen wir uns ja wieder ein halbes Jahr nicht. Sogar über ein halbes Jahr.« Ich bin wirklich enttäuscht.

»Naja, du könntest mich ja mal besuchen und wir gehen zusammen aus. Nächste Woche, am Sonntag, spielt eine geniale Band. Der Sänger ist der absolute Wahnsinn. Und das beste: Ich stehe auf der Gästeliste. Plus eins. Du bist eingeladen.«

Sandra hat Recht. Ich könnte sie mal besuchen. Theoretisch. Praktisch wissen sie und ich, dass ein Ausflug vom Dorf in die große Stadt sorgfältig geplant sein will und nicht mal eben so stattfindet. Vorlaufzeit: mindestens zwei Monate. Nicht mal eben nächste Woche. Das ist eben so.

»Ach nee«, antworte ich, gelähmt von der Spontaneität der Einladung. »Am Montag muss ich doch arbeiten. Da muss ich ausgeschlafen sein.« Eine lahme Ausrede, aber immerhin wahr.

»Ja, ich verstehe«, sagt Sandra, »den Nerven aufreibenden Alltag auf dem glatten Parkett des internationalen Devisenhandels kann man natürlich nur hellwach bewältigen.«

War das jetzt ein Witz oder Ironie oder was? Ich kann das gerade nicht mehr so recht wahrnehmen.

»Hey, das war ein Scherz«, sagt Sandra.

»Sei bloß vorsichtig, sonst bekommst du beim nächsten Weltspartag keine Sparschwein mehr von mir. Oder ich löse heimlich dein altes Sparbuch auf und brenne mit deinen eisernen Rücklagen nach Honolulu durch.«

»Das reicht doch noch nicht mal für eine Busfahrkarte in die Stadt.«

Wir plänkeln noch ein bisschen herum, und Sandra versucht noch einmal, mich zu überreden, sie zu dem Konzert zu begleiten. Aber ich bin so müde, dass mir eine solche Unternehmung schon in meiner Phantasie unendlich anstrengend vorkommt. Ich bleibe bei meiner Absage.

Der Samstag ist wahrhaft gelungen: Eine fruchtlose Massivhausparkbesichtigung, eine missglückte Sexphantasie mit einer neuen, unerreichbaren Flamme und die lebhafte Erinnerung an einen peinlichen Abend. Und dann schlage ich auch noch die Einladung einer alten Freundin aus. Die perfekte Wochenendgestaltung einer modernen jungen Frau. Wie aus einer Frauenzeitschrift kopiert. Einer Frauenzeitschrift mit dem Titel: Schlapp & müde – Das anspruchslose Blatt für die Leserin ohne Perspektive.

Ich träume, ich sei Chefredakteurin einer solchen Zeitschrift und muss widerlich engagierte, karrieregeile, aufgeweckte Mitarbeiterinnen zur Räson bringen. Das kommt davon, wenn man bei Filmen einschläft, die im Zeitschriftenmilieu spielen und Titel haben wie Frauen, die Prosecco trinken.

***

Sonntag, 8. Mai

Dröhnender Maschinenlärm weckt mich. Mein erster Gedanke: Ich habe vergessen, den Fernseher auszuschalten. Aber warum senden die statt der Morgenandacht um diese Zeit Terminator 2? Ich taste nach der Fernbedienung und hämmere auf die Aus-Taste, doch der Krach hört nicht auf. Es kann sich nur um einen echten Maschinenangriff handeln. Warum habe ich keine Sirenen gehört? Ich will Heines wecken, doch der ist nicht da, wahrscheinlich ist er schon mit der Freiwilligen Feuerwehr ausgerückt, die Welt retten.

Todesmutig sehe ich aus dem Fenster – hinab in ein tiefes Loch. Dort drüben hat gestern noch mein Liegestuhl gestanden. Als Grab für die von mir erlegte Wespe finde ich das jetzt etwas übertrieben. Der Lärm erstirbt und wird von einem leisen Ploppen abgelöst.

