DIENSTAG

Am folgenden Tag erzählte ich Jo von meinem verheerenden Abend.

Seit jenem Spätsommertag vor gut sieben Jahren, als ich Mamas Hand losließ und mit anderen Erstklässlern zusammengepfercht wurde, ist Jo meine beste Freundin. Wir zwei, Afrodite Svea Andersson und Jolene Jones, über deren Namen die Klassenkameraden kichern mussten, wurden nebeneinander platziert. Und so sitzen wir immer noch.

Jo wohnt ein paar Kilometer weiter südlich auf einem Pferdehof. Sie hat ein eigenes Pferd, mit dem sie an Turnieren teilnimmt. Ich selbst habe allerdings noch kein einziges Turnier gesehen. Das liegt nicht daran, dass ich keine Lust habe – ich mag Pferde zwar nicht besonders, mag Jo dafür umso mehr –, sondern daran, dass die Turniere meistens weit entfernt von Stockholm stattfinden.

Während wir dem Strom der Schüler zur Schule folgten, haspelte ich alles heraus, was ich erlebt hatte. Sie hörte zu, ohne mich zu unterbrechen. Das macht sie immer so.

„Wenn du wüsstest, wie sehr ich das alles bereue“, stieß ich als Abschluss kläglich hervor.

Sie lächelte mich mit ihrem schönen weißen Lächeln an.

„Aber hallo! Du hast die Alte doch gerettet! Wenn das nicht super ist!“

Wir wurden von Gelächter und Gejohle unterbrochen, das dem gestrigen Gebrüll täuschend ähnlich klang.

Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter. Elias, Axel und zwei andere Jungs aus der Neunten näherten sich mit schweren Schritten. Da konnte man nur noch ausweichen, sonst wurde man beiseitegestoßen.

Elias und Axel sind große, kräftige Jungs, die in den Schulmannschaften Hockey und Basketball spielen. Dank der genialen Idee des Rektors, die Schüler der Achten und Neunten jedes Halbjahr in einem Freundschaftsspiel gegeneinander antreten zu lassen, weiß ich, wie es sich anfühlt, von ihnen angerempelt zu werden.

Das letzte Brennballspiel fiel nicht besonders freundschaftlich aus. Ich hatte hinterher noch wochenlang blaue Flecken. Ich war Mannschaftskapitän, und die Jungs, angeführt von Elias, legten sich mächtig ins Zeug, um ausgerechnet mich anzugreifen.

„Waren es womöglich Elias und seine Kumpel, die du gesehen hast?“, flüsterte Jo.

„Keine Ahnung“, flüsterte ich zurück. „Kaum.“

„Puh!“, seufzte sie.

„Was ist?“

„Hab schon befürchtet, du wolltest ihn zur Rede stellen, da mach ich nämlich nicht mit.“

„Verräterin.“

„Will bloß meine eigene Haut in Sicherheit bringen“, gab sie bereitwillig zu. „Nicht alle sind so mutig wie du.“

Ich?

„Aber vor Elias braucht man doch keine Angst zu haben. Der ist doch bloß … groß.“

„Genau. Und die anderen sind genauso groß. Und ich bin klein und dünn.“

Die Jungs hatten uns eingeholt. Sie kamen von jeder Seite zu zweit hinter uns an. Der Fußweg wurde von hohen Schneewällen gesäumt. An dieser Stelle war es unmöglich, zu sechst nebeneinander herzugehen. Die beiden hinter mir wurden langsamer.

Elias legte Jo den Arm um die Schultern. Er muss sich immer aufspielen. Zeigen, was für ein cooler Typ er ist. In seiner dicken Daunenjacke wirkte er neben Jo wie ein Riese.

„Mann, du bist echt eine verdammt heiße Nummer“, sagte er.

Das ist sie auch. Selbst in Steppjacke, Jeans und Mütze sieht sie schlank und langbeinig aus. Sie hat große Rehaugen und dichtes schwarzes Haar, das ihr bis an die Hüften reicht. Und ihre Haut ist selbst mitten im Winter schön gebräunt.

Sie stieß ihn weg.

„Idiot!“

Die Jungs wieherten laut.

Knurrend und fauchend rannte Jo davon.

Ich lief hinterher.

„Wir sehn uns in der Pause!“, rief Elias.

Jo und ich legten die letzten Meter zur Schule im Laufschritt zurück.

„Dieser Vollidiot!“, schnaubte sie. „Hoffentlich fällt er tot um!“

Als wir durch den Eingang liefen, hatte sich die schlimmste Wut schon gelegt.

„Echt uncool von mir, ihn Idiot zu nennen“, sagte sie nervös.

Ich zuckte die Schultern.

„Man muss die Dinge beim Namen nennen.“

„Er ist voll sauer geworden, oder?“

„Na und? Er hat dich begrapscht. Da muss man sich wehren.“

„Klar.“

Aber ganz überzeugt klang sie nicht.

Ich verstand ihre Überlegung. Es ist nicht besonders clever, sich mit einem der großen Jungs aus der Neunten anzulegen.

Sie seufzte und stöhnte und schüttelte den Kopf.

„Ich trau mich nicht in die Pause raus.“

„Hör auf! Da brauchen doch bloß diese supergestylten Zicken aufzukreuzen, dann hat der dich schon vergessen.“

„Kannst du mir das versprechen?“, fragte sie mit dünner Stimme.

Unsere Schule ist ein niedriger einstöckiger Backsteinbau, in dem die Klassenzimmer an langen, schmalen Korridoren Seite an Seite liegen.

Vor unserem Klassenzimmer unter dem Schild 8 A stand Simon und kramte in seinem Rucksack. Er war allein. Ich zögerte, doch die Gelegenheit war zu günstig, um sie nicht wahrzunehmen.

