SONNTAG

Die Uhrzeiger näherten sich halb zehn, als Papa und ich uns endlich aus den Sesseln erhoben. Wir hatten uns nicht vom Fernseher losreißen können. Kanada hatte Finnland im Hockey geschlagen. Ein echter Thriller.

„Komm, wir joggen noch eine Runde, fürs Schlafen ist es noch viel zu früh“, behauptete Papa.

„Für Svea aber nicht. Außerdem wird es gleich regnen.“

Mama lag zurückgelehnt auf dem Sofa, Wuff als schwarz gefleckte Felldecke über die Beine drapiert. Beide warfen uns träge Blicke zu. Keine Chance, von Hund oder Mutter begleitet zu werden.

„Unsinn! Andere Vierzehnjährige verbringen halbe Nächte vor dem Computer. Die Maiabende sind lang und hell.“

Ich seufzte. Ich hatte mich am Nachmittag schon bei einem Volleyballspiel mit der Schulmannschaft verausgabt, wollte Papa den Spaß aber nicht verderben. Außerdem war ich diejenige, die darauf bestanden hatte, das Hockeyspiel anschauen zu dürfen.

„Auf, Nisse! Wir ziehen uns um!“

Dafür, dass er über vierzig ist, sieht Papa noch gut aus, jedenfalls wenn er zur Arbeit fährt und Hemd und Anzug trägt. Für unsere Joggingrunde besteht er leider auf seinem verwaschenen, grau verfärbten Poloshirt und seinen alten Shorts, die den größten Teil seiner langen haarigen Beine zeigen. Ein Fest für die Stechmücken heute Abend!

Bei mir würden die Viecher keine Chance haben. Ich schlüpfte in dunkelblaue Trainingshosen, die unten mit eng anliegenden Bündchen abschlossen. Dazu eine kurze dünne Kapuzenjacke.

Als wir losradelten, bewegte sich die Sonne bereits auf den Horizont zu. Sie hielt sich zwar hinter dunklen, drohenden Wolken verborgen, flammende Röte verriet jedoch ihr Versteck.

Nach gut fünf Minuten waren wir beim Badeplatz angekommen. Ich war gestern mit ein paar aus der Klasse auch dort gewesen. Wir hatten auf der Wiese, die zum Badestrand hinunterführt, Brennball und Frisbee gespielt. Alexander und Ranjan und noch ein paar Wagemutige hatten sich ins Wasser gestürzt. Das kam mir jetzt unbegreiflich vor. Das Wasser lag schwarz wie Öl da.

Wir ketteten unsere Räder an einem Baumstamm zusammen. Der Parkplatz war leer und verlassen. Jeder vernünftige Mensch hat vor aufziehendem Unwetter Respekt. Bloß wir nicht.

Ich stopfte mir die Haare unter meine Baseballmütze und zog die Kapuze der Jacke darüber.

Papa lachte laut.

„Du siehst aus wie der schlimmste Hooligan.“

„Es gibt schließlich Mücken.“

„Quatsch! Es gibt keine einzige …“

Im selben Moment zuckte er zusammen und klatschte mit der Handfläche auf seinen linken Schenkel.

Ich warf ihm unterm Mützenschirm einen vielsagenden Blick zu.

„Okay, eine einzige, aber die hab ich ja erwischt!“

Wir trabten los. Ich überließ Papa die Spitze und lief in ruhigem Tempo hinter ihm her, von Gedanken und Gefühlen befreit. Ich genoss den Wald, die Bewegung und die frische Luft.

Anfangs wand sich der Pfad am Ostufer des Bro-Sees entlang. Dort war es eben und wir konnten zügig laufen. Waldeinwärts stieg das Gelände jedoch steil an und meine geplagten Beinmuskeln begannen heftig zu schmerzen.

Es wurde rasch dunkel. Die Bäume verschmolzen mit den Büschen zu einer dunklen Masse. Vorläufig grollte der Donner noch in der Ferne, doch das Gewitter war schon zu uns unterwegs.

Papa scherte das wenig. An der letzten abschüssigen Strecke legte er einen Spurt ein und joggte am Parkplatz vorbei.

„Auf zur nächsten Runde!“

Aber ich blieb stehen. Meine Muskeln schmerzten und ich hatte Seitenstechen. Ich hätte daheim im Sessel bleiben sollen.

Papa warf einen Blick zurück über die Schulter.

„Keine Müdigkeit vorschützen, Svea!“

Er drehte sich zu mir um, federte auf und ab und ließ die Arme kreisen, um warm zu bleiben.

