SAMSTAG

Ich hatte mit Elin ausgemacht, am Samstag zur Arbeit zu kommen, weil da am meisten los war. Dafür würde ich Sonntag und Montag freibekommen.

Als der schlimmste Andrang nachgelassen hatte, durfte ich Schluss machen. Auf dem Weg zum Hauptbahnhof taten mir die Beine von dem langen Stehen ganz schön weh. Ich hatte meine Bahn gerade verpasst und daher reichlich Zeit für einen Schaufensterbummel.

Plötzlich entdeckte ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine erstaunliche Gesellschaft. Ich traute meinen Augen nicht!

Jimmy und Stoffe kamen vom Bahnhof her die Klarabergsgatan entlang, zusammen mit Elias, Marko, Filippa und Paulina. Marko trug eine große Tasche.

Filippa ist kurz vor Weihnachten neu in unsere Schule gekommen, in die 8 C. Mit schwarz umrahmten Augen und rasiertem Schädel, Ohren und Nase gepierct, wirkt sie mindestens so furchteinflößend wie Jimmy und Stoffe, aber ich hab noch nie gesehen, dass sie auch nur ein Wort miteinander gewechselt hätten. Und dazu Paulina. Und der brave Marko. Und Elias, der immer auf Jimmy und Stoffe herabschaut.

Brennend vor Neugier überquerte ich schnell die Straße. Was mochten die sechs zusammen in der Stadt vorhaben?

Ich folgte ihnen im Abstand von fünfzig Metern. Die Straßen wimmelten von Menschen. Selbst wenn einer aus der Gruppe zufällig einen Blick nach hinten werfen sollte, würde ich in der Menge verschwinden.

Sie bogen in die Fußgängerzone der Drottninggatan ab, gingen nebeneinanderher und nahmen die ganze Straßenbreite ein. Die Leute wichen ihnen aus, und wer nicht rechtzeitig beiseiteging, bekam einen Ellbogen in die Seite oder wurde angerempelt.

Elias legte den Arm um Paulina, so wie er es auch mit Jo getan hatte, aber sie schubste ihn weg, genau wie Jo. Dann bogen sie und Filippa nach links in eine Nebenstraße ab.

Elias und Marko gingen mit Jimmy und Stoffe weiter. Die vier verschwanden in einem Plattenladen. Ich ging vorbei und vertiefte mich vor dem nächsten Schaufenster in den Anblick von T-Shirts und Bechern, die mit dem Stockholmer Stadthaus dekoriert waren, und ähnlichem Touristenkitsch.

Bereits nach einer knappen Minute kamen Elias und Stoffe mit Jimmy wieder heraus und entfernten sich schnell in Richtung Kaufhaus Åhléns.

Marko war im Laden zurückgeblieben. Ich war mir unschlüssig, ob ich die drei verfolgen oder lieber in den Laden gehen sollte, um mich mit Marko zu unterhalten.

Bevor ich mich entschieden hatte, kam er herausgestürzt, von einem Verkäufer verfolgt.

„Gib die CD zurück!“, rief der Verkäufer hinter Marko her.

Doch der war schon über alle Berge.

Laut vor sich hin fluchend trottete der Verkäufer in den Laden zurück.

Ich stand mit aufgerissenen Augen da und konnte es nicht fassen. Marko hatte eine CD gestohlen! Jetzt gab es zwei Möglichkeiten. Entweder half ich dem Verkäufer und sagte ihm, wer der Dieb war. Oder ich lief hinter Marko her.

Weil ich Markos nächsten Schritte nicht verpassen wollte, wählte ich Letzteres.

Vor dem Eingang zur Galleria erblickte ich die ganze Bande wieder. Marko steckte Jimmy etwas zu. Etwas Flaches. Das konnte nur die gestohlene CD sein.

In gemächlicherem Tempo überquerten sie die Hamngatan und schubsten sich durch das Menschenmeer voran.