„Ich will bloß kurz …“, sagte ich zu Jo.

Simon hatte seine knielange gefütterte Jacke an den Haken gehängt, während er suchte. Sie war grün. Nicht schwarz. Aber ich riskierte es trotzdem.

„Gestern Abend hab ich dich beim Grusåsvägen gesehen“, behauptete ich.

Da er über seinen Rucksack gebeugt dastand, war er gezwungen, nach oben zu schauen. Zuerst blinzelte er wie eine erschrockene kleine Maus zu mir hoch, doch dann gelang es ihm, sich zu fangen.

„Das glaub ich nicht“, sagte er kühl.

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht dort war.“

„Doch, klar warst das du! Eine Clique älterer Jungs war auch dabei …“

Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln.

„Ehrlich, Svea!“

Im selben Moment begriff ich, wie unmöglich dieser Gedanke war. Es musste jemand gewesen sein, der Simon ähnlich sah.

„Aber was hast du dann gestern gemacht?“

„Kann dir doch scheißegal sein! Informier dich gefälligst ordentlich, bevor du andere beschuldigst!“

Rote Flecken waren auf seinen Wangen aufgetaucht.

Seine Wut weckte meine Neugier aufs Neue. Und überzeugte mich, dass er log.

Per Lundström, unser Klassenlehrer, unterbrach uns und scheuchte uns ins Klassenzimmer.

„Er hat sich echt komisch benommen“, flüsterte ich Jo zu, während wir uns an unsere Plätze setzten.

Jo war immer noch angesäuert wegen Elias und interessierte sich daher kaum für Simon.

„Wahrscheinlich war er nicht dort. Was ist daran schon komisch?“

„Dass er so krass sauer wurde. Glaubst du nicht …“

Lundström unterbrach uns.

„Svea und Jolene, habt ihr womöglich ein Gesprächsthema, das interessanter ist als Runensteine?“

Alles ist interessanter als das!

„Nein, nein“, antwortete ich trotzdem.

„Na dann. Dann können wir uns ja dem Unterricht widmen. Übrigens, weiß jemand von euch, was mit Natalie los ist?“

Alle drehten sich automatisch zu Natalies leerem Platz um.

Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass sie fehlte. Es gibt Leute, die sind so grau, dass man sie kaum bemerkt. So wie Natalie. Auf dem Weg zum oder vom Bus macht sie lieber lange Umwege, als mit einem von uns reden zu müssen.

Irgendwie ist es, als wäre sie gar nicht vorhanden.

„Wer ist mit ihr befreundet?“

Die angesagten drei, Hannamaria, Ebba und Faduma, prusteten, als hätte Lundström etwas Unpassendes gesagt.

Jo schaute mich traurig an. Ich zuckte leicht die Schultern. Es gibt ein paar in unserer Klasse, die haben keine Freunde. So ist das nun mal.

Per Lundström notierte etwas in sein Abwesenheitsbuch und fing dann an, über unsere Gegend und deren Runensteine zu quasseln.

Aber ich hatte Wichtigeres vor, als ihm zuzuhören. An und für sich bin ich nicht unbedingt scharf auf unlösbare Rätsel. Aber meine Zukunftsvision, Polizistin zu werden, zwingt mich, Antworten zu suchen.

Hannamaria saß hinter mir. Ich drehte mich zu ihr um.

„Weißt du, wo Simon wohnt?“, flüsterte ich.

Sie hatte laut gegähnt, um deutlich zu machen, wie uninteressant sie Runensteine fand. Jetzt aber glomm ein Funke in ihren kajalumrandeten Augen auf.

Sie hat keine Ahnung, wer der schwedische Premierminister ist, aber Modemarken und Schauspielernamen kann sie herunterrasseln wie am Schnürchen. Und sie weiß alles über diejenigen unserer Mitschüler, deren Eltern ein gut gepolstertes Bankkonto haben.

„Im Grusåsvägen. In einem roten Backsteinhaus. Die haben einen Superpool im Haus, aber Simon ist ja der letzte Spacko, also was soll’s. Oder vielleicht willst du …?“

Vielen Dank auch!

Die Information war interessant, daher zog ich es vor, ihr nicht genauso dämlich zu antworten.

Ein rotes Backsteinhaus im Grusåsvägen.

Dann wusste ich Bescheid. Das war das Haus gegenüber dem Spukschloss. Demnach hatte ich mich in Simons Garten versteckt!

Also waren es Jungs aus der Nachbarschaft, mit denen er durch die Gegend zog. Bestimmt war ich nicht die Einzige, die diese sauertöpfische alte Tante nicht leiden konnte. Sie hatte die Jungs garantiert wegen irgendeiner Kleinigkeit angekeift, worauf die beschlossen hatten, sich zu rächen.

Das schien mir eine schlüssige Erklärung für meine Beobachtungen zu sein. Jetzt musste Simon mir das nur noch bestätigen. Dann brauchte ich bloß herauszufinden, wer die anderen gewesen waren.

Erst in der Mittagspause bekam ich eine neue Gelegenheit. Simon saß wie immer allein am Tisch. Jo war noch damit beschäftigt, ihren Teller mit Lasagne und Salat zu füllen, als ich entschlossen mit meinem Tablett auf ihn zumarschierte.

Jo sah verblüfft hinter mir her, aber ich winkte ihr, sie solle mitkommen.

„Ist hier noch frei?“, fragte ich Simon.

Ich deutete mit dem Kopf auf den leeren Platz ihm gegenüber.

Er warf mir einen finsteren Blick zu, als wäre ich nicht ganz bei Trost. Sämtliche fünf Plätze an seinem Tisch waren frei.

„Siehst du doch.“

Kein guter Anfang. Aber ich gebe nicht so leicht auf. Bevor man jemanden verhört, muss man Konversation machen. Am besten über das Wetter oder das Essen.

