Sexualtäter

In unserer unmittelbaren Nachbarschaft lebte ein junger Mann mit seiner Mutter. Der beobachtete die kleinen Mädchen und fing damit an, uns sexuell zu belästigen. Er stand oft entblößt im Treppenhaus. Wenn wir an ihm vorbeimussten liefen wir ganz schnell die Treppe hinauf, nichts wie weg von diesem Kerl. Eines Tages – es war schon dunkel – passte er mich auf dem Flur direkt an der Eingangstür ab. Er packte mich und setzte mich auf die ersten drei Stufen. Ich hatte große Angst, er wollte mich beruhigen und versprach mir, mir nichts zu tun. Dann fing er an mich zu befummeln und verletzte mich dabei. Es tat sehr weh, aber mit letzter Kraft konnte ich ihm entfliehen.

Ich erzählte es sofort unserer Mutter. Sie ging sofort mit mir zur Polizei. Anschließend waren wir bei einem Arzt der mich untersuchte. Ich lag auf einer großen Liege und habe als kleines Mädchen nicht gewusst, warum ich jetzt bei einem Doktor war.

Nach diesem schrecklichen Erlebnis ging unser Leben so weiter, ich kann mich nur ganz schwach daran erinnern, dass der Mann sein Vergehen geleugnet hatte. Zu jener Zeit verfolgte die Polizei den Tatvorgang nicht weiter. Vielleicht weil wir Flüchtlinge waren und die Verantwortlichen uns nicht ernstnahmen.

Es waren drei Jahre nach unserer Vertreibung aus Elbing vergangen. Die Kälte machte uns im Winter immer wieder zu schaffen, weil es keine Kohlen und kein Brennholz gab. Wir hatten auch selten warme Kleidung. Wenn wir Glück hatten, bekamen wir etwas auf dem Wühltisch der Caritas oder vom Roten Kreuz, alles andere gab es auf Zuteilungsmarken, die sehr schnell aufgebraucht waren. Lebensmittel waren sehr knapp und Geld für den Schwarzmarkt hatten wir selbstverständlich nicht.

Unsere Mutter brachte uns ab und zu in den Kindergarten zum Eierhäuschen in den Plänterwald. Da gab es etwas zu essen, der Weg dahin war aber weit und jeden Tag konnten wir diese Strapazen nicht mitmachen.

Wir bekamen endlich eine andere Wohnung – ein großes und ein kleines Zimmer – zugeteilt vom Magistrat von Berlin. Die Wohnung bewohnte ein Frl. Pick und für eine alleinstehende Frau, war sie für die damaligen Verhältnisse zu groß. Es war wieder nur mit Bad- und Küchenbenutzung. Als Flüchtlinge waren wir nirgendwo willkommen, auch bei Frl. Pick nicht. Und das hat sie uns täglich gezeigt. Unsere Mutter richtete die Räume gemütlich ein, so wie es mit unseren wenigen Habseligkeiten ging. An Sonntagen wurde im kleinen Zimmer der Tisch gedeckt, mit der einzigen weißen Tischdecke die wir noch besaßen. Dazu das Silberbesteck aus unserem Haushalt in Ostpreußen, ein paar Teile die wir damals bei der Flucht 1945 noch mitnehmen konnten. Unsere Mutter lebte dabei richtig auf. So war sie es von zu Hause gewöhnt und dabei haben wir auch die guten Tischsitten gelernt. Alles war sehr schön eingedeckt, doch es war sehr wenig, was wir auf unseren Tellern hatten!

Aus unserer Vermieterin Frl. Pick wurde nach kurzer Zeit Frau Werner, was die Folge hatte, dass wir das kleine Zimmer wieder abgeben mussten. Sie brauchte das Zimmer wieder, und ohne Rücksicht auf uns, stellte sie uns vor vollendete Tatsachen.

Nun waren wir drei wieder auf ein Zimmer angewiesen. Wie in jeder Wohnung, wurde auch von dieser Frau das Gas für den Kochherd nur zu ganz bestimmten Zeiten aufgedreht. Den Vierkantschlüssel für den Gasanschluss nahm sie mit. Keine Möglichkeit für warme Getränke oder Speisen außerhalb der von ihr „genehmigten Zeit“.

In den folgenden Jahren verbrachten wir trotzdem, eine schöne Zeit, wir wohnten jetzt an einer Straße, in der wir spielen konnten. Es gab keine Autos, die uns störten. Die ersten Rollschuhe – die wir mit einem dicken Gummiband an unseren Schuhen festmachten, waren unser ganzes Glück. Tante Lena schenkte uns die Rollschuhe die sie irgendwo ergattert hatte. Unsere Tante war bekannt dafür, dass sie überall „ihre Finger im Spiel“ hatte, und so besorgte sie uns immer mal etwas Außergewöhnliches zum Spielen.