Plötzlich blieben sie vor einem Schaufenster stehen und begannen wild gestikulierend zu streiten. Marko sträubte sich offensichtlich, wurde aber schließlich von Stoffe in den Laden gezerrt.

Ich zögerte kurz, witschte dann aber hinter ihnen her. Neben dem Ladeneingang stand ein großes Regal mit Haarspangen und Halsbändern. Ich verbarg mich dahinter und linste vorsichtig hervor.

Die Jungs standen im Kreis um ein Drehgestell und suchten Hosen aus, die dort hingen. Danach waren Pullis an der Reihe. Jeder nahm sich ein paar Kleidungsstücke mit, dann schlenderten sie zu den Umkleidekabinen.

In vielen Läden muss man vorher zeigen, wie viele Kleidungsstücke man in die Kabine mitnimmt. Hier nicht. Die beiden Verkäuferinnen waren von der Schlange an der Kasse voll in Anspruch genommen.

Die Umkleideräume wurden von Schwingtüren abgeschirmt. Ich wartete. Irgendwas war im Gange. Stoffe hielt ab und zu Ausschau nach den Verkäuferinnen. Vielleicht steckten die Jungs in der Kabine gerade irgendwelche Kleidungsstücke unter ihre eigenen Klamotten.

Ganz schön riskant! Die Sicherheitsanlage am Ausgang würde ein fürchterliches Geheul von sich geben.

Plötzlich kam Marko heraus. Er sah blass und verbissen aus und brachte keines der Kleidungsstücke, die er in die Kabine mitgenommen hatte, wieder heraus. Nur die große Tasche, die dem Platzen nahe zu sein schien.

Aha, die Kleider liegen in der Tasche, dachte ich. Und Marko wird geschnappt, kaum dass er die Alarmanlage passiert.

Ich zog mich noch weiter hinter das Regal zurück, aber Marko hätte mich nicht einmal gesehen, wenn ich neben ihm gestanden hätte. Wie ein Schlafwandler bewegte er sich auf den Ausgang zu. Als er an den Alarmbögen vorbeiging, bereitete ich mich innerlich darauf vor, die Hände an die Ohren zu pressen.

Aber nichts geschah.

Ein Sensor registrierte, dass er sich den Glastüren näherte, die daraufhin unendlich langsam auseinanderglitten.

Die anderen Jungs waren noch im Umkleideraum, aber ich folgte Marko.

Draußen auf der Hamngatan strömte dichter Verkehr. Marko lief zielstrebig auf den Hauptbahnhof zu.

Wie hatte er es geschafft, an der Alarmanlage vorbeizukommen?

Mir fiel ein, was Papa gesagt hatte. Auch wenn man nicht eingreift, kann man ein Verbrechen wenigstens fotografieren. Ich zog mein Handy heraus und machte von hinten ein Foto von Marko, der die pralle Tasche davonschleppte.

Im selben Moment hörte ich hinter mir schnelle Schritte – Jimmy, Stoffe und Elias.

Mein Herz klopfte vor Angst, dass sie mich entdecken könnten. Aber sie waren voll auf Marko konzentriert.

Er sah nicht einmal zurück, lief bloß wie in Trance.

Sie holten ihn ein und setzten den Weg zusammen fort.

Ich machte noch eine Aufnahme und folgte ihnen verwirrt und verblüfft.

Zuerst vermutete ich, sie wollten wieder zurück zum Bahnhof, doch stattdessen nahmen sie die Treppe, die zur Vasagatan hinunterführte, und gingen zu McDonald’s.

Ich folgte ihnen und setzte mich an einen Tisch, wo jemand ein Tablett mit ein paar kalten Pommes stehen gelassen hatte. Ich hatte den Jungs den Rücken zugewandt, konnte sie aber im Spiegel an der Wand beobachten.