Ich ließ mich ihm gegenüber nieder und steckte mir den ersten Bissen in den Mund. Dann deutete ich mit der Gabel auf die Lasagne auf meinem Teller.

„Angebrannt schmeckt’s noch besser“, bemerkte ich munter.

Das sagt mein Opa immer, wenn meiner Oma etwas angebrannt ist. Die Lasagne schmeckte super, aber eben leicht angebrannt.

Simon fuhr von seinem Platz hoch. Sein Stuhl kippte krachend um.

„Hör mit diesen Vorwürfen auf!“

Er stürzte hinaus.

„Was war denn mit dem los?“, fragte Jo.

Sie schob Simons Tablett mit dem kaum angerührten Essen beiseite und setzte sich mir gegenüber hin.

„Er ist sauer geworden.“

„Was hast du zu ihm gesagt?“

Bevor ich antworten konnte, kam Per Lundström zu uns hergeschlendert. Er hatte Simons Flucht aus dem Speisesaal beobachtet.

„Was war denn mit Simon los?“, fragte er.

Ich nahm noch einen Bissen.

„Weiß nicht.“

„Du hast hoffentlich nichts Unfreundliches zu ihm gesagt?“

„Ich?“

Ich hatte keine Lust, zu erläutern, warum ich Simon verdächtigte. Aber ich bemühte mich, möglichst gekränkt auszusehen.

„In unserer Schule wird niemand gehänselt, das weißt du ja, Svea“, fuhr Per Lundström mit gekünstelter Forschheit fort. „Unser Ziel ist null …“

„… Toleranz bei Mobbing. Ich weiß, ich weiß!“

Mit zufriedenem Lächeln über seine korrekt ausgeübte Pflicht wandte er sich ab.

Ich schob das Tablett von mir weg. Plötzlich war mir der Appetit vergangen.

Mein blütenweißer Ruf begann schmuddelig zu werden und diese Entwicklung gefiel mir ganz und gar nicht.

Bald kam ich jedoch auf andere Gedanken.

Linus trat in den Speisesaal.

Linus sieht einfach umwerfend aus! Wunderschöne warme, braune Augen und fast genauso hellblondes Haar wie ich. Wir kennen uns, seit er letzten Herbst in das weiße Einfamilienhaus gegenüber von unserem eingezogen ist.

Beim Hereinkommen unterhielt er sich mit Marko und nickte mir dabei zu. Marko und er sind befreundet.

Genau wie Jo und ich. Und Jo liest meine Gedanken manchmal sogar besser als ich selbst. Sie saß mit dem Rücken zum Eingang.

„Ist da möglicherweise eine gewisse Person aus der 8 B in den Speisesaal gekommen?“

„Mhm“, murmelte ich und spürte, wie meine Wangen brannten.

Ich kann nicht unbedingt behaupten, unglücklich verliebt zu sein, denn jedes Mal, wenn ich mit Linus zusammen bin, platze ich fast vor Glück. Er und ich, wir sind wie füreinander geschaffen. Ich muss ihn nur dazu bringen, das genauso zu sehen.

„Wie läuft’s denn so?“

„Was?“

Ich versuchte gleichgültig zu klingen.

„Du bist doch immer noch in Linus verknallt, oder?“

Schnell sah ich mich im Speisesaal um, aber zu meiner Erleichterung waren alle mit dem Essen beschäftigt. Gerettet von der Lasagne!

„Musst du unbedingt so schreien?“

„Stell dich nicht so an. Na, wie läuft’s?“

Ich seufzte. Ich war der Meinung gewesen, Mikaelas Tod hätte Linus und mich so eng zusammengeschweißt, dass uns nichts auf der Welt mehr trennen könnte. Doch dann verreiste er in den Weihnachtsferien mit seiner Familie und seither haben wir uns nicht mehr so oft getroffen.

„Weiß nicht. Ich hoffe, er mag mich noch. Wenigstens in seinem innersten Innern. Das scheint sich allerdings zurzeit sehr tief nach innen verkrochen zu haben.“

„Frag ihn.“

„Spinnst du!“

Jo zuckte die Schultern und fand ihre Idee offenbar kein bisschen verrückt.

„Ihr trefft euch doch ab und zu?“

„Ja, wenn wir die Hunde ausführen.“

„Warum geht ihr nicht zusammen zur Schule? Ihr seid doch Nachbarn.“

„Er besteht darauf, mit dem Fahrrad zu fahren.“

„Im Schnee? Und da hab ich geglaubt, du wärst ein Sportfanatiker! Lade ihn zu dir nach Hause ein oder ins Kino. Oder geh mit ihm bowlen. Du hast doch sonst immer so gute Ideen.“

„Ich hab ihn ja schon ein Mal zu uns eingeladen, aber da hat er sich damit herausgeredet, er müsste seine Verwandten besuchen.“

„Vielleicht musste er das tatsächlich. Versuch’s noch mal.“

„Ich trau mich nicht.“

„Aber wenn du nicht in ihn verknallt wärst, wär es doch kein Problem?“

„Stimmt.“

„Dann tu so, als ob du es nicht wärst.“

„Unmöglich!“

„Selbst Schuld, Feigling! Bist du bald fertig? Ich möchte raus.“

Svea führte sich auf wie ein echter Schnüffler. Die hatte ja keinen Schimmer davon, wie beschissen das Leben sein konnte, kapierte null. Aber wenn sie vorhatte, so weiterzuspionieren, würde sie garantiert auch bald Ärger kriegen.

Simon hatte seine Jacke an sich gerissen und war gerannt, bis er Seitenstechen bekam. Er zitterte am ganzen Leib.

Bildete sie sich echt ein, er würde mit ihr reden? Er, der mit keinem einzigen Menschen auf der ganzen Welt reden konnte?

