SONNTAG
Als ich klein war, hab ich Oma und Opa oft freiwillig besucht. Inzwischen kommt das immer seltener vor. Nicht etwa, weil sie zu weit weg wohnen würden. Mit dem Auto sind es bloß zehn Minuten und mit Bus und Vorortbahn dauert es nur wenig länger. Außerdem gibt es immer was Leckeres zu essen und jede Menge Kuchen und Gebäck. Und Opa ist ein echt cooler Typ.
Aber wenn man erst mal ein Teenie ist, landen Großeltern weit unten auf der Prioritätenliste, nach Freunden, Fernsehen, Computer, Schwimmen, Lesen und Chillen. Irgendwo zwischen Gassi gehen mit dem Hund und Zimmer aufräumen.
Doch als Mama am Sonntagmorgen fragte, ob ich zum Nachmittagskaffee bei Oma und Opa mitkommen wolle, sagte ich Ja.
Mama sah mich überrascht an. Sonst habe ich immer unglaublich viele Hausaufgaben, wenn ich etwas tun soll, wozu ich normalerweise keine Lust habe.
„Ich hab nichts auf“, erklärte ich eilig, bevor sie dazu kam, mich zu fragen. „Morgen fängt die Schnupperlehre an.“
Oma und Opa wohnen in einem alten roten Holzhaus mit weißen Holzverzierungen. Mama ist dort groß geworden.
Oma empfing uns mit umgebundener Schürze überm Sonntagskleid. Sie hatte sich mit Mascara und Lippenstift zurechtgemacht, ihr kurzes blondes Haar war frisch gelockt. Noch bevor ich meine Jacke ausziehen konnte, versank ich schon in ihrer parfümduftenden Umarmung. Wuff schoss schnurstracks zu den Wohlgerüchen in der Küche und hinterließ einen zerknautschten Dielenteppich, während wir anderen gemächlich ins Wohnzimmer gingen, wo Opa es sich in seinem Lesesessel bequem gemacht hatte.
„Das da regt mich schrecklich auf!“, erklärte Oma und deutete auf Opa, der sich freundlich lächelnd mühsam aus dem weichen Sessel erhob.
„Dass Vater die Zeitung liest?“, fragte Mama.
„Unsinn“, sagte Oma. „Die da.“
„Welche die da?“
Während Opa uns zur Begrüßung umarmte, nahm Oma die Zeitung vom Tisch, wo Opa sie hingelegt hatte, und wedelte damit in der Luft.
„Es ist so feige.“
„Was denn?“, fragte Papa, von Omas rätselhaftem Gebaren leicht gereizt.
„Alte Leute auszurauben. Hier steht etwas über Ganoven, die bei alten Leuten anklopfen. Sie lügen ihnen vor, sie müssten mal kurz telefonieren, und räumen dann Schmuck und Geld aus den Schubladen.“
Mama verzog bekümmert den Mund und warf mir einen Blick zu. Ich wusste, woran sie dachte. An die Anschuldigungen von Simons Mutter. Sie holte Luft, um etwas zu sagen, aber Opa kam ihr zuvor.
„Das ist doch ganz natürlich“, bemerkte er.
„Was sagst du denn da für dummes Zeug, Gösta?“, rief Oma aus.
„Überleg doch! Warum sollten die Kriminellen bei irgendwelchen Muskelpaketen anklopfen? Ist doch klar, dass sie sich Opfer aussuchen, die keinen Widerstand leisten können.“
„Das ist feige. Heutzutage sollte man lieber nicht mehr hilfsbereit sein. Und ja nicht versuchen, einen Streit zu schlichten. Das steht auch in der Zeitung. Ein Mann, der versuchte, eine Schlägerei zu verhindern, hat ein Messer in den Bauch bekommen.“
„Du irrst dich, Anna“, sagte Papa. „Wir brauchen im Gegenteil mehr Zivilcourage, sonst gewinnen die Kriminellen die Oberhand. Wer sich nicht traut, sich einzumischen, kann immer noch die Polizei anrufen oder das Verbrechen fotografieren. Die meisten Leute haben ja ein Handy.“
Mama sah immer noch bekümmert aus.
„Was ist denn, Stella?“, fragte Oma.
Falls sie jetzt anfängt, über den bescheuerten Schmuck von Frau Asp zu sprechen, haue ich sofort ab, dachte ich.
Mama schüttelte entschlossen den Kopf.
„Nichts. Ich hab nur über das nachgedacht, was du gesagt hast.“
Wenn Oma zum Kaffee einlädt, gibt es nicht nur einen Kuchen oder einen Hefezopf. Nein, da werden mindestens drei verschiedene Sorten Schnittchen aufgetischt, sieben Sorten Plätzchen, Rosinenschnecken und eine Torte.
Wie immer war es nett und gemütlich. Aber meine Gedanken hielten sich anderswo auf. Ich dachte an Opas Bemerkung, die Kriminellen würden sich ihre Opfer bei den Schwächsten aussuchen.