„Nein, es wird gleich regnen.“

„Das schaffen wir noch. Es dauert bloß zehn Minuten.“

„Ist mir zu anstrengend.“

„Faulpelz.“

„Hab doch heute schon Volleyball gespielt!“

„Na gut, eine halbe Runde! Wir treffen uns auf halbem Weg…“

„Eine halbe Runde gibt’s nicht!“

Er verdrehte die Augen.

„Wollte bloß testen, ob du mitdenkst. Also gut, mit Abkürzung!“

„Etwa über den Berg?“

„Ausreden! Lauf, so weit du kannst, dann treffen wir uns irgendwo auf der Strecke.“

Papa wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern winkte und begann mit federnden Schritten bergaufwärts zu joggen, ohne sich um meine schmerzenden Muskeln zu kümmern.

Ich trottete schweren Schrittes in die entgegengesetzte Richtung los. Wenn Papa dieses Tempo durchhielt, würde ich ihm am Fuß der ersten Steigung begegnen.

Bereits nach zwanzig, dreißig Metern geschah etwas Eigenartiges. Ohne Papas fröhliches Gelächter verwandelte sich der Wald, er wurde dunkel, unheimlich und einsam.

Die Gewitterwolken glitten mit bedrohlichem Grollen immer näher. Es war windstill. Sogar die Vögel waren verstummt.

Ich bereute, dass ich nicht mit Papa weitergelaufen war. Es würde mindestens zehn Minuten dauern, bis er die ganze Runde zurückgelegt hätte. Im Lauf von zehn Minuten kann man sich vieles einbilden.

Mir lief es kalt über den Rücken. Irgendetwas stimmte nicht. Es war nichts Greifbares, eher ein Gefühl.

Plötzlich wurde es konkret. Irgendwo in meiner Nähe raschelte etwas.

Ich blieb stehen und horchte. Mein Blick fuhr hin und her. War das ein anderer Jogger? Oder ein Hundebesitzer beim Abendspaziergang? Vielleicht ein Reh? Hier in der Gegend gibt es reichlich Wild.

Der Pfad lag verlassen da.

Niemand ließ sich blicken.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass sich jemand rechts vom Pfad versteckte, hinter dem mannshohen Stein, an dem ich gerade vorbeigelaufen war.

Mein Herz klopfte heftig. Ich konnte den Parkplatz noch sehen. Die offene Fläche lockte mich zurück. Dort könnte mich niemand überraschen.

Aber dann müsste ich noch einmal an dem Stein vorbeilaufen.

Wieder hörte ich das Geräusch. Ein knackender Zweig. Raschelnde Kleidung. Dann schwere Schritte. Das war jetzt keine Einbildung mehr. Die Geräusche kamen von schräg hinten. Irgendjemand folgte mir, hielt sich aber hinter den Büschen verborgen.

Ich zögerte. Sollte ich weiterlaufen?

In diesem Moment erhellte ein Blitz den Himmel. Shit! Ich fuhr zusammen und konnte gerade noch auf zwölf zählen, bevor der laute Donnerschlag den Boden erschütterte.

Ich tastete in der Tasche nach dem Handy.

Oh nein!

Das lag zu Hause! Wir hatten ja bloß eine einzige Runde laufen wollen. Geht’s noch idiotischer!?

Wenn ich weiterliefe, käme ich immer tiefer in den Wald. Zwar joggte Papa mir aus der anderen Richtung entgegen, aber es würde noch ein paar Minuten dauern, bis er die ganze Runde zurückgelegt hätte.

Hoffentlich sprintete er wie ein Weltmeister!

Wieder knackte etwas. Ein paar Zweige brachen.

Rechts vom Pfad erhoben sich dichte Tannen, Seite an Seite, wie eine Mauer. Ich schielte immer wieder nach hinten und behielt dabei auch die Bäume im Auge.

Mit jeder Sekunde wuchs meine Panik.

Was mach ich bloß?

Der Donner krachte und ließ den Boden vibrieren.

Ein neuer Blitz zischte über den Himmel und erhellte den Wald – und zugleich etwas hinter den Tannen.

Ein Paar große, grobe Stiefel!

Mein Herz wurde zu Eis.

Die Stiefel bewegten sich. Die Tannenäste schwankten, bogen sich und ließen jemanden in einem langen schwarzen Kapuzenumhang aus dickem Stoff erkennen. Der Kopf verschwand im Schatten der hochgeklappten Kapuze.

Noch ein Blitz.

Kurz nahm ich eine Bewegung neben dem hohen Stein wahr. Eine zweite umhüllte Gestalt trat hervor.

