9. Kapitel:
Ein Lied kann eine Brücke sein
Samstag, 14. Mai, Spätnachmittag
Ich halte die Luft an und verhalte mich möglichst unsichtbar. Die Tür geht schnell wieder zu. Wer auch immer reingekommen sein mag, er oder sie ist nicht wieder rausgegangen. Das heißt, wir sind jetzt zu zweit hier drin.
Erkennen, wer mir Gesellschaft leistet, kann ich nicht, denn das Licht in dieser Kammer funktioniert wie beim Kühlschrank: Tür zu, Lampe aus.
»Hallo«, flüstere ich ins Dunkle.
»Huch!«, sagt mein Gegenüber, ungefähr zwei Millimeter von meinem Gesicht entfernt. Und: »Entschuldigen Sie bitte. Ich dachte, ich wäre hier alleine. Ich werde natürlich sofort wieder gehen.«
»Nein, bleiben Sie nur. Es ist ja Platz genug da«, sage ich. Das ist natürlich Blödsinn, selbst eine Legebatteriehenne hätte sich hier noch bedrängt gefühlt. Aber ich meine, die Stimme wiedererkannt zu haben. Hoffentlich habe ich Recht: Mein eindeutig männlicher Gesellschafter klingt sehr nach ... Herrn Wesseltöft! Allein der Gedanke, die vage Vermutung, lässt mein Herz schneller schlagen, es rattert wie die Nähmaschine beim Handarbeitskurs in der Volkshochschule, kurz bevor sie einen Kolbenfresser hat.
»Sind Sie nicht Herr Wesseltöft?«, frage ich mutig.
»Ja, aber woher wissen Sie das?«
Juchuu! Ich bin hier auf engstem Raum mit dem Tom Cruise der Fertighausverkäufer! Wahnsinn! Das Schicksal hat uns zusammengeführt! Ich bin kurz davor, laut loszujubeln, doch mir fällt ein, dass das erstens Stufe drei meines Plans gefährden und zweitens Herrn Wesseltöft irritieren könnte. Um Letzteres sollte ich mir allerdings nicht allzu viele Gedanken machen, verwirrt ist er sowieso schon.
»Woher kennen Sie mich? Wie haben Sie mich erkannt? Wer sind Sie überhaupt? Und was wollen Sie von mir?«, fragt er nahezu panisch.
»Ich will gar nichts von Ihnen«, lüge ich, um ihn zu beruhigen, setze dann aber bissig nach: »Die viel bessere Frage ist ja: Was wollen Sie hier drin?« Das klingt jetzt furchtbar selbstbewusst, zum Glück ist es so dunkel, da kann er nicht sehen, dass meine Wangen dunkelrot sind wie preisgekrönte Sauerkirschen. Bestimmt weiß er, dass ich nachts von ihm träume, dass er die Hauptrolle in meinen wildesten Phantasien spielt. Natürlich weiß er das! Das ist doch ganz offensichtlich!
»Ich mache Überstunden«, sagt Herr Wesseltöft.
»In der Handtaschenkammer?«, frage ich skeptisch.
»Ich wollte nur kontrollieren, ob das Licht auch wirklich ausgeht, wenn man die Tür schließt. Bei einem Energiesparhaus sind solche Details ungemein wichtig. Man sollte die Kunden nicht unterschätzen, die achten auf so etwas. Sind Sie eine Kundin?«, fragt er diensteifrig.
»Gewissermaßen«, weiche ich aus. Er erinnert sich nicht an mich. Er erkennt mich nicht wieder! Okay, wie auch, im Finstern, hier würde ich ja noch nicht mal eine Mousse au Chocolat erkennen, die man direkt vor meiner Nase schwenkt, räume ich zu seiner Entschuldigung ein. Trotzdem bin ich ein wenig enttäuscht. Und überhaupt, was glaubt der eigentlich? Dass ich auf so eine lächerliche Erklärung reinfalle? Natürlich habe ich mich als Kind immer gefragt, ob das Licht im Kühlschrank wirklich ausgeht, wenn man die Tür zumacht, eins der großen Mysterien der Welt, ähnlich faszinierend wie Raumfahrt, Lagerfeuer, verlassene Höhlen und Dinosaurier. Aber ich bin doch keine fünf mehr! Und wenn er mir gleich einen improvisierten Verkaufsvortrag hält, dann muss ich mir noch mal überlegen, ob ich ihn wirklich so attraktiv finde.
Obwohl: Seine Stimme ist schon sehr angenehm. Warm und cremig. Soll er nur reden!
Tut er aber nicht.
Schweigend stehen wir eng nebeneinander. Hoffen, dass keiner der anderen Hausbesichtiger die Tür aufreißt. Hoffen, dass bald alle gehen. Hoffen, dass es nicht noch heißer wird. Hoffen, dass wir hier bald wieder raus dürfen.
Jetzt denke ich schon in der Wir-Form! Was weiß ich überhaupt, was dieser Mann hofft? Der spricht ja noch nicht mal mit mir! Er hat ganz offensichtlich etwas zu verbergen.
Bestimmt fünf Minuten schweigen wir uns auf engstem Raum an.
»Was riecht hier denn so komisch?«, fragt Herr Wesseltöft schließlich und schnüffelt lautstark. »Haben Sie etwa Lebensmittel mit ins Haus gebracht?«
»Scheiblettenkäse«, gebe ich zu. »Wahrscheinlich tropft der gleich aus der Tüte. Es sei denn, der Kochschinken hält ihn davon ab.«
»Klingt nach Toast Hawaii.« Der Herr kennt sich aus.
»Wie kommen Sie denn darauf?« Ich kann ja schlecht zugeben, dass er mich und meine Pläne durchschaut hat.
»Ich habe genau das gleiche schon in der Küche deponiert. Dazu natürlich Ananas und Toast.«
Ach, sieh mal an! »In welcher Küche?«, frage ich nach.
