DONNERSTAG
Der Tag des Hallenhockeyspiels gegen Södertälje näherte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Nur noch eine Woche bis dahin. Am Donnerstagmorgen musste ich früh aus den Federn. Wieder war ein zeitiges Training angesagt. Lund nahm uns hart ran.
Bestimmt vermissten viele der Jungs Elias, obwohl keiner von ihnen etwas offen äußerte. Sie wollten vor allem gewinnen und sorgten dafür, dass Alexander und ich unsere Plätze in der Mannschaft fanden. Bei jedem Tor, das ich schoss, klopften sie mir auf den Rücken, bei sauberen Pässen gab es High Fives.
Aber Axel nahm mich ordentlich in die Mangel. Er ließ keine Gelegenheit aus, mich extra hart anzurempeln.
Ich schlug mir Knie und Ellbogen auf, Lund schien jedoch nichts davon zu bemerken. Jedenfalls pfiff er das Spiel nicht ab.
Am Ende des Trainings war ich grün und blau und fühlte mich wie gerädert. Während die anderen zu den Duschen trotteten, hinkte ich wutschäumend zu Bjarne Lund hinüber. Dies war mein letztes Training gewesen!
„Was sind Sie für ein Schiri!“, fuhr ich ihn an. „Sehen Sie denn gar nichts? Anita hätte nie zugelassen, dass jemand einen seiner eigenen Mitspieler fertigmacht!“
Lund sah mich nachdenklich an.
„Als ich sagte, ein Mädchen käme zu uns in die Mannschaft, haben ein paar der Jungs protestiert. Ehrlich gesagt hat Anita auch bezweifelt, dass die Sache ein Hit wird. Aber ich hab darauf bestanden und behauptet, du würdest unser neuer Star werden. Du bist die Beste der Achtklässler. Besser als Alexander.“
„Nicht mehr lange, wenn Sie es zulassen, dass Axel mich so fies piesackt.“
Lund lächelte leicht bedauernd.
„Elias ist sein Kumpel. Axel testet, wie viel du verträgst.“
„Nicht mehr viel.“
„Nach diesem Test lässt er dich bestimmt in Ruhe“, meinte Lund.
„Es bleibt ihm nichts anderes übrig. Mit Krücken zu spielen, wird ein bisschen schwierig.“
„Ich rede mit ihm.“
Ich nickte, bereute es aber sofort.
„Übrigens, tun Sie das lieber nicht. Aber es wäre nett von Ihnen, das Spiel abzupfeifen, wenn Axel mich wieder mit dem Ball verwechselt.“
Lund lachte kurz und nickte.
Ich hinkte zum Umkleideraum und fragte mich, warum ich so hart getestet wurde, während Alexander verschont blieb. Lag das nur daran, dass ich ein Mädchen war?
Nach dem Essen verschwand Jo, um etwas mit Lundström zu besprechen.
Linus ging ein paar Meter vor mir her. Ich musste an seine Hände denken, wie sie mich berührt hatten, und mein Herz schlug einen Extraschlag. Ich holte ihn hinkend ein, tat aber so, als wäre ich rein zufällig auf ihn gestoßen.
Er sah mich zerstreut an.
„Was hast du gemacht?“
„War im Training.“
„Aha. Hast du gesehen, wo Marko hin ist?“
Ich schüttelte den Kopf, blieb aber hartnäckig an seiner Seite. Wir holten unsere Jacken von der silberfarbenen Hakenreihe und gingen ins Freie.
„Was ist mit seiner Schwester?“, fragte ich.
„Weiß nicht. Er will immer noch nicht mit mir reden.“
Bald hatten wir Marko entdeckt. Er steuerte mit vier jüngeren Schülern auf einen Jungen aus der Siebten zu, der total verängstigt wirkte und vor ihnen zurückwich, doch sie folgten hartnäckig hinterher.
Linus schüttelte den Kopf.
Die Gruppe schubste und knuffte den Jungen vor sich her.
„Neeein! Das geht zu weit! Hey!“
Ich hinkte auf sie zu.
Kaum hatte mich die Horde erblickt, als sie schon schlagartig auseinanderstob, alle in verschiedene Richtungen. Sogar der Junge aus der Siebten flitzte davon. Ich war nicht fit genug, um hinter ihm herzurennen, und konnte seine Flucht nur mit dem Blick verfolgen.
„Warum ist der denn auch abgehauen?“, fragte Linus verwundert. „Hat er etwa vor … dir Angst gehabt?“
Das wusste ich nicht. Im Lauf des Tages suchte ich nach dem Jungen, aber es war, als hätte die Schule ihn verschluckt.
„Was ist denn mit dir passiert?“, wollte Papa wissen, als ich am Abend durch die Küche humpelte.