Sie standen vor der Kasse in der Schlange, und als sie an der Reihe waren, kramte ausgerechnet Marko seine Brieftasche hervor. Bald kamen sie mit ihren voll beladenen Tabletts und nahmen einige Tische von mir entfernt Platz.

Jimmy biss in seinen Hamburger, dass das Dressing nur so zwischen den Brotscheiben hervorquoll und schließlich über seine Finger troff. Er nahm noch einen Bissen und wischte sich dann die Finger an einer Serviette ab, bevor er sich über die Tasche beugte, die zwischen ihm und Marko stand.

Er zog den Reißverschluss auf. Zuoberst in der Tasche lag eine silberglitzernde Folie, fast so groß wie die Tasche selbst.

Die Tasche war präpariert! Das war der Grund, warum der Alarm nicht ausgelöst worden war!

Ich machte noch eine Aufnahme.

Stoffe murmelte eine Bemerkung, worauf Jimmy den Reißverschluss wieder zuzog. Vermutlich fand Stoffe den Ort nicht ideal, um Diebesgut auszubreiten.

Markos Blick flackerte ebenfalls unruhig durch das Lokal. Er hatte Angst, das war deutlich.

Jimmy streckte seine Hand zu ihm aus. Offensichtlich wollte er etwas von Marko haben.

Aber Marko reagierte nicht. Er starrte bloß auf das Tablett, das vor ihm stand.

Plötzlich erhielt er einen Schlag aufs Ohr. Er stieß einen grunzenden Laut aus und verzog schmerzlich das Gesicht.

Schnell grub er in seiner Tasche und reichte Jimmy irgendwas. Was war das? Sein Handy?

Ein Mädchen mit langen blonden Haaren, das am Nachbartisch saß, starrte die Bande befremdet an. Ihr Freund, ein Brillenträger mit handgestricktem Wollpulli, zog es vor, nur verstohlen rüberzuschielen, während er sich aus einer Tüte auf dem Tablett Pommes in den Mund stopfte.

„Hey, was gibt’s da zu glotzen?“

Jimmy hob leicht den Hintern an, als wollte er sich erheben. Das Mädchen senkte rasch die Augen.

Jimmy warf dem Mädchen einen höhnischen Blick zu, während er laut schlürfend den Bodensatz seines Milkshakes aufsaugte. Stoffe schob sich gelangweilt die letzten Krümel aus seiner Pommestüte in den Mund und Elias lutschte seine Fingerspitzen sauber.

In diesem Moment drehte sich Marko zum Spiegel um.

Unsere Blicke trafen sich. Ich sah, dass er mich wiedererkannte, obwohl ich die Mütze tief über die Ohren gezogen hatte. Eilig schüttelte ich den Kopf.

Bitte, halt den Mund!

Svea!

Marko geriet in Panik. Sein Puls begann zu rasen, vor Angst und weil er sich für seine eigene Feigheit schämte, für das, was er getan hatte.

Svea würde alles verraten. Jede Sekunde könnte die Polizei hier sein.

Hastig fuhr er hoch und floh hinaus, von Jimmys Rufen verfolgt. Atemlos stürzte er die Rolltreppe nach unten, raste den langen gekachelten Gang entlang, der zu den Sperren führte, und prallte dabei immer wieder gegen die anderen Fußgänger.

Eine S-Bahn stand abfahrbereit am Bahnsteig. Marko stürmte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal. Die Passagiere waren schon eingestiegen. Vor den offenen Türen war es leer.

„Bitte zurücktreten.“

Die Stimme des Fahrers hallte über den Bahnsteig.

Er warf sich nach vorn und schaffte es gerade noch zwischen den Türen hindurch, die sich schon mit einem zischenden Laut aufeinander zubewegten. Doch zu seinem Entsetzen öffneten sie sich automatisch noch einmal.

Ein paar lange, grauenhafte Sekunden verstrichen, während Marko mit geschlossenen Augen, auf zitternden Beinen, im Mittelgang stand, wartete und betete.