Wenn sie in seiner Haut steckte, würde sie das auch nicht tun. Und außerdem, was hätte er sagen sollen? Seine Angst war so wahnsinnig groß, das ließ sich nicht erklären.

Dabei hatte niemand ihn geschlagen.

Man hatte ihm bloß ein Foto gezeigt.

Und das war … widerlich gewesen.

Er hatte die Augen zukneifen wollen, hätte am liebsten gekotzt und geheult, aber sie hatten ihn festgehalten und ihn gezwungen, es anzuschauen.

Lange.

Sie hatten gesagt, er solle sich überlegen, was passieren würde, wenn er nicht tat, was sie verlangten.

Er hatte es sich überlegt.

Und beschlossen zu tun, was sie verlangten.

In Elias’ Klasse 9 A gibt es zwei Typen, denen möchte ich möglichst nicht im Dunkeln begegnen – Stoffe und Jimmy. Stoffe ist überall gepierct, wo an seinem Kopf etwas absteht. Am Flughafen käme er garantiert durch keinen Metalldetektor, ohne dass der einen totalen Blackout bekäme. Andererseits fliegt Stoffe wohl eher selten.

Jimmy hat einen rasierten Schädel und stapft in groben Springerstiefeln durch die Gegend, bei deren Anblick mir schlecht wird. Mit einem einzigen Fußtritt könnte er einem alle Rippen brechen. Angeblich ist das schon passiert, und nicht nur ein, sondern mehrere Male. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber allein der Auftritt der beiden genügt, um ihre Umgebung in Angst und Schrecken zu versetzen.

Seit ich in die Schule gehe, sorgen Jimmy und Stoffe für Ärger. Sie sind dafür bekannt, vor nichts zurückzuschrecken. Ist das Fenster der Turnhalle kaputt, weiß man, wer es eingeworfen hat. Hat jemand Prügel bezogen, sind es Jimmy und Stoffe, die Blut an den Knöcheln haben. Ist jemandem die Jacke geklaut worden, muss man bei Jimmy und Stoffe zu Hause suchen.

Wenn man sich traut.

Jimmys Vater ist ein Alki und würde mit Sicherheit niemanden über die Schwelle lassen. Und Stoffe wohnt bei seiner Tante, treibt sich aber meistens im Stadtzentrum herum. Wo seine Eltern sind, weiß niemand, aber es heißt, der Vater sitze im Knast und die Mutter sei tot.

In letzter Zeit hat sich das Antimobbingteam unserer Schule schwer ins Zeug gelegt, vor allem, seit eine Siebtklässlerin Opfer von Mailterror geworden ist und ein Junge aus der Fünften einen Schneeball ins Auge bekommen hat. Sogar Jimmy und Stoffe haben sich eine Zeit lang ruhig verhalten.

Darum waren alle total baff, als hinter der Turnhalle lautes Geschrei ertönte. Es war in der Nachmittagspause und die Sonne funkelte auf dem Schnee. Eine Horde neugieriger Schüler drängte zu dem Lärm hin. Jo und ich gehörten auch dazu.

Bestimmt trieben Stoffe und Jimmy wieder ihr Unwesen! Ich betete im Stillen, dass niemand, den ich kannte, von ihnen vermöbelt wurde.

Als wir die Ecke umrundeten, sahen wir zuerst gar nichts.

Die dünnste und kleinste der Küchenhilfen versuchte gerade der Rauferei Einhalt zu gebieten.

„He, Jungs, hört auf! Bitte! Hört auf!“

Die Rücken vor mir bildeten eine Mauer, aber es gelang mir, mich vorzudrängen.

Ich traute meinen Augen nicht.

Der eine war ein Junge aus der Siebten. Der andere war Linus’ Freund Marko.

Der schüchterne, ruhige Marko!

Er prügelte sich in blutigem Ernst mit Fäusten und Fußtritten. Die Gesichter der beiden Jungs waren flammend rot und aus Markos Nase tropfte Blut auf seine helle Jacke.

Alle standen bloß da und glotzten. Außer der Küchenhilfe machte niemand einen Versuch, einzugreifen.

Marko verpasste dem Jungen aus der Siebten einen harten Schlag in den Magen. Der Junge stöhnte auf und klappte wie ein Taschenmesser vornüber zusammen.

Erst da tauchte die Pausenaufsicht auf.

„Was ist hier los?“, herrschte eine strenge Stimme die beiden Raufbolde an. Das war Bjarne Lund, unser neuer Sportlehrer. Er ist für Anita eingesprungen, die im Mutterschutz ist. Bjarne Lund ist in Ordnung. Vor allem ist er ein erfahrener Basketballer und das ist total super für uns. Bisher sind unsere Mannschaften bei den Schulmeisterschaften immer in der untersten Liga gelandet, aber dank ihm haben unsere Chancen auf einen Aufstieg zugenommen.

Per Lundström kam direkt hinter ihm angerannt.

Der Junge aus der Siebten stand laut jammernd da. Marko legte gerade den Kopf in den Nacken und klemmte seinen Nasenrücken mit den Fingern zusammen.

„Das hätte ich nie von dir erwartet.“

Lundström richtete einen anklagenden Zeigefinger auf Marko.

„Was fällt dir ein, einen zu schlagen, der jünger ist als du?“

Der Siebtklässler war mindestens so groß wie Marko. Und kräftiger. Und weil die beiden Lehrer erst später hinzugekommen waren, konnten sie unmöglich wissen, ob Marko die Schlägerei hätte vermeiden können oder nicht.

„Aber hallo!“

Das lautstarke Geheul des Siebtklässlers übertönte meinen Protest.

