Der Heimaufenthalt
Von 1952-1954 im Kinderheim Biesenthal
Meine Schwester Elke und ich wurden von der Caritas in ein katholisches Kinderheim nach Biesenthal gebracht. Vorbei die einzige Zeit unserer unbekümmerten Kinderzeit.
In diesem Kinderheim ging es uns nicht gut. Wir mussten sehr viel arbeiten und waren immer in Sorge um unsere Mutter. Wir wussten nicht, wo sie war, vielleicht war sie schon tot, so dachten wir damals in unserer Not. Wir hatten so etwas aus der Nachbarschaft gehört, dass Personen einfach abgeholt wurden und nie mehr wiederkamen. Sie blieben dann einfach für immer verschwunden.
Meine Schwester Elke und ich, wir verstanden die Welt nicht mehr. Unsere Kinderjahre waren vorbei, vorbei die Zeit in unserer Spielstrasse. Keine Murmel-Spiele mit bunten Kugeln, vorbei das Spielen mit dem Kreisel, jetzt waren wir im Waisenhaus, dunkle Zeiten begannen für uns. Bei Nonnen untergebracht. Gewaltsam wurde in unser bescheidenes Leben eingegriffen. Es waren die Hedwig-Schwester von Gottes Gnaden, die mit Jesus Christus verheiratet sind, so wurde es uns von den Nonnen erklärt. Wir waren sieben und acht Jahre alt und sofort mussten wir arbeiten und immer wieder beten, beten und noch mal beten.
Bevor wir frühstücken durften, ging es zuerst mal in die Hauskapelle. Beten war wichtiger, es gab dort eine strenge Hausordnung. Jeden Morgen war uns schlecht bis zum Umfallen. Die Morgenandacht war vorbei.
Erst dann bekamen wir unser Frühstück, es bestand aus gekochten Haferflocken, eine Suppe aus Wasser und Salz, dazu gab es ganz hartes Brot keines der Kinder konnte sich daran gewöhnen, doch der Hunger siegte ...
Dann ging es zur Schule, es war ein weiter Weg. Mit unseren kleinen Leibchen, das sind Unterhemden mit langen Gummibändern, die auch gleichzeitig unsere viel zu kurzen Strümpfe halten sollten, alte Schuhe, die entweder zu klein oder zu groß waren und keinen warmen Mantel. Es war einfach immer nur kalt und wir schnatterten auf dem Weg zur Schule nur so um die Wette, wir waren im Winter zu leicht bekleidet. Viele Kinder wurden krank und wir lagen dann zu zweit in den kleinen schmalen Betten.
Die Matratzen waren aus altem und stinkenden Stroh, diese Matratze lag auf schmalen Brettern, so das die Bretter mehrmals in der Nacht mit lautem Getöse runter knallten.
Dann bauten wir, in der dunklen Nacht, das Bett wieder auf, mit der schon feuchten Matratze, es war einfach eklig, wenn wir das nicht ganz leise schafften, wurde auf dem Fußboden weiter geschlafen.
Unter meinem Bett stand eine emaillierte Schüssel mit Silberpapier das gesammelt wurde, oft habe ich die Schüssel benutzt und habe aus Verzweiflung in der Nacht hinein gepieselt, damit ich nicht ins Bett machte, es blieb mir in meiner Not nichts anderes übrig. Wir durften nach dem Nachtgebet die Toiletten nicht mehr benutzen. Die Nonne hatte neben der Toilette ihre Kemenate, abgeteilt durch einen weisen Vorhang. Sie hörte alles. Auch nachts haben sie ihre Zöglinge überwacht. Meine Mitbewohnerinnen, wir waren alle so in meinen Alter, die haben dann einfach ins Bett gemacht.
Wenn es dann nachts passierte ..., mussten wir am nächsten Morgen, mit dem nassen Bettlaken über dem Kopf durch den Schlafraum laufen, bis das Laken trocken war. So wurde man „erzogen“.
Wenn meine Schwester Elke und ich zusammen krank waren, mussten wir in einem Bett eng zusammen liegen. Einer von uns beiden hatte große Eitergeschwüre an den Beinen oder am Körper, wir haben uns immer wieder gegenseitig angesteckt. Das wurde dann von einer Nonne mit einer stinkenden Salbe beschmiert und fertig war Žs ... Die Narben sind bis heute gut sichtbar.
Hier waren wir Selbst-Versorger, das Beten half uns nicht viel. Es gab für uns Kinder, nur Kirchgänge, Arbeit, und erst dann die Schule. In unseren Zeugnissen stand dann immer zum Schluss: „Es fehlt am häuslichen Fleiß“! Welche Infamie.