Ich öffne das Fenster, lehne mich hinaus und rufe zu Heiner und seinem Kumpel Kalle runter: »Was macht ihr denn da?«

»Bier trinken. Sieht man das nicht?«

»Doch, ja. Sehr deutlich. Und mit dem großen Ding da hinter euch habt ihr die Flaschen aufgemacht, oder was?«

Heiner dreht sich um und betrachtet den Bagger, an dessen Rad er sich gelehnt hatte: »Kann man so sagen.« Kalle schickt ein dumpfes »Höhöhöhö!« in den Sonntagmorgen.

Ich wüsste es doch gerne etwas genauer und frage nach: »Und das Loch da?«

»Da kommen die leeren Flaschen rein.«

Ich werde den Eindruck nicht los, als hätten die Jungs schon vor dem Buddeln mit den Buddeln angefangen. Ganz nüchtern wirken sie nicht.

Noch ein Versuch: »Jetzt mal im Ernst!«

Heiteres Gegröle: »Aus Spaß wurde Ernst. Ernst ist jetzt vier Jahre alt.« Heiner nutzt seit Jahren jede noch so unpassende Gelegenheit, diesen Witz zum Besten zu geben.

Ich gucke einfach weiter runter. Vielleicht kommt ja noch eine Erklärung. Männer sind manchmal etwas langsam.

»Also«, setzt Kalle an, »mein Onkel hat mir den Bagger geliehen. Und da dachten wir, das ist doch mal eine günstige Gelegenheit, den Keller auszuheben. Für das Haus.«

Meine Gedanken wandern zu Herrn Kurz und seiner Männer-brauchen-einen-Keller-Weisheit. Bestimmt steht auf dem Bagger auch irgendwo Power drauf.

»Wir haben noch gar kein Haus«, sage ich nüchtern.

»Ach was. Der Keller kommt immer zuerst. Nachträglich wäre das ja wohl ein bisschen schwierig.«

Ja, damit hat Heiner wohl Recht. Es fällt ein wenig schwer, mir das einzugestehen. »Aber wir wissen doch noch gar nicht, wie groß das Haus ...«

»Aber, aber, aber«, schneidet Heiner meinen durchaus ernst gemeinten Einwand ab, in dem er mich nachäfft. Er setzt noch einen drauf: »Kümmer du dich lieber um deinen eigenen Kram.«

Das sitzt. Ich ziehe den Kopf ein, mache das Fenster zu und lege mich wieder unter die Dachschräge ins Bett. Heiners Seite sieht so unberührt aus, das Kopfkissen ist gar nicht zerknautscht, und auf dem Boden liegen keine dreckigen Socken herum. Wahrscheinlich hat er die ganze Nacht mit Kalle gesoffen und Karten gespielt. Und dabei den Keller-Plan ausgeheckt. So richtig gerade sieht das Loch auch nicht aus. Naja, notfalls wird es eben wieder zugeschüttet. Oder man macht einen Teich draus. Ist doch sowieso recht sumpfig, die Wiese.

Ich überlege, was der eigene Kram sein könnte, um den ich mich kümmern soll, und da fällt mir gleich wieder Herr Wesseltöft ein. Ich vergewissere mich, dass das Fenster wirklich geschlossen ist, damit mir diesmal keine Wespe dazwischen kommt. Diesmal gelingt mir eine fast pannenfreie erotische Phantasie. Also wird der Sonntagmorgen doch noch ganz nett.

Später gucke ich mir das Kellerloch aus nächster Nähe an. Es ist zur Hälfte mit Grundwasser vollgelaufen, an den Rändern üben sich Frösche im dramatischen Sturzköpper.

Mutti kommt kurz vorbei, um meine Kleidung zu kritisieren. Ich finde zerrissene Jeans und ein T-Shirt mit einem neonfarbenen Wham-Aufdruck völlig akzeptabel für einen Sonntagnachmittag, aber sie insistiert: »Du solltest dir mal so einen etwas längeren, enger geschnittenen Schlabberrock kaufen. Die sind jetzt ganz modern.« Ich habe keine Ahnung, was sie meint, rette aber mit einem fröhlich vorgetragenen »Ja, Mutti, das mache ich!« die Stimmung.