Bjarne Lund untersuchte ihn rasch und stellte dasselbe fest wie ich. Der Junge übertrieb. Lund brummte ungeduldig vor sich hin.

„Na gut, gebt euch jetzt die Hand und entschuldigt euch“, schlug er vor.

„Aber he“, protestierte ich noch einmal. „Wollen Sie denn nicht wissen, wer die Schlägerei angefangen hat?“

Niemand hörte auf mich.

Marko presste ein Taschentuch, das Per Lundström ihm gegeben hatte, an die Nase.

„Tschul…digung“, murmelte er heiser.

„Aua, aua, aua“, jammerte der Siebtklässler anstelle einer Antwort.

„Keine Angst“, sagte Lundström. „Das wird nicht wieder vorkommen.“

Lund sah ein, dass er es mit dem Handschlag auf sich beruhen lassen musste, und nahm Marko und den Jungen aus der Siebten mit ins Schulhaus.

„Aber hallo!“, rief ich zum dritten Mal.

„Svea, misch dich da nicht ein!“, fuhr Lundström mich an.

„Aber Sie müssen doch feststellen, wer angefangen hat!“

„Natürlich“, sagte Lundström. „Aber du scheinst das ja bereits entschieden zu haben. Und das ist ja kein Wunder, wenn man bedenkt, dass …“

Er beendete den Satz nicht, sondern warf mir nur ein schiefes Grinsen zu, bevor er sich entfernte.

Ich spürte flammende Röte in meinem Gesicht.

Woher wusste er das?

Dass ich in Markos Freund verliebt war?

„Komm jetzt“, sagte Jo ruhig.

Ohne etwas zu sagen, gingen wir ins Schulhaus. An die Schlägerei dachte ich gar nicht mehr. Meine Gedanken waren von einer einzigen Sache erfüllt.

Alle wussten, in wen ich verliebt war. Sogar die Lehrer!

Alle, nur Linus nicht.

Als ich von der Schule nach Hause kam, stürmte Wuff auf mich zu. Sie klopfte mit den Vorderpfoten auf den Boden und senkte den Oberkörper. Im Vorbeirennen schnappte sie sich meinen einen Handschuh und fegte damit durch die Diele.

„Da hast du dich aber getäuscht!“

Ich begab mich geradewegs in die Küche. Wuff beruhigte sich schnell, ließ den Handschuh fallen und lief hinter mir her.

Mama legte gerade eine Kaffeepause ein. Mit blauer Farbe an den Wangen und weißen Flecken an den Fingern schaufelte sie Kaffee in die Kaffeemaschine. Für ihre Bilder lässt sie sich von der griechischen Mythologie inspirieren. Auch für meinen ersten Namen hat sie sich davon inspirieren lassen, Afrodite, wie die Göttin der Liebe.

„Wie war’s in der Schule?“, fragte Mama, nachdem sie die Maschine eingeschaltet hatte.

„Schlägerei und Zoff. Ein Junge hat Nasenbluten davongetragen.“

„Ach, wie nett.“ Sie nickte zerstreut.

Ich habe meine vierzehn Lebensjahre unterm selben Dach mit einer Künstlerin verbracht. Körperlich mag sie durchaus anwesend sein, aber ihre Gedanken fliegen oft in anderen Welten herum.

Kaum war der Kaffee durchgelaufen, füllte sie einen großen Becher damit und klapperte in ihren blau-weiß gestreiften Clogs in ihr Atelier zurück. Bald hörte ich Musik aus den Lautsprechern strömen.

Wuff leistete mir Gesellschaft, während ich meine Brote aß und die Uhr im Auge behielt.

Ich habe Linus’ Gewohnheiten inzwischen gründlich studiert und weiß genau, wann er Glöckchen ausführt. Nachdem ich die letzten Brotkrümel an Wuff verfüttert hatte, zog ich Jacke und Stiefel an und ging hinaus.

Im selben Moment öffnete sich die blaue Tür des gegenüberliegenden Hauses. Zuerst erschien ein kräftiger Rottweiler, dann Linus.

Die Hunde beschnupperten sich gegenseitig mit wild peitschenden Schwänzen.

Ich hätte meine Nase auch gern an die von Linus gedrückt, begnügte mich aber damit, ihm kurz zuzunicken.

„Wie sieht’s aus?“

Inzwischen scheint er sich nicht mehr darüber zu wundern, dass ich so regelmäßig auftauche.

„Gut.“

Mit den Hunden an der Leine gingen wir nebeneinanderher. Wuff, die Schnauze dicht am Boden, strebte voraus, während Glöckchen einen Meter hinter uns herhumpelte. Seit sie im Herbst überfahren worden ist, fällt ihr das Laufen immer noch schwer, besonders im Schneematsch.

„Hast du die Rauferei auf dem Schulhof gesehen?“, fragte ich.

„Nein, hab aber davon gehört.“

„Warum haben sie sich geprügelt?“

Linus zuckte die Schultern.

„Keine Ahnung. Marko hat nur erwähnt, Lundström hätte damit gedroht, seine Eltern anzurufen. Dann würde er garantiert einen Monat Hausarrest kriegen. Und Fernsehverbot. Und keine Computerspiele.“

„Und dabei hat er doch gar nicht anfangen. Das war bestimmt dieser …“

„Leo. Ich weiß nicht. Er wollte nicht darüber reden.“

„Und was glaubst du?“

„Marko ist in Ordnung, der würde sich nicht so schnell auf eine Schlägerei einlassen. Aber ich kenne ihn ja noch nicht allzu lange.“

„Ich aber, und er hat sich bisher noch nie geprügelt.“

„Vielleicht ist er angegriffen worden. Dieser Leo wirkt echt daneben.“

„Mhm. Oder er wollte seinen Kumpels imponieren.“

„Dann finde ich es aber komisch, dass er sich ausgerechnet Marko ausgesucht hat“, bemerkte Linus.