Ausbeutung und Kinderfeindlichkeit haben wir in diesem Kinderheim erlebt und mussten damit zurechtkommen. Ein Wiederwort wäre zwecklos gewesen. Weinen oder aufmucken, weil die Arbeit zu schwer war, das gab es nicht.
In dieser Zeit passierte es, dass in einer Nacht ein Donnern und lautes Getöse durch die Straßen schallte. Alle Heimkinder wurden aus dem Schlaf gerissen und wir hatten furchtbare Angst, und konnten nicht einordnen, was da auf den Straßen passierte. Russische Soldaten wurden gesucht, die Nachts nicht in ihre Lager zurück kamen. Als sie gefunden wurden, hat man sie auf der Stelle schwer verprügelt, sie schrieen vor Schmerzen laut durch die Nacht. Wir bekamen keinen Schlaf und hatten wie immer, große Angst. Wir blieben ängstlich in unseren Betten, durften uns nicht bewegen. Die russischen Soldaten erschreckten uns schon oft genug im Wald, wenn sie Ihre Manöver hatten, plötzlich standen sie mit ihren Gewehren vor uns. Wir liefen weg, ließen alles stehen und liegen, unsere Pilze die wir stundenlang gesucht hatten für unser Abendessen, haben wir bei der Flucht verloren. Von diesen Soldaten ging für uns etwas Geheimnisvolles aus. Auf dem Weg zur Schule, riefen sie uns zu: „Hallo Mädchen komm!“ Und schon waren wir auf der anderen Straßenseite. Hinter dem Zaun einer schönen alten Villa, konnten sie uns nichts tun.
Nach Monaten kannten wir diese Gesichter schon und immer wieder riefen sie uns zu: „Komm, Mädchen komm!“
Sie hielten etwas in ihrer Hand, was in Zeitungspapier eingepackt war. Neugierig waren wir Kinder aus dem Kinderheim schon. Wer den Anfang machte, war nicht zu ergründen, wir gingen ängstlich über die Strasse und zum Zaun.
Was machten die denn jetzt? Sie holten ihr Taschenmesser aus der Hosentasche, nahmen das Zeitungspapier von dem Eingewickelten. Wir staunten, denn heraus kam eine dicke Salami. Jede von uns bekam ein schönes Stück und sie lächelten uns an. „Gute Wurst, schön essen.“ Es klang wie eine schöne Melodie in ihrem russischen Akzent.
Jetzt sahen wir sie als unsere Freunde an, mit ihren schrägen Käppi, vorn drauf einen roten Stern. Sobald wir sie draußen hinter dem Zaun sahen, liefen wir eilig, ohne Furcht auf sie zu. Es stank nach ihren selbstgedrehten Zigaretten, die auch, wie die dicke Wurst, in Zeitungspapier eingedreht war, Papierossi nannten sie diese „Stinker“.
Am nächsten Morgen sahen wir die russischen Panzer und Panzerspähwagen. Auch russische Soldaten marschierten hinter diesen Ungetümen. Es gibt wieder Krieg! Meine Schwester Elke und ich und auch die anderen Kinder waren davon fest überzeugt. Und alle standen morgens an der Straße und sahen diesem Geschehnis zu. Es geht Richtung Berlin, sagten die Erwachsenen. Wir hörten das voller Entsetzen. Es war der 17. Juni 1953, ein Aufstand der Arbeiter in Ost-Berlin.
Ich war jetzt zehn Jahre alt. Wir Kinder haben davon nichts weiter mitbekommen. Nach ein paar Tagen war der Spuk vorbei, und wir waren froh, dass es keinen Krieg gab. Die Straßen waren von den Panzern aufgerissen. Die ganze Bahnhofstraße bis zu unserer Schule war nicht mehr befahrbar. Die wenigen Autos, die es damals gab, mussten einen Umweg fahren. Wir liefen sowieso alle Wege zu Fuß.
Eines Tages durften wir unsere Mutter besuchen. Diese Mitteilung bekamen wir kurzfristig. Eine Begleitperson ging mit uns zum Bahnhof Biesenthal; wir fuhren nach Biesdorf östlich von Berlin. Es war für uns eine große Freude, schon über ein Jahr war vergangen und wir hörten nichts von unserer Mutter. Für uns glich es einer Ewigkeit. Nie hätten wir es gewagt, danach zu fragen. Jetzt durften wir sie endlich wiedersehen.