Beide bewegten sich mit großen Schritten.

Und beide kamen auf mich zu.

*

Von Panik gepackt schoss ich los. Irgendwo vor mir auf der Strecke kam Papa mir entgegen. Mehr konnte ich nicht denken.

Hinter mir hörte ich schwere Schritte im Kies.

Ich unterließ es, nach hinten zu schauen, und vergewisserte mich stattdessen sorgfältig, wohin ich meine Füße setzte. Jetzt zu stolpern wäre verhängnisvoll gewesen.

Anfangs hatte der Schock mein Gehirn gelähmt, aber inzwischen rotierten die Gedanken mindestens so schnell, wie meine Füße rannten.

Was waren das für Typen, die mich da verfolgten? Warum hatten sie sich verkleidet? Und warum so, mit altertümlichen Kutten wie aus dem finstersten Mittelalter?

Aber die dicken Stiefel waren modern. Das erhöhte meine Chancen. Ich war zum Joggen angezogen. Außerdem bin ich die schnellste Achtklässlerin der Schule.

Allerdings waren die beiden größer und kräftiger als ich.

Und ich war voller Angst und die Erschöpfung steckte mir als bleiernes Gewicht in den Gliedern.

Die schweren Schritte hörten sich gefährlich nah an.

Sie würden mich einholen. Ich hatte keine Chance.

Ein bitterer Geschmack stieg in mir auf, meine Beine schmerzten immer heftiger. Die Kapuze meiner Jacke glitt herunter und die Mütze flog davon, aber ich lief mit flatternden Haaren weiter. Ich hatte das Gefühl, als würde jeder Atemzug meine Lungen sprengen, in den Ohren pfiff und schrillte es.

Als ich mich der Stelle näherte, wo der Pfad jäh um die Kurve biegt, wurden meine Schritte immer schwerfälliger. Vor mir türmte sich der lange Anstieg auf. Genauso gut hätte das eine Wand sein können.

Ich schluchzte laut auf.

Das war das Ende.

Ich konnte nicht mehr.

„Hallo!“

Ein einziges Wort genügte. Mein Herz zersprang fast vor Erleichterung. Ganz oben auf der Kuppe des Hangs tauchte eine langbeinige Gestalt in ausgewaschenem Polohemd und schlabbrigen Shorts auf. Die Gestalt machte ein Siegeszeichen in die Luft und kam wie ein Hundertmeterläufer den Hang heruntergespurtet.

„Pa…pa …“

Ich brachte bloß ein heiseres Zischen heraus, während ich vorwärtsstolperte. Nur noch ein paar Meter.

Papa bremste schwungvoll direkt vor meinen Füßen.

„Die-die …verfolgen …“

Ich keuchte schwer, konnte kaum sprechen.

„Ein Stück weiter hinten im Wald hab ich schon geglaubt, du kämst mir entgegen. Das Mädchen hatte …“

„Papa! Die verfolgen mich!“

Ich zeigte mit dem ganzen Arm nach hinten und drehte mich dabei um.

Der Pfad hinter mir war leer.

„Die sind im Wald … wir müssen …“

„Wer denn?“

„Sie hatten Kutten an.“

„Kutten?“

„Ja, mit Kapuzen. Wie in Der Herr der Ringe. Sie haben mich verfolgt.“

Sein Gesichtsausdruck war halb belustigt, halb beunruhigt. Ich hörte selbst, wie bescheuert das klang. Aber genau das hatte ich ja gesehen.

Es donnerte wieder. Der Wind frischte auf. Die Kiefern und Tannen begannen knarrend zu schwanken und die Laubbäume bogen sich im Wind.

„Haben sie irgendwas gemacht?“

Seine Stimme klang plötzlich scharf.

„Nein, ich bin ja davongelaufen.“

„Aber … hatten sie tatsächlich Kutten an …?“

„JA!“

Ich hasse es, wenn man mir nicht glaubt!

Wir standen auf dem Pfad und starrten uns aufgebracht an, als die ersten kühlen Tropfen auf unsere erhitzten Gemüter fielen.

„Wir fahren wohl besser nach Hause“, sagte Papa mit einem Blick an den Himmel.

Mit schweren Beinen trottete ich neben Papa auf den Parkplatz zu. Ich drückte mich so eng an ihn, dass ich ihm zwei Mal auf die Füße trat. Aber er sagte nicht einmal „au“. Ihm war klar, dass ich Angst hatte.