„Bestimmt erfährst du bald die Wahrheit.“

„Klar.“

„Erzählst du’s mir dann?“

Linus schüttelte den Kopf. Logisch. Ich würde Linus schließlich auch nicht Jos Geheimnisse anvertrauen.

Ich seufzte.

„Und sonst?“

Nach dem Spaziergang mit Linus und den Hunden setzte ich mich an die Mathehausaufgabe, aber meine Gedanken kreisten immer wieder um den mysteriösen Brand vom gestrigen Abend. Bisher hatte ich Glück gehabt, keine Polizei hatte angeklopft, doch das war vielleicht nur eine Frage der Zeit.

Ich überlegte, wie ich am besten herausfinden könnte, wer die Schuldigen waren. Die einzige Möglichkeit, die mir einfiel, war, noch mal hinzugehen in der Hoffnung, dass die Typen wieder aufkreuzen würden. Dann könnte ich sie gründlich beobachten und sie vielleicht sogar mit meinem Handy fotografieren.

Ich ließ Wuff daheim und zog los; wanderte kreuz und quer durch die friedlichen Wohnviertel, während die blaue Dämmerung anbrach. Es war, als wäre ich allein auf der Welt. Weit und breit keine Spur von einem Feuerteufel.

Zuerst mied ich das Spukhaus von Frau Asp, doch irgendein unbehaglich hartnäckiges Gefühl im Hinterkopf zog mich schließlich doch dorthin. Hatte ich das Feuer wirklich gründlich gelöscht?

Irgendwo in dem großen Haus war Licht, aber Frau Asp ließ sich nicht blicken. Ich schlich mich in den Garten. Ungefähr zwei Meter der dichten Tannenhecke waren in kahle schwarze Gerippe verwandelt worden. Aber das Feuer war erloschen.

Ich lief zur Rückseite des Hauses. Das schmale Kellerfenster war noch nicht repariert worden. In der Scheibe prangte ein großes rundes Loch, das ringsum Sprünge ausstrahlte. Es musste mittlerweile eiskalt in dem Keller sein!

Ich presste das Gesicht an das nächstgelegene Fenster im Erdgeschoss und spähte hinein. Dahinter lag die Küche. Frau Asp war nicht dort. Ich ging weiter und linste in einen Raum, der wie ein Wohnzimmer aussah, mit altertümlichen dunklen Möbeln.

Plötzlich zuckte ich zusammen. Auf dem Sofa lag jemand.

Frau Asp.

Sie lag ganz still.

Die Härchen auf meinen Armen richteten sich auf.

War sie … tot?

Womöglich hatte sie einen Anfall bekommen, als sie hinter mir her- schrie!

Dann hätte ich … sie getötet!

Vorsichtig klopfte ich ans Fenster. Frau Asp reagierte nicht.

Ich klopfte noch einmal. Sie lag immer noch regungslos da.

Mein Magen wurde eisig kalt. Irgendwas stimmte nicht.

Ich lief zur Haustür zurück und läutete. Der Klingelton hallte verlassen durchs Haus. Nichts geschah. Ich klopfte und hämmerte an die Tür. Aber vergeblich.

Da fiel mir das kaputte Kellerfenster ein. Bevor ich Zeit hatte, es zu bereuen, hockte ich schon davor. Behutsam schob ich die Hand durch das Loch, um den Fensterhaken hochzudrücken. Völlig unnötig. Das Fenster war nicht zugesperrt. Ich öffnete es, kroch hinein und hüpfte auf den harten Zementboden hinunter.

Schnell zog ich meine kleine Taschenlampe, die ich immer dabeihabe, aus der Tasche und leuchtete damit in den Raum. Es schien eine Art Vorratskammer zu sein. Eisige Kälte lag in der Luft. Die Tür oberhalb der Treppe war geschlossen.

Ich schlich die Treppe hinauf und presste mein Ohr an die Tür, bevor ich sie einen Spalt weit öffnete. Nichts zu hören.

Kurz schlug ich mich mit meinem Gewissen herum. Das hier war total verrückt. Eigentlich müsste ich zu Hause sein, meine Mathehausaufgabe machen, mit Jo chatten oder vor der Glotze sitzen.

Die Alte würde stinkwütend werden, wenn ich schon wieder auftauchte.

Aber irgendetwas zwang mich dazu weiterzugehen. Ein eisiger Kloß im Magen, eine nagende Unruhe. Ich hätte schon gestern mehr unternehmen sollen, hätte mich vergewissern sollen, dass der alten Frau nichts fehlte.

Leise schlüpfte ich in die Eingangsdiele. Ich musste erfahren, was mit Frau Asp los war.

Sie lag komplett angezogen auf dem Sofa, eine Decke über den Füßen. Mit klopfendem Herzen schlich ich ein paar Schritte näher. Meine Beine trugen mich kaum.

Plötzlich stieß sie ein leichtes Schnaufen aus.

Im letzten Moment gelang es mir, meinen Schrei zu ersticken.

Sie schlief! Eine alte Dame, die ein Nickerchen machte, das war doch total normal!

Doch dann wurde ich wieder unruhig. Sie lag so still da, auf dem Rücken, den Kopf auf einem Kissen. Wenn Leute schlafen, hört man sie doch viel schwerer atmen, oder?

Dieses unheimliche Gefühl lief mir wieder wie ein Schauder über den Rücken. Ich musste an einen Film über Untote denken, die tagsüber ruhen, um nachts ihre Opfer jagen zu können.

Ausgerechnet in diesem Moment richtete sie sich auf und starrte mich an.

Diesmal gelang es mir nicht, meinen Schrei zu unterdrücken.