Abends leistet Heiner mir beim Tatort Gesellschaft. Es ist ein sehr harmonischer Abend: Er isst nicht und er redet nicht. Das ist gut so, denn mir in den Tatort zu quatschen ist noch schlimmer, als mich im Bad anzusprechen. Diesmal wird eine Sparkassenangestellte im Tresorraum ermordet aufgefunden. Der Mörder ist der Filialleiter, der meinem Chef, Herrn Markmann, erstaunlich ähnlich sieht. Der gleiche Schnauzbart, die gleichen etwas zu kurzen Anzughosen, der gleiche scheele Blick. Außerdem hat die Tatort-Sparkasse die gleiche kuhfladengrün-gemusterte Auslegeware wie mein Arbeitsplatz.

Während der Kommissar den leer geräumten Tresor inspiziert, werfe ich einen verstohlenen Blick zu Heiner hinüber. Nein, er ist kein Gott wie Herr Wesseltöft, wirklich nicht. Aber er sieht schon nett aus, wie er da so sitzt und sich auf den Krimi konzentriert. Irgendwie arglos, und auch, wenn er manchmal etwas krätzig ist und meint, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern – ich mag Heiner. Er gehört zu meinem Leben wie ... ja, wie eigentlich? Wie meine Mutter? Wie Brigitte? Ganz sicher nicht. Vielleicht wie mein Auto? Wie etwas, das zu mir gehört, das ganz praktisch und angenehm sein kann – aber mehr auch nicht.

Über die Frage, warum ich Heiner und meinen Opel Corsa auf die gleiche Stufe stelle, möchte ich lieber nicht weiter nachdenken. Es ist ja auch schon spät. In spätestens fünfundzwanzig Minuten wird der Verbrecher überführt und ich vor Sabine Christiansen ins Bett geflohen sein.

***

Montag, 9. Mai

Am Montagmorgen gehe ich mit einem etwas mulmigen Gefühl zur Arbeit. Gut, dass es hier gar keinen Tresorraum gibt, sondern nur einen großen Panzerschrank im Büro von Herrn Markmann. Dieses Zimmer werde ich heute einfach meiden.

»Du sollst mal zu Herrn Markmann kommen«, sagt Susi als erstes zu mir, als ich meine Tasche auf dem Schreibtisch hinter der Panzerglaswand abstelle. Dabei sieht sie mich nicht an, sondern widmet sich weiter konzentriert ihrem Morgenritual, dem kunstvollen Arrangieren ihrer Tagesportion Süßigkeiten.

Diese Anweisung durchkreuzt in unvorhergesehener Weise meinen Sicherheitsplan. »Hat er denn gesagt, um was es geht?«, frage ich.

»Nö«, murmelt Susi, spekuliert dann aber: »Wahrscheinlich hängt es mit der Modernisierung zusammen. Ich habe vorhin dieses Fax abgefangen.« Sie grinst verschwörerisch und zieht vorsichtig ein paar Blätter unter einer Schokokuss-Pyramide heraus. Viel ist darauf nicht zu erkennen, es scheint eine Grundrisszeichnung zu sein, sehr grau in grau. Mit Mühe kann ich die geplante Neuaufteilung des Schalterraums dechiffrieren. Sieht ganz schick aus. Aber es gibt nur noch einen Schreibtisch. Susi scheint das noch nicht aufgefallen zu sein. »Das ist doch mal echt edel!«, schwärmt sie und wechselt dann ohne Überleitung das Thema: »Hast du gestern den Tatort gesehen?«

»Natürlich, gucke ich doch immer.«

»Der war vielleicht spannend! Und gruuu-se-lig! Und dass die Tote dann auch noch Silke heißen musste – ich hab die ganze Zeit an dich gedacht.«

»Du wärst mich wohl gerne los?«

»Ach, du spinnst ja«, sagt Susi aufgesetzt empört mit einem ertappten Du-kannst-wohl-Gedanken-lesen-Blick. »Aber wie ist es denn überhaupt ausgegangen? Ich bin leider mittendrin eingeschlafen.«

Ich erzähle Susi haargenau, wie der Fall aufgeklärt wurde, mit allen blutigen Details und überrasche sie mit der Enthüllung: »Und der Mörder war – der Filialleiter.«

»Nein!«, haucht Susi.