»In dieser Küche. In diesem Haus«, gibt Herr Wesseltöft zu. Die Dunkelheit, die Hitze und die Enge lässt langsam ein Gefühl der Vertrautheit zwischen uns entstehen. Meinetwegen könnten wir für immer hier bleiben. Glücklich vereint im Handtaschenkämmerchen, bis an unser seliges Ende. Nein, vielleicht doch nicht.
Wofür braucht Herr Wesseltöft Zutaten für Toast Hawaii? Und dann noch in diesem Haus? »Warum?«, frage ich laut.
»Heute Abend ...« Er räuspert sich. »Heute Abend kommt doch der Grand Prix Eurovision de la Chanson im Fernsehen. Und dazu gehören einfach Hawaii-Toast, Perlzwiebeln und Erfrischungsstäbchen.«
Perlzwiebeln! Ich wusste doch, dass ich beim Einkaufen etwas vergessen habe. »Sie haben völlig Recht«, sage ich.
»Das freut mich, dass Sie das auch so sehen. Sicher wundern Sie sich, dass ich hier bin.«
Och nein. Soll ich ihm vielleicht sagen: Für mich sind sie ein Geschenk des Himmels, was soll ich mich da groß wundern?
Aber Herr Wesseltöft erklärt brav weiter: »Vorgestern ist mein Fernseher kaputt gegangen. Erst wurde das Bild ganz grün, dann verschwand es völlig. Weil ich mein Konto überzogen habe, konnte ich mir nicht sofort einen Neuen kaufen. Aber der Grand Prix muss sein! Es wäre mir unerträglich, ihn zu versäumen! Und da dachte ich, hier gibt es doch diesen wunderbaren Flachbildschirm. Und abends ist hier eh niemand.«
»Und warum legen Sie dann nicht einfach ihren Finger auf den schwarzen Zauberkasten und öffnen die Haustür wie ein anständiger Musterhausvertreter, statt sich hier zu verstecken?«, fragte ich spitz nach.
»Naja, weil, ähm ...«
Ausgerechnet in diesem Moment klingelt mein Mobiltelefon. »Ich kann gerade nicht«, zische ich dem Anrufer, wer auch immer das sein mag, entgegen.
»Silke! Geht es dir gut? Wo bist du?«, brüllt Brigitte so laut, dass man es bestimmt bis ins fußbodengeheizte Kinderbadezimmer im ersten Stock hört.
»Jaja, alles okay«, flüstere ich. Manchmal ist ihr Timing also doch nicht perfekt. Gestern hätte ich sie gebraucht, oder heute Vormittag. Aber doch nicht jetzt, wo meine geheimsten Wünsche in Erfüllung gehen! Und ich es ihr noch nicht mal erzählen kann. Was würde Herr Wesseltöft denken, wenn ich meiner besten Freundin einen kurzen Lagebericht über die Sardinenbüchsensituation mit meinem heimlichen Schwarm gäbe? Wahrscheinlich würde es mir nicht gelingen, das Ganze so zu verschlüsseln, dass er nicht darauf kommt, dass er gemeint sein könnte. Deshalb sage ich nur kurz: »Es ist alles in Ordnung. Ich rufe dich später zurück!«, und schalte das Telefon ab.
Herr Wesseltöft hat inzwischen Luft geholt, soweit das in diesem drückenden Schmelzkäseklima überhaupt möglich ist, und schleudert mir, statt meine Frage ordnungsgemäß zu beantworten, ein forsches »Und was machen Sie eigentlich hier?« entgegen.
Ich will mich nicht mit der billigen Ich-bin-Kundin-und-achte-auf-Details-Nummer herausreden, obwohl er mir dafür die Vorlage geliefert hat. Die Basis für eine echte, tiefe Beziehung ist schließlich Vertrauen. Und die Grundlage dafür ist wiederum Ehrlichkeit. Deshalb sage ich: »Das ist eine lange Geschichte. Die Kurzversion: Ich will auch den Grand Prix gucken.« Das ist jedenfalls nicht gelogen. Aber wird er sich damit zufrieden geben?
»Ich höre gar keine Stimmen mehr«, sagt Herr Wesseltöft. Eine Spontanheilung einer schizoiden Persönlichkeit, ausgelöst durch meine vage Antwort? Ich reagiere mal lieber nicht, vielleicht habe ich die Situation ja doch ganz falsch eingeschätzt.
»Keine Stimmen mehr«, wiederholt er. »Draußen. Die sind alle weg. Wir können hier raus.«
Er hat Recht: alles leise.
Herr Wesseltöft öffnet vorsichtig die Tür, das Licht geht an, ich bin kurz geblendet, dann sehe ich ihn direkt vor mir, seine breiten Schultern, seinen Hinterkopf. Sein dichtes Haar. Er beachtet mich nicht weiter, sondern wirft einen Blick in den Flur. Nein, die Halle. Den gediegenen Eingangsbereich. Oder wie man das bei Designhäusern eben nennt.
»Die Luft ist rein. Ich würde vorschlagen, dass Sie Ihren Vorräten nun einen kleinen Aufenthalt im Kühlschrank gönnen. Vielleicht ist ja noch etwas zu retten.«
Das mache ich dann mal. Herr Wesseltöft, ganz beflissener Hausverkäufer, geleitet mich in die Küche und öffnet mir den Kühlschrank. Als ich die Sachen einräume, mustert er mich.
»Ich kenne Sie«, sagt er unvermittelt.
Hurra, er erinnert sich an mich!
»Sie waren mit der Frau da, die so wild aufs Fensterputzen ist.«
Hmpf. Na toll. Das ist ja wunderbar. Er erinnert sich nicht an mich, sondern an meine Mutter! Daran werde ich noch lange zu knacken haben. »Ja, genau«, antworte ich gefasst.
