Aufarbeitung

Oft denke ich nach. Den Kern der Ursache zu ergründen, selbst bei langen Überlegungen komme ich zu keinem Resultat. Die Wirkung spürte ich mein Leben lang. Diesen Alptraum schleppte ich als schweres Gepäck mit mir herum. Wieso ist man so grausam mit uns umgegangen. Eine Erklärung bleiben mir die Verantwortlichen schuldig. Ein unmoralisches Leben habe ich nicht geführt. Ich habe auf dem Weg meines Lebens viele Menschen kennen gelernt die unmoralisch lebten, aber nach außen hin der „Nabel der Gesellschaft“ waren, und sie hätten doch auf mich herab geschaut, (nach meiner Meinung), sobald ich mich bei ihnen offenbart hätte. Das Kennen lernen von so unterschiedlichen Menschen hatte auch sehr viel Positives in meinem Leben, mit ihnen Gespräche zu führen, die sehr spannend waren, hat mein Leben bereichert. Ich habe sie geachtet, habe manche regelrecht verehrt, habe ihnen zugehört und viel gelernt. Ich bekam Einblicke in die Politik, bei vielen Menschen Zutritt in ihr Leben. Es entstanden wunderbare Freundschaften. Ich habe von vielen Schicksalen erfahren und Geheimnisse hat man mir anvertraut. Ich wurde im Beruf anerkannt, die Ängste, die als Kind und als jugendliche Ehefrau bei den Nonnen entstanden sind, waren für Jahrzehnte fast verschwunden. Den Weg, alles zu vergessen, habe ich nicht gefunden. Es wird deutlich, die Zweifel bleiben. Große Wunden in meiner Seele sind nicht verheilt.

Es war eine Rechtsprechung vom Amtsgericht, Laut Gerichtsbeschluss konnte das Jugendamt uns von zu Hause abholen. Eine Anhörung hat nie stattgefunden, wieso, warum? Die Entscheidung kam auf reine Verdächtigungen.

Für den Staat war diese Handlung eine legale Angelegenheit und es war rechtens, die „Verurteilten“ hinter Gittern und hohen Mauern zu Zwangsarbeiten regelrecht einzusperren.

Woher kommt diese Macht, die sich Menschen nehmen, wer gibt ihnen diese Macht, über Menschen zu urteilen, sie zu verurteilen und niederzumachen, dass die jungen Menschen ihr Gleichgewicht verlieren? Dass die Menschen, die ihr ganzes Leben darunter zu leiden haben? Ohne Hilfe müssen sie damit, möglichst unauffällig, weiterleben. Eine Verurteilung, bei der die Gerechtigkeit „auf der Strecke blieb“.

Ich komme zu keinem Resultat.

Habe ich doch gemeint, meine Lebensphilosophie gefunden zu haben, war ich einem Irrtum erlegen?

Ist es möglich, einen jungen Menschen so zu manipulieren und es sich stark in sein Unterbewusstsein eingeschlichen hat, dass dieser Mensch gezwungen ist, sein eigenes Ich ein Leben lang zu unterdrücken? Macht sich die Erziehung der Nonnen, die Unterdrückung, das Gehorsam und die verbalen fürchterlichen Anschuldigungen in der Kinder- und Jugendzeit nach soviel Jahren noch bemerkbar? Schon eine Kleinigkeit im Alltag, ein Wort, ein Essen oder eine Handlung kann in einem die Erinnerung an diese schlimme Zeit wachrufen. Dann ist es wieder da, dieses Gefühl der Machtlosigkeit.

Bemerkbar machte sich das auch im Eheleben.

Wir hörten von den Nonnen, dass es Schmutz ist, sich einem Mann „hinzugeben“ und das hörten wir immer wieder. Dieses Gefühl, es wäre eine Sünde und es sei „Schmutz“, hatten wir auch später noch in unseren Köpfen. Oft kam es vor, dass ein Ehemann seine Frau niemals völlig entkleidet gesehen hat. Selbst in der Badewanne haben so manche Frauen nach Jahren noch ihre Unterhose vor Scham anbehalten. Mit diesem Bewusstsein, alles sei Schmutz und Sünde, gingen die Frauen in eine Ehe. Ein Leben lang auf der Suche nach der richtigen Liebe und Verständnis.

Nach der Entlassung aus der Erziehungsanstalt Vincenzheim, wollte ich meinen Weg gehen und nie wieder an die Zeit zurückdenken, wollte die Zeit wie ein altes Bekleidungsstück ablegen. Ich habe es nicht geschafft, alle Erfahrungen aus der betenden Gesellschaft haben mir nicht geholfen. Die Nonnen-Erziehung holte mich immer wieder ein. Ich will es verstehen können. Woher kamen die grausamen Erziehungsmethoden? Die von betenden Schwestern in den Erziehungshöllen in so vielen Jahren an den ihnen anvertrauten Zöglingen ausgeführt wurden? Bloß nicht anecken, keine Diskussion in eine Richtung lenken die sich negativ auswirken könnte. Was bin ich, wer bin ich? Bin emotional intelligent oder sind es die Lebenserfahrungen, meine Lebensgeschichte, die mich oft negativ bekleidet haben. Fehlt mir dazu die Ausbildung, das alles richtig einzuordnen?