Tante Lenas späterer Kiosk

Auch Spielsachen, an die zur damaligen Zeit kaum jemand herankommen konnte, unsere Tante schaffte es. Weil uns das Rollschuhfahren einen großen Spaß machte, sahen unsere Beine nach kurzer Zeit schlimm aus, wir hatten überall blaue Flecken und viele Schürfwunden. Doch die Verletzungen haben uns nichts ausgemacht. Wir lernten das Fahren mit den Rollschuhen schnell, schon flitzten wir fast perfekt in den Straßen umher. Wir waren ja in „unserer Straße“, der Gondeckerstraße, gut aufgehoben, und fühlten uns dort sehr wohl und sicher, es war eine echte Spielstraße für Kinder!

Hinterhof-Gärten

Es gab in dieser Zeit noch die Bierkutscher in Berlin. Beladen mit Bierfässern aus Holz und großen Eisstücken auf einem Pferdewagen. Sobald solch ein Wagen in unserer Straße vorbeifuhr, liefen alle Kinder hinterher, um bloß von diesem Wassereis etwas zu erwischen. Das war ein Riesenspektakel und meine Schwester Elke und ich waren immer dabei.

Die Pferdeäppel, die auf der Straße landeten, blieben nicht lange dort liegen. Mit einer Schubkarre, Eimern und Müllschippe kamen meistens die Männer aus den Häusern und sammelten alles sorgsam in ihre Eimer, soviel, wie sie nur ergattern konnten, denn das war guter Dünger für ihre Hinterhofgärten.

Es blühte und grünte, die Gemüsebeete wurden sorgsam gepflegt und behütet.

In den Geschäften gab es nur wenig Ware, es hatte sich in den Jahren nach dem Krieg nicht viel bei uns geändert

Die Menschen waren über diese kleinen Fleckchen Erde sehr froh. Ich wünschte mir sehr, auch einen Garten zu besitzen, denn gegenüber gab es eine große Laubenkolonie, die Lauben kannten wir und sämtliche Wege und Büsche, Richtung Sonnenallee. Dort waren wir im Frühjahr immer „auf Achse“, um nach den ersten Erdbeeren Ausschau zu halten, denn die Ersten haben wir uns immer stibitzt. Die blutigen Hände die wir dadurch bekamen, weil wir mit den Händen unter den Drahtzäunen hindurch mussten, machten uns nicht viel aus, wir wollten diese köstlichen Früchte. Im Sommer waren es dann die Kirschen die wir naschten. Nur nicht erwischen lassen! So konnten wir dann auch schnell flitzen, wenn uns jemand dabei erwischte. Elke saß, wir waren wieder mal unterwegs, eines Tages auf einem Kirschbaum und kam nicht mehr so schnell vom Baum und somit gab es mächtig Ärger, sie wurde erwischt, der Besitzer scheuchte uns durch die Anlage und wir rannten, die Angst im Nacken, schnell nach Hause. Beim jährlichen Laubenpieperfest war dann alles vergessen. Es war der Höhepunkt des Jahres, die Gärten waren wunderbar mit Lampions geschmückt und alle Bewohner aus der Gegend feierten mit, es gab am Abend Tanz für die Erwachsen und für die Kinder war Onkel Pelle da. Er lief vornweg mit Musike, und wir Kinder in einem Bonbonregen mit Getöse und singend alle hinterher. Ein tolles Fest.

Die Gedanken an einen eigenen Garten ließen mich nicht mehr los. Wie schön wäre es, meinen Garten mit Lampions geschmückt, die am Abend in bunter Pracht beim Laubenpieperfest leuchten würden. Vielleicht könnte ich auch mal so einen Garten haben, dachte ich mir, um auch Gemüse und Obst anpflanzen.

Mein Wunsch ging in Erfüllung. Denn eines Tages kam ein Nachbar zu mir und bot mir ein Stückchen Garten an. Mein Plaudern über einen eigenen schönen Garten hatte Erfolg. Ich hatte großes Glück. Nun war auch für mich, hinter unserem Wohnblock ein kleiner Garten frei. Ich habe es gleich für mich reserviert, keiner hatte etwas dagegen, ich durfte das Stück Garten für mich bearbeiten. Ich kaufte sofort von meinem wenigen Taschengeld etwas Samen und fing an, alles umzugraben, das Unkraut zu entfernen, die Büsche zu verdünnen. Dabei gab es so manche Blase an meinen Händen. Ich hatte nicht das richtige Werkzeug und keine Erfahrung bei der Gartenarbeit. Ich habe mir dann alles bei den anderen „Gärtnern“ abgeschaut, so ist es mir in meinem Alter trotzdem gelungen. Jeden Tag ging ich in meinen kleinen Garten und schaute nach meinen Pflänzchen. Jeden Tag habe ich schon darauf gewartet, nach der Schule meine Pflanzen zu gießen und das Unkraut zu entfernen. Stundenlang saß ich vor den Beeten und wartete auf das junge Grün. Dann die erste Ernte! Es war mein erster großer Erfolg. Ich erntete Buschbohnen, Tomaten auch etwas Kopfsalat. Leider war ein Teil von meinem kleinen Garten, auch bei Sonnenschein immer im Schatten des Hauses, daher konnte nicht alles gelingen. Doch es war eine Freude, als ich voller Stolz meiner Mutter die erste Ernte, eine Handvoll grüner Bohnen und einen Kopfsalat nach Hause brachte. Es war eine große Erfahrung und ein Gewinn für mich.