Erst als die Türen wieder zischend zuglitten, wagte er die Augen zu öffnen. Er war von gleichgültigen, unbekannten Gesichtern umgeben.

Im selben Moment, als er sich auf den Sitz sinken ließ, bereute er schon, dass er abgehauen war. Sie hatten vorgehabt, noch mehr Läden zu besuchen.

Er spürte einen harten Kloß im Magen.

Wie konnte ich bloß so idiotisch sein!

Verdammte Svea! Das war ihre Schuld!

Jetzt konnte er nicht mehr umkehren.

Er schloss die Augen. Hinter den Lidern brannten die Tränen.

Er musste anrufen und Anna warnen.

Dann fiel es ihm ein. Das ging ja nicht.

Jimmy hatte sein Handy an sich genommen!

Ich sah Marko davonflitzen und rannte gleich hinter ihm her, in Richtung Bahnhof. Aber als ich auf dem Bahnsteig ankam, war der Zug gerade abgefahren. Und Marko mit ihm. Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf den nächsten Zug zu warten.

Ich rief Linus vom Zug aus an und sagte, ich sei unterwegs und müsse mit ihm reden, erwähnte aber nicht, warum. Nicht in einem voll besetzten Vorortzug. Irgendwie ist es einigermaßen privat, wenn der Kumpel von jemand, den man gut kennt, sich plötzlich als Ladendieb entpuppt.

Ich begab mich schnurstracks zu Linus und läutete.

Linus öffnete die Tür. Glöckchen begrüßte mich mit einem wütend piepsenden Plastikfrosch im Maul.

„Darf ich reinkommen?“, fragte ich.

Linus trat widerstrebend ein paar Schritte zurück, forderte mich aber nicht auf, meine Jacke abzulegen. Seine Eltern waren nirgends zu sehen.

„Bist du allein?“, fragte ich.

Er brummte etwas, das ich als ein Ja deutete.

Aber trotzdem blockierte er mir hartnäckig den Weg.

„Und? Was ist denn so unheimlich wichtig?“, fragte er fast gereizt.

Ich holte mein Handy hervor und drückte auf die Tasten, bis ein Foto erschien.

„Schau dir das hier mal an!“

„Schön.“

„Hast du sonst nichts dazu zu sagen?“

Er zuckte stumm die Schultern.

„Ich dachte, das würde dich aufregen.“

„Das ist doch Wuff.“

Ich sah nach. Das falsche Bild.

Also suchte ich das Foto von Markus hervor, der mit der Tasche davonlief.

Linus wirkte immer verwirrter.

„Ein Typ mit einer Tasche.“

„Das ist Marko. Die Tasche ist vollgestopft mit geklauten Klamotten. Da, bitte!“

Ich zeigte ihm die Aufnahme aus dem McDonald’s.

Auf dem Bild wurde die silberfarbene Folie in der Tasche ganz und gar von Markos Beinen verdeckt. Und dabei war ich überzeugt gewesen, meine Fotos würden den sonnenklaren Beweis für die Diebstähle liefern!

„Ooh, Mann!“, stöhnte ich enttäuscht. „Aber er hatte eine präparierte Tasche voller Kleider dabei, ehrlich!“

„Und woher willst du wissen, dass er sie gestohlen hat?“

„Ich hab’s gesehen. Zuerst hat er eine CD geklaut, dann Kleider.“

„Haben Jimmy, Stoffe und Elias auch etwas gestohlen?“

„Nja … nicht soweit ich gesehen hab. Aber sie waren die ganze Zeit mit Marko zusammen. Und weißt du, wen ich noch mit ihnen gesehen hab? Paulina und Filippa!“

„Aber die haben doch nichts geklaut?“

„Nein, die sind schon abgehauen, bevor Marko in dem ersten Laden was gestohlen hat. Kannst du Marko nicht anrufen und rausfinden, was er eigentlich treibt?“

„Das geht im Moment nicht.“

„Ach so?“

Er schielte verlegen zur Seite, in Richtung Küche. Ich trat ein paar Schritte vor.