Habe ich meinen Lebenspartnern durch dieses passive Verhalten zu viele Freiräume eingeräumt und zu spät erkannt, was daraus entstanden ist? Nach Jahren bemerkte ich es, oft zu spät, dass ich immer wieder bereit war, zuviel zu geben. Dabei führte es zu Respektlosigkeit und ich war für sie nur ein funktionierendes Etwas.

Viel zu spät habe ich mich gewehrt, es endete immer wieder in einer Katastrophe, im Laufe meines Lebens, kam eine nach der anderen. Mit Entschlossenheit nahm ich immer wieder alles selbst in die Hand und fing dann ein neues Leben an. Dieser Entschlossenheit und meiner alleinigen Tatkraft zufolge, schien alles gut zu werden, ich schaufelte mich regelrecht frei und mir war gut dabei. Ich hatte nicht gelernt, in der Partnerschaft die Grenzen abzustecken.

Das hatte große Auswirkungen in der Erziehung meiner vier Mädels, als sie älter wurden, war ich dann auch den Kritiken meiner Kinder ausgesetzt.

Von meinem schweren Leben in den Heimen, haben sie nichts gewusst, das habe ich bewusst verschwiegen, denn ich wollte sie damit nicht belasten.

Ich denke heute, das war ein großer Fehler. Viele Fragen sind offen, doch meine Fragen kann keiner beantworten. Eine fast unglaubwürdige Geschichte ist in der Nachkriegszeit geschehen.

Meine Schwester Elke und ich haben es ertragen müssen.

Nachdem wir uns mit vielen Betroffenen zusammengetan haben, erleben wir dramatische Erzählungen aus deren Zeit. Was uns im tiefsten Inneren erschüttert, in diesen vielen, vor allen den kirchlich betriebenen Erziehungsanstalten, haben sich die Erzieher an so vielen Kindern und Jugendlichen regelrecht versündigt.

Wenn sie anfangen aus ihrer Zeit im Heim zu berichten, hören sie nicht mehr auf, sie erzählen ohne Unterbrechung. Es sprudelt nur so aus ihnen heraus. Man spürt ihre Wut und ihre Verzweiflung, auch nach der langen Zeit können diese Menschen nicht vergessen.

Endlich können sie darüber reden und ganz wichtig ist, dass wir ihnen glauben, dass sie sich endlich jemanden anvertrauen können. Die ehemaligen Heimkinder haben ein großes Bedürfnis, ihre Seele zu befreien von dieser Last. Wir können den Schmerz nachempfinden. Meine Schwester Elke und ich, wir fühlen mit ihnen und hören einfach nur zu.

Bei allen Berichten ist es sehr lange her, doch die Erinnerung ist immer wieder nah. Jahrzehnte lang verdrängt, geschwiegen und sie haben sich geschämt, darüber zu sprechen. Alle haben wie wir diese Ängste ertragen müssen und die Furcht „entdeckt“ zu werden.

Beschimpfungen, Beleidigungen und sexueller Missbraucht stecken tief in ihrer Seele. Familien haben sie gegründet, sind ihren Berufen nachgegangen, so unbeschwert konnten sie mit ihrer Last nicht umgehen. Sie haben lieber weiter geschwiegen. Ein Tabu-Thema bis in die heutige Zeit.

Als ob der Bann des Schweigens seit einiger Zeit gebrochen scheint, kann man sich nicht dem Eindruck erwehren, dass jetzt aus allen Winkeln unseres Landes, Licht an die Tatsachen der Erziehungsmethoden der kirchlichen und staatlichen Institutionen in der Nachkriegszeit kommt.

Bei zufälligen Gesprächen über dieses heikle Thema, stellt sich oft heraus, dass die Menschen aus unterschiedlichen Bereichen kommen. Der Arzt, bei dem man seit Jahren in Behandlung ist, die Nachbarin, Freunde sprechen auf einmal ganz offen darüber oder sie kennen jemanden der in so einer Erziehungsanstalt war oder sie selbst waren betroffen.

Jahrzehnte sind vergangen, doch die Erinnerung ist bei vielen nah. Viele haben es geschafft und sind „ganz oben“, erzählen ihre Geschichte nur unter „Vier Augen“, und wollen nicht an die Öffentlichkeit. Sie schweigen weiter. Ihr Status in der Familie, im Berufsleben und ihr gesellschaftliches Leben könnte einen Riss bekommen. So tief ist der Makel in uns verwurzelt.

Über die Menschen, die es nicht geschafft haben, gibt es keine Statistiken.

Das Jahr 2003 geht zu Ende.

In diesen Tagen verweile ich für ein paar Tage in meiner Stadt. Soll ich diese Stadt lieben oder hassen? Ich war mir nie ganz sicher, was ich für Gefühle in mir trug. Es zog mich immer wieder in diese Stadt und sobald meine Füße auf dem Asphalt der Straßen der Stadt standen, war ein Heimatgefühl in mir. Hier hatte ich immer das Gefühl zuhause zu sein.