»Und sie wollen mit Ihrem Verlobten ein Haus bauen.«
»Wollte ich. Wobei, nein, ich weiß nicht, ob ich das überhaupt wirklich wollte oder ob ich einfach nur nichts dagegen hatte und es sich deshalb so ergeben hätte.«
»Das klingt ja kompliziert.«
»Ist es aber gar nicht. Es gibt nämlich keinen Verlobten mehr. Deshalb wird es auch kein Haus geben. Jedenfalls nicht für mich. Und deshalb bin ich jetzt hier.«
»Das scheint wirklich eine längere Geschichte zu sein«, murmelt Herr Wesseltöft. »Was haben Sie denn mit ihrem Verlobten gemacht?« Er mustert mich misstrauisch und sieht sich um. Denkt der, ich stürze mich mit einem der Fleischermesser auf ihn, die in dem Edelstahl-Designer-Messerblock sehr dekorativ zur Verfügung stehen?
»Ich? Gar nichts! Der hat etwas gemacht. Der prügelt sich öffentlich um eine andere. Und im Wald war er mit ihr auch schon ...« Was erzähle ich hier eigentlich? Das geht den doch gar nichts an. Und was wird er bloß von mir denken? Dass ich eine verbitterte Frau bin, die sitzen gelassen wurde und sich aus lauter Frust und Eskapismuswunsch dem Samstagabendshowprogramm zuwendet? Bis auf das »verbittert« stimmt das ja sogar ... Aber deshalb soll er das noch lange nicht denken!
»Ich denke, wir beiden brauchen jetzt erst mal einen Eierlikör«, sagt Herr Wesseltöft.
Der Mann ist ein Traum! Er weiß, was Frauen wollen. Was ich will. Mein Seelenverwandter! Eierlikör gehört natürlich unbedingt zu einem Grand-Prix-Abend dazu, wie konnte ich das nur vergessen! Und zwar nicht irgendein alkoholisierter gelber Glibber, sondern Markenlikör. Ei, ei, ei!
Wir heben die randvollen Designergläser, Herr Wesseltöft sagt: »Ein bisschen Frieden«, wir stoßen an und – nippen. Eierlikör muss man genießen. Langsam. Wie Vanillepudding legt er sich sanft auf die Zunge. Hey, ich glaube, so fühlt sich ein Kuss an.
»Ich liebe Eierlikör!«, seufzen wir beide gleichzeitig.
Wenn zwei Menschen ein Wort gleichzeitig sagen, sind sie mindestens ein Jahr zusammen glücklich, sagte meine Oma immer. Und das galt nur für ein Wort – der ganze Satz hat eins, zwei, drei Wörter. Macht drei Jahre gemeinsames Glück mit Herrn Wesseltöft. Nicht, dass ich mich auf solchen Aberglauben verlassen würde. Aber schaden tut das bestimmt nichts. Und dann war das ja auch noch ein Satz, der mit »Ich liebe« anfing! Das sind ja schon zwei Drittel der entscheidenden magischen drei Worte, die Männer so schwer aussprechen können. Heiner hatte damit jedenfalls immer Probleme. Was heißt Probleme? Er hat es einfach nie gesagt. Warum auch? War ja eh klar – dachte er.
Ich habe ihn zwei Mal gefragt, ob er mich liebt. Beim ersten Mal hat er »Aber klaro!« geantwortet, das war noch in der romantischen Phase. Beim zweiten Mal, einige Jahre später, brummelte er nur: »Weißt du doch.« Ach so, ich wusste es also. Dann war es wohl dumm von mir, zu fragen. Von da an bin ich davon ausgegangen, dass es wohl so ist (schließlich »wusste« ich es ja angeblich) und habe nicht mehr gefragt. Ist auch nicht so wichtig, dass man sich so etwas immer sagt. Aber trotzdem: Jedes Mal, wenn ein auch nur mittelmäßig begabter Schauspieler in einem langweiligen Fernsehfilm den alles entscheidenden Satz »Ich liebe dich« sagt, bin ich zutiefst gerührt. Am schlimmsten ist es bei Wiederholungen der Serie Unsere kleine Farm. Drei Viertel des gesamten gesprochenen Textes scheinen aus ausgerechnet diesen Worten zu bestehen.
Aber jetzt mal immer mit der Ruhe. Schließlich hat Herr Wesseltöft das ja nicht zu mir gesagt, sondern zum Eierlikör. Er schenkt uns noch mal nach, wir genießen schweigend.
»Wir haben uns also beide hier eingeschlichen«, fasst Herr Wesseltöft die Lage kurz zusammen.
»Um den Grand Prix d'Eurovision de la Chanson zu gucken«, ergänze ich.
»Und das ist zu zweit viel amüsanter als alleine«, sagt Herr Wesseltöft. »Das heißt also, dass wir den Abend gemeinsam verbringen werden. Falls Ihnen bei Ihrem harten Schicksal mit dem Verlobten überhaupt nach Amüsement zumute ist«, fügt er hinzu. Wie taktvoll!
»Aber sicher!«, sage ich möglichst überzeugend. »Was interessieren mich meine Verlobten von gestern?« Wir müssen beide lachen und stoßen noch einmal mit unseren Likörgläsern an.
Dann zeigt Herr Wesseltöft mir das Haus. Wie Geheimagenten schleichen wir über das Bambusvollholzparkett die Freitreppe unter der Lichtkuppel nach oben. Ich bestaune die elegant verputzten Wände, die sich ganz samtig anfühlen. In allen anderen Häusern klebt Raufasertapete. Ich dachte, die Wände werden schon so geliefert, fertig tapeziert. Doch Herr Wesseltöft klärt mich über die Massivbauweise auf: Da schwitzen noch echte Maurer mit echten Steinen. Trotzdem ist es mir neu, dass Wände einfach wie Wände aussehen dürfen – ganz pur und kahl und eigentlich nackt, aber trotzdem schön. Bisher war in jedem Raum, in dem ich war, mindestens mit Raufaser tapeziert (außer in der Schule, das war ein moderner Sichtbetonbau, der allerdings mein ästhetisches Empfinden nicht direkt ansprach, das mag aber auch an der Ablenkung durch die Lehrer und Mitschüler gelegen haben.). Zumindest jeder Wohnraum. Die teurere Variante ist die Glasfaserstrukturtapete meiner Eltern, die laut meiner Mutter besonders wohnlich wirkt. Auf jeden Fall mussten Wände entweder Muster oder Huppel haben. Man musste drüberstreichen und etwas fühlen können. Etwas, das nicht unmittelbar Wand war. Aber hier, hier durften sie sein, was sie wirklich sind: Wände. Oha, der Eierlikör in Kombination mit dem Designerhaus verschafft mir völlig neue Erkenntnisse ... die ich, wenn ich sie doch schon habe, sofort verbalisiere.
