MITTWOCH
Der Morgen war sonnig und erfüllt von Vogelgezwitscher. Jo war mit demselben Bus gekommen wie ich, jetzt gingen wir nebeneinander auf die Schule zu.
Die Frühlingsstimmung wurde von einer lärmenden Gruppe Neuntklässler gestört. Mit Elias an der Spitze liefen sie auf dem Fußweg ungefähr zehn Meter vor uns her.
Natalie, die offenbar wieder gesund war, befand sich auch in der Gruppe, aber ich sagte mir, das müsse ein Zufall sein, zumindest bis Jo mich anstieß.
„Guck mal!“
Elias legte den Arm um Natalies Schultern und so umschlungen gingen sie weiter in Richtung Schule.
Ich traute meinen Augen nicht.
Der obercoole Elias.
Und die schüchterne Natalie!
Jo gingen dieselben Gedanken durch den Kopf.
„Schätze, sie traut sich nicht, sich zu wehren.“
Ich nickte.
„Der glaubt, er kann sich alles erlauben“, fuhr Jo düster fort.
Elias ließ Natalie plötzlich los und die Gruppe zog weiter auf die Schule zu, während Natalie ihre Schritte verlangsamte.
Wir hatten sie bald eingeholt.
„An Jo hat er sich auch rangemacht“, bemerkte ich tröstend.
Natalie wandte sich mir halb zu.
Geschockt starrte ich sie an.
Sie war leichenblass. Die Adern schimmerten durch ihre fast durchsichtige Haut und ihre Wangen wirkten eingefallen wie bei einem Totenschädel.
Aber ihre Stimmung war umso heftiger und der Blick, der meinem begegnete, funkelte schwarz und feindselig.
„Wovon redest du?“
„Ich meine Elias. Der ist doch ein echter Kotzbrocken!“
„Behalt deine Gedanken gefälligst für dich!“
Damit spurtete sie auf den Eingang los.
„Shit! Was ist denn in die gefahren?“
„Vielleicht ist sie in Elias verknallt“, vermutete Jo.
„Oje, und dann komme ich und nenne ihn Kotzbrocken!“
„Man muss die Dinge beim Namen nennen, das hast du selbst gesagt“, stellte Jo fest.
„Trotzdem irgendwie komisch. Dann hätte sie doch wie auf Wolken schweben müssen. Sie sah aber nicht gerade glücklich aus.“
„Sie will es vielleicht geheim halten.“
„Mhm. Weißt du, warum sie nicht in der Schule war?“
„Keine Ahnung. Irgend so eine Magen-Darm-Geschichte vielleicht. Sie sah blass aus.“
Ich nickte nachdenklich. Wenn das der Fall war, hoffte ich, davon verschont zu bleiben.
Natalie hatte nämlich wie ein Gespenst ausgesehen.
Simon hatte gelogen. Das weckte meine Neugier. Gleichzeitig war mir klar, dass ich noch mehr Fakten brauchte, um die Wahrheit aus ihm herauszuholen. Die beste Möglichkeit, weiterzukommen, wäre, Hannamaria noch einmal auszuhorchen.
Die Gelegenheit ergab sich schon nach dem Mittagessen ganz von selbst. Als Jo und ich den Speisesaal verließen, stand Hannamaria vor Per Lundström und schien sich mit ihm zu streiten.
Hannamarias Freundinnen Ebba und Faduma, beide bis hinter die Ohren geschminkt, saßen noch im Speisesaal und steckten ihre Köpfe mit den gesträhnten schwarzen Mähnen eng zusammen. Die Gelegenheit für ein Schwätzchen mit Hannamaria war perfekt, ich brauchte bloß zu warten, bis sie ihre Auseinandersetzung mit dem Lehrer beendet hatte.
„Warte kurz“, flüsterte ich Jo zu.