„Wir haben heute Morgen ein Trainingsspiel gehabt.“
„Im Kickboxen?“
„Hallenhockey. Da geht’s hoch her, wenn die besten Spieler aufeinanderprallen.“
„Und ich hatte vorgehabt, mit dir ins Hallenbad zu fahren, aber das lassen wir wohl lieber bleiben?“
Ich nickte. Meine aufgeschürften Knie und Ellbogen wollte ich nicht unbedingt in Chlorwasser tauchen.
„Sollen wir uns einen Film ausleihen?“, schlug er vor. „Mama ist bei Elin.“
„Ja …“
Dann fiel mir etwas ein. Ich hatte Hannamaria ja versprochen, sie zu Elias zu begleiten.
„Nach dem Abendessen muss ich noch mal fort.“
„Mit Jo?“
„Hannamaria.“
Papa musste kurz überlegen.
„Seit wann bist du denn mit … der befreundet?“
„Ich muss ihr bei einer Sache helfen.“
„Na gut, dann leihen wir uns eben morgen einen Film. Am Freitagabend bist du doch hoffentlich zu Hause?“
„Ja klar.“
„Soll ich dich fahren?“
„Ja danke.“
Papa ließ mich vor Hannamarias Haus aussteigen. Als ich vom Auto weghinkte, brannten und ziepten meine Wunden und meine Knie waren steif.
Hannamaria wohnt in der Nähe der Schule in einem Haus aus dunkelbraunem Backstein. Ich drückte die Türklingel. Sie machte selbst auf.
Sie trug eng anliegende Jeans, ein genauso eng anliegendes hellblaues Top und hatte sich so zurechtgemacht, als ginge sie auf eine Megaparty.
Wie immer begrüßte sie mich mit Küsschen. Inzwischen war ich darauf vorbereitet, sodass es mir gelang, meine drei Küsschen in die Luft zu schmatzen, ohne an ihre Nase zu stoßen.
Sie zog mich in die dunkelgrau geflieste Diele hinein und zupfte ihre frisch geföhnten, parfümduftenden hellen Strähnchen zurecht.
„Wir müssen um halb acht dort sein.“
„Hast du ihm etwa gesagt, dass du kommst?“
„Na und?“
„Kannst du das Armband nicht einfach mit einem Zettel in seinen Briefkasten stecken? So was wie ‚Jetzt ist Schluss‘?“
Ihr Blick flackerte. Aha!
„Du hast ihm wohl gar nicht gesagt, dass du Schluss machen willst?“
„Njaa …“
Ich stöhnte.
„Da wird er ja krass enttäuscht.“
„Was glaubst du wohl, warum ich dich gebeten hab, mitzukommen?“, fuhr sie mich an.
Ja, warum sollte man seine besten Freundinnen opfern, solange es so vernagelte Idioten gab wie mich?
Sie deutete mit dem Kopf auf eine Apothekentüte, die auf dem Dielentisch lag.
Ich ging hin und öffnete sie. Unten in der Tüte funkelte etwas.
„Was machst du da?“
„Wollte bloß nachschauen.“
„Hör auf, bei mir rumzuschnüffeln!“
Das hatte ich überhaupt nicht vor. Ich wollte nur diesen bescheuerten Schmuck sehen und kapierte nicht, warum sie das zu verhindern versuchte. Das kam mir irgendwie verdächtig vor. Fast so, als ahnte sie dasselbe wie ich.
Dass der Schmuck gestohlen war!
Mein Hirn lief auf Hochtouren, als ich nach einer Möglichkeit suchte, mir das Armband ungestört anschauen zu können.
Plötzlich fiel mir ein Trick ein.
Ich sah Hannamaria direkt ins Gesicht, starrte sie einfach an. Sie begann sich ängstlich zu winden.
„Was ist?“
„Äh … dein Auge.“
„Was ist damit?“
Sie blinzelte in den Dielenspiegel.
„Was denn? Ich seh nichts.“
„Ich glaube fast, du hast bloß auf der einen Seite Mascara aufgetragen. Aber das liegt bestimmt nur an dem Licht hier im Flur.“
„Welches Auge?“
„Das linke.
„Ich muss nur …“
Sie verschwand ins Innere des Hauses.
Ich stürzte mich schnell auf die Tüte und zog den Schmuck heraus. Er sah auf altertümliche Weise elegant aus, mit Gold und Perlen, war aber für ein junges Mädchen viel zu schwer und protzig. Ich hätte schwören können, dass das Armband zu den Ohrringen in meiner Schublade gehörte.
Blitzschnell holte ich mein Handy heraus und fotografierte es.
Hannamarias Schritte näherten sich. Bevor ich den Schmuck rasch wieder in die Tüte steckte, fotografierte ich ihn noch einmal. Dann stellte ich mich vor den Spiegel und zwinkerte angestrengt mein Spiegelbild an.