Herr Wesseltöft lauscht interessiert meinen Ausführungen, nickt und streichelt dabei hingebungsvoll eine Wand. Wir werden redselig. Wir unterhalten uns darüber, wie sich Dinge anfühlen, befummeln amüsiert das Mosaik im großen Badezimmer, werden beim Anblick eines froschförmigen Seifenhalters schlagartig sentimental, denn wir machen uns beide Gedanken über das Aussterben der Amphibien im allgemeinen und das plötzliche, unheimliche Verschwinden der Goldkröte im Besonderen; wir sind beide sehr besorgt, denn vor allem Frösche sind so niedlich. Um unsere Betroffenheit zu überwinden, trinken wir einen weiteren Eierlikör und unterhalten wir uns über Saison-Joghurts. Wir beide bevorzugen die gehaltvolleren Wintervarianten. Herr Wesseltöft favorisiert die Geschmacksrichtungen Lebkuchen und Zimtstem, ich neige zu Marzipan-Orange. Auf die Sommer-Joghurts könnte man unserer Meinung nach verzichten. Wer braucht schon Limette-Granatapfel? »Da zieht sich einem ja schon beim bloßen Anblick des Bechers der Mund zusammen und alle Gedanken werden säuerlich«, stelle ich fest. Herr Wesseltöft ist genau meiner Meinung.
Wir hören gar nicht auf zu reden, die Gesprächsthemen werden immer spannender: Sollte man Horoskopen nur glauben, wenn sie positive Entwicklungen voraussagen? Ja! Sollte man Ansichtskarten schreiben? Unbedingt! Sollte man jede Nacht mindestens zehn Stunden schlafen können und trotzdem noch unendlich viel Freizeit haben?Ja. Aber nur, wenn man sie auch zu nutzen weiß, wir empfehlen eher eine Art mobiles Zeitkonto, auf dem man die freie Zeit sparen kann, wenn man sie gerade nicht so dringend braucht. Sollten Freunde rund um die Uhr erreichbar sein? Natürlich. Sollte man klar und deutlich sagen, was man will? Genau! Eine neue Erkenntnis von mir. Muss ich nur noch üben. Herr Wesseltöft verspricht, mich dabei zu unterstützen.
Mittlerweile haben wir das Haus durchquert – nur vor einer geheimnisvollen gläsemen Brücke, die zu einem mysteriösen Nachbargebäude führt, hat mich Herr Wesseltöft mit der Begründung »zu gefährlich, man könnte uns sehen« zurückgehalten – und sind wieder in der Küche.
»Ich möchte jetzt Toast Hawaii und noch mehr Eierlikör!«, sage ich so klar und deutlich, wie das der bisher genossene Eierlikör noch zulässt.
»Ganz wie meine bezaubernde Begleiterin wünschen«, sagt Herr Wesseltöft und öffnet mit einer galanten Bewegung den Kühlschrank. Ich bin so entzückt, dass ich fast in Ohnmacht falle. Ein Mann kocht für mich! Ich glaube, das ist noch nie vorgekommen, in meinem ganzen Leben nicht. Das ist bei uns im Dorf auch völlig unüblich. Ich versuche, mir meinen Vater oder Heiner am Herd vorzustellen, aber dazu gibt es einfach kein passendes Bild. Am Grill vielleicht, denn echte Männer kochen nicht, sie kokeln, so die landläufige Meinung. Ich wusste gar nicht, dass das auch anders sein kann. Klar, in den Zeitschriften sind hin und wieder Starköche abgebildet, aber das ist schließlich deren Beruf. Männer tun ja einiges, wenn man ihnen genug Geld dafür gibt. Die verkaufen ja sogar Autos. Oder Häuser.
»Warum verkaufen Sie eigentlich Häuser?«, frage ich Herrn Wesseltöft.
»Um Geld zu verdienen«, antwortet er.
»Und das ist alles?«
»Nein. Eigentlich habe ich mir das ganz anders vorgestellt. Ursprünglich wollte ich Architekt werden. Aber meine Noten in Mathematik waren so schlecht, dass ich es mir habe ausreden lassen. Statik-Berechnungen hätte ich mir niemals zugetraut. Und meine Eltern dachten, ein Studium würde mich nur arrogant machen. Sie hatten Angst, dass ich dann denke, ich sei etwas Besseres und würde auf sie herab sehe. Sie wollten, dass ich etwas Anständiges lerne. Ein Freund von einem Bekannten meines Vaters arbeitet bei der Firma hier – so bin ich an meinen Job gekommen. Am Anfang dachte ich noch, dass es vielleicht ganz schick ist, interessanten Menschen schöne Häuser zu verkaufen, in denen sie ihr Leben lang glücklich sind. Aber inzwischen weiß ich: So glücklich, wie es auf den ersten Blick aussieht, sind die meisten gar nicht. Und die Häuser machen es nicht besser. Allerdings können gemeinsame Schulden eine Ehe auch ganz schön haltbar machen. Ich weiß ja nicht, wie das bei Ihnen ist. Aber Ihren Andeutungen nach sind Sie auch nicht glücklich. Wahrscheinlich ist es besser, wenn Sie kein Haus kaufen.« Herr Wesseltöft beendet seinen Monolog, um Butter auf die Toastscheiben, die er sich zurechtgelegt hat, zu schmieren. Vorher hat er sie getoastet, das ist der Trick, damit das ganze Gericht überhaupt schmeckt.