Während wir heimwärts radelten, wurden die Baumkronen von immer heftigeren Windstößen geschüttelt. Ich senkte den Kopf, um den Wind zu durchpflügen, der mich fast umblies. Es goss in Strömen und meine Kleider wurden nass und kalt.

Auch zu Hause brach ein Gewitter los, als Mama zu hören bekam, was geschehen war.

„Du bist ja verrückt!“

Sie fuchtelte mit der Spülbürste durch die Luft, als wäre die Bürste ein Messer. Der Schaum flog in alle Richtungen, traf Wuff auf die Schnauze und ließ sie aufschnauben.

„Weißt du eigentlich, was einer Vierzehnjährigen zustoßen kann, die allein im Wald unterwegs ist?! Denk nur an Mikaela!“

Mit dem tragischen Tod meiner Mitschülerin Mikaela war sie auf der falschen Spur. Kein Wunder, dass Papa protestierte.

„Aber das war doch …“

„Ein Unfall, ja! Aber wie weit darf die Verantwortungslosigkeit gehen? Ich hab immer geglaubt, unser Kind wäre dir wichtig!“

Ihre Augen glänzten und ihre Stimme klang rau.

„Klar ist Svea mir wichtig, aber …“

„Und warum hast du sie dann allein und schutzlos gelassen?“

Wenn man Mama hörte, könnte man meinen, wir lebten im schlimmsten Sumpf des Verbrechens. Papa tat mir leid.

„Das war doch bloß, weil ich keine zusätzliche Runde geschafft hab …“

„Aber Mister Macho musste sich unbedingt aufspielen. Was glaubst du wohl, wen du damit beeindruckst?“

Papa murmelte etwas Unverständliches.

Was hast du gesagt?!“, schrie Mama.

„Ja, ja, ja, das war dumm von mir. Aber meistens sind da noch andere Jogger unterwegs und Nordic Walker und Hundebesitzer, darum hab ich nicht gedacht …“

„Nein! Denken scheint wirklich nicht deine Stärke zu sein!“

„Außerdem war Svea nicht die Einzige, die alleine dort unterwegs war. Ich bin auch einem anderen jungen Mädchen begegnet. Zuerst hab ich tatsächlich geglaubt, es wäre Svea…“

Mama hörte nicht zu.

„Wenn du sie jemals wieder allein lässt …“

Der unabgeschlossene Satz ließ keinen Raum für irgendwelche Spekulationen. Es klang wie eine Drohung.

„Das werde ich nicht.“

Der Sturm rüttelte draußen an den Fensterscheiben, aber drinnen im Haus begann er sich zu legen.

„Wahrscheinlich hätte ich anhalten und mich vergewissern sollen, dass mit diesem anderen Mädchen alles okay war“, sagte Papa.

Mama nickte.

„Wir müssen eben hoffen, dass ihr Vater auch irgendwo auf dem Pfad unterwegs war“, sagte sie als Trost.

Ich ließ die beiden mit ihren Gewissensbissen allein.

„Muss jetzt unter die Dusche“, sagte ich.

„Versprich mir eins“, sagte Mama.

„Ja-a?“

„Nie mehr allein im Wald zu joggen.“

„Versprochen.“

Sie nickte zufrieden, obwohl ihr wahrscheinlich genauso klar war wie mir, dass dies ein Versprechen war, das ich nicht halten würde.

*

Der Regen schüttete herab, peitschte gegen die Fenster und trommelte auf das Dach.

Es war dunkel. Meine Möbel standen wie schwarze Schatten um mein Bett. Der Schreibtisch. Der Computer. Das Bücherregal.

Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, es wäre Tag, die Sonne würde scheinen, die Luft wäre von Stimmen und Gelächter erfüllt und ich von Freunden umgeben.

Erst als ich schlafen wollte, erwachte sie zum Leben.

Die Angst.

Das ganze Jahr, seit ich in der Achten angefangen hatte, war ein einziger Stress gewesen. Zuerst der Schock mit Mikaelas plötzlichem Tod, dann die Erpresserbande, die in der Schule ihr Unwesen getrieben hatte. Viele meiner Freunde hatten darunter gelitten. Ich auch.

Jetzt hätte ich endlich etwas Ruhe und Frieden nötig. Kummer und Angst hatte ich schon reichlich abbekommen.

Das unheimliche Erlebnis heute Abend erinnerte daran, dass es noch nicht vorbei war. Ich würde bald als Zeugin aussagen müssen. Es gab Leute, die mich hassten.

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Lies weiter in Ein Svea Andersson Krimi, Eiskalte Drohung

ISBN 978-3-440-13894-6 / 8,99 Euro