„Das muss an der Beleuchtung hier im Flur liegen“, sagte ich.
Sie stellte sich neben mich und musterte sich selbst im Spiegel.
„Mhm“, sagte sie bekümmert.
Die Wimpern ihres linken Auges waren so zugekleistert, dass sie echt komisch aussah, es gelang mir aber gerade noch, nicht loszukichern.
„Wie seh ich aus?“, fragte sie ängstlich.
„Schön wie der junge Frühling“, flunkerte ich.
Elias wohnte nur ein paar Straßen entfernt in einer schicken Villa mit Swimmingpool im Garten. Der war jetzt allerdings von einer Plane bedeckt.
Hannamaria warf auch einen Blick auf den Pool.
„Hab gehört, du gehst mit deinem Vater schwimmen.“
Ich warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Fand sie das womöglich uncool?
„Ja“, sagte ich trotzig. „Und?“
„Das würde mein Vater nie tun“, sagte sie betrübt. „Ebbas und Fadumas Väter auch nicht.“
Ich fragte nicht, warum. So war es eben mit gewissen Vätern.
Wir traten an die weiß gestrichene Haustür.
„Drück auf die Klingel!“, befahl Hannamaria.
„Ich?“
„Mach schon!“
Ich drückte auf den leuchtenden Knopf und stellte mich hinter Hannamaria.
Es war Elias selbst, der uns aufmachte. Er lächelte Hannamaria breit an mit seinen weißen, ebenmäßigen Zähnen. Dann entdeckte er mich. Sein Lächeln verwandelte sich in eine angewiderte Grimasse.
„Hast du heute noch nicht genug bekommen?“
Axel hatte offenbar geplaudert.
„Sie hat mich begleitet“, sagte Hannamaria schnell.
Wir traten ein, auf den klinkergemusterten Dielenboden. Im Hintergrund lief Schlagermusik. Passte schlecht zu Elias. Oder vielleicht doch? Jeder von uns hat so seine Geheimnisse.
Ich warf einen kurzen Blick in eine supermoderne Küche. Kühlschrank, Kühltruhe, Dunstabzugshaube, alles aus rostfreiem Stahl. Über Elias’ Schulter konnte ich ins Wohnzimmer sehen. Die eine Schmalseite war von einem Flachbildschirm bedeckt. Elias’ Familie schien wirklich mit der neuesten Technik Schritt zu halten, was mich im Hinblick auf seine angesagten Sachen und Klamotten nicht allzu sehr überraschte.
„Hallo, Hannamaria!“
Ein hübsches junges Mädchen schaute von dem weißen Ledersofa im Wohnzimmer hoch.
„Willst du nicht reinkommen?“
„Nein.“
Das Mädchen wandte sich wieder dem Fernseher zu und Hannamaria hielt Elias die Tüte mit dem Schmuck hin.
„Es ist aus“, sagte sie.
Elias starrte die Apothekentüte an.
„Was denn?“
„Oooh Mann!“, stöhnte sie, drehte sich um und trippelte auf den hohen Absätzen ihrer Stiefeletten hinaus.
„Hannamaria! Hey!“
Elias rannte ohne Schuhe hinter ihr her, holte sie ein, packte sie am Arm und versuchte sie aufzuhalten.
„Lass das!“, fuhr sie ihn mit schriller Stimme an. „Svea! Sag’s ihm!“
Ich ächzte. Das war echt zu viel.
Hannamaria starrte mich auffordernd an.
„Lass sie gehen!“, sagte ich gehorsam. „Sie will nicht mehr mit dir zusammen sein.“
„Klappe!“, brüllte Elias.
„Hannamaria“, bat er dann sanfter. „Ich hab geglaubt, dass …“
„Da hast du was Falsches geglaubt. Komm!“
Ich grinste ihn leicht entschuldigend an.
Elias deutete mit einem zitternden Finger auf mich.
Mehr brauchte er nicht zu sagen.
Ich begriff, dass ich sehr schlechte Karten hatte.
„Warum hast du das gesagt?“, fauchte ich, als wir zu Hannamarias Haus zurücktrabten.
„Was denn?“
„Dass ich ihm sagen soll, dass du nichts mehr von ihm wissen willst.“
„Reg dich ab! Nur darum hab ich dich doch mitgenommen.“
„Aber jetzt glaubt er vielleicht, ich wär daran schuld.“
„Na und? Mach nicht so ein Gesicht. Pass auf, ich verrat dir was.“
Sie beugte sich geheimnisvoll zu mir rüber.
„Ich bin so was von verliebt.“
„Warum überrascht mich das nicht“, brummte ich sauer.
„In wen, sollst du fragen“, kicherte sie.