Meine Augen werden leicht wässrig, weil er meine Situation so genau durchschaut hat.
»Sie haben Recht!«, schluchze ich höchst dramatisch. »Sie haben ja so Recht! Aber Sie sind auch nicht glücklich. Das kann ich fühlen!« Völliger Blödsinn. Wie sollte ich fühlen, dass jemand anderes unglücklich ist, wo ich mich doch sogar weigere, meinem eigenen bedauernswerten Schicksal fest in die derangierte Fratze zu sehen? Meistens fühle ich nichts – oder Appetit auf etwas Süßes. Und eine gewisse Leere. Man kann wirklich nicht sagen, dass ich mich anderen Menschen besonders sensibel nähere. Ach, welche Selbsterkenntnis! Und was nutzt sie mir? Nichts.
Wir sind schon längst bei der zweiten Flasche Eierlikör, Herr Wesseltöft schenkt beherzt nach. Dann sieht er mich an und sagt: »Ein bisschen Frieden!« Wir stoßen an.
»Sie sind ein erstaunlicher Mensch!«, erkennt Hen Wesseltöft und ich fühle mich geschmeichelt. »Sie können gleichzeitig essen und in meine Seele schauen.«
Leicht verschämt lege ich die Kochschinkenscheibe, die ich gerade ebenso rasch wie die drei sorgfältig zu mundgerechten Paketen gefalteten Schmelzkäsescheiben verschlingen wollte, wieder zur Seite und hefte meinen Blick befangen auf die Ananasdose. Er greift zum Dosenöffner, setzt an und schneidet mit energischen Bewegungen den Deckel ab. Mit einer Gabel fischt er einen Ananasring raus und reicht ihn mir: »Nehmen Sie den als Zeichen meiner Verbundenheit. Und jetzt beginnt der glamouröse Teil des Abends!«
Herr Wesseltöft schiebt das Blech mit den Hawaii-Toasts in den vorgeheizten High-Tech-Ofen (es ist mir ein Rätsel, wie es ihm gelungen ist, dass Teil korrekt zu bedienen, ich hätte noch nicht einmal die elegant versenkte und verblendete Leiste mit den Schaltern gefunden), hält mir galant den Arm hin und führt mich zur großzügigen Sitzlandschaft, auf die ich mich möglichst attraktiv hinlümmle. Ich bin sehr froh, dass ich heute wieder Jeans trage und kein Ibiza-Kleid. Selbst eine Unterhose, die diesen Namen auch verdient, habe ich an. Ich bin gerüstet. Fühle mich der Situation gewachsen. Er hat mir eben einen Ring geschenkt! Wie romantisch! Okay, es war ein Ananasring aus der Dose, aber es ist doch letztendlich das Symbol, das zählt. Noch nie hat mir jemand einen Ring geschenkt. Also kann ich die Bedeutung gar nicht richtig einschätzen, weil es mir an Erfahrung mangelt. Aber ich werte es mal als, nun ja, bedeutsam. Als Zeichen für eine gemeinsame Zukunft, vorsichtig ausgedrückt.
Und die beginnt genau in diesem Moment. Da daa da da daa da daaaa da! Eingeläutet durch die Eurovisionsmelodie. Unser Lied!
Und gleich werden ganz viele weitere »unsere Lieder« folgen. Von Malta bis Serbien-Montenegro wird man sich darum bewerben, das perfekte Lied beisteuern zu dürfen, das die gemeinsame glückliche Zukunft von Herrn Wesseltöft und Silke Meiners stets treu begleitet. Ein Song, der bei unserer Hochzeitsfeier in der Kirche vom Organisten interpretiert wird, ein Song, der noch unsere Enkel wehmütig stimmen wird, weil sie sich dabei an unsere große Liebe erinnern, ein Song, zu dem wir auf unserer Diamanthochzeit Walzer tanzen werden, egal, ob das vom Rhythmus her passt oder nicht. Bis dahin werde ich ja wohl auch Walzer tanzen gelernt haben.
Fasziniert beobachte ich, wie auf dem Bildschirm eine Sängerin unbestimmter Herkunft von zahlreichen Tänzerinnen mit Tüchern umwirbelt wird, während ihr ohnehin schon bedrohlich tief sitzender Rock in die Kniekehlen zu rutschen droht.