Als wir ankamen, brachte man uns in Muttis Zimmer, was für eine Freude, was für ein Wiedersehen! Mutti war gesund und sah aus wie immer, auch etwas erholt. Das haben wir gleich erkannt. Mutti war ganz normal, was sollte sie nur hinter diesen hohen Mauern? Und warum war sie hier nur eingesperrt?
Mutti teilte sich das Zimmer mit einer Frau, die rote Haare hatte, die Haare lang und in Locken gewellt, diese Frau sah sehr gut aus.
Mutti flüsterte uns zu: „Das ist eine Nichte von einem Berliner Komponisten, keiner weiß, warum sie hier ist.“
Fragen haben wir uns damals nur kurz gestellt, wieso und warum ...
Wir waren erst mal froh, unsere Mutter zu sehen, und deshalb fiel uns der Abschied auch nicht ganz so schwer. Jetzt wussten wir, Mutti lebt und es würde bestimmt ein Wiedersehen geben. Wir gingen von diesem schrecklichen Ort mit guten Hoffnungen wieder ins Waisenhaus zurück.
In diesem Kinderheim bekam ich bald Beicht- und Kommunions-Unterricht. Die Beichte musste ich beim Pfarrer ablegen, kniend hinter einem roten Vorhang. Im Beichtstuhl sagte ich den im Beichtunterricht gelernten Spruch auf, nur nicht falsch den Spruch aufsagen, dachte ich. Und wie in Traum faselte ich alles, was ich sagen musste. Dabei hatte ich mir ein paar Sünden ausgedacht, die ich dem Beichtstuhl vortragen konnte, denn sonst wusste ich nicht, was ich so Schlimmes getan haben sollte. Vielleicht habe ich mal die Gänse, die ich ab und zu hüten musste, etwas zu doll verhauen! Diese Biester wollten einfach nicht gehorchen. Oder ich habe mal innerlich geflucht, weil wir so lange im Keller sitzen mussten, um die Gänsefedern zu zupfen und dabei nicht niesen durften, obwohl wir immer etwas von den Federn in die Nase bekamen. Oder wenn wir eimerweise Kartoffeln schälten und unsere Händchen dabei fürchterlich froren. Oder ich habe geflucht weil wir Heimkinder im Wald, bei Wind und auch bei schlechtem Wetter Kienäpfel, säckeweise für den Winter sammeln mussten, bis uns der Rücken so wehtat, dass wir kaum noch gerade laufen konnten. Ja, wir haben oft geflucht, so am Schlachttag, als das geschlachtete Schwein am Haken hing und wir die Eimer unter die Schweinehälften stellten, damit das Blut gesammelt werden konnte. Wir kamen aus der Stadt und kannten das alles nicht. Wenn uns der Rücken wieder weh tat, wenn das Schweineblut im großen Waschkessel gerührt werden musste, dann haben wir geflucht und als wir dieses Gerührte mit dicken Graupen gekocht, am selben Abend auch noch zum Essen vorgesetzt bekamen, haben wir uns geekelt und die ganze Welt verflucht.
Auch wenn wir in diesem Waschkessel mit unseren kleinen Armen unsere große und kleine Wäsche erst im heißen Wasser, einen Tag später die bunte Wäsche im kalten Wasser stampfen und auf dem Waschbrett waschen mussten. War das eine Sünde zu fluchen, wenn uns die Kräfte am Waschbrett verließen und dabei meine Hände vom Schrubben sehr wehtaten.
Oder, wenn wir essen mussten, was wir eklig fanden und mit Würgen runterschlucken mussten. War das eine Sünde, wenn wir diese Nonnen – diese Ehefrauen Gottes – wie die Schwestern sich nannten, bald richtig hassten? Sollten wir das alles beichten? Nein, das haben wir damals gelernt, bei der Beichte bloß nicht die Wahrheit erzählen. So wurden wir zur Lüge erzogen.
Wie gern hätten wir manchmal aufgeschrieen oder geheult, nein das trauten wir uns nicht.
Nur gehorsam sein, dann passiert uns nichts. Wenn es einen lieben Gott gab, dann wird er mich wohl verstanden haben.
Beim Fest-Gottesdienst habe ich mit Freude mitgesungen, wenn das Lied „Großer Gott wir loben dich“ dran war. Mir wurde warm ums Herz, es war wie ein Aufschrei in meinem Herzen, „... hör doch lieber Gott, wie ich für dich singe, hör mir auch zu, wenn ich so traurig bin.“ So habe ich damals gefühlt und immer gehofft, der liebe Gott muss mich erhören. Er, der so mächtig ist, nur er konnte uns allen helfen.