Ohne abzuwarten, beantwortete sie die Frage selbst.
„In Sebastian aus der 9 C! Der ist einfach süß!“
„Und wenn der dir nicht mehr gefällt, soll ich dich dann wieder begleiten und mit ihm Schluss machen?“
„Ja bitte!“, sagte sie mit einem zufriedenen Seufzer. „Ist sie nicht hübsch?“, fragte sie dann plötzlich.
„Wer?“
„Elias’ Stiefmutter.“
„Was? Ich hab geglaubt, sie ist seine ältere Schwester.“
„Nein, nein. Sein Vater hat sich vor einem Jahr scheiden lassen. Sie ist Stewardess. Du solltest mal ihre Kleider sehen. Sie kauft bloß bei Armani ein und bei Gucci …“
„Und wie findet Elias das?“, unterbrach ich sie.
Sie zuckte die Schultern.
„Der steht auch auf Markenklamotten.“
„Wie findet er sie, meine ich.“
„Weiß nicht. Würde es dir gefallen, wenn dein Vater eine Freundin hätte, die nur ein paar Jahre älter ist als du?“
„Kaum. Und warum wohnt er dann nicht bei seiner Mutter?“
„Zuerst hat er das getan, aber die Mutter lebt mit den jüngeren Geschwistern in einer kleinen Wohnung in einem dieser Wohnblocks im Zentrum, du weißt schon, da, wo Stoffe wohnt. Und bei seinem Vater hat er ein eigenes Zimmer, Pool, einen tollen Fernseher und so.“
„Geld ist nicht alles.“
„Aber in einem Jaguar weint sich’s leichter als in einem VW.“
„Kluge Bemerkung. Stammt die nicht von irgendeinem Schauspieler?“
Sie starrte mich ehrlich verblüfft an.
„Das hab ich doch gesagt. Jetzt gerade.“
Noch einmal sah ich mich veranlasst zu fragen, ob Hannamaria tatsächlich nur wabbliges Gelee unter ihren blondierten Strähnchen hatte.
Ich war gerade nach Hause gekommen, als mein Handy einen wütenden Piepston von sich gab. Ich tippte die Nachricht an und las den Text.
„Denk an Natalies Katze.“
Zuerst begriff ich überhaupt nichts.
Ich las es noch einmal und hielt das Handy mit zitternden Fingern umfasst. Plötzlich durchfuhr es mich wie ein Stich.
Natalies Katze war doch tot!
Wuff schwänzelte wie immer um mich herum.
Anstatt an Natalies Katze zu denken, dachte ich an Wuff und daran, dass ich durchdrehen würde, wenn ihr etwas zustieße.
Ich versuchte mich zu beruhigen.
Das war bestimmt Elias, dachte ich. Um sich zu rächen, versucht er mir Angst einzujagen.
Ich lief rasch zum Computer und schlug im Internet die Telefonnummer des Absenders auf. Sie gehörte einer gewissen Anna Karlsson.
Eine müde Stimme meldete sich, als ich anrief.
„Anna Karlsson.“
Die Stimme klang nach einer erwachsenen Frau. Warum hatte die mir eine SMS geschickt?
„Warum haben Sie mich angesimst?“, fragte ich.
„Bitte?“
„Hier ist Svea. Ich hab eine SMS von Ihnen bekommen.“
„Eine was?“
„Eine SMS, dass ich an Natalies Katze denken soll.“
„Ich versteh gar nichts. Wer ist Natalie?“
„Die geht in meine Klasse.“
„Und was ist mit ihrer Katze?“
„Die ist tot.“
Die Frau schwieg eine Weile.
„Was fällt dir eigentlich ein!“, fuhr sie mich mit eisiger Stimme an. „Wenn das hier ein Scherz sein soll, ist er kein bisschen komisch!“
Sie legte auf.
Ich sah ihre Adresse an. Mossvägen. Sie wohnte in der Nähe der Schule.
Karlsson.
Wie viele gibt es wohl in meiner Schule, die Karlsson heißen? Wahrscheinlich ziemlich viele, aber ich hatte ja die Adresse. Ich brauchte mich bloß im Sekretariat zu erkundigen.
Das würde ich morgen tun.
Ich warf mich auf Wuff und drückte sie fest an mich. Sie leckte mir liebevoll das Gesicht, riss sich dann aber los, um ihren Teddy zu holen. Während wir in entgegengesetzte Richtungen daran zerrten, dachte ich an Natalies Katze. Irgendetwas am Tod der Katze war mysteriös.
Ich versuchte Natalie anzurufen, aber bei ihr meldete sich niemand. Auch auf ihrem Handy nicht. Und eine Mailadresse hatte ich nicht.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich bis morgen zu gedulden.
Keine Ahnung, wie ich das schaffen sollte!