Die Flucht

Der „Kuhgraben“ war eines Tages unsere Rettung; denn unsere Mutter schleppte mit unserer Hilfe, Stück für Stück, das bisschen Hab und Gut, was wir noch aus unserer Heimat Elbing in Ostpreußen hatten, über diese nicht einsehbare Grenze. Das machten wir bei einem Spaziergang am Sonntagnachmittag. Es war die Zeit, in der auch die anderen aus dem Ostsektor über die Grenze gingen, eine gute Tarnung.

In West-Berlin hatten wir einen Großonkel, mit einer Laube und einem wunderschönen Garten. Dieser Onkel stellte uns einen Raum für unsere Sachen zur Verfügung.

Für uns war das ein großes Glück; denn mit kleinem Gepäck fielen wir nicht auf. Es waren Wochen, die wir brauchten, um alles über die Grenze zu bringen.

Unsere Mutter wollte nicht mehr in diesem Staat bleiben, der ihr das Leben so schwer machte. Immer wieder hatte man es auf sie abgesehen, in der Schule, in der Firma, sie kam einfach nicht zur Ruhe. Wer einmal in dieser Mühle steckte, kam da nicht mehr heraus. Es durfte kein Mensch aus unserer Umgebung, von unseren Vorbereitungen zur Flucht in den Westen wissen. Nicht einmal unsere Verwandtschaft.

Es war irgendwie ein gespanntes Verhältnis zwischen Mutter und unserer Verwandtschaft. Jetzt traute sie keinem mehr. Wir hielten dicht und sprachen mit keinem von unseren Spielkameraden darüber, wir hatten aus unserem Schaden gelernt.

Nachdem wir alles aus unserem Wohnraum geräumt und bei unserem Großonkel eingelagert hatten, dauerte es nur noch ein paar Tage, dann „hauten wir ab“!

Mit der S-Bahn ging es vom Bahnhof, Berlin- Baumschulenweg Richtung West-Berlin. Wir trugen dreifache Bekleidung. Es war nicht nur die Angst, die wir dabei hatten, auch die Kleidung und die schweren Taschen machten uns sehr zu schaffen. Als wir endlich in der S-Bahn saßen sprachen wir kein Wort mehr miteinander, die laufenden Zug-Kontrollen machten uns Angst.

Erst als wir die letzte Station in Ost-Berlin hinter uns ließen, konnten wir aufatmen. Wir hatten es endlich geschafft! Die Flucht von Ost-Berlin nach West-Berlin war geglückt.

Angekommen im Flüchtlings-Aufnahmelager Marienfelde in Berlin-West.

Im Auffanglager

Ein Auffanglager für Ostflüchtlinge, es war eine Sammelstelle für die vielen Menschen aus der Deutschen Demokratischen Republik, die in Not geratenen Flüchtlinge aus politischen oder menschlichen Gründen auffing. Teilweise hatten sie schon Familienangehörige im Westteil von Berlin. Man versuchte auf diesem Wege eine Familienzusammenführung. Vielleicht fing nun ein neues, ein besseres Leben für uns an. So dachten wir damals, und wir waren wieder mal voller Hoffnung.

Ein Hoffnungsschimmer am Horizont ...? Ein kleines Licht sahen wir mit großer Zuversicht und hatten auf einmal richtig Mut!

In den folgenden Tagen waren wir unterwegs, um hier einen Stempel, dort einen Stempel abzuholen und ärztliche Untersuchungen über uns ergehen zu lassen. Unsere Flucht musste begründet und legalisiert werden. Mutti kämpfte um politisches Asyl. Es begann eine andere Zeit, um zu überleben, ein Spießrutenlaufen der besonderen Art.

Morgens, mittags und zum Abendessen gingen wir zur Essensausgabe.

In langen Reihen standen wir nun, sehr unterschiedliche Menschen aus allen Schichten der DDR-Gesellschaft, in Reihe und Glied, um versorgt zu werden.

Wir waren nur eine kurze Zeit in diesem Flüchtlingslager. Wir wurden nach Westdeutschland als anerkannte Flüchtlinge von Berlin-Tempelhof nach Hannover mit einem Flugzeug ausgeflogen.

Das Ziel war das Munster-Lager in der Lüneburger Heide.

Im Munster-Lager

Wir wurden in Baracken untergebracht, verwaltet wurde der Standort von der Heilsarmee.

Woher kam unsere Kraft, das alles durchzustehen, wie hat unsere Mutter das alles nur bewältigt? Sie hat nie gejammert, uns nie gezeigt, wie ihr zumute war.