»Die Tänzerinnen haben Laufmaschen«, bemerke ich. »Wahrscheinlich, weil sie vergessen haben, ihre Schuhe anzuziehen.«
»Da es Tänzerinnen sind, sind es keine Laufmaschen, sondern Tanzmaschen«, bemerkt Herr Wesseltöft feinsinnig. Ich kugele mich amüsiert auf dem Sofa. Er ist bestimmt der lustigste Mann auf der ganzen Welt. Und so attraktiv! Wie lässig ihm diese eine Strähne über das rechte Auge rutscht ... Der spanische Ricky-Martin-Verschnitt auf der Grand-Prix-Bühne wirkt dagegen so sexy wie Heiner beim Essen. Oha, bloß nicht an Heiner denken! Um mich davon abzulenken, konfrontiere ich Herrn Wesseltöft mit meiner Kostümwechsel-Theorie: »Der Spanier zieht seine Jacke aus! Das ist gut, das gibt Punkte! Egal, wie schlecht der Song sein mag, ganz wichtig ist, dass das Bühnenoutfit erstens möglichst spektakulär aussieht und zweitens während des Auftritts variiert wird.« Ich bin ein wenig überrascht, dass mir dieser komplizierte Sachverhalt noch fehlerfrei über die Lippen geht, aber schließlich ist das eine Theorie, die ich schon sehr lange verfolge. Hat sich immer wieder bestätigt! Man denke an diese baltische Sängerin, der die Tänzer den Anzug vom Leib rissen, worauf ein Flamenco-Kleid zum Vorschein kam. Das hatte überhaupt keinen Bezug zu dem nur mäßigen Song – und auch nicht zu ihrer Nationalität –, aber dieser kleine Kniff hat ihr letztendlich den Sieg gebracht. Weitere Beispiele fallen mir leider im Moment nicht ein, was Herr Wesseltöft bemängelt. Die britische Sängerin, die barfuss auftrat, weil sie ihre Füße zu groß fand – vielleicht waren auch nur ihre Schuhe zu klein? – lässt er nicht gelten. »Tut mir Leid, ich habe ernste Zweifel an Ihrer Theorie.«
»Das kommt nur daher, weil Sie texthörig sind«, entgegne ich spitz. Herr Wesseltöft glaubt, mit einem bedeutsamen Text in möglichst vielen verschiedenen Sprachen – damit möglichst viele verschiedene Menschen die Bedeutsamkeit verstehen –, könnte man Sympathien und damit Punkte gewinnen. Was für ein ausgemachter Blödsinn! Er führt diesen deutsch-türkisch-hebräischen-Ralf-Siegel-Song an, der in Jerusalem den zweiten Platz gemacht hat. Ha, was für ein lächerliches Beispiel! »Der zweite Platz«, wiederhole ich mit deutlicher Betonung auf zweite, »daran sieht man ja schon, dass an Ihrer Theorie nichts dran sein kann.«
Unser erster Streit! Wir sind leidenschaftlich, wir sind hitzig, wir reden uns in Rage, wir bewerfen uns sogar mit Perlzwiebeln, und fast hätten wir die Hawaii-Toasts im Ofen verschmurgeln lassen. Doch zum Glück hat Herr Wesseltöft den Kurzzeitalarm eingestellt, und ein sanftes Designerpiepen holt uns in die Realität zurück. Herr Wesseltöft serviert, schenkt noch einmal unsere Gläser voll, und wir versöhnen uns mit einem »Ein bisschen Frieden«. Übrigens ein Gewinner-Song ohne Kostümwechsel, ohne Choreographie und ohne andere Sprachen. Obwohl Herr Wesseltöft behauptet, Nicole hätte damals eine Strophe auf Englisch gesungen. Aber daran kann – und will – ich mich nun wirklich nicht erinnern. War das damals überhaupt schon erlaubt? Ich weiß, dass sie auf jeden Fall nur deshalb gewonnen hat, weil sie nicht tanzen musste.
»Toll«, sagt Herr Wesseltöft, »endlich mal eine Frau, mit der man sich streiten kann!«
Er meint mich. Ich bin entzückt! Mir war ja gar nicht klar, dass mein Widerspruchsgeist zu meinen Qualitäten gehört – und auch von außen so erkannt wird. Bis vor kurzem wusste ich ja noch nicht mal, dass ich so etwas Kompliziertes wie die Fähigkeit zu streiten überhaupt beherrsche. Wie auch, ich habe Konflikte ja meistens ausgeschwiegen. Aber jetzt, in meinem neuen Leben mit Herrn Wesseltöft, da wird alles anders. Da wird sich gezofft, dass die Fetzen fliegen. Und dann gibt es eine leidenschaftliche Versöhnungsszene. Aber soweit sind wir wohl noch nicht.
Erst kommen noch ein paar Beiträge: die Portugiesen mit dramatisch aufgeföhnter Ballade, die sich steigert und steigert und steigert bis zum Schluss, die Belgierin in einem Regenmantel (Das gibt Punktabzug, es sei denn, sie zieht ihn aus, dann tritt meine Kostümwechsel-Theorie in Kraft. Tut sie aber nicht.), die Norweger speziell-folkloristisch (was ihnen traditionell einen der letzten Plätze einbringt), Frankreich mit Akkordeon-Unterstüzung (Ungewöhnliche Instrumente sind immer gut, sofern sie nicht allzu exotisch sind. Banjo und Panflöte sind okay, Alphorn und Didgeridoo schon schwieriger.), die Schweden mal wieder mit der ABBA-Masche. Und Deutschland?
»Ach, lieber schnell noch einen Eierlikör!« Herr Wesseltöft schenkt nach. Er wünscht mir »Ein bisschen Frieden«, ich kontere ausgesprochen eloquent mit einem »Hau weg das Zeug«.
Der Likör macht ganz schön satt. Vor allem, wenn man dazu neun Hawaii-Toasts isst. Aber wenn er mir doch so viele serviert? Was soll man machen? Mir fällt eine Dokumentation ein, die ich mal gesehen habe, über eine ganz dicke Frau, die von ihrem Liebhaber regelrecht gemästet wurde. Der fand das total scharf, dass sie immer praller und praller wurde. Fat Lover nennt man solche Männer. Hoffentlich ist Herr Wesseltöft nicht so einer. Allerdings würde er mir dann wohl kaum sämtliche Erfrischungsstäbchen wegessen.
»Hey, ich möchte auch noch eins davon!«, melde ich meine Ansprüche an, während im Fernseher ein glutäugiger Mann sein Lied vorträgt, das alles hat, was man für einen Sieg braucht: Der Refrain haut ordentlich rein, die Melodie ist schlicht, der Rhythmus leicht, aber nur ganz leicht treibend, und den Titel könnte man sich mit klarem Kopf wahrscheinlich sogar merken. Gedanklich ordne ich ihn unter den Favoriten ein. Aber er wird es schwer haben. Traditionell wird der Grand Prix von einzelnen Frauen gewonnen – statistisch gesehen ungefähr vier Mal so oft wie von männlichen Solisten. So ist die Realität eben! Und wo sind jetzt bitte die Erfrischungsstäbchen?