Dann musste ich an Simon denken. Aber nicht als Kumpel der schlimmsten Schlägertypen der Schule, sondern als deren Opfer. Dieses Bild überzeugte mich mehr. Vielleicht wurde er dazu gezwungen, mitzumachen und sie zu decken.
Womit drohten sie ihm wohl? Mit noch mehr Gewalt? Letzte Woche hatte ihn jemand geschlagen und da hatte er behauptet, ich wäre die Schuldige.
Aber was war mit Marko? Warum hatte der sich auf dem Schulhof geprügelt? Wollte er jemanden beeindrucken?
Oder war es genau andersherum?
War er das Opfer und Leo hatte auf ihn eingedroschen, um Jimmy und Stoffe zu imponieren?
Oma hatte mich offenbar schon eine Zeit lang beobachtet, während ich mir den Kopf zerbrach.
„Dieser Nachbarsjunge … wie heißt er doch gleich?“
„Linus“, flocht Mama ein.
„Dieser Linus – sitzt du jetzt da und träumst gerade von ihm, Afrodite?“
Oma lächelte. Sie ist eine genauso unverbesserliche Romantikerin wie Mama. Sie hat Linus ein einziges Mal getroffen und ist schon bereit, mich mit ihm zu verheiraten.
Ganz anders als Papa.
„Wahrscheinlich ist sie nervös“, vermutete er. „Morgen fängt sie ihre Schnupperlehre an.“
„Das hatte ich ganz vergessen“, sagte Oma. „Wo denn?“
„Bei Elin“, antwortete Mama an meiner Stelle. „Elin ist die Chefin eines H&M-Ladens in der Innenstadt.“
„Wie schön, dass ihr euch die ganzen Jahre nicht aus den Augen verloren habt!“, sagte Oma. „Ich weiß noch, wie ihr hier in unserem Garten auf einer Decke gesessen und mit Papierpuppen gespielt habt. Als ich neulich aufräumte, hab ich ein Foto von euch gefunden. Es muss hier irgendwo liegen.“
Sie durchwühlte eine Schachtel im Bücherregal, bis sie schließlich ein Foto fand, das sie Mama reichte. Mama betrachtete es eine Weile mit einem Lächeln auf den Lippen, bevor sie es mir gab.
Das Bild war in Omas lauschigem Garten aufgenommen. Im Hintergrund war das Haus zu erkennen. Auf einer Decke unter einem Baum saßen zwei kleine Mädchen mit schneeweißen Haaren und lachten in die Kamera.
„Wann hat Elin angefangen, sich die Haare rot zu färben?“, fragte ich.
„Als sie ein Teenager war“, antwortete Mama. „Bereits mit zehn Jahren begannen ihre Haare dunkler zu werden.“
„Und jetzt wird deine Tochter bei ihr arbeiten“, sagte Oma mit einem verträumten Lächeln. „Das wird dir doch Spaß machen, Afrodite? Ein Job, der mit Mode zu tun hat?“
„Also ehrlich, Oma! Ich hätte tausendmal lieber eine Schnupperlehre bei der Polizei oder der Feuerwehr gemacht.“
Oma warf den Kopf missvergnügt in den Nacken. Die Vorstellung, dass ich zur Polizei will, hat ihr noch nie so recht gepasst. Sie wandte sich an Mama.
„Wie geht es Elin?“
„Gut.“
„Sie ist doch hoffentlich immer noch verheiratet?“
„Warum sollte sie das nicht sein?“
„Heutzutage ist es nicht selbstverständlich, dass Paare so lange zusammenhalten. Und ihre Kinder … sie hat …“
„Zwei. Denen geht es auch gut. Und der Katze ebenfalls.“
Oma sah Mama gekränkt an und ich musste an Jo und ihre Mutter denken. Und daran, wie leicht ich selbst gereizt auf Mama reagierte. Warum fasst man die Fragen der eigenen Eltern nur immer als Verhör auf?
Auf dem Heimweg konnte sich Mama nicht länger beherrschen.
„Gestern hat die Mutter deines Mitschülers wegen dieser verschwundenen Schmuckstücke angerufen.“
„Will sie mich in den Knast bringen?“
„Natürlich nicht, aber sie wollte wissen, warum wir uns nicht gemeldet hätten.“
„Ich hab nichts mehr dazu zu sagen.“
Sie seufzte stumm.
„Was hast du geantwortet?“
„Dass wir wieder anrufen würden.“
„Du glaubst mir also immer noch nicht!“
„Svea, ich weiß wirklich nicht recht, was ich glauben soll.“
„Ich finde, du solltest deiner eigenen Tochter glauben und nicht einer dussligen Zicke, die lügt.“
Mama zuckte zusammen, als ich Simons Mutter dusslige Zicke nannte, korrigierte mich aber nicht.
Die restliche Heimfahrt verbrachten wir schweigend. Meine gute Laune war wie weggeblasen.