DONNERSTAG

Im Laufe der Woche nervte ich Linus immer wieder damit, er solle doch mit Marko reden. Wir drehten wie üblich unsere abendlichen Runden mit den Hunden, aber er wirkte irgendwie abwesend.

Ich wusste, woran er dachte. Oder besser gesagt, an wen.

An Paulina.

Aber ich versuchte so zu tun, als wäre es mir egal. Hauptsächlich mir selbst machte ich das vor. Ich erzählte von witzigen Sachen, die während der Arbeit passiert waren, und brachte ihn zum Lachen und dazu, sich auf seine eigene Schnupperlehre zu freuen.

Am Donnerstagabend schlug ich schließlich vor, wir könnten uns doch beide zusammen mit Marko unterhalten. Widerstrebend stimmte Linus zu. Marko war diese Woche gar nicht in der Schule gewesen, er hatte sich weder am Telefon gemeldet noch Linus’ SMS beantwortet, und das kam Linus allmählich seltsam vor.

Gleich, als ich nach Hause kam, machten wir uns auf den Weg.

Marko wohnt in der Nähe der Kreuzung, wo wir morgens aus dem Bus steigen, in einem niedrigen Holzhaus.

Er selbst machte uns auf. Blass und hohläugig erinnerte er an die Junkies, die sich im Stadtzentrum herumtreiben. Man konnte fast seine Rippen unter dem T-Shirt zählen, und seine Arme waren dünner als meine eigenen Handgelenke.

Zuerst sah er Linus an und blinzelte betreten. Dann entdeckte er mich und verzog das Gesicht.

„Na, wie geht’s?“, fragte Linus.

Marko zuckte stumm die Schultern.

„Wir wollen mit dir reden.“

Marko rührte sich nicht vom Fleck. Offensichtlich wollte er nicht mit uns reden.

„Wer ist da?“, rief eine Frau aus dem Innern des Hauses.

„Linus!“, rief Marko zurück.

„Mach die Tür zu. Es zieht.“

Ich drängte mich vor, bis er zurückweichen musste, und schlüpfte ins Haus. Linus folgte mir.

Marko grummelte irgendwas, schloss aber hinter uns die Tür.

Er bat uns nicht, unsere Jacken abzulegen, aber das taten wir trotzdem.

„Hallo, Linus“, sagte plötzlich eine Stimme von einer Türöffnung her. „Und …“

„Svea“, sagte ich.

„Hallo, Svea. Ich bin Markos Mutter, Anita. Lieb von euch, Marko zu besuchen. Bei uns geht alles drunter und drüber, seit …“

Sie machte eine Geste und nahm offensichtlich an, wir wüssten, wovon sie sprach.

„Marko geht es auch nicht besonders gut“, fuhr sie fort.

„Wahrscheinlich irgendein Virus“, schlug ich vor.

Als Linus’ Mutter mich ansah, tauchten ein paar tiefe Falten auf ihrer Stirn auf.

„Habt ihr denn nicht gehört, was mit Anna passiert ist?“

„Nein, was denn?“, fragte Linus.

„Es war entsetzlich! Was hatte sie bloß bei der Kiesgrube zu suchen! Ich …“

„Hör auf!“, fuhr Marko sie an. „Kommt!“

Er zog uns hinter sich her und führte uns die Treppe nach oben in sein Zimmer.

Mein Zimmer sieht meistens ziemlich chaotisch aus, aber im Vergleich mit Markos Zimmer könnte man es geradezu als ordentlich bezeichnen. Überall flogen Kleider, Bücher und Sachen herum. Kein Licht, aber dank des fahlen Scheins eines eingeschalteten Computerschirms fanden wir uns trotzdem zurecht.

Marko machte nicht einmal den Versuch, etwas wegzuräumen, sondern ging einfach zu seinem Bett und ließ sich darauffallen.

Schließlich schob ich Klamotten und Handtücher vom Schreibtischstuhl, um mich irgendwo hinsetzen zu können. Linus machte das Gleiche mit einer Ecke des Schreibtisches und setzte sich dann auf den Tisch.

Das schwache Summen des Computers erfüllte das Zimmer. Keiner von uns sagte etwas.

Linus nahm ein Foto vom Schreibtisch, ich warf auch einen Blick darauf. Ich erkannte das Mädchen wieder, hatte sie schon in der Schule gesehen, wahrscheinlich ging sie in die Siebte. Dagegen hatte ich sie bisher nicht mit Marko in Verbindung gebracht, obwohl die Ähnlichkeit eigentlich ziemlich auffallend war.

Sie war mit Abstand das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Und wenn man bedenkt, dass ich Jo kenne, will das etwas heißen. Sie hatte blonde Locken und betrachtete den Fotografen neugierig mit großen braunen Augen.

„Ist das deine Schwester?“, fragte ich.

Marko nickte kurz.

„Was ist denn mit Anna?“, erkundigte sich Linus.

„Als ob dich das einen Scheiß interessieren würde!“

„Wir sind doch Freunde.“

Marko schnaubte.

Linus’ Gesichtsausdruck wurde hart.