Alles hatte sie verloren, alles hatte man ihr genommen. Sie hoffte, es würde uns im Westen besser gehen. Und solange man die Hoffnung in sich trägt, war man sehr stark.

Für einen totalen Neuanfang hatte man ihr beim Flüchlingsamt versprochen, eine eigene Wohnung zu bekommen.

Wir bekamen Unterkunft in einem großen Zimmer in der dritten Baracke am Waldrand, dort waren schon drei Familien untergebracht.

Die Betten, wie im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde aus Metall, und wieder diese kratzigen Wolldecken! Aus Apfelsinenkisten bastelten wir uns kleine Nachtschränkchen. Die Kisten fanden wir im Ort, in den Lebensmittelgeschäften.

Für die Lebensmittel stapelten wir zwei übereinander, ein Deckchen davor, und schon hatten wir eine Einrichtung!

Weil wir an der Grenze des Waldes untergebracht waren, hatten wir Glück, denn wir konnten lange Spaziergänge machen, wenn nicht zu dieser Zeit ein Manöver von den dort stationierten Soldaten war, dann war für jeden, der in den Wald ging, eine Fahne zur Warnung sichtbar.

Wir suchten Waldfrüchte und sammelten Pilze, das kannten wir aus unserer Zeit in Biesenthal, als wir dort im Kinderheim untergebracht waren und uns selbst versorgen mussten.

Jetzt verdienten wir uns damit sogar etwas Geld, und weil wir uns gut mit den Waldfrüchten auskannten, hatten wir eine gute Ausbeute an manchen Tagen. An einer Waldstation hatten wir Abnehmer, die schon auf uns warteten. Die Händler nahmen uns die gesammelten Waren gern ab und sie bezahlten uns sofort. Es waren nur kleine Beträge, doch wir waren stolz darauf unsere Ausbeute zu Geld gemacht zu haben.

Freundschaften wurden geschlossen; denn alle hatten ein ähnliches Schicksal erlitten, alle waren Flüchtlinge so wie wir.

Wir verbrachten eine Wartezeit für eine Zuweisung in eine Stadt irgendwo in Westfalen.

Man munkelte viel, aber keiner wusste, in welchen Ort die Familien kommen sollten, das war keinem bekannt, auch uns nicht.

Meine Schwester Elke und ich wurden nun auch von unserer Mutter zur Schule angemeldet.

Viele Wochen ist bei uns der Unterricht in der Schule ausgefallen, und wir mussten uns erst wieder daran gewöhnen.

Als wir uns etwas mit der neuen Situation abgefunden hatten, wurden wir schon wieder weiter geschickt. Es ging mit dem Bus nach Massen bei Unna, hier bekamen wir ein eigenes Zimmer.

Der Ablauf des Tages war wie in den anderen Flüchtlingslagern, die Essen-Ausgabe zu ganz bestimmten Zeiten.

Das Warten auf einen Bescheid, in welcher Stadt wir demnächst zu Hause sein könnten, ob wir uns dann auch dort wohl fühlen würden und ob es uns auch dort gefallen könnte, daran haben wir nicht denken können.

Es war, wie wir es schon von jeher kannten, ein täglicher Überlebenskampf, und wir waren schon mit sehr wenig zufrieden. Nur ein Zuhause wollten wir endlich haben, zu wissen wo wir nun hingehörten.

Einen Wald in unserer neuen Umgebung gab es nicht, um wieder Pilze und Waldbeeren zu suchen, damit wir etwas Geld verdienen konnten.

Im Herbst konnten wir bei den Bauern in der Nähe bei der Kartoffelernte helfen, dabei verdienten wir pro Tag fünf Mark und bekamen Marmelade-Brote zur Kaffeezeit und auch noch ein spartanisches Abendessen zum Feierabend. Danach ging es mit einem Trecker vom Bauern wieder ins Lager. Das machten wir den ganzen Herbst. Als die Arbeit dann beendet war, hatten wir Rückenschmerzen und alles am Körper tat uns richtig weh. Meine Schwester Elke war zu dieser Zeit zwölf Jahre alt, ich war ein Jahr älter.

In Altena-Westfalen

Endlich war es soweit, die Stadt die unsere Neue Heimat werden sollte, wurde unserer Mutter bekannt gegeben!

Es sollte Altena-Westfalen an der Lenne werden.