»Wieso, ich habe doch nur die mit Zitrone gegessen! Die mit Orange bekommen alle Sie. Die mögen Sie sowieso lieber«, verteidigt sich Herr Wesseltöft. Stimmt. Wir veranstalten ein kleines Ratespiel: Wer mag was?
»Sie mögen Käse mit Marmelade«, unterstelle ich Herrn Wesseltöft zum Warmwerden.
»Stimmt. Und Sie mögen Zeitschriften, die andere höchstens beim Arzt lesen würden.«
»Frechheit! Stimmt aber. Und Sie mögen Plakate von Kunstausstellungen, in denen Sie nie waren. Außerdem träumen Sie von einem gut sitzenden weißen Anzug.«
»Wie bösartig. Aber richtig. Und Sie schwärmen heimlich für Shakira. Und finden die Songs von Britney Spears eigentlich auch ganz gut.«
»Ja, genau! Warum auch nicht? Es gibt Schlimmeres! Zum Beispiel Ihre Vorliebe für gekachelte Schlafzimmer.«
»Das ist ja grauenhaft!«, wehrt sich Herr Wesseltöft empört. »Kein Punkt für Sie. Und was ist da überhaupt gerade los?« Herr Wesseltöft zeigt auf den Flachbildschirm, und einen Moment wird unsere Aufmerksamkeit vom Malta-Beitrag gefangen genommen: Ein neckisches Duo trägt zu einem stumpfen Discobeat eine abgenudelte Musicalmelodie vor. »Das ist der Song von Ralf Siegel. Dass die Malteser so etwas zugelassen haben«, wundert sich Herr Wesseltöft.
»Sie lenken ab!«, weise ich ihn zurecht.
Mehr Eierlikör, mehr Frieden und weiter geht das Spiel. Herr Wesseltöft mag: keine offenen Schnürsenkel, dafür sichere Geldanlagen, Wirsingkohl, große Fenster, blau, gelb aber nicht, Kaschmirpullis, Alpenveilchen, Elton John, Ananas und Füllfederhalter.
Nach einer Viertelstunde habe ich das Gefühl, dass auch er wirklich alles über mich weiß. Vielleicht nicht die genauen Ereignisse der vergangenen vierzehn Tagen, aber sonst so ziemlich alles, was in meinem Leben wichtig ist. Von meiner Abneigung gegen Instant-Kakao über meine Vorliebe für Klatschblätter bis zu meiner Angst, mit fünfzig nur noch Kleidergröße Fünfzig tragen zu können. Eben alles.
Weil auch er fürchtet, Hüftspeck anzusetzen, tanzen wir eine Runde zum nächsten Beitrag. Gesungen wird bei dem Stück eher weniger, dafür toben in Fell gewandete Tänzer unheimlich entfesselt über die Bühne, als würden sie sich freuen, nach jahrzehntelanger Haft endlich wieder ins Freie zu dürfen. Wir tun es ihnen nach. Glücklich, enthemmt, ausgelassen. Ja, wahrscheinlich auch besoffen. Dann fallen wir übereinander. Ich würde ja gerne sagen, dass wir übereinander herfallen, aber es ist wirklich nur ein rein physisches, wahrscheinlich unbeabsichtigtes Übereinanderrollen, weil ein Designerbeistelltisch unserer tänzerischen Selbstverwirklichung im Weg stand. Etwas befangen rappeln wir uns wieder auf, setzen uns anständig nebeneinander auf das Sofa und beginnen wieder zu reden.
Ich erfahre, dass er die Häuser, die er verkauft, eigentlich grottenhässlich findet, dass er zur Zeit bei seiner Oma in der nächsten Kleinstadt wohnt, dass ein Freund von ihm vor sechs Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist, dass er von Politik überhaupt keine Ahnung hat und sich nie die Namen der Minister merken kann. Er erfährt von mir, dass mein Verlobter mich betrogen hat (diesmal in der ausführlichen Version), dass ich noch nie in einer Sauna war, weil es mir unangenehm ist, angestarrt zu werden, dass ich meinen Job an einen Geldautomaten verloren habe, dass ich mich nie bürste und es meiner Mutter nie recht machen kann und deswegen ein etwas unausgegorenes Verhältnis zu ihr habe, dass ich mein Leben komplett ändern will und dass ich ihn, Herrn Wesseltöft, wahnsinnig sexy finde. Ups, das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen. Zu spät. Nun ist es raus. Der aufregendste Mann, der je ein schlüsselfertiges Haus betreten hat, nimmt mein Gesicht in seine sanften, warmen Hände, beugt sich vor zu mir, kommt näher, immer näher, ich kann jede Pore seiner Haut sehen übrigens sehr schöne Haut –, ich kann seinen sanften Eierliköratem riechen, seine Lippen berühren fast meine und dann –
»Ach, sehen Sie! Die Punktvergabe läuft bereits!« Herr Wesseltöft dreht sich begeistert zum Fernseher um. Ich wäre ja geneigt gewesen, den Grand Prix Eurovision de la Chanson, der inzwischen eigentlich Eurovision Song Contest heißt, für einen heißen Zungenkuss und die Aussicht auf eine Liebesnacht zu verraten. Aber Herr Wesseltöft beweist Prinzipientreue. Erst werden die Ergebnisse abgewartet, dann wird geknutscht. Hoffe ich doch.