Seltsamerweise erschrak sie nicht so heftig wie ich, sondern tastete nur mit ihren dünnen Hexenfingern nach meinem Arm und flüsterte:

„Hast du das gehört? Jetzt spukt es wieder.“

Ich wollte schon erklären, sie müsse mich gehört haben, als sich irgendwo über meinem Kopf knarrende Schritte vernehmen ließen.

Bei uns daheim ist es kein bisschen gruselig, wenn jemand im oberen Stock umherläuft. Aber hier in diesem großen Haus klang es gespenstisch.

„Ist das nicht Ihr …“

Mit wem konnte so eine alte Tante wohl zusammenleben?

„… Mann?“

„Hier kommt mir kein Mannsbild ins Haus!“, versetzte sie scharf.

Also war sie nicht verheiratet.

„Aber Sie haben vielleicht Besuch?“

„Wer könnte das schon sein?“

Woher sollte ich wissen, was sie für Bekannte hatte. Aber irgendjemand befand sich dort oben.

„Wollen wir raufgehen und nachschauen?“, schlug ich vor.

„Nein!“, zischte sie.

Fast hätte ihre Angst mich angesteckt, aber ich weigerte mich, klein beizugeben. Ich musste eine Erklärung für diese Schritte finden.

Hirngespinste verscheucht man besten mit Licht. Also machte ich den Kristallleuchter an der Decke an. Die Prismen funkelten blendend hell.

Die alte Frau stöhnte auf, als hätte sie einen Schlag erhalten.

„Mach sofort aus!“

„Gespenster scheuen das Licht“, erklärte ich und versuchte meiner zitternden Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen.

Zwar fürchte ich mich manchmal vor der Dunkelheit, aber im Moment waren Gespenster meine geringste Sorge. Dagegen überlegte ich, ob ein Einbrecher durch das Kellerfenster hereingekrochen sein könnte. Das war schließlich denkbar einfach. Dass ich selbst hier stand, war ein Beweis dafür.

Mit einem kühnen Schritt trat ich in die Dunkelheit der Eingangsdiele hinaus. Das Licht des Kronleuchters fiel auf ein seltsames Figürchen, das auf der Dielenkommode thronte. Es sah aus wie ein Affe und war mit Gold und glitzernden Edelsteinen verziert, die echt wirkten. Besonders schön fand ich es allerdings nicht.

Ich machte in jedem Zimmer im Erdgeschoss Licht, sogar auf dem Klo, bevor ich zu der alten Frau zurückkehrte.

„Hier ist niemand.“

Sie erhob sich vorsichtig und sah sich misstrauisch um.

„Doch, oben auf dem Dachboden.“

„Ich geh mal rauf und schau nach.“

Meine Worte schienen sie zu beruhigen. Sie ging in die Küche, wo ich sie bald mit Töpfen klappern hörte.

Ich schlich die knarrende Treppe nach oben und fragte mich dabei, was eigentlich in mich gefahren war. Wenn sich jetzt ein Irrer mit bösen Absichten auf dem Dachboden versteckt hatte! Trotzdem ging ich weiter.

Im Obergeschoss gab es vier offene Türen. Drei davon führten in karg möblierte Zimmer, die vierte in das Schlafzimmer der alten Frau. Ein gehäkelter Überwurf bedeckte das Bett und auf einem Holzstuhl vor dem Schreibtisch lag ein Kleidungsstück. An der Wand hing ein Hochzeitsfoto, das eine schlanke dunkelhaarige Frau an der Seite eines blonden Mannes im dunklen Anzug zeigte. Sie lachte ihn an und sah hübsch und glücklich aus. War das Frau Asp?

Und wo war dann dieser Mann? War er gestorben?

Ich hörte keine Schritte, sah auch niemanden, aber dennoch hatte ich das unheimliche Gefühl, hier oben nicht allein zu sein. Schnell spähte ich unters Bett.

Leer.

Nicht einmal Staubflusen.

Aber wenn ich mich unerlaubt in einem fremden Haus aufhielte, würde ich es schließlich auch nicht riskieren, mich unter einem Bett zu verstecken. Dort sucht man immer als Erstes.

Irgendwo in der Nähe knarrte der Fußboden. Ich fuhr zusammen. Mein Herz klopfte wie wild. Am besten, ich floh, solange noch Zeit war.

Plötzlich war von unten ein dumpfer Schlag zu hören, gefolgt von einem durchdringenden Schrei.

Ich vergaß meine eigene Angst und lief zur Treppe.

„Was ist passiert?“, rief ich, während ich nach unten spähte.

Keine Antwort.

Ich brauchte zwei Sekunden, um hinunterzustürzen.

„Frau Asp?“

Sie lag auf dem langen Flickenteppich in der Diele.

„Was ist mit Ihnen?“

Ich beugte mich über sie.

Im selben Moment hörte ich Schritte auf der Haustreppe. Jemand steckte einen Schlüssel ins Schloss, dann trat eine Frau ein. Sie schien mindestens zehn Jahre älter als meine Mutter zu sein und hatte graue Strähnen im kurz geschnittenen dunklen Haar. Sie war einen Kopf kleiner als ich und genauso dünn wie Frau Asp.

Wir standen da und starrten einander an. Aber nur ganz kurz.

„Was ist mit Frau Asp passiert?“, fragte sie mit besorgter Stimme.

Ich wollte gerade versuchen, alles zu erklären, als Frau Asp zu jammern begann.

„Hiilfe!“, wimmerte sie. „Die da hat meinen Schmuck gestohlen!“

Die fremde Frau durchbohrte mich mit eiskaltem Blick.

„Und meine Tannenhecke hat sie auch angesteckt!“, heulte die Alte.

„Aber hallo!“, protestierte ich laut. „Das haben Sie total missverstanden. Ich wollte doch helfen …“

„Diebin!“, schrie Frau Asp. „Brandstifterin!“

Ich hob beschwichtigend die Hände.