An manchen Tagen spielten wir am Teltow-Kanal, gingen dort schwimmen, was nicht ganz ungefährlich war. Das Wasser war gleich am Rand sehr tief, wir spielten trotzdem unbekümmert, oft bis in die Abendstunden. Unsere Mutter kam oft sehr spät und im Dunkeln nach Hause, das haben wir auch ausgenutzt. Wir waren schon als Kinder sehr selbstständig und wussten uns immer zu helfen.

Wir liefen Kilometer weit, um uns eine Bockwurst abzuholen. Im Wurststand arbeitete unsere Mutter. Wir gingen erst nach Johannisthal und wieder zurück zum Baumschulenweg, am Königsforst vorbei, dann am Friedhof, wo unser Vater im Papiersack begraben war. Uns fröstelte bei dem Gedanken unseres toten Vaters. Und ohne viel zu reden liefen wir etwas schneller an diesem Ort vorbei. Wir gingen schon mal zu seinem Grab, es kam aber nicht oft vor. Es fehlte die Bindung zu ihm.

Mädchenträume

Unterwegs fiel mir das große Plakat auf, das am Bahnhof Johannisthal stand. Ich dachte immer wieder daran und es ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Ein Aufruf an „junge Mädchen und Jungen die für Filmaufnahmen“ gesucht werden. Die Interessierten sollten sich in dem Filmstudio der DEFA in Johannisthal melden. Das ging mir damals nicht mehr aus dem Sinn und ich träumte und schwärmte davon, einmal im Leben auf der Leinwand zu sein und man könnte mich im Kino sehen! In dieser Zeit nahm ich jede Minute war und nutzte die Gelegenheit vor einem großen Spiegel Sprechübungen zu machen. Oder ich fing an zu singen, mit einer alten Gardine als Umhang, erprobte ich meine Stimme eine Opernsängerin wollte ich darstellen, das tat ich nur, wenn ich mal ganz alleine zu Hause war.

Keinem habe ich davon erzählt, oder zuschauen lassen bei meinen träumerischen Spielereien.

Ich hatte die Befürchtung, man könnte mich für diese naive Träumerei auslachen und ich hätte mich geschämt, wenn es jemand erfahren hätte, was ich da im Kopf hatte. Mädchenträume eben ...

„Schmugglerin“ Tante Lena

An vielen Sonntagen wurden wir auch zum Essen zu unserer Tante Lena und Onkel Bruno (Bild) eingeladen. Tante Lena war die Schwester unseres Vaters. Sie lebte schon seit ihrer Heirat mit Onkel Bruno in Berlin und hat die Strapazen einer Flucht aus Ostpreußen nicht mitmachen müssen. Sie war Geschäftsfrau mit einem Zeitungskiosk. Da sie zu dieser Zeit die einzige in der Gegend war, ging es ihr finanziell sehr gut.

Elke und ich gingen sonntags oft allein zu dieser Einladung. Wir machten uns „fein“ mit weißen Kniestrümpfen und wir zogen unsere Sonntagskleider an. Tante Lena schaute auf unsere Mutter etwas herab. Mutti blieb dann einfach zu Hause. Tante Lena fragte uns immer wieder, was unsere Mutter so machte und was sie uns zu Essen kochte. Da wir mit großem Appetit aßen, dachte sie wohl, wir bekommen zu wenig bei unserer Mutti. Diese Fragerei störte uns nicht, aber irgendwie hatte Tante Lena Recht mit ihrer Anmahne. Wir bekamen einen leckeren Sonntagsbraten und vielleicht noch etwas Schokolade aus dem Westen.

Tante Lena hatte immer etwas Geschmuggeltes. Das war auch ihr „Laster“. Sie schmuggelte alles Mögliche, sie schaffte es immer wieder, an Ware zu kommen, um damit das große Geld zu machen. In dieser Zeit versuchten viele das gleiche. Tante Lena schaffte es. Zigarettenschmuggel war ihre große Leidenschaft; davon konnte sie einfach nicht die Finger lassen! Im Baumschulenweg war sie bekannt dafür. Bis sie eines Tages erwischt wurde und beinahe ihren Zeitungsladen verloren hätte. In späteren Jahren hatte unsere Tante dann endlich ihr Zigarettengeschäft. Wie sie das nun wieder geschafft hatte, denn unsere Tante war ja kein unbeschriebenes Blatt, wusste keiner. Sie konnte eben kämpfen, was unserer Mutter nicht gegeben war.