Die Balkanstaaten überschütten sich gegenseitig mit Punkten. Es sind erstaunlich viele neue Länder, deren Existenz man kaum ahnte und die man dann doch eher untereinander verfeindet wähnte. Ach, Weltpolitik und Liederwettstreit, das ist mir alles so egal im Moment, mich zieht es zu den schön geschwungenen Lippen des Mannes, der mit kein Haus verkaufen will und neun Hawaii-Toasts gönnt. Ich will knutschen! Hatten wir nicht abgemacht, sofort und deutlich zu sagen, was wir wollen? Von deutlich kann allerdings nach dem ganzen Eierlikör nicht mehr die Rede sein. Trotzdem öffne ich meinen Mund ... doch Herr Wesseltöft kommt mir zuvor. Er nimmt meine Hand und nuschelt: »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Der Grand Prix ist entschieden, mir ist es egal, wer gewonnen hat, meinetwegen alle, aber wahrscheinlich die Iren, denn die gewinnen ja ganz oft. Die Finalisten singen gemeinsam einen Gospel, und Herr Wesseltöft und ich wanken Hand in Hand die Treppe hinauf, den Sternen entgegen, der Lichthof in der Mitte des Hauses macht es möglich. Ab ins Schlafzimmer, ja, endlich ins Schlafzimmer! »Hallelujah«, tönt es noch aus dem fernen Fernseher, und ich will mich schon auf das breite Bett fallen lassen, doch Herr Wesseltöft zieht mich weiter, über die geheimnisvolle gläserne Brücke.
Wir betreten das exquisite Spezialextra, den besonderen Clou des Designerhauses: den Wellness-Pavillon. Der Mosaikfußboden blendet mich, die Deckchairs wecken Kreuzfahrt-Assoziationen und die Luft ist flirrend heiß. Herr Wesseltöft hat unbemerkt das Dampfbad angeheizt, das bedeutet wohl ... oha, ich muss mich ausziehen.
»Mein Lieblingsfilm ist Frühstück bei Tiffany« , erklärt er mir. »Vor allem die Szene, in denen Audrey Hepburn und George Peppard abwechselnd Dinge tun, die sie noch nie vorher gemacht haben. Als Sie vorhin sagten, Sie seien noch nie in einer Sauna gewesen, kam mir die Idee. Ich verspreche Ihnen auch, dass ich Sie nicht anstarre.« Herr Wesseltöft reicht mir ein großes, weißes, vorgewärmtes und enorm flauschiges Handtuch und deutet auf eine filigrane, mit Rochenhaut bezogene Sichtschutzwand. Ich verstecke mich dahinter so gut wie möglich, während ich mich aus Jeans, T-Shirt und Unterwäsche pelle. Es ist gar nicht so einfach, eine Hose auszuziehen und dabei das Gleichgewicht zu halten. Wie habe ich das eigentlich sonst immer geschafft? Nebenbei versuche ich natürlich, einen Blick auf Herrn Wesseltöft zu erhaschen, ein wenig von seiner köstlichen Haut zu erspähen. Erwähnte ich bereits, dass ich es zwar hasse, angestarrt zu werden, aber dafür sehr gerne selbst Leute anstarre? Obwohl, ich würde es eher beobachten nennen. So oder so, bei derart lohnenden Objekten wie Herrn Wesseltöft bin ich durchaus voyeuristisch veranlagt.
Doch der Mann ist schnell, ganz fix hat er sich das Handtuch um die leckeren Hüften geschlungen. Ich wickele mich in mein kartoffelackergroßes Frottierlaken und begebe mich so graziös wie nur möglich in die Bullenhitze der Dampfsauna. Was für eine bescheuerte Idee, an einem der wärmsten Maiabende seit Jahrhunderten in die Sauna zu gehen! Das ist ja wie Eulen nach Athen tragen. Aber dieses Sprichwort habe ich eigentlich nie verstanden. »Gibt es in Athen schon so viele Eulen?«, frage ich laut. Mein Begleitet sieht mich, ob des unerwarteten Themawechsels, erstaunt an. Unbeirrt setze ich hinterher: »Und warum sollte man sie tragen, können die nicht fliegen?«
Herr Wesseltöft kann den sprichwörtlichen athenischen Eulenüberschuss auch nicht erklären. »Ich würde vermuten, dass es ursprünglich Säulen hieß, dass S aber im Lauf der Zeit verloren gegangen ist.«
Ach, ist der klug, der Mann! Und schön! Der viele Eierlikör hat ihn sogar noch schöner gemacht. Leider nimmt mir der Dampf etwas die Sicht. Trotzdem stelle ich mir ein Leben mit ihm im Designerhaus vor: Wir würden jeden Abend im Dampfbad sitzen und danach unsere verschwitzten Leiber aneinander reiben. Wir müssten noch nicht mal die Jalousien schließen, denn es gäbe keine neugierigen Nachbarn. Ein solcher Ort ist zwar nur in meiner Phantasie möglich, im wirklichen Leben gibt es natürlich immer Nachbarn, bei reichen Prominenten kommen auch noch Paparazzi mit Fotoapparaten und Teleobjektiven dazu. Aber wenn ich so reich wäre, würde ich mir sicher kein Designerfertighaus kaufen sondern ... ja, was bloß? Wie würde ich gerne wohnen?
»Und das soll jetzt das beste Haus sein, das man in diesem Land kaufen kann?«, fragt Herr Wesseltöft, als würde er einen Teil meiner Gedanken erahnen. Ich hoffe, es handelt sich nur um die Wohnungsfrage. Eigentlich müsste er die Antwort doch wissen, schließlich ist er ja der Hausverkäufer. »Also, ich weiß nicht. All diese Gauben und Erker. Nein, ich glaube, es gibt noch schönere Häuser.«
»Viel schönere Häuser«, stimme ich ihm zu.
Wir verabreden, dass wir uns gemeinsam auf die Suche nach dem perfekten Haus machen, wenn einer von uns zufällig zu Geld kommen sollte. Das ist zwar völlig illusorisch, doch wir besiegeln den Pakt mit einem Kuss. Endlich! Zwar ist es nur ein ganz zartes Küsschen mit gespitzten Lippen, aber immerhin. Ich wähne mich auf der Zielgeraden und will mich in Herrn Wesseltöfts Arme sinken lassen, die vor lauter Schweißperlen wie mit Diamanten besetzt funkeln. Der Rausch der Sinne lässt mich taumeln, die harten Fichtenlatten der Bank kommen näher, Herr Wesseltöft und der Mosaikboden auch, gleichzeitig, wie ist das nur möglich?