Wir blieben zwei Meter entfernt stehen. Bald hörte ich, um was es ging. Hannamaria hatte einen Zahnarzttermin, wollte aber nicht alleine dorthin. Aber Lundström erlaubte nicht, dass Ebba oder Faduma sie begleiteten. Die beiden hatten schon viel zu oft gefehlt.
„Ich hasse den Zahnarzt!“, motzte Hannamaria. „Dann geh ich eben nicht hin und das ist dann Ihre Schuld. Meine Mutter wird stinksauer und sorgt dafür, dass Sie rausfliegen, Sie Diktator, Sie!“
Etwas Schlimmeres hätte sie nicht sagen können. Per Lundström mit seinem krausen kupferroten Haar und ebensolchem Bart sieht aus wie ein freundlicher Waldschrat. Meistens trägt er ausgebeulte Cordhosen, einen schwarzen Rolli und Strickweste. Die roten Flecken an seinem Hals verrieten, dass er gekränkt war.
Schnell trat ich ein paar Schritte vor.
„Ich kann mitkommen.“
Beide drehten sich erstaunt zu mir um. Ich bin nicht unbedingt als barmherzige Samariterin bekannt. Und definitiv nicht als eine von Hannamarias Freundinnen.
Jo warf mir saure Blicke zu.
Aber Hannamaria strahlte.
„Super!“, seufzte sie, bevor sie sich wieder Per Lundström zuwandte. „Oder wollen Sie es Svea auch verbieten?“
„Svea ist pünktlich und fleißig“, sagte Per Lundström. „Im Unterschied zu gewissen anderen.“
„Wann fahren wir?“, fragte ich schnell, bevor Hannamaria wieder anfangen konnte herumzumotzen.
„Jetzt.“
Ich grinste entschuldigend zu Jo hinüber und zog mit Hannamaria los. Sie fuhr sich durch ihre blondierten Strähnen und sandte mir ein schiefes Lächeln, während ich meine Mütze aufsetzte.
Hannamaria sieht älter aus als vierzehn und gehört zur coolsten und angesagtesten Clique der Klasse: Ebba, Faduma, Nilla, Viktor, Erik und Alexander. Die Jungs finden sie hübsch. In meinen Augen ist Jo hundertmal hübscher.
Jo und ich hängen nicht jedes Wochenende in Clubs und auf Partys herum, so wie diese Zicken mit Hannamaria an der Spitze. Ihre typischen SMS lauten ungefähr so: „Morgen steigt bei Ebba die geilste Party! Bitte, bitte, komm auch, sonst totale Kata!“ Dann kleistern sie sich so mit Schminke zu, dass ihr ganzes Gesicht aufplatzt, wenn sie lächeln.
So eine SMS kriege ich nie. Vielleicht tanze ich irgendwie peinlich, vielleicht sind meine Klamotten falsch, meine Haare, meine Schminke. Schätze, einfach alles an mir ist falsch.
„Gut, dass du deine Haare nicht mehr so trägst“, sagte Hannamaria unterwegs zum Bus.
„Wie?“
„Im Pferdeschwanz.“
Ich zuckte stumm die Schultern.
„Hat echt doof ausgesehen, irgendwie babymäßig“, fuhr sie kichernd fort.
Ich kicherte ebenfalls, obwohl ich am liebsten kehrtgemacht hätte. Du falsches Luder!
„Echt gut, dass du mitkommst“, plapperte Hannamaria unbekümmert weiter. „Zahnarzt ist das Letzte. Hinterher gehen wir Süßigkeiten kaufen, ja?“
„Klar.“
„Lädst du mich ein? Ich hab meine letzte Kohle für Kippen ausgegeben.“
„Ja klar“, versprach ich großzügig.
Als wir in den Bus stiegen, laberte sie darüber, wie sie sich ihre Haare schneiden lassen wollte und dass ich das auch tun müsste, aber natürlich nicht genau so wie sie, denn nachäffen sei ja der Abschuss.