Bei der Ankunft in unserer neuen Heimatstadt bekamen wir Bezugsscheine, Einkaufsscheine für Bettzeug und was man dringend brauchte. Wir kauften alles in der Stadt ein. Der Wert der Gutscheine war knapp bemessen. Jetzt hatten wir wieder unsere eigene Bettwäsche und Decken. Zur Verfügung hatten wir zunächst ein Zimmer, je ein Metallbett für jeden von uns und einen Stuhl und ein Tisch. Für die Wärme im Raum war ein Ofen vorhanden, der auch gleichzeitig zum Kochen genutzt werden musste.

Das erste, was am Morgen gemacht werden musste, war ein Feuer in der Heizungs- und Kochmaschine, das war uns nicht neu, denn sonst gab es kein warmes Wasser und der Raum blieb eiskalt. Eine Waschküche war im Haus, so konnten wir unsere Wäsche gründlicher reinigen, als in einem kleinen Waschbecken wie bisher. Es war alles neu. Wir konnten nun auf unsere Wohnung, die noch nicht fertig gestellt war, mit großer Hoffnung und Vorfreude warten.

Daraus wurden noch drei Jahre Wartezeit, vom November 1956 bis Ende 1959.

Teenagerzeit

Ich war nun vierzehn Jahre alt und war schon mitten in der Pubertät, ein Teenager.

In der Schule hatte ich viel Zeit verloren, ich bin zwar nicht sitzen geblieben, doch ich kam bei jedem Umzug in eine niedrigere Klasse, und dadurch habe ich den Anschluss im Lehr-Programm nie geschafft.

Durch den Wechsel von Lager zu Lager brachten uns unsere Schulbesuche nicht die besten Noten ein. Mit der Sechsten Klasse war ich aus dem „Rennen“. Es blieb nur noch die Möglichkeit, in der Berufsschule etwas dazu zu lernen, was mir auch viel Freude machte.

Ich fing eine Lehre zur Kaufmännischen Angestellten an. Das Büro stellte mich ein, obwohl ich keine gute Schulausbildung hatte. Für ein halbes Jahr sollte ich mich als Laufmädchen in der Fabrikation bewähren, das heißt Materialien besorgen oder für die Einkäufe der einzelnen Frühstückswünsche der Arbeiter zum Kaufmannsladen über die Strasse gehen und für alle einzukaufen. Kleine Aufträge für die Büroarbeit bekam ich nach kurzer Zeit.

Die Notunterkunft war weit vom direkten Ort und Stadtkern entfernt. Wir lebten direkt am Waldrand. Die Einkäufe für den Lebensunterhalt waren beschwerlich, mit den Einkaufstaschen immer bergauf. Diese Tortur verlegten wir so, dass wir nur einmal pro Woche in die Stadt gingen.

Die Familien warteten auf eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz. Die Männer langweilten sich, während die Frauen den ganzen Tag beschäftigt waren den geringen Wohnraum reinlich zu halten. In den Räumen wurde gekocht, gewaschen und geschlafen. Sobald eine Familie eine Wohnung bekam und auszog, wurde der Raum sofort wieder von einer neuen Familie bezogen, es war ein ständiger Wechsel der Bewohner.

Links Elke, rechts Regina

So auch die Familie M. mit drei Söhnen und zwei kleinen Mädchen, eine bunte Familie. Die Mutter klein und an ihren Händen sah man, dass sie viel für ihre Familie tat.

Mit ihren schwarzen Haaren sah sie aus, wie eine Zigeunerin; der Vater trank gern ein Bier.

Wir fühlten uns von dieser Familie nicht gerade sehr angezogen, es ging in deren Wohnbereich oft sehr turbulent zu.

Unsere Mutter versuchte uns soweit wie es ihr gelang, uns von diesen Menschen fern zu halten, sie sagte: „Das ist kein Umgang für euch!“

Wir hielten das für totalen Quatsch. Was Mutti nur hatte? Wir wollten uns nicht verbieten lassen, mit wem wir uns unterhielten oder spazieren gingen. Das wollten wir auch nicht mehr akzeptieren. Wir waren überzeugt, dass wir selbst wussten, was wir zu tun und zu lassen hatten. Das hatte unsere Mutter von uns erwartet! Jetzt, wo wir Teenager waren, wollte sie uns diesen Umgang verbieten. Hier waren unterschiedliche Leute wie überall während unserer Odyssee. Das kannten wir. Wir haben unserer Mutter widersprochen, wir machten einfach das, was wir für richtig hielten.