»Doch!«, hauche ich zurück und setze nach einer dramatischen Kunstpause mit Grabesstimme nach: »Herr Markmann!«

Susi stößt einen kurzen schrillen Schrei aus und fuchtelt mit den Armen.

»Meine Damen, meine Damen!«, ertönt hinter mir die nicht so wahnsinnig imposante Fistelstimme von Herrn Markmann. »Ich habe den Krimi ja auch gesehen. Silke, würden sie jetzt trotzdem bitte in mein Büro kommen?«

Er spricht mich mit dem Namen des Opfers an! Er will mich in den Tresorraum locken (oder in Ermangelung eines Tresorraums zumindest in die Nähe des Panzerschrankes)! Er ist ein Copy-Killer! Er will umsetzen, was er im Fernsehen gesehen hat! Man sollte solche Gewaltdarstellungen verbieten! Ich nehme mir vor, das nächste Mal bei einer Unterschriftenaktion gegen Brutalität in den Medien mitzumachen. Wenn es denn ein nächstes Mal geben sollte!

Ich folge Herrn Markmann zögerlich in sein Büro und nehme auf dem mit quietschendem Kunstleder bezogenen Besucherstuhl Platz. Bei jeder Bewegung entweicht dem Polster mit einem unangenehmen Geräusch Luft. Als säße man auf einem Furzkissen. Ich sitze möglichst starr da und überlege fieberhaft, was für ein Motiv Herr Markmann hat. Eifersucht? Absurd. Will er etwas vertuschen? Vielleicht brennen ihm auch einfach nur ein paar Sicherungen durch.

Er greift in seine Schublade und zieht einen Revolver ... pardon, nein: einen Umschlag hervor.

»Silke, Sie wissen ja wahrscheinlich, dass, ähhh, dass, ähhhem, eine Modernisierungsmaßnahme in dieser unserer Filiale geplant ist.« Seine Stimme klingt noch etwas höher und zittriger als sonst, wie ein kastriertes Erdmännchen.

»Ja«, antworte ich einsilbig und unbeweglich, während ich mich nach dem kürzesten Fluchtweg umsehe.

»Daher, also, im Zuge dessen ist es leider unumgänglich, bedauerlicherweise, ähhhh, sehen wir uns gezwungen, personelle Schritte einzuleiten. Rationalisierungsmaßnahmen. Das Human-Resources-Management ...« Er hat neulich an einem Wochenendseminar für Führungskräfte teilgenommen, seither spricht er etwas verquast.

Ich nicke verständnisvoll, finde mich scheinbar mit der Rolle des Opfers ab, während mein Blick den Schreibtisch unauffällig nach waffenfähigem Material absucht. Der Brieföffner sieht ganz brauchbar aus.

»Also, ähhh, wir müssen uns von ihnen trennen. Ein Geldautomat wird Ihre Aufgaben übernehmen.« Mit einer ruckartigen Bewegung streckt er mir den Umschlag hin. Ich weiche erschrocken zurück, dem Stuhl entfährt ein lauter Pups.

»Wie bitte?«

Herr Markmann ringt um Fassung. »Kündigung. Das ist Ihre Kündigung. Wenn Sie den Empfang bitte hier quittieren würden.« Er lässt den Umschlag vor mir fallen, wirft einen Quittungsblock hinterher und stammelt: »Der Ordnung halber, Sie wissen schon. Natürlich werden Sie eine angemessene Abfindung erhalten. Und Sie sind ab sofort – ähhhh freigestellt.«

Da ich ja grundsätzlich kein ordentlicher Mensch bin, greife ich mir zwar den Umschlag, ignoriere aber den Quittungsblock und gehe aus dem Zimmer. Das war also Markmanns perfide Art, mich aus dem Weg zu räumen. Nicht ganz so drastisch und filmreif wie im Tatort, aber doch sehr effektiv.