„Bitte! Frau Asp hat Schritte gehört. Und ich hab ihr geholfen nachzuschauen, ob jemand dort oben ist.“

Die fremde Frau musterte mich immer noch misstrauisch.

„Das stimmt wirklich!“, beharrte ich etwas schrill. „Ich war gestern hier …“

„Sie hat gedroht, mich umzubringen, und die Hecke in Brand gesetzt!“, krähte Frau Asp.

„Hab ich überhaupt nicht!“

„Frau Asp hat mich gestern Abend angerufen. Sie war sehr verstört“, sagte die Frau. „Ich bin ihre Nachbarin und schaue ab und zu nach ihr. Was treibst du eigentlich hier?“

Sie musterte mich mit ihrem Blick, vom Scheitel bis zur Sohle.

„Sie hat an meiner Tannenhecke Feuer gelegt!“, beharrte Frau Asp.

„Ja, die sieht jetzt wirklich traurig aus“, stellte die Frau mit einem tiefen Seufzer fest. „Ein Glück, dass das Feuer nicht um sich gegriffen hat.“

„Ja, weil ich es nämlich gelöscht hab“, teilte ich mit. „Aber …“

„Und wie bist du überhaupt ins Haus gekommen?“, wollte die Frau wissen. „Hat Frau Asp dich reingelassen?“

Ich spürte, dass ich rot wurde.

„Ich bin durch das kaputte Kellerfenster gekrochen, aber …“

„Wäre es nicht einfacher gewesen, an der Tür zu läuten?“

„Hab ich ja, aber sie hat es nicht gehört, also …“

„Du hast das Fenster eingeschlagen“, behauptete Frau Asp.

„Das war nicht ich!“

Inzwischen schrie ich ebenfalls.

„Wer denn dann?“, fragte die Frau.

„Ein paar Jungs.“

„Und wer bist du?“

Ich suchte verzweifelt nach einer guten Lüge, sah dann aber ein, dass es am klügsten war, die Wahrheit zu sagen.

„Afrodite Svea Andersson“, sagte ich.

Sie sah mich befremdet an. Vielleicht glaubte sie, das sei gelogen. Afrodite ist ja nicht gerade eine Emma oder Anna.

„In dem Fall …“, begann sie.

Aber jetzt hatte ich genug. Sollte sie doch glauben, was sie wollte. Ich stürmte an ihr vorbei, wütend und traurig. Für mich gibt es nichts Schlimmeres als Leute, die mir nicht glauben.

Nachdem ich eine Zeit lang gerannt war, entdeckte ich, dass ich meine Handschuhe bei Frau Asp vergessen hatte.

Ich steckte meine kalten Hände in die Taschen, und während ich heimwärts trabte, fluchte ich innerlich darüber, dass ich mich überhaupt um diese alte Nervensäge gekümmert hatte. Ab jetzt können alle andern mir echt den Buckel runterrutschen, dachte ich. Werd bloß noch an mich selbst denken.

Als ich fast zu Hause war, läutete mein Handy.

„Was machst du gerade?“, fragte Jo.

„Bin auf dem Heimweg. War bei dieser ollen Frau Asp.“

„Bei wem?“

„Bei dieser alten Tante in dem Spukhaus.“

„Hat sie sich gefreut?“

„Kann ich nicht behaupten.“

„Was ist passiert?“

„Ich hab geglaubt, sie ist tot, und bin durchs Kellerfenster ins Haus gekrochen.“

„Du spinnst echt! Und? War sie tot?”

„Nein. Und dann haben wir im oberen Stock Schritte gehört.“

„Und mutig, wie du bist, hast du das auch noch überprüft, haha.“

„Ja.“

„Oh Mann! Das hätte doch ein Einbrecher sein können!“

„Oder ein knarrender Fußboden.“

„Also hast du nichts gefunden?“

„Ich hab’s nicht mehr auf den Dachboden geschafft, weil eine Nachbarin ankam. Und da hat die Alte ein Mordstheater gemacht und gezetert, ich wär eine Diebin und Brandstifterin. Zum Schluss bin ich sauer geworden und abgehauen.“

„Aber warum hast du ihnen denn nicht gesagt, wie es wirklich war?“

Ich seufzte.

„Hab ich doch. Aber sie haben mir nicht geglaubt.“

Jetzt seufzte Jo auch.

„Wird wohl das Beste sein, du lässt dich dort nicht mehr blicken und hoffst, dass die alte Tante den ganzen Quatsch vergisst.“

„Ja, glaub ich auch.“

Aber irgendwie hatte ich das beunruhigende Gefühl, dass ich keine Chance bekommen würde, Frau Asp und das Spukhaus zu vergessen.

Als ich nach Hause kam, standen Mama und Papa beide in der Küche. Mama wusch gerade den Salat.

„Du kommst genau richtig. Die Hackfleischsoße ist fertig.“

Papa deckte den Tisch.

„Na, wie läuft’s denn so?“

Jetzt war die perfekte Gelegenheit, von der durchgeknallten Alten zu erzählen. Aber wieder einmal drückte ich mich davor. Es war einfach zu peinlich.

„Bestens. Und wie sieht’s bei dir aus?“

Er sah mich leicht erstaunt an. Offenbar frage ich nicht allzu oft danach, wie es ihm geht.

„Alles im grünen Bereich. Ein bisschen viel zu tun vielleicht, aber nur, weil noch so vieles neu ist. Was hältst du von einer Joggingrunde nach dem Essen?“

„Jipp.“

Ich häufte mir einen Berg Spaghetti auf den Teller und ertränkte ihn in Soße. Drohende Wolken zogen an meinem Himmel auf, aber ich hatte nicht vor, mich davon stören zu lassen.