Ich laufe durch die Straßen meiner Kindheit, stehe vor der roten Schule und gehe über den Schulhof. Ich kann mich gut erinnern, dort war die Essensausgabe aus Armeebeständen.

Die großen Bäume auf dem Schulhof sind alle noch vorhanden.

Ich bin wieder das kleine Mädchen mit den Zöpfen. Die Erinnerung ist sehr stark.

Dann laufe ich an dem Haus vorbei mit dem kleinen Zimmer, das wir 1945 nach der Flucht per Einweisung von der Stadt erhalten hatten.

Da ist nebenan die Stelle, wo der Kohlenhändler uns die Kohlen für den Ofen auf Pump geliefert hat. Jetzt gehe ich die Treppen zu dieser Wohnung hinauf. Soll ich klingeln bei den Leuten die jetzt dort wohnen? Nein, Gedanken gehen durch meinen Kopf, an der Stelle, wo der Nachbarssohn uns Mädchen damals belästigte.

Mir wird kalt, es ist Sommer, und mir wird ganz mulmig, ich gehe wieder auf der Straße, gehe zur Hauptstraße am Bahnhof vorbei, wo meine Schwester und ich einst mit Großmutter, Mutter, Vater ankamen, von der Flucht aus Elbing und wir heimlich nach zehn Jahre später wieder abgehauen sind, mit großen Hoffnungen in unserem wenigen Gepäck. Wieder wird mir bewusst, was wir an Leid und Traurigkeit durchleben mussten.

Dann den Weg zur Spree. Wie oft lief ich zu der Bäckerei mit den Eclairs die so gut schmeckten. Es ist noch der gleiche Geruch wie vor über fünfzig Jahren. Mit einem Eclair in der Hand gehe weiter zur Spree, an unserem Plänterwald vorbei, bis zum Eierhäuschen. In diesem ehemaligen Kindergarten verbrachten meine Schwester und ich ein paar glückliche Tage. Die Erinnerung an unsere Mutter ist wieder da, alles ist sehr lebendig. Ich schaue aufs Wasser der Spree, der Steg ist noch vorhanden, hier hat mich ein Junge, aus unserer Schule, aus Spaß in die Spree geschubst, mit Armen und Beinen gepaddelt, schaffte ich es wieder an die Oberfläche zu kommen.

Mutti ist da, hier bei mir, ich habe sie in meinem Herzen. Wie hat sie nur in ihrem Leben gelitten, uns immer wieder unter den schwierigsten Umständen behütet, beschützt und ihr Bestes gegeben. Widerwärtige Menschen waren in ihrem Umfeld.

So musste sie leben, in den Lagern, den Behörden, die Nachbarn ließen sie nie in Ruhe. Leute die unsere Mutter nicht kannten, wollten sie erniedrigen, doch sie war stolz und ließ das nie zu, nicht mal in der Psychiatrie hat man ihren Willen und Gerechtigkeitssinn brechen können. Es war eine schöne, doch kurze Kindheit mit ihr.

In den Straßen Berlins gehe ich unsere Wege, die wir oft zu Fuß, Kilometer weit gelaufen sind.

Wie schön ist es doch alles noch einmal wieder zu sehen, im Herzen bleibt es meine Heimat. Als ich dann nach achtundvierzig Jahren, am Potsdamer Platz bin, versuche ich die Straße zu finden, wo wir als Kinder barfuß durch die Trümmer liefen und alles als Abenteuerplatz kannten. Ich versuchte es dann am Askanischen Platz. Erst von dort aus konnte ich wieder alles erkennen. Auf diesen Wegen reißen verheilte Wunden immer wieder auf und ich wurde sehr traurig, ich sehe wieder diese Frauen, alle mit den gebundenen Kopftüchern und den bunten Kitteln, Steine schleppten sie. Eine warf der anderen die Bausteine zu, es waren Frauen, die dort jeden Tag in den Trümmern schufteten, ihre Männer waren im Krieg oder noch in Gefangenschaft. Für uns Kinder war das interessant, wir suchten nach „Schätzen“ und fanden nichts.

Die Straße zurück zum Potsdamer Platz. Ich setzte mich vor dem U-Bahn-Eingang auf einen Stein und versuchte meine Gedanken zu ordnen, alles läuft seinen Gang die Menschen strömen durch die Straßen. Gerne hätte ich ihnen erzählt, wie es damals hier aussah, doch wer will das von mir schon wissen.

Vieles geht vorüber, so dachte ich und wird vergessen doch manches wird sich niemals ändern ...

Ich vergesse diese Trümmerfrauen nie, die Berlin mit ihren Händen und der letzten Kraft, die noch in ihnen vorhanden war, aufgebaut haben.

Ein Spaziergang unter den Linden, mehrmals durch Brandenburger Tor zu gehen, einfach die Seele baumeln lassen, in Gedanken diesen Tag noch einmal genießen, hier und da bekannte Gesichter zu sehen, einfach auf einer Bank sitzend zu spüren, dass meine Seele eine Berliner Seele ist.

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