Ich nehme wortlos meine Tasche, stopfe die Reste von Susis Süßigkeiten-Tagesvorrat hinein und verlasse die Filiale. Susi berät gerade Oma Ellerbrock und weicht meinem Blick aus. Wahrscheinlich hat sie es gewusst. Na wenn schon. Ich habe es doch auch geahnt. Verletzt bin ich trotzdem. Gedemütigt. Aber immerhin mit dem Leben davon gekommen. Mein Leben ist eben ein schlechter Krimi.

Als ich hinausgehe, fährt ein Lastwagen vor. Zwei Männer, die aussehen, als seien sie direkt der Cola-LightReklame, dem feuchten Traum aller Sekretärinnen, entsprungen, laden den nagelneuen Geldautomaten ab. Mein Nachfolger. Wenigstens wird er Susi nicht die Süßigkeiten klauen. Einen Moment lang hängt der schwere Kasten in der Luft, es sieht so aus, als würde er den Packern entgleiten und auf den Betonplatten zerschellen. Hätte ich dann meinen Job wieder? Würde man mich wieder brauchen? Will ich überhaupt zurück?

Ich überquere die Hauptstraße, ohne nach rechts oder links zu sehen, und setze mich auf die Bank vor dem Feuerwehrhaus. Ich kann bis fünfzig, manchmal auch bis hundert zählen, bis ein Auto vorbeifährt. Ab und zu donnert ein schwerer Kieslaster vorbei, dann staubt es. Ich glaube, ich habe noch nie so ruhig an einem Werktag mitten im Dorf gesessen. Nur ein paar alte Frauen fahren zügig auf ihren Fahrrädern vorbei, grüßen, ich grüße zurück. Hoffentlich kommt niemand vorbei, der mit mir reden will.

In allen Fenstern hängen Gardinen. Oft halbhohe Bistrovolants, handgehäkelt. Mir fällt die Zeile eines Songs ein, den Brigitte mir mal auf Kassette aufgenommen hat: Andere Fenster, andere Sorgen, hinter Vorhängen verborgen. Oder, wie meine Oma oft sagte: Unter jedem Dach ein Ach. Ich überlege: Das Dorf hat knapp 2000 Einwohner. Es gibt drei Kneipen, von denen allerdings keine einzige vormittags geöffnet hat, eine Sparkassenfiliale, in der ich bis eben noch meine Tage verbracht habe, einen Supermarkt, ein Modehaus, einen Opelhändler (meinen Schwiegervater). Es gibt den Schützenverein, den Landfrauenverein, die Freiwillige Feuerwehr und bald auch ein Aerobic-Center. Es gibt nichts, was es hier nicht gibt. Oder doch: Arbeitslose. Arbeitslosigkeit kennt man hier nicht. Der eine oder andere geht vielleicht in Frührente oder trinkt zuviel und arbeitet deshalb nicht. Aber ich kenne keinen einzigen, dem gekündigt wurde. Ich bin die erste Arbeitslose des ganzen Dorfes! Eine Premiere, auf die ich gut hätte verzichten können.