Eine neue Situation in unserer bis dahin eingeschworener Gemeinschaft, schlich sich in unser Leben. Nach der langen Zeit ihrer Entbehrungen, in jeder Hinsicht, hat unsere Mutter mit uns nie richtig reden können. Sie fand auch nicht den passenden Ton. Es ging, in den ganzen Jahren, um das reine Überleben. Jetzt waren wir in einem Alter, wo wir eine feste Hand brauchten oder ein Gespräch über Aufklärung im Umgang mit jungen Männern und Freundschaften. Damit waren wir nie in Kontakt gekommen, und wir waren mit dieser Situation überfordert einschließlich unserer doch so liebevollen Mutter.

Sie sagte immer wieder zu uns: „Das ist kein Umgang für euch“, oder „das geziemt sich nicht“, damit konnten wir nicht viel anfangen. Bei keiner Familie gab es soviel Lärm wie bei Familie M. Wenn der Vater viel Bier getrunken hatte, fing er zu toben an und es wurde sehr laut. Wir hörten das in der gesamten Wohnanlage. In der Nachbarschaft hatten wir - weil wir alle Flüchtlinge waren - keinen so guten Ruf.

Nachdem auch andere Väter der Familien gerne etwas tranken, kam der Krach oft in dieser Anlage vor.

In unserer Freizeit haben wir uns oft in den Wäldern aufgehalten, das war unsere einzigste Möglichkeit zur Unterhaltung. Ab und zu erlaubten wir uns einen Kinobesuch, da haben wir uns dann reingeschmuggelt. Dann aber in die Spätvorstellung, das war spannend. Es war am Wochenende und sehr aufregend, denn am Eingang stand eine Person vom Jugendamt. Eine Ausweiskontrolle wurde durchgeführt, so auch in den Gaststätten oder bei den Tanzveranstaltungen. Das war nichts für uns, für diese Veranstaltungen fehlte uns das Geld und dafür waren noch zu jung. Doch wir wären gern mal dabei gewesen!

Wir träumten von den großen Stars und wollten mal so schön sein und gute Kleidung besitzen und uns schminken wie diese großen Leute.

An meinem fünfzehnten Geburtstag trug ich ein neues buntes Kleid mit Petticoat, ich fühlte mich total schick. Meine Lippen hatte ich mit Lippenstift rot angestrichen, die Haare etwas blond gefärbt. An diesem Tag habe ich mich in Manfred total verliebt. Das war der jüngste Sohn aus der so lauten und bunten Familie. Wir gingen schon mal zusammen spazieren. Aber an diesem Tag war alles anders, mit meinem neuen Kleid fühlte ich, ich war wer, schaut alle her, wie schön ich aussehe und ich gehe mit Manfred.

Er war meine erste große Liebe und ich war nicht mehr zu überzeugen, dass er nichts für mich ist, wie meine Mutter immer wieder versuchte, mir beizubringen, ich war eben verliebt. Er sah gut aus, und er pflegte sich von Kopf bis Fuß. Seine Schuhe waren blitzblank geputzt, obwohl die Sohlen große Löcher hatten, etwas dicke Pappe maßgerecht zurechtgeschnitten und so hielt der Schuh wieder ein paar Tage. Er legte großen Wert auf sein Äußeres, schick und ordentlich auszusehen. Geld für eine Reparatur war nicht vorhanden, wie bei uns allen. Seine Hemden waren auch picobello gewaschen und gebügelt, und dieser junge Mann ging jetzt mit mir! Was war ich stolz.

Wir gingen Hand in Hand spazieren, es war ein schöner Märztag und jeder sollte uns sehen.

Ich wurde das erste mal richtig geküsst. Davon habe ich geträumt und er war auch noch der Richtige ...

Es passierte nun das, was ich nicht richtig wahrnahm, ich ging als gerade mal Fünfzehnjährige in mein (Un)glück. Keine Erfahrung, keine Aufklärung besonders in sexuellen Fragen, ich stolperte in eine Falle. Es passierte im nahe gelegenen Wald. Die Wege kannte ich, oft sind meine Schwester und ich dort entlangspaziert. An einem Holzhaus, mit einer Bank davor, nahmen wir Platz, und fingen an zu knutschen. Jetzt drängelte er mich, er wollte mehr, ansonsten würde ich ihn nicht richtig lieben. Er gab keine Ruhe, bis ich den Beweis ihn zu lieben antrat.

Als ich meine Unschuld verlor, was ich dabei empfand? Nichts ... Das war die Liebe, von der man immer überall sprach?