Am Küchentisch saß Paulina.

Sie winkte mir fröhlich zu.

„Hallo, Svea!“

Als ob sie sich darüber freute, mich zu sehen!

Die Freude war nicht gegenseitig.

Ich kapierte sofort, warum Linus mich nicht hatte hereinlassen wollen. Er wollte mit Paulina allein sein!

Mein Herz begann wild in der Brust zu hämmern.

Linus räusperte sich betreten.

„Wir … äh … sitzen gerade an einer Gruppenarbeit.“

Ich nickte kurz.

„Verstehe“, entgegnete ich kühl. „Echt die perfekte Unterhaltung an einem Samstagabend.“

„Ja, ich würde am liebsten den ganzen Abend weitermachen“, zwitscherte Paulina. „Aber … sag mal, ich hab gehört, dass du über mich und Filippa gesprochen hast.“

Du hast gelauscht!

„Ich hab euch in der Stadt gesehen“, sagte ich ausweichend. Hoffentlich hatte sie nicht alles gehört, was ich gesagt hatte.

„Ich hab Filippa geholfen, einen Pulli auszusuchen.“

„Ich wusste gar nicht, dass ihr euch kennt.“

„Wir kennen uns seit vielen Jahren. Früher haben wir in derselben Band gespielt, ich Gitarre und sie Schlagzeug, aber dann hab ich aufgehört. Pferde sind mir lieber. Kann man dir was anbieten?“

Sie erklärte nicht, warum sie mit den Jungs unterwegs gewesen war. Stattdessen schob sie einen Teller mit Kuchenstücken zu mir rüber.

„Bitte sehr!“

Als würde sie hier wohnen!

„Ich muss nach Hause.“

Linus fuhr sich verlegen durchs Haar.

„Wollen wir mit den Hunden …“, fing er leise an.

„Ruf Marko an“, unterbrach ich ihn. „Wenn du nicht mehr so beschäftigt bist.“

„Tschüs!“, rief Paulina fröhlich aus der Küche. „Schön, dass du da warst!“

Findest du vielleicht!

Ich sagte nichts, als ich ging, weil ich befürchtete, meine Stimme könnte versagen.

Eine Meute aus Jungs umringte Marko, als er den Bus verließ, und zwang ihn, mitzukommen.

Ihm war klar, warum. Er hatte gekniffen. Jetzt würde er seine Strafe erhalten.

Sie würden ihn schlagen, ihn mit Füßen treten, bis er starb.

Sie trieben ihn vor sich her bis zum Eingang der Kiesgrube.

Dort blieben sie stehen.

Und warteten.

Auf was?

Noch mehr kamen hinzu, auch die drei aus der Stadt waren inzwischen angelangt.

Aber nichts geschah.

Sie standen einfach dort, während die Dunkelheit sich herabsenkte. Eine Ewigkeit lang.

Marko weinte vor Entsetzen, stammelte schniefend Entschuldigungen hervor und gelobte Buße und Besserung.

Er unterbrach sich jäh, als eine Stimme seine von Selbstmitleid benebelten Sinne durchdrang. Jemand rief seinen Namen.

Anna!

Da erst begann das wirkliche Grauen.

Er sah sie kommen, konnte ihren Ruf jedoch nicht erwidern, um sie zu warnen. Eine harte Hand presste sich auf seinen Mund.

Sie bogen ihm die Arme hinter den Rücken hoch und hielten ihn mit eisernem Griff fest, zwangen ihn, zuzuschauen.

Seine Tränen ließen Annas dünne Gestalt verschwommen erscheinen. Sie rief immer noch seinen Namen. Aber es gab nichts, was er tun konnte.

Außer weinen.

Und hassen.

Und hoffen, dass sie Anna nicht zu sehr wehtun würden.