Ich sagte „mhm“ und „genau“.
Vielleicht bildete sie sich ein, ich sei aus purer Freundschaft mitgekommen. Aber ich hatte Hintergedanken. Nur darum konnte ich ihr Geplapper und ihre giftigen Bosheiten ertragen. Ich lechzte nach Informationen über Simon. Und Hannamaria war dämlich genug, um ein Geheimnis nur aus Geltungsbedürfnis und Angeberei zu verraten.
Sie starrte mich an, als hätte ich gefragt, wer Anfang des siebzehnten Jahrhunderts schwedischer König gewesen sei oder etwas ähnlich Uninteressantes.
„Dieser Streber? Um den schert sich doch kein Mensch. Der sieht ja aus wie eine Ratte.“
„Hat er Geschwister oder Freunde?“
„Nein, bloß ein Kaninchen. Bist du in ihn verknallt?“
„Nein, in ihn bin ich nicht verknallt.“
„Hab ich mir doch gleich gedacht. Du stehst auf Linus, oder?“
„Na ja.“
„Der ist okay. Sieht auch gut aus. Simon ist eine Null. Von dem will niemand was wissen. Warum fragst du?“
„Ich dachte, ich hätte ihn mit ein paar älteren Jungs gesehen, und war überrascht, sonst nichts.“
Als sie mich mit schmalen Augen unter mascaraverklumpten Wimpern musterte, kam etwas Wachsames in ihren Blick. Ich sah sie ruhig an, worauf sie sich rasch zum Fenster umwandte.
„Mist, so viel Schnee!“, seufzte sie. „Ich sehne mich nach dem Frühling.“
Sie schien nicht über Simon reden zu wollen, also wechselte ich vorerst das Thema.
„Wart ihr in den Winterferien verreist?“
„Nein, meine Eltern, die kennen nichts als ihren Job. Und ihr?“
„Das Gleiche in Grün. Mein Vater hat gerade einen neuen Job angefangen und konnte nicht freinehmen. Wo machst du deine Schnupperlehre?“
„Im Restaurant.“
„Cool.“
„Nööö! Zwischen Essensresten rumhocken und verschimmeln! Bin fett neidisch auf Faduma. Die darf in einem Friseursalon jobben. Und Ebba in einer Boutique. Aber die haben natürlich Beziehungen. Und was machst du?“
„Hab einen Job bei H&M. Hat Mamas Freundin mir besorgt.“
Sie lächelte mich betrübt an. Ich beeilte mich, die Gelegenheit wahrzunehmen, solange ein gewisses Gemeinschaftsgefühl zwischen uns in der Luft hing.
„Ist Natalie in Elias verliebt?“, fragte ich.
Sie starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
„Wenn, dann hat sie jedenfalls Pech. Der kann doch jede kriegen. Ehrlich gesagt glaube ich, er ist auf mich scharf.“
„Echt?“
„Er hat mich schon ins Café eingeladen. Ich durfte mir aussuchen, was ich wollte. Und ein Geschenk hat er mir auch versprochen. Schmuck oder so was.“
„Das klingt tatsächlich so, als wär er auf dich abgefahren.“
„Ja, nicht wahr! Aber er kann sich’s leisten. Ich sag bloß – seine fette Daunenjacke! Und hast du schon mal seine Uhr gesehen?“
„Wahrscheinlich sind seine Eltern ziemlich betucht?“
Sie zuckte leicht die Schultern, sagte aber nichts mehr.
Womöglich hatte sie kapiert, dass ich versuchte, sie auszuhorchen. Jedenfalls bildete ich mir ein, das sei die Ursache ihres plötzlichen Schweigens.
Der Bus hielt im Zentrum und wir stiegen aus.
Es würde noch mehr Gelegenheiten geben, Hannamaria auszufragen. Ich brauchte bloß abzuwarten, bis ihre Wachsamkeit wieder nachließ.