Für mich war das alles erschreckend, und ich fühlte mich überhaupt nicht wohl danach.

Ich wollte nur nach Hause, seine Küsse konnten mir nicht mehr gefallen, sie schmeckten auf einmal bitter. Er bemerkte das nicht. Wir blieben weiter zusammen. Machten lange Spaziergänge, immer wieder Hand in Hand. Wir liebten uns und wollten für immer zusammenbleiben. Ich war stolz auf meinen ersten Freund und sehr glücklich. Nur meine Mutter hatte Einwände, und meine Schwester, die mich mit Misstrauen beäugte, war mit dieser Verbindung nicht einverstanden und sie ließen mich das auch spüren.

Wir haben uns bei der kleinsten Gelegenheit angeschrieen, wieder und wieder sagten Mutti und meine Schwester, dass er nichts für mich wäre und mir nur schaden würde; doch das machte mich wütend. Warum nur? Ich war doch glücklich mit ihm, auch wenn ich noch so jung war. Es begann in unserer Familie zu kriseln.

Das hatten wir nicht mal in unseren schlimmsten Zeiten, jetzt war auf einmal der Zusammenhalt nicht mehr da, und es gab auch noch Streit. Warum nur fragte ich mich das immer wieder?

Im Sommer wurde mir schlecht, und ich fing an mein Essen auszubrechen, mir wurde schwarz vor den Augen. Ich musste mich oft schnell hinsetzen bevor ich eventuell umkippen konnte.

Keiner sprach mit mir darüber, bis eine Nachbarin mich in ihren Wohnbereich nahm und meinte, sie müsste mal mit mir reden.

Frau Müller, so hieß die Nachbarin hatte schon zwei erwachsene Söhne und war auch etwas füllig, doch man spürte, sie hatte Herzenswärme. Ich setzte mich an ihrem Tisch sie machte Kaffee für uns.

Ich wusste nicht was sie wollte, doch sie kam schnell zur Sache. „Du bist schwanger mein Kind“, sagte sie zu mir. „Deine Mutter sollte mit dir zum Frauenarzt gehen.“

Dann gab sie mir noch Aufklärung über eine Partnerschaft, und über sexuelle Dinge oder Verhütungs-Methoden.

Aber dazu war es jetzt zu spät.

Meine Mutter war nicht erstaunt, sie wusste von meiner Schwangerschaft .

Der Frauenarzt Dr. Engel ging sehr behutsam mit mir um und ich hatte großes Vertrauen zu diesem Doktor. Über einen möglichen Abbruch der Schwangerschaft wurde nicht gesprochen, so etwas gab es zu dieser Zeit nicht, denn ich war völlig gesund und konnte ein Kind austragen. In den folgenden Monaten nahm ich an Körperfülle zu. Unserer Nachbarschaft blieb das nicht verborgen. Auch ein Schulbesuch war nicht möglich und in die Firma konnte ich auch nicht mehr gehen. Mein Freund nahm Abstand von mir, weil ich von Monat zu Monat an Körperumfang zunahm. Er ging jetzt am Wochenende allein ins Kino. Ich blieb zu Hause und wartete auf ihn, oft sah ich ihn erst wieder am Sonntagnachmittag, weil es am Tag zuvor sehr spät geworden war.

Im Dezember 1958 brachte ich zu Hause unter großen Schmerzen meinen Sohn Andreas zur Welt. Dr. Engel kam auf Anraten der Hebamme.

Meine Mutter und die Mutter meines Freundes waren bei mir, als ich um das Leben meines Kindes kämpfte.

Es war eine Steißlage, und der Arzt sagte zur Hebamme: „Wenn das Kind jetzt nicht kommt, müssen wir es zerstückelt rausholen.“

Das hörte ich unter halber Narkose, weil der Äther nachließ, den ich tröpfchenweise von der Hebamme durch ein Tuch auf die Nase bekam.

Als ich das hörte, entwickelte ich eine enorme Kraft, die schon fast unmenschlich war. Dabei half mir die leichte Narkose.

Ich ließ erst mit dem Pressen nach, als ich den ersten Schrei meines Kindes hörte. Jetzt war ich Mutter! Mit knapp sechzehn Jahren!

Obwohl ich diese fürchterlichen Schmerzen hatte, war ich glücklich, ich hatte es geschafft.

Erschöpft war nicht nur ich, alle Anwesenden mussten erst mal Luft holen und ich hatte großen Hunger. Aber erst kam mein Sohn in meine Arme, was für ein Glück!