Anna schob die Hände tief in die Taschen und kämpfte sich gegen den heftigen Wind voran, während sie über ihren Bruder fluchte.

Mitten in ihrer Lieblingssendung im Fernsehen hatte sie eine SMS von Marko bekommen.

„Komm an den Eingang der Kiesgrube. Ich muss dir was zeigen.“

Sie hatte versucht, ihn anzurufen, wollte protestieren. Es war dunkel und kalt, sie hatte keine Lust. Aber er antwortete nicht, egal wie oft sie anrief. Als Einziges erhielt sie eine neue Nachricht.

„Komm!“

Obwohl sie verärgert war, war sie auch ein wenig neugierig. Marko war in letzter Zeit so seltsam gewesen, abwesend und müde. Vielleicht würde sein Verhalten jetzt eine Erklärung finden. Wenn ja, dann wäre sie stolz darauf, diejenige zu sein, der er sich anvertraute.

Sie vergötterte ihren großen Bruder. Er war nur ein Jahr älter als sie, und während ihre Freunde laufend Zoff mit ihren Geschwistern hatten, waren sie und Marko immer ein Herz und eine Seele. Und sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Bis jetzt.

Seit kurzer Zeit war Marko wie ausgewechselt. Er wollte nicht mehr so wie früher mit ihr reden und war sauer geworden, als sie ihn fragte, was denn eigentlich los sei. Er war ständig unterwegs und kam abends spät nach Hause, obwohl er bis dahin eigentlich immer nur vor seinem Computer gehockt hatte.

Ab und zu fuhren vereinzelte Autos an ihr vorbei, ansonsten war sie allein auf dem Fußweg, aber sie trabte zielstrebig weiter, ohne sich umzuschauen. Ihre Mutter hatte sie gewarnt. Nie mit Fremden reden. Nie zu einem Auto hingehen, das anhielt.

Zum Glück war es nicht weit. Innerhalb von zehn Minuten war sie am Ziel. Vielleicht würde sie es noch schaffen, das Ende der Sendung zu sehen, wenn das hier schnell erledigt wäre. Linker Hand konnte sie schon den Eingang zur Kiesgrube erkennen. Der Weg war mit einer Schranke versperrt. Neben dem Weg stand ein Wachhäuschen mit vollgesprayten Wänden.

Sie ging weiter, obwohl sie diesen Treffpunkt ziemlich eigenartig fand.

„Marko!“

Der Ruf wurde von dem starken Wind verschluckt.

Sie umrundete das Häuschen. Vor ihr öffnete sich eine dunkle Sandlandschaft, bedeckt von Schnee. Eine Zeit lang war es beliebt gewesen, an den steilen Hängen Schlitten zu fahren, bis das ein brutales Ende genommen hatte. Ein Junge war direkt auf einen großen Steinbrocken gefahren, der unterm Schnee verborgen lag. Er hatte sich den Kopf aufgeschlagen und hatte mehrere Monate im Krankenhaus verbringen müssen.

Plötzlich hörte sie knarrende Schritte. Jemand war hinter dem Häuschen.

„Marko?“

Sie drehte sich um und spähte umher. Es war wirklich sehr dunkel. Sie sah überhaupt nichts.

„Marko!“, rief sie noch einmal.

Diesmal mit einem leichten Zittern in der Stimme.

„Hör mit dem Quatsch auf. Ich krieg Angst.“

Sie näherte sich dem Häuschen und hörte wieder Schritte. Bestimmt würde Marko jeden Moment hervorhüpfen und sie erschrecken. Sie wappnete sich. Ich werde nicht schreien.

Plötzlich kamen die Schritte aus allen Richtungen. Im Nu war sie umringt. Harte Hände griffen nach ihr und hielten sie fest.

Sie schrie auf, doch da presste sich eine lederbehandschuhte Hand auf ihren Mund und Anna spürte, wie sie auf die steile Kante zugeschleppt wurde.