„Mann, stell dich nicht so an! Wir wollen dir helfen!“

Marko sah Linus in die Augen, die Mundwinkel verbittert nach unten gezogen.

„Und was könntet ihr schon machen?“

Seine Stimme klang höhnisch, aber nachdem es uns immerhin gelungen war, ihn zum Sprechen zu bringen, wollte ich nicht aufgeben.

„Was ist deiner Schwester denn passiert?“, fragte ich.

„Ein Unfall.“ Markus sah zur Seite. „Sie liegt im Krankenhaus.“

Wir warteten eine Weile, aber er schwieg.

Ich sah mich um. An der einen Seite des Zimmers war eine steile Dachschräge. Dort hatte Marko Poster angebracht, eins, auf dem ungefähr fünfzig Pflanzen abgebildet waren, und eins mit Vögeln. Dazwischen hing ein großes Plakat mit dem Sternhimmel der nördlichen Erdkugel. Ich erkannte die sieben Sterne des Großen Wagens, die auf den Polarstern hinwiesen.

Über dem Bett hing ein Poster mit sechs tätowierten Jungs, die um einen Instrumentenhaufen herumstanden.

Marko folgte meinem Blick.

„Findest du die gut?“

Ich hatte keine Ahnung, wer die waren, wollte aber meine Unwissenheit nicht verraten.

„Es geht so.“

„Und auf welche Art von Musik stehst du?“

Einfach drauflosreden, sagte ich mir, das lockert die Stimmung auf.

„Pop, Balladen, alles Mögliche.“

Linus und Marko wechselten vielsagende Blicke. Ich fühlte mich uncool. Hätte wohl besser Rock oder etwas Angesagteres erwähnen sollen. Darum ging ich auch nicht so sanft vor, wie ich mir ursprünglich vorgenommen hatte.

„Ich hab gesehen, wie du eine CD und Klamotten geklaut hast“, knallte ich ihm hin.

Marko hob mit gespielter Lässigkeit die Schultern, biss sich aber nervös auf die Unterlippe.

„Dann verpfeif mich doch. Ist mir so was von egal.“

„Stimmt nicht! Jimmy und Stoffe haben dich und Elias gezwungen, mitzukommen, oder? Warum lässt du sie nicht einfach auffliegen?“

„Wie denn? Hast du etwa beobachtet, dass sie mich mit dem Messer bedrohen? Oder dass sie was gestohlen haben?“

„Nein, aber sie waren es doch, die dich dazu gezwungen haben, das zu tun, oder?“

Marko sagte nichts.

„Warum hängst du überhaupt mit diesen bescheuerten Idioten herum?“, fragte ich erschöpft.

„Du kapierst wohl gar nichts, was?“

„Solange du nicht damit rausrückst, was los ist, kapier ich echt nichts!“, fuhr ich ihn ungeduldig an. „Dann sprich eben mit deinen Eltern! Du bist vierzehn, du kannst gar keine Strafe kriegen. Nur ein ordentliches Donnerwetter!“

„Werd endlich erwachsen!“, sagte Marko.

Ich sah ihn verständnislos an.

„Warum schützt du Jimmy und Stoffe?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ihr blickt echt überhaupt nichts“, sagte er leise. „Verschwindet jetzt lieber.“

„Aber …“

„Verpisst euch!“

Linus und ich wechselten einen Blick, dann standen wir auf und verließen das Haus.

Als ich später am Abend schlafen gehen wollte und die Jalousie herunterließ, sah ich auf der Straße zwischen unserem Haus und dem von Linus eine Schar dunkel gekleideter Jungs stehen.

Sie machten gar nichts, standen bloß da.

Als in der Stille plötzlich mein Handy losdudelte, erschrak ich heftig.

„Schau mal aus dem Fenster!“, zischte mir Linus’ erregte Stimme ins Ohr.

„Ich weiß. Erkennst du, wer die sind?“

„Nein, dazu ist es zu dunkel. Aber mir kommt das unheimlich vor. Warum stehen die überhaupt da?“

„Null Ahnung.“

Aber insgeheim dachte ich, vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass wir bei Marko gewesen waren.

„Ich dreh noch durch, wenn die nur so dastehen und glotzen!“

„Genau das beabsichtigen sie wahrscheinlich“, bemerkte ich nachdenklich.

„Jetzt hören wir auf mit dem Quatsch! Jimmy und Stoffe können von mir aus treiben, was sie wollen, das interessiert mich nicht mehr. Und du solltest auch lieber die Finger davon lassen, finde ich.“

„Mhm“, sagte ich.

Aber nur, um ihn zu beruhigen.

Nachdem wir unser Gespräch beendet hatten, fotografierte ich die Bande durch die Lamellen der Jalousie hindurch. Aber obwohl ich die Aufnahme im Computer vergrößerte, konnte ich keine einzelne Person darauf erkennen.

Ich ahnte nur, wer sie waren.

Und die Vorstellung, dass Jimmy und Stoffe herausgefunden hatten, wo Linus und ich wohnten, gefiel mir ganz und gar nicht. Bald würden sie sich vielleicht nicht damit begnügen, nur vor unseren Häusern herumzustehen.

Ich beschloss, von nun an besonders vorsichtig zu sein.