Vielleicht stimmt das gar nicht? Vielleicht sind hier ganz viele Leute arbeitslos, aber sie halten es geheim? Verschanzen sich den ganzen Tag im Haus, damit es niemand mitbekommt? Und die Vorhänge sind alle nur Tarnung, damit niemand sehen kann, was sich drinnen abspielt? Hat nicht Frau Meier gerade ihr Auto verkauft? Verkaufen müssen? Und da, gegenüber: Hat sich die Gardine von Kruses nicht gerade verdächtig bewegt? Die müssten doch beide bei der Arbeit sein. Und wenn nicht? Werde ich etwa beobachtet? Und wenn ja: Welche Schlüsse kann man daraus ziehen? Wenn nun jemand auf die Idee käme, ich säße hier nur rum, weil ich gefeuert wurde ... wäre ich die erste Arbeitslose des Dorfes, von der man wüsste, dass sie arbeitslos ist. Bei mir käme der Makel, den alle so geschickt zu kaschieren wissen, ans Licht. Nein, das muss ja nun nicht sein. Deshalb darf ich hier auf gar keinen Fall weiter herumsitzen. Wie sieht das denn aus!

Ich denke schon wie meine Mutter.

Nach Hause will ich auch nicht, also gehe ich erst mal spazieren. In meinen Wald. Von meiner Oma habe ich vor ein paar Jahren ein idyllisches kleines Stück Mischwald geerbt. Ein winziges Stück, es stehen genau dreiundzwanzig Bäume darauf. Dazu noch eine Wiese, direkt an der Autobahn. Die habe ich an einen Bauern verpachtet, hin und wieder grasen ein paar Kühe darauf. Nervöse Viecher, wahrscheinlich bekommt ihnen der Lärm der vorbeidonnernden LKW nicht so recht.

Das hört sich jetzt an, als sei ich eine Großgrundbesitzerin, aber das Land ist fast wertlos. Es liegt außerhalb des Bebauungsplanes. Nur Bauland bringt Geld. Aber mir ist das egal. Der Wald ist mein Lieblingsplatz. Als ich noch klein war, hat meine Oma mit mir hier gemeinsam Bickbeeren gesucht und mir aufregende Geschichten aus ihrer Jugend erzählt. Von den vielen Verehrern, die sie hatte – davon durfte ich Opa allerdings nie etwas verraten. Von den Reisen, die sie gemacht hat, nach Kenia und Sri Lanka. Meine Oma hat immer in diesem Dorf gelebt. Aber sie hat viel von der Welt gesehen. Noch mit 85 hat sie Pauschalreisen nach Venedig gebucht. Bustouren, nicht gerade komfortabel. Ihre Tochter, meine Mutter, war immer sehr besorgt: »Mutter, wenn dir nun unterwegs etwas passiert ...« Aber meine Oma wies alle finsteren Bedenken mit einem Satz zurück: »Ach was«, sagte sie, »sterben kann ich auch woanders.« Ist sie aber nicht. Sie ist zuhause gestorben. In ihrem Dorf. Meine Oma war zufrieden mit ihrem Leben. Allerdings wurde ihr auch nie gekündigt.

Ich schlendere auf den Laubhaufen zu, den meine Eltern im Herbst hier abgeladen haben, und mir fällt die Räuberpistole ein, die meine Mutter dabei erlebt hat. »Fast wäre ich im Knast gelandet«, rief sie aufgeregt ins Telefon.

»Was hast du denn ausgefressen?«, fragte ich. »Mal wieder beim Zahnarzt ein paar Zeitschriften aus dem Wartezimmer mitgehen lassen?«

»Blödsinn, das war doch Omas Spezialität. Gar nichts habe ich angestellt! Dein Vater und ich haben den Rasen geharkt und das Laub auf den Anhänger geladen und im Wald abgeladen. Als wir wieder zuhause waren, war Papas Mobiltelefon weg – das hatte ich vorher noch in meiner Jackentasche. Das gute Telefon. Wir haben die Nummer gewählt und gehorcht – aber nichts gehört. Draußen war es schon dunkel, aber es half ja nichts: Wir sind wieder in den Wald gefahren. Dein Vater hat mit einer kleinen Taschenlampe geleuchtet, während ich mit beiden Händen das Laub durchwühlt habe. In dem Moment, als ich das Telefon gefunden habe, kommt ein Streifenwagen vorbei. Zwei Polizisten springen mit gezogenen Pistolen heraus und rufen: Hände hoch! Sie sind verhaftet!«

»Niemals, Mutti, du übertreibst.«

»Okay, erwischt. Sie sind ganz normal ausgestiegen und wollten unsere Ausweise sehen. Meine Herren, habe ich zu ihnen gesagt, wer nimmt denn schon seinen Personalausweis mit, um im Wald ein Handy zu suchen? Sie können mich gerne festnehmen, für mich zählt heute nur, dass ich das Telefon wieder gefunden habe, und wenn das strafbar ist, bitte, tun Sie ihre Pflicht, aber meine gute Laune werden Sie damit nicht verderben.«

»Und? Haben sie dich festgenommen?«

»Aber nein, Kind, mach dir mal keine Sorgen. Sie waren sehr einsichtig. Allerdings haben sie mit einem Anruf unsere Identität überprüft. Als ob sie mir nicht geglaubt hätten. Wahrscheinlich haben sie gedacht, wir seien Diebe und wollten heiße Ware verstecken.«

»Bestimmt, Mutti, ganz bestimmt.«

Das Leben meiner Mutter ist immer aufregend, immer spannend. Zumindest sieht sie es so. Ständig erlebt sie etwas, hat etwas zu erzählen. Mir passiert nie etwas Interessantes. Mir wird bloß gekündigt. Und jetzt muss ich Hausfrau werden. Dabei gibt es das Haus noch gar nicht. Was für eine Zukunftsperspektive!

Im Laubhaufen raschelt es. Ich schleiche dichter ran und erkenne einen prallen Damenhintern, bekleidet mit einem String-Tanga, dessen Waschanleitungsschildchen etwas unvorteilhaft auf einer Pobacke ausgeklappt ist. Ich sinniere noch etwas über die Vor- und Nachteile dieser zierlichen Kleidungsstücke – letztere überwiegen meines Erachtens –, während ich versuche, zu erkennen, wer dort die fortgeschrittene Balz betreibt. Was ich sehe, überrascht mich dann doch.

Es ist Heiner, der an zwei Brüsten zu demonstrieren scheint, wie man fachmännisch Hefeteig zubereitet, und der dabei den Mund der String-Trägerin ausschleckt wie eine Rührschüssel. Dabei mag Heiner gar nicht so gerne Süßes, denke ich noch. Und diese Frau ist reinste Zuckerwatte. Es ist Monique.

Monique, Königin des Ideenkreises junger Landfrauen. Unumstrittene Trendsetterin des Dorfes.

Sie kann alles besser als ich. Wurde mir seit meiner Kindheit von meiner Mutter als perfektes Vorbild hingehalten. Sie hat die schlankere Figur, die flottere Frisur (wenn man die Blätter, die da jetzt drin hängen, wieder entfernt), ist schicker gekleidet (auch wenn ihre Unterwäsche etwas zu wünschen übrig lässt, wie ich noch mit einem winzigen Rest Häme feststellen kann), die besseren Manieren (ja, sie scheint wirklich sehr freundlich zu Heiner zu sein), den Bürgermeister als heimlichen Geliebten (und jetzt offensichtlich auch meinen Verlobten) – Monique ist also überhaupt und insgesamt erfolgreicher.

Wahrscheinlich ist sie auch besser im Bett. Bezüglich dieses Talentes von Monique frage ich lieber mal Heiner und nicht meine Mutter.

Am besten frage ich ihn sofort.

Das ohnehin schon marode Kartenhaus meiner kläglichen Zukunftsperspektive kracht vollends in sich zusammen. Ich werde wohl doch keine Hausfrau. Okay, ich habe Heiner in meiner Vorstellung betrogen. Aber das war doch nicht echt! Ich hätte es doch nie wirklich getan! Schön blöd von mir.

Ausgerechnet Monique! Was soll das? Ich will am liebsten auf die beiden losstürmen und sie anschreien. Will Heiner zur Rede stellen. Doch ich halte mich zurück. Das scheint mir gerade kein sonderlich geeigneter Moment zu sein, ihn mit Vorwürfen zu konfrontieren. Ich versuche, mich an alle Ratgeberbücher zu erinnern, die ich je gelesen habe. Was empfiehlt Die Kunst, den Mann fürs Leben dauerhaft an sich zu binden in einem solchen Moment? Und wie war das mit dem Uschi-Prinzip, das man einfach nur befolgen muss und schon bekommt man von allem nur das Beste? Dass solches Wissen aber auch nie im richtigen Moment abrufbar ist! Ganz tief im Dunkel meiner Gehirnwindungen schwirren Weisheiten herum wie: Frauen sollten sich königlich verhalten, um wie eine Königin behandelt zu werden. Aber wie, zum Teufel soll ich das jetzt umsetzen? Erhobenen Hauptes winken? Die strammstehenden Truppen abschreiten, huldvoll gucken und wohlwollend nicken? Ohne dass mir ein Zacken aus der Krone bricht? Nein. I am not amused!

Und falls ich vorstürme, was soll ich dann sagen? So etwas wie: »Hallo ihr beiden, habt ihr auch ein Telefon im Laub verloren?« Ich wäre ja schön blöd, ihnen gleich eine Entschuldigung mitzuliefern. Oder vielleicht: »Ich bin gerade meinen Job losgeworden, kann ich bei euch mitmachen?«

Ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, wie man sich in einer solchen Situation verhält. Ich habe vorher noch nie darüber nachgedacht. Warum auch? Heiner hat gar keinen Grund, mich zu betrügen.

Ein unauffälliger Rückzug scheint mir das Beste zu sein. Im Moment. Ich brauche Zeit. Brauche Rat. Brauche einen Plan.

Vorsichtig pirsche ich durch die Bickbeerbüsche gen Straße, sorgfältig auf Deckung bedacht. Als ich außer Hör-und Sichtweite bin, greife ich nach meinem Telefon. Ich fasse ins Leere – es ist weg. Wahrscheinlich ist es mir aus der Tasche gerutscht, als ich versuchte, die Waschanleitung von Moniques String zu entziffern. Verdammt! So leise ich kann schleiche ich mich wieder an die Lauborgie heran.

Zum Glück stehe ich gerade hinter einem Baum, als einen halben Meter von mir entfernt das Telefon losorgelt. Es klingelt die bekannte Melodie aus Schwanensee, und eine Sekunde lang denke ich, das ist nicht meins – bis mir einfällt, das Brigitte neulich daran herumgespielt und alle Einstellungen verändert hat.

Monique scheint der Klingelton vertraut zu sein. Sie hebt den belaubten Schopf und sieht sich suchend nach ihrer Handtasche um, doch Heiner zieht sie wieder zurück und stöhnt: »Nein, Schatz, nicht jetzt. Mach weiter!«

»Aber wenn das nun Kundschaft ist«, wirft Monique ein.

»Ist doch egal«, mault Heiner, und packt Monique an der minimalen Restwäsche, die sie noch trägt. Sie quiekt wie ein aufgescheuchtes Ferkel. »Ohhh, ich bin so scharf auf dich, du geiles Karriereweib!«, grunzt Heiner dazu passend wie ein brünstiger Eber. Er verwickelt Monique in einen animalischen Ringkampf, bei dem der letzte Fetzen Höschen zerreißt.

Das Telefon verstummt. Vor Scham?

Ich bücke mich und stecke mein Handy ein. Bin immer noch vorsichtig, doch die beiden würden es noch nicht mal merken, wenn neben ihnen ein Helikopter landen würde, aus dem ein als Elvis verkleideter Truthahn entsteigen und eine komplette Las-Vegas-Show abziehen würde. Sie haben eben keinen Sinn für die Feinheiten im Leben.

Aber jetzt weiß ich wenigstens, worauf Heiner steht. Auf ein geiles Karriereweib. Da bin ich wohl falsch. Zur Aufmunterung versuche ich, ein wenig an Herrn Wesseltöft zu denken, aber ich bin nicht wirklich in Stimmung. Ich fühle mich wie eine Versagerin.

Ich muss sofort